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Karl der Große im Norden

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5.3. Auf der Suche nach Aude und Bramimonde – Gendering Genre

AudeBramimondeDas folgende Kapitel widmet sich der Reflexion über narrativ vermittelte Weiblichkeits- und Männlichkeitskonzepte in den altostnordischen Karlstexten. Die Ausgangsposition dafür ist zugleich die Annahme einer Interdependenz von genrespezifischen Geschlechter- und Machtdiskursen bzw. deren kritische Überprüfung nach dem Prozess der Übersetzung und Transmission der Texte in ein neues System. Die zu untersuchende kulturelle Kategorie Gender wird zur Analyse der Konstitution der Geschlechterdifferenz in den übersetzten Texten der Karlsdichtung herangezogen, basierend auf den etablierten, wenn auch nicht unumstrittenen Theorien von Judith Butler und Thomas Laqueur. Ihnen gemeinsam und zentral ist die Annahme, das biologische Geschlecht (sex) wie das konstruierte soziale Geschlecht (gender) seien durch historische und kulturelle Darstellungsmodalitäten konzipiert – dies ist heute wie im Mittelalter abhängig von den entsprechenden Wissenssystemen und Diskurszusammenhängen.1

5.3.1. Kurze Einführung in die genderorientierte Mediävistik

Feministisch und genderorientierte mediävistische Forschung beleuchtet aus verschiedenen Perspektiven eine explizite oder implizite Geschlechterthematik, die geschlechterfixierte Symbolisierung von Erfahrung sowie die literarische Umcodierung von Geschlechterhierarchien in den Texten des Mittelalters.1 Im Hinblick auf die hier relevante Gattung der chansons de gestechansons de geste mit dem kanonischen Text Chanson de RolandRoland und deren Geschlechter- und Männlichkeitskonstruktionen scheint eine weitere – je nach Betrachtungsweise eigene oder als Teil der Gender Studies aufgefasste – Disziplin jedoch gewinnbringend zu sein: Menʼs Studies oder Kritische Männerforschung, die sich der Erforschung von Männlichkeitsbildern als kulturell produzierten und historisch variablen Konstrukten sowie der Demontage stereotyper heroischer Mythen verschrieben hat.2 Das von der australischen Soziologin Raewynn Connell entwickelte Konzept der Koexistenz verschiedener Männlichkeiten mit dem Postulat hegemonialer vs. marginalisierter Männlichkeit als Produkt einer patriarchal strukturierten Gesellschaft3 dient im Folgenden der Reflexion über Männlichkeitskonzepte in den übersetzten Karlstexten. Wohl sind Karl und seine Gefährten nicht die einzigen tapferen Helden auf dem Schlachtfeld. Die Sarazenen, unter dem Sammelbegriff ‚Heiden‘ zusammengefasst, kämpfen ebenso entschlossen, durch Treue zu ihrem König bzw. ihrer religiösen Kontrollinstanz bestimmt. Hier kann hegemoniale Männlichkeit aufgrund der Zugehörigkeit der Helden zu einer anderen ethnischen Gruppe bzw. einem anderen Wertesystem nicht realisiert werden. Rasse, Stand, Religion und Sexualität sind Aspekte, die andere, von einem dominanten Männlichkeitskonzept abweichende Bilder generieren.4

Gerade in Bezug auf die Gattung der französischen Heldenepik hat sich in der Forschung die von Simon Gaunt diskutierte Annahme einer Abhängigkeit der Gender-Konstruktion von literarischen Gattungskonventionen etabliert. Gaunt erachtet Geschlechterkonstruktionen als „crucial element“5 einer jeden Gattung, der bestimmte Ideologien, Machtstrukturen und Hierarchien inhärent sind.6 Geschlechterfixierte Symbolisierungen von Handlungen und deren Relation zueinander offenbaren ideologische Funktionen, die jeder Gattung innewohnen. Die chansons de gestechansons de geste sind gekennzeichnet durch das Konstrukt einer exklusiven Männlichkeit, einer monologic masculinity, wie Gaunt sie bezeichnet. Im Gegensatz zu weiblichen Figuren der französischen Heldenepik seien nur männliche Protagonisten als Individuen angelegt, und zwar in Relationen zu anderen männlichen Figuren. Frauen hingegen seien „excluded from the genreʼs value system even, arguably, in poems where the influence of other genres is tangible“.7 Laut Sarah Kay ist diese Exklusion intentional und grenzte Frauen aus dem Wertesystem der chansons de geste aus,8 das vor allem auf den Werten wie Loyalität, Tapferkeit und Kampfbereitschaft basiert. Dies trifft insbesondere auf die kanonisierte Chanson de RolandRoland zu. Doch auch den zahlreichen anderen chansons, in denen die Präsenz weiblicher Akteure zentral für die Handlungsentwicklung ist, wurde in der Forschung eine generische Kontamination durch die Einflüsse der parallel aufkommenden oder koexistenten Gattungen, wie etwa des höfischen Romans, bescheinigt.Roland9 Dieser Aspekt ist für die folgende Analyse der Geschlechterkonstruktionen in den altostnordischen Karlsdichtungen insofern spannend, als die Übertragungen der chansons de geste in die altostnordischen Literatursysteme für viele verschiedene kulturelle Einflüsse offen waren – wenngleich die damit einhergehende Wertung der generischen Kontamination gänzlich obsolet ist. Gerade die Tatsache, dass die Texte in Handschriften des 15. Jahrhunderts vorliegen, ermöglicht die Hypothese, die gattungstypologischen Vorgaben zwischen Gender und Genre müssten nicht eingelöst werden. Schließlich existierten zum Zeitpunkt der Abschriften bereits andere literarische Modelle, die einen Einfluss auf die Modellierung der den Gattungen inhärenten Konzepte ausgeübt haben können. Die Koexistenz der höfischen Romane EufemiavisorEufemiavisor in den vier altschwedischen Handschriften belegt die Kenntnis von alternativen literarischen Modellen aufseiten der Bearbeiter.

Die Analyse der Geschlechterkonstruktionen in den spätmittelalterlichen altostnordischen Bearbeitungen der chansons de gestechansons de geste knüpft an die von Simon Gaunt entwickelte These von der Interdependenz zwischen Gender und Genre an. Die Konstruktion der Geschlechterbilder hängt demnach von gattungstypologischen Aspekten ab, was zunächst am Beispiel der Chanson de RolandRoland vorgeführt wird. Diese Interdependenz wird bei der Analyse der altostnordischen Karlsdichtung kritisch hinterfragt: Durch eine jahrhundertelange Tradierung der Texte sowie deren Übertragung in ein neues kulturelles und literarisches Umfeld wurden sie strukturell den Einflüssen anderer literarischer Modelle und Gattungen geöffnet, so dass das Konzept der monologischen Männlichkeit nicht notwendigerweise dominant sein muss. Da Geschlechterbeziehungen nicht nur gattungsbedingt konstruiert werden, sondern auch immer Machtbeziehungen repräsentieren, richtet sich der Blick hierbei auf die Herrschaftsverhältnisse in den übersetzten Texten. Hier ist davon auszugehen, dass die Marginalisierungsprozesse nicht bloß genderbedingt im Hinblick auf die Dichotomie männlich/ weiblich stattfinden, sondern die Machtausübung bzw. -legitimation an das von Connell entwickelte Konzept der hegemonialen Männlichkeit geknüpft ist. Die Anderen, d.h. Heiden, Sarazenen und Schwarze, wenn auch Männer, sind von der Marginalisierung und Exklusion aus dem christlich-männlichen Wertekanon ebenso betroffen wie die Frauen der Ritter. Eine Analyse der Geschlechterkonstruktionen soll zur Klärung der Frage beitragen, inwiefern sich durch den Prozess des Kulturtransfers gattungstypologische Grenzen öffnen bis hin zur Konstruktion einer womöglich dialogischen Männlichkeit respektive Weiblichkeit. Eng an die Ergebnisse dieses Kapitels ist die Frage nach der Repräsentation des Anderen und deren spezifischen Funktionen in den Texten geknüpft. Analog zur Konstruktion der Geschlechterbeziehungen im Hinblick auf die Macht- und Herrschaftsverhältnisse dient das häufig stereotyp-dämonisierte Andere der Legitimierung eigener postulierter Machtpositionen. Beleuchtet werden diese Problemfelder in den folgenden Kapiteln auf der Ebene der Figurenkonzeptionen.

5.3.2. Monologische Maskulinität als Genre-Konvention

Monologische MännlichkeitDer vielzitierte Satz des Romanisten Bernard Cerquiglini „Être médiéviste cʼest, au plus vrai, prendre position sur la C. R.“Roland1 trifft auf die vorliegende Untersuchung wohl ebenfalls zu. Dies ist jedoch weniger aus den von Cerquiglini angeführten ästhetischen und forschungshistorischen Gründen seiner Disziplin der Fall, sondern aufgrund der Tatsache, dass der Bericht von der Schlacht von RoncesvallesRoncesvalles neben der Reise Karls des Großen nach Jerusalem und Konstantinopel eines der beiden Kapitel ist, das in der altschwedischen, altdänischen und darüber hinaus in der altwestnordischen Überlieferung erhalten ist. Dies bietet eine Vergleichsgrundlage, auf der sich zum einen die Besonderheiten altostnordischer Übersetzungsideale und -funktionen untereinander herausarbeiten lassen und zum anderen im Hinblick auf die gemeinsame Vorlage der Karlamagnús sagaKarlamagnús saga ok kappa hans. Dass die folgenden Analysen sich nun hauptsächlich am Rolandslied orientieren, ist also weniger als Positionierung dem literarischen Kanon gegenüber anzusehen als eine pragmatische Lösung im Sinne einer textuellen Basis-Schaffung.

Im gattungsspezifischen Rahmen der chansons de gestechansons de geste ist die Figurenkonzeption in der Chanson de RolandRoland, die nach Simon Gaunt das Konzept der monologischen MaskulinitätMonologische Männlichkeit repräsentiert, auf eine Männlichkeitskonstruktion angelegt. Diese wird gender-intern, also als das Verhältnis von Männern zu Männern, und nicht, wie etwa im höfischen Roman, im Verhältnis von Männern zu Frauen, generiert. Zweifellos sind es männliche Helden und Antihelden, welche die Narration bestimmen: Karl der Große, die Hauptfiguren Roland und Oliver sowie Rolands Stiefvater, der Verräter Ganelon. Auch der Hauptort der Handlung, das Schlachtfeld von RoncesvallesRoncesvalles, ist männlich besetzt: Die christliche Armee wie auch das feindliche Heer bestehen ausschließlich aus männlichen Repräsentanten der martialischen Gesellschaft. Die Exklusion weiblicher Figuren unterstreicht, dass nicht nur der tatsächliche Kampf von Roland und seinen Gefährten gegen die Heiden gendered ist, sondern hiermit auch der gesamte heilsgeschichtliche Rahmen vorbehaltlos männlich-heroisch determiniert ist.

 

Die Ausgrenzung der Frauenfiguren auf dem Schlachtfeld lässt eine Konstruktion von Männlichkeit entstehen, die sich relational zu anderen Männlichkeitsmodellen definiert. Rolands monologische Männlichkeit lässt sich in Bezug auf drei andere Modelle konstruieren, die dabei in einem keineswegs ideologisch eindeutigen oder glorifizierenden Bild Rolands münden: Zum einen ist sie in Bezug auf die Anderen, d.h. die männlichen Heiden determiniert, zum anderen ist sie es im Verhältnis zum Stiefvater und Verräter Ganelon. Schließlich ist die Relation der Figur RolandRoland zu seinem Waffenbruder und Freund Oliver das spannendste Moment, da es zur Ambiguität bei der Einordnung der Figur Rolands als idealer Ritter und Vasall führt.

Die Genese einer monologischen, christlichen Männlichkeit, wie sie in Abgrenzung zu den heidnischen Kämpfern passiert, ist vor dem Hintergrund ideologischer Funktionen, die der Chanson de RolandRoland in der Forschung bescheinigt werden, nachvollziehbar. Obgleich tüchtig im Kampf und ihren Gottheiten sowie dem König treu, sind die Heiden dem Untergang geweiht; sie sind von der Erlösung ausgeschlossen und stellen zwar eine Gefahr für Rolands Körper, nicht aber für seine Seele oder seinen Status als Held dar.2 Diese Konfrontation, sowohl körperlich-materiell auf dem Schlachtfeld als auch symbolisch zwischen zwei religiösen Systemen, definiert Roland als Helden in einer zwar martialisch-brutalen, doch auf der Ebene der Männlichkeitsgenese zunächst unproblematischen Weise. Dies kommt in dem berühmten Spruch zum Ausdruck „Paien unt tort e chrestïens unt dreit“ (S. 80, 1015).3

Die Katastrophe von RoncesvallesRoncesvalles wurde jedoch in erster Linie durch den Verrat Ganelons an Karl dem Großen und seinen Gefährten verursacht. Als Repräsentant der ‚richtigen‘ Weltordnung sowie im männlich-heroischen Wertesystem der patriarchalischen Feudalgesellschaft positioniert, symbolisiert gerade sein Verrat einen Riss in der vermeintlich idealen christlichen Wertegemeinschaft. Die Konfrontation zwischen RolandRoland und Ganelon wird bereits in den einleitenden Strophen der chanson angedeutet, wobei die Positionierung Ganelons am negativen Pol der Opposition prädeterminiert scheint. Gaunt weist darauf hin, dass die Ambiguität der Narration in der Oxforder Überlieferung der Chanson de Roland aus den Versuchen Rolands besteht, seinen Stiefvater zu verteidigen, während sie zugunsten der immer negativer ausfallenden Haltungen Rolands Ganelon gegenüber in den späteren Fassungen abnimmt.4 Im Gegensatz zu der als klar definierten binären Opposition christlich/ heidnisch ist die Konstruktion Rolands monologischer Männlichkeit in Relation zu Ganelon durchaus problematisiert: Immerhin muss er sich als Heros nicht nur gegenüber dem Repräsentanten der eigenen zu verteidigenden Werteordnung behaupten, sondern gleichzeitig gegenüber einem Familienmitglied. Der Konflikt ist dadurch auf der individualisierten und nicht mehr ausschließlich symbolischen Ebene angesiedelt. Hier präsentiert sich Roland – wie auch später in Relation zu Oliver – bereits als übermütiger Held, dessen Mut Hand in Hand mit seiner Hybris einhergeht. Rolands Männlichkeit ist herausgefordert, wenn Ganelon ihm unterstellt, er habe Angst, die Nachhut der Armee Karls des Großen anzuführen. Entsprechend der gattungstypologischen Vorgaben in Bezug auf Gender und Genre kann Roland an dieser Stelle nicht anders agieren, als diese Herausforderung anzunehmen. Sein Tod scheint damit unausweichlich und bereits zu einem frühen Stadium der Erzählung voraussehbar. Die Relation zwischen Ganelon und Roland generiert das Bild eines exzellenten Helden, dessen Mut zwar beispiellos, gleichzeitig aber auch über-mütig ist und ihn für die Gefahren um sich selbst und seine Begleiter blind werden lässt.

Am ehesten wird dieser Aspekt von Rolands Hybris und seinem Übermut in der Konfrontation mit seinem Freund Oliver deutlich. Hiermit ist die dritte und widersprüchlichste Ebene der Männlichkeitskonstruktion erreicht. Während die ersten beiden Ebenen das Bild einer relativ ungetrübten heldenepischen Maskulinität erzeugen, zerbricht ebendieses Bild durch die Opposition zu einer anderen zentralen Männlichkeit des Epos, Oliver, Rolands bestem Freund, Waffenbruder und Schwager in spe. Die Weigerung Rolands, frühzeitig in sein Horn zu blasen, und damit die Rettung der christlichen Armee zu sichern, wird nicht erst durch den Rezipienten oder die auktoriale Instanz kritisiert. Oliver selbst findet die richtigen Worte und stellt damit die einzige Instanz dar, deren Wertung Rolands Status als Held gefährden kann.

E il respont: „Cumpainz, vos le feïstes,

Kar vasselage par sens nen est folie;

Mielz valt mesure que ne fait estultie.

Franceis sunt morz par vostre legerie“ (CdR, S. 134, 1723–1726).5

Beachtenswert ist die Distanzverschiebung in der Konstruktion von Rolands Männlichkeit: Durch das Verhältnis zu den Anderen, den Sarazenen, wird sein Heldenstatus generiert. Diese stellen zwar eine unmittelbare Bedrohung für Rolands Leben dar, nicht aber für seinen Status. Durch seinen Mut und seine erprobte Kampfesstärke kann RolandRoland ihn problemlos erhalten. Problematischer erscheint die Opposition zu Ganelon, dem Vertreter des eigenen Wertesystems: „The apparently seamless community has cracks“.6 Die moralischen cracks der christlichen Wertegemeinde kennzeichnen jedoch nicht nur die Figur des Ganelon, sondern auch die des Roland. Seine démesure (Maßlosigkeit), estultie (Tollkühnheit) sowie legerie (Leichtfertigkeit) werden von der ihm am nächsten stehenden Instanz diagnostiziert. Umso symbolischer ist Rolands Tod auf dem Schlachtfeld von RoncesvallesRoncesvalles: Oliver, der durch den Kampf geschwächt ist und dessen Augen durch das viele Blut getrübt sind, trifft auf seinen Gefährten Roland und spaltet seinen Helm. Mit dieser Handlung – von Roland mit den Worten „Sire cumpain, faites le vos de gred? […] Par nule guise ne mʼaviez desfiet!“ (CdR, S. 156, 2000, 2002)7 kommentiert, ist es schließlich Olivier, der zur größten Bedrohung für Rolands Leben und dessen Heldenstatus wird.

In dieser Hinsicht kann für die Chanson de RolandRoland eine exklusive monologische Männlichkeit konstatiert werden, die sich in der Figur Rolands manifestiert. Die Konstruktion von Männlichkeit geschieht hier nicht in Opposition zu einem anderen Geschlecht, auch nicht zu den Anderen, sondern ausschließlich durch die Relationen zu anderen Repräsentanten des eigenen, um an dieser Stelle Judith Butlers Formulierung zu bemühen, phallogozentrischen Systems. Wenn Judith Butler, auf Luce Irigaray rekurrierend, schreibt, „that both the subject and the Other are masculine mainstays of a closed phallogocentric signifying economy that achieves its totalizing goal through the exclusion of the feminine altogether“,8 so ist dies für die Männlichkeitskonstruktion durch die Figur Rolands evident. Interessant ist an dieser Stelle die Ambivalenz dieser monologischen MaskulinitätMonologische Männlichkeit: Während der heroische Status in Bezug auf Vertreter der heidnischen Armee durch Rolands Tapferkeit und den Tod unzähliger Feinde durch sein Schwert stabilisiert wird, wird er gerade durch die Relation zu den Vertretern des eigenen Systems, Ganelon und Oliver, erschüttert. Das signifikante Charakteristikum Rolands, nämlich die Ambiguität seines Heldentums, wird durch die Figur seines Gefährten Olivers erzeugt.

5.3.3. Aude und Bramimonde

Die zentralen Figuren der Chanson de RolandRoland, die das Andere im phallogozentristischen System darstellen, sind die beiden Protagonistinnen: AudeAude, Olivers Schwester und Rolands Verlobte sowie BramimondeBramimonde, die heidnische Königin, die am Ende des Epos ihren heidnischen Wurzeln entsagt und sich von Karl dem Großen zum christlichen Glauben bekehren lässt. Zunächst scheinen die Funktionen dieser beiden Frauengestalten im Epos konträr zu sein. Dies verdeutlicht sich durch die Charakterisierung der Figuren: Der lauten, ungestümen und temperamentvollen heidnischen Königin ist die schöne, stille Christin Aude gegenübergestellt.

Im Hinblick auf die Werte- und Normensysteme repräsentieren sie die beiden sich bekriegenden Weltordnungen, sind verwandt oder verschwägert mit den für das Epos zentralen männlichen Repräsentanten RolandRoland und Oliver bzw. König Marsilius. Für die von hegemonialer Männlichkeit geprägte Weltordnung sind sie jedoch nur von marginaler Bedeutung, wobei BramimondeBramimonde sogar in doppelter Hinsicht marginalisiert ist: „as a subset (‚woman‘) in the larger category of pagan, or as a subset (‚Saracen‘) of that already-marginalized category ‚women‘“.1 Doch sie ist es, der am Ende des Epos ein vermeintliches glückliches Ende gelingt: Von Karl dem Großen nach dem endgültigen Sieg über die Heiden nach Aachen mitgenommen, konvertiert sie dort zum Christentum – par amure, aus Liebe darf sie ihr Leben in der neuen ‚richtigen‘ Weltordnung weiterleben, während die schöne AudeAude unmittelbar nach dem Erhalt der Nachricht vom Tod Rolands und Olivers stirbt. Die ihr zuvor von Karl in Aussicht gestellte Alternative der Ehe mit seinem Sohn Louis, Erben des gesamten fränkischen Reiches, wird von ihr abgelehnt. Angesichts der Positionierung dieser weiblichen Gestalt im Nexus der männlich-hegemonialen Strukturen einer Feudalgesellschaft verwundert es zunächst nicht, dass Aude in der Chanson de Roland nur an zwei Stellen erwähnt wird. Zuerst fällt ihr Name bezeichnenderweise auf dem Schlachtfeld, als Oliver nach all den Ratschlägen, ins Horn zu blasen, die jedoch bei Roland kein Gehör fanden, ihn aufgrund der Hoffnungslosigkeit der Situation davon abhalten will und androht:

Dist Oliver: „Par ceste meie [b]arbe,

Se puis veeir ma gente sorur Alde,

Ne jerreiez ja mais entre sa brace!“ (CdR, S. 134, 1719–1721).Aude2

Die Einführung Audes in die Narration an dieser Stelle ist bezeichnend. Sie geschieht in einem höchst emotionalen Moment, als eine Umkehrung der zuvor mehrmals artikulierten Positionen von RolandRoland und Oliver stattfindet: Nun ist es Roland, der die Härte der Schlacht anerkennt und nach Hilfe rufen will, während Oliver, der sich der Aussichtslosigkeit bewusst wird, diesen nun daran hindert. Beachtenswert ist, wie nur wenige Zeilen hier ausreichen, um Audes Position innerhalb der Familie und Gesellschaft zu fixieren. Aus dem oben aufgeführten Zitat werden sowohl Audes Zugehörigkeit zu einer adligen Familie durch ihre Verwandtschaft mit Oliver ausgedrückt als auch ihr passiver Status und ihre Rolle als sexuelles Objekt – denn ob Roland jemals in ihren Armen liegen wird, entscheidet nun Oliver. Seine edle Schwester wird damit zu einer Kriegsbeute, einer Gabe3 von Oliver an Roland, die jederzeit zurückverlangt werden kann: „But when the two men argue, it is clear that she is a gift that can be revoked should the homosexual relationship sour“.AudeBramimondeRoland4 An dieser Stelle wird das Konzept der monologischen Männlichkeit deutlich: Es ist die wechselhafte Reziprozität zwischen Roland und Oliver, die Audes Schicksal bestimmt, ob sie als Gabe oder Kriegstrophäe Roland zusteht oder ihm entzogen wird.

Die zweite Episode, die ihre Position verdeutlicht, ist die Szene in Karls Residenz in Aachen, in der ihr die Nachricht von Olivers und Rolands Tod übermittelt wird. Karl bietet ihr zugleich eine Alternative angesichts ihrer Trauer an: Sie könne seinen Sohn heiraten. Dieser Vorschlag erscheint ihr jedoch befremdlich, estrange (S. 284, 3717), sie erbleicht und stirbt augenblicklich. Ihr Tod repräsentiert hier ihre Kompromisslosigkeit und die Verweigerung einer alternativen Lebensweise, in der sie – einer ökonomischen Ware gleich – innerhalb eines umfassenden Tauschsystems weiter zirkulieren würde. In der Forschung nicht zuletzt als Suizid aufgefasst,5 scheint Audes Ende der erste selbstbestimmte Akt in diesem männlich dominierten Strukturgefüge zu sein, dem sie durch ihren Tod entkommt.

Legitim ist eine weitere, nämlich die romantisch-verklärende Lesart: Die schöne und loyale AudeAude folgt ihrem Geliebten in den Tod, damit sich ihre Seelen im Himmel vereinen können. Hier kann Loyalität als Charakteristikum der christlichen Weltordnung aufgefasst werden, welche leitmotivisch sowohl RolandRoland und Oliver als auch Aude den Tod bringt, während die heidnische Königin nach ihrer Bekehrung am Leben bleiben darf. In dieser Hinsicht erscheint die Bekehrung als der letzte Akt einer Akkulturation, durch den die Gefahr der Otherness – mit dem Namenswechsel von BramimondeBramimonde zu Juliana besiegelt – endgültig gebannt wird.

 

Nach der kursorischen Verortung der weiblichen Figuren der altfranzösischen Chanson de RolandRoland im heldenepischen Universum wird nun die Konstruktion einer monologischen Männlichkeit nach dem Transfer in das altostnordische Literatursystem einer kritischen Analyse unterzogen. Ausschlaggebend dafür ist das von Simon Gaunt geäußerte Argument des Zusammenhangs von Gender und Genre und damit für die vorliegende Arbeit umfassende Frage, nach den Möglichkeiten und Grenzen des Genre-Transfers von kulturellen oder kanonisieren Texten.