Die Wiedergutwerdung der Deutschen

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Die individuelle Grabstätte auf einem jüdischen Friedhof hingegen ist nach jüdischer Tradition unaufhebbar. Dieser Umstand zieht nicht nur den heimlichen Neid all derer auf sich, an die sich schon zu Lebzeiten niemand erinnert, sondern regelmäßig auch die Zerstörungswut jener, denen jedes jüdische Grabmal ein Stein des Anstoßes ist, weil es auf die deutsche Barbarei hinweist. Insofern sind die Verwüstungen jüdischer Friedhöfe, wie Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« schrieben, keine Ausschreitung des Antisemitismus, sondern dieser selbst. Er hat seine Opfer überlebt, denen nicht vergeben wird, dass sie ermordet wurden. Und noch ehe im Golfkrieg eine irakische Rakete auf Israel niedergegangen war, konnte man sich von der deutschen Treffsicherheit auf jüdischen Friedhöfen überzeugen. Hätten die alternativen Freilandhistoriker vor Jahren den jüdischen Friedhof gleich zum Abenteuerspielplatz gemacht, anstatt sich gegenseitig mit Webtechniken, Mundarten und Volksliedern zu quälen, dann hätten sie vielleicht schon damals eine Antwort auf die auch nach der Wiedervereinigung noch unbeantwortete deutsche Hauptfrage erhalten, was denn Heimat sei. »Zu den lächerlichen Unwahrheiten, die die Juden über sich verbreiten lassen, gehört ja die Rede vom Wandervolk«, schrieb Arnold Zweig 1936 in der Weltbühne in einem Nachruf auf Tucholsky. »Ließe man sie einmal in Ruhe, sie gingen nicht mehr vom Fleck. Wo die Gräber ihrer Vorfahren sind, da spüren sie ihre Wurzeln.« Jahrzehnte, ehe Ernst Bloch mit dem einzigen Satz, den alle gelesen haben, dem Schlusssatz seines »Prinzip Hoffnung«, der deutschen Heimatbewegung zuraunen sollte, dass der Ort ihrer Sehnsucht allen in die Kindheit scheine, aber noch niemand dort gewesen sei, hatte Zweig, der von einem ähnlichen Verlangen umgetrieben wurde, unfreiwillig eine radikale Definition von Heimat formuliert: es gibt sie allein sechs Fuß unter der Erde.

So hat alles seine schlechte und seine gute Seite. Auch Auschwitz. Damals hieß es täglich im Stürmer: »Die Juden sind unser Unglück.« Selbst die älteren Ausstellungsbesucher und Friedhofstouristen sehen heute, dass man sie mit diesem Slogan fast um die halbe Wahrheit betrogen hätte: »Für mich ist es immer wieder erstaunlich«, erzählte ein 62jähriger Rentner der taz, »wie viele Geistesmenschen aus dem Judentum hervorgegangen sind. Ich sag’s mal auf berlinisch: Irgendwas muss an der Rasse doch dran sein ... dass die Juden immer wieder ein – zunächst mal – positiver Bazillus sind, der in der Kultur etwas bewegt.« Er traf damit genau jenen »positiven Kontrapunkt«, den der Festspielleiter »gegen die Bilder der Zerstörung und des Todes« mit der Ausstellung setzen wollte.

Bei einer Pressekonferenz wiesen die Veranstalter außerdem darauf hin, wie außerordentlich wichtig eine solche Ausstellung angesichts des wachsenden Rassismus sei. Und alle nickten, nur Woody Allen nicht, denn er war gar nicht dabei. Doch von ihm stammt der vernünftigste Kommentar zu den pädagogischen Absichten der »Jüdischen Lebenswelten«: »Ich bevorzuge Baseballschläger«.

1992

Die Banalität der Guten

Dienstjubiläum 1989

Wer als Angestellter eines Kaufhauses oder einer Sparkasse lange genug durchhält, wird für seine masochistische Standhaftigkeit mit einer Armbanduhr und einem Händedruck vom Chef belohnt. Bei der Ehrung langgedienter Filialleiter gibt es eine richtige Feierstunde mit Häppchen und Kulturprogramm. Der Aufsichtsrat erscheint, Lobreden auf den Jubilar werden gehalten, Präsentkörbe werden verteilt und man stößt auf das Wohl der Firma an.

Ähnlich aufregend war Anfang April 1989 die Feier für Heinz Galinski, der sein 40jähriges Amtsjubiläum als Vor­sitzender der Jüdischen Gemeinde Berlins beging. Der wie für einen bunten Nachmittag der Ortskrankenkasse dekorierte Saal füllte sich mit den zumeist angejahrten Betriebsangehörigen, mit den Experten für christlich-jüdische Versöhnung, den Vertretern deutsch-israe­lischer Kameradschaftspflege, den Fachleuten für dialogisches Denken, professionellen Philosemiten, mit ökumenischen Organisatoren, mit nichtjüdischen Elternpaaren, deren Sprösslinge die jüdische Schule besuchen, weil es dort angeblich intelligenter zugeht, mit spirituellen Gesinnungstätern, mit verkniffenen Konvertiten, protes­tantischen Freizeitjudaisten und nicht zuletzt mit Politikern; mit einem Wort: wie bei anderen vergleichbaren Anlässen waren die Juden von erbarmungsloser deutscher Gutwilligkeit aller Schattierungen umzingelt.

Mit Walter Momper an der Spitze war der neue Aufsichtsrat fast vollständig anwesend. Und nach den Querelen der vergangenen Tage strahlte dieses Gremium an­gesichts lebender Juden noch immer jene Harmonie aus, die sich bei der Besichtigung toter Juden zwischen ihnen eingestellt hatte.

Wie erinnerlich ging den Berliner Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Alternativer Liste 1989 ein gemeinsamer Rundgang durch die Ausstellung »Aus Nachbarn wurden Juden« voraus. Zwar wurden, wie man weiß, aus Nachbarn zumeist Antisemiten, aber derlei Spitzfindigkeiten trübten weder den Genuss des historischen Vitaminstoßes, mit dem die beiden Parteien ihre Annäherung begossen, noch hinderte sie dieser Umstand daran, die Umkehrbarkeit des Ausstellungstitels am lebenden Objekt zu demonstrieren: aus Juden seien Nachbarn geworden, war deshalb das mehrfach variierte Motto der Jubelfeier. Und für die 40jährige Anpassung an die Hausordnung wurde Galinski mit einer Vertrauensstellung belohnt. Den Worten des Regierenden Bürgermeis­ters zufolge übernimmt der Gemeindevorsitzende, nachdem er jahrelang im Außendienst für das internationale Ansehen der Firma BRD tätig gewesen war, nun eine Tätigkeit im Innendienst, eine Art moralische Hauswartsstelle: »Er trägt dazu bei, dass wir die Lehren aus der Geschichte ziehen.« So profan wollte es der Berliner Bischof Kruse nicht sagen. Er nobilitierte Galinski zum himmlischen Scherenschleifer, womit er allerdings nur die mentale Schurbedürftigkeit seiner eigenen evangelischen Herde hervorhob: »Die jüdische Gemeinde ist ein Segen Gottes, um das Gewissen zu schärfen.« Für diesen Dienst christlicher Nächstenliebe durch einen Juden, der gelegentlich die Täter daran erinnerte, dass sie welche waren, hätte der Bischof den Gemeindevorsitzenden, wie er sagte, am liebsten mit einem »Bruder Galinski« belohnt.

Vorbei ist die Zeit, so wurde bei dieser Veranstaltung deutlich, dass Galinski wie andere jüdische Funktionäre ihre Rolle als Hofjuden der nachfaschistischen Ära haupt­sächlich damit ausfüllen sollten, für die Bonität der Firma auf dem Weltmarkt zu bürgen oder zu Hause die Henker zu trösten.

Die CDU-Politikerin Laurien stellte den im Namen ihrer Partei verlesenen Glückwunsch ausdrücklich »unter ein Motto des Talmud« und erinnerte dankbar an jene nun zu Ende gegangene Periode, in der die Opfer als verständnisvolle Therapeuten ihrer ehemaligen Peiniger aufgetreten waren: »Sie haben nicht auf Vergeltung, sondern auf Begegnung gesetzt.« Selten wurde der Tatbestand der unerlaubten Doppelbestrafung so präzise formuliert und so nachdrücklich gutgeheißen: nicht nur, war damit gesagt, haben die Juden auf Rache verzichtet, sondern sie haben diesen Verzicht außerdem noch teuer bezahlt mit einer Sache, deren Leitgedanke seinen Ausdruck im sprachlichen Schwellkörper »Begegnung« gefunden hat.

Galinsksi sei ein »unbequemer Mahner«, attestierten ihm alle Redner, als zahlten sie ihm nun, da sie ihn aufs Altenteil hinweglobten, mit einem Jagdschein die vielen Persilscheine der Vergangenheit heim. Gelegentlich nicht unbequem genug, fügte launig der Regierende Bürgermeister im Bewusstsein hinzu, dass er mit dieser Bitte nach einem Schuss Altersradikalität die Machtlosigkeit des mit den Gewissensverwaltung beauftragten Gemeinde-Vorsitzenden bekräftigte.

Auch die Gratulantin Heidemarie Bischoff-Pflanz von der Alternativen Liste, die Galinski staatstragendes Verhalten, nämlich »konstruktive Kritik«, kurz: ein guter Jude geworden zu sein, bescheinigte, sähe den Gemeindevorsitzenden gern der von ihrer Partei reklamierten neuen politischen Kultur gegenüber etwas aufgeschlossener. Was sie darunter verstand, sagte sie, zur Frau des Gemeindevorsitzenden gerichtet: »Kein Mann kann diese Kraft aufbringen ohne Hilfe seiner Frau.« Verglichen damit war das Angebot von Frau Laurien, die Jüdische Gemeinde häufiger mit der CDU-Frauenorganisation heimzusuchen, eine feministische Offerte.

Von allen Festrednern wurden Galinski jene deutschen Sekundärtugenden bescheinigt, deren Untergang die Republikaner aufhalten wollen, nämlich Arbeitsfleiß und Durchhaltevermögen. In der zweitausend Jahre alten Bibel, die für eine Weile als Zitatenquelle sinnstiftender Gemeinplätze diente, komme die Zahl vierzig, so einer der Gratulanten, genau 124 mal vor. Mindestens genau so oft war in der zweistündigen Jubelfeier vom »unermüdlichen Einsatz« Galinskis die Rede, so als wollten dem ehemaligen Zwangsarbeiter alle nachdrücklich bestätigen, er habe die ihm erteilte Lektion wirklich begriffen.

Aus Ostberlin, wo Galinski im November 1988 beim Pogrom-Festival den goldgelben »Stern der Völkerfreundschaft« angeheftet bekommen hatte, war der Staatssekretär für Kirchenfragen zum Gratulationsdéfilé angereist. Zwar machte dieser am Anfang »mit tiefer innerer Bewegung« darauf aufmerksam, dass der Absender seiner Grußadresse, der »oberste Repräsentant der Deutschen Demokratischen Republik, der Vorsitzende des Staatsrats und Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Erich Honecker« über einen längeren Titel verfügte als der Empfänger, doch nach dieser Einleitung war alles Trennende vergessen.

Beflügelt vom sprachlichen Wiedervereinigungsangebot des Berliner FDP-Vorsitzenden Rasch, der Galinskis langjährige Amtszeit neidvoll auf ein physiologisches Wunder, auf einen »lautstark erhobenen Finger« zurückgeführt hatte, kannte der DDR-Repräsentant keine Par­teien mehr, nur noch Plattitüden. Der Massenmord wurde bei ihm zu »jenen schweren opferreichen Tagen damals, als die Sonne nicht mehr schien«. Und, dem FDP-Poli­tiker in der Metaphernbildung nacheifernd, sah er im Wahlerfolg der Republikaner »die finstersten Triebe das Haupt erheben«, gegen welche die »Ehre des deutschen Namens in der Geschichte« verteidigt werden müsse. Wegen der vorausgegangenen Kinderdarbietung »Heut ist ein schöner Tag, dein Jubiläumstag« verlor der Staatssekretär dann auch noch die räumliche Orientierung und glaubte sich bei einem Fest der Jungen Pioniere. Er reimte als Schlusssatz: »Dieser unser Planet blüht und gedeiht, damit Frieden herrscht für alle Zeit. – Schalom.« Otto Schily hätte im Bundestag genau an dieser Stelle die Stimme vor Betroffenheit versagt.

 

In seinem Schlusswort nahm Galinski die neue Rolle des Referenten fürs Betriebsklima und den Hausfrieden emphatisch an. Das Wichtigste sei der »Konsens der Demokraten«: »Mir geht es immer um Gemeinsamkeiten.« Jetzt weiß man, was die viel beschworene deutsch-jüdi­sche Symbiose meint: gemeinsam sind sie unausstehlich. Oder wie der bekannteste Stadtneurotiker Jerusalems, Gad Granach, einmal über Berlin sagte: ein Dach über die Mauer und man hat eine geschlossene Anstalt.

Heinzelmännchens Wachparade 1992

Wie den dienstfertigen Kölner Kobolden trauerte im Sommer 1992 die wohlmeinende Öffentlichkeit dem verstorbenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde nach. Alle Nachrufer seufzten im Chor: »Ach wie war es doch vordem / mit Heinz Galinski so bequem«, und hofften, dass die Stelle des Mahnwächters nicht allzu lange vakant bliebe. »Es war seines Amtes, seine Verantwortung und Verpflichtung, anzuprangern, anzumahnen«, schrieb die Zeit über den toten Chef der jüdischen Firma »Mahnen & Warnen«.

Wer sollte nun die Drecksarbeit machen, fragte sich auch der Tagesspiegel. Und weil die Lebenden fest schliefen, sollte der Tote keine Ruhe haben. Galinski war kaum einen Monat unter der Erde, da buddelte ihn einer der Tagesspiegel-Redakteure wieder aus. »Manchmal bringen sich Tote dadurch in Erinnerung, dass das Fehlen ihrer Stimme auffällt«, hieß es salbungsvoll in der Zeitung, deren Fehlen niemandem auffiele, die sich in ihrer Schlafmützigkeit aber unverfroren in Erinnerung brachte mit der Aufforderung an die Juden, als öffentlicher Muntermacher zu fungieren: »Das Wachhalten der Erinnerung an die jüdische und deutsche Vergangenheit, die Anprangerung von Antisemitismus und Rechtsradikalismus – all das wird wie zuvor zu den Hauptaufgaben der jüdischen Gemeinschaft im Land der Täter und ihrer Nachkommen zählen.« Zu den öffentlichen Nebenaufgaben rechnete jener Redakteur, der sich am Grabe Galins­kis zu schaffen machte, klärende Worte zu den Folgen neuer deutscher Außenpolitik, etwa zu den Lagern in Jugoslawien. Doch der Tote gab leider keine Antwort. »Niemand kann wissen, was Galinski dazu gesagt hätte«, sinnierte der um die Nachhilfe aus dem Jenseits gebrachte Leichenbeschauer. »Aber eines«, schloss er seine Besichtigung ab, »dürfte gewiss sein: Er hätte nicht geduldet, dass in Deutschland über diese Themen so erschreckend wenig diskutiert wird. Sein Schweigen ist unüberhörbar.« Aber offenkundig nicht laut genug, um solche Sätze zu übertönen.

Die Juden erinnern an die Pogrome, und die Deutschen veranstalten sie. Die Juden mahnen, und die Deutschen machen. Abgeschirmt in Reservaten, den Hochsicherheitsgettos der jüdischen Gemeinden, dürfen sie an Gedenktagen das deutsche Judenschutzgebiet verlassen, um als moralische Pausenclowns für das wohlige Gruseln, für die kleine Betroffenheit zwischendurch zu sorgen. Hätte er, wie die Grünen im November 1988 vergeblich gefordert hatten, im Bundestag gesprochen, wäre der Skandal ausgeblieben, den die Rede Jenningers auslöste. Galinski hätte verwirklicht, wovon Walter Jens immer nur träumen kann: nämlich Jude zu sein und eine Predigt zu halten. Er hätte gemahnt. Jenninger hingegen plauderte ganz unanständig aus, wie fasziniert bis heute die Deutschen von Hitler seien. Das war ein lichter Moment im deutschen Parlament und wurde ein schwarzer Tag für dessen vorlauten Präsidenten. Denn so genau wollte man nicht wissen, welche Elemente des Nationalsozialismus in der Demokratie fortwirkten.

Der Tod Galinskis bot Gelegenheit, die Arbeitsteilung zwischen Mahnern und Machern zu bekräftigen. Der Galinski schon zu Lebzeiten verliehene Titel »Ein Mahner«, mit dem nicht nur die Zeit ihren Nachruf überschrieb, war vor allem eine Auszeichnung, mit der die Ohnmacht der Erinnerung bekräftigt wurde. Die Mahnung, so heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch, ist eine an den Schuldner gerichtete Aufforderung zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten. Die Mahnung unterbricht aber nicht die Verjährung, heißt es ebenfalls dort. Gerade dieser tröstlichen Gewissheit wegen nistete das Ressentiment in der Galinski ausgesprochenen Anerkennung. Denn gleichzeitig war damit auch angedeutet, er gebärde sich als notorischer Gläubiger, als jemand, dessen moralische Hülle notdürftig das nackte materielle Interesse, nämlich den Zahlungsbefehl, verberge.

Dem heimlichen Groll gegen die Entschädigungszahlungen an Israel oder an jüdische Organisationen ähnlich, insinuierte die Galinski nachgerufene Auszeichnung, ein »unbeugsamer Mahner« gewesen zu sein, das Moment des Zwangs, der Erpressung. Die moralische Autorität Galinskis, die ohnehin nur in der Einbildung der Juden bestanden hatte, war damit als bloßes Mittel zum Zweck des Vernichtungsgewinns identifiziert. Wenn er also trotz der Verjährung seinen Schuldnern im Nacken saß, mahnte und auf der Vollstreckbarkeit der Titel beharrte, dann konnte er nicht recht bei Trost gewesen sein.

In der vorgeblich respektvollen Formel vom »hartnä­ckigen Mahner« schwang augenzwinkernd die etymologische Verwandtschaft von Mahnung und Manie mit, ein Zusammenhang, der im Gedanken vom Gläubigerkomplex wiederspiegelte, was in der gängigen Rede vom Schuldkomplex vorgebildet war: alles krankhafte Regungen. »Was Wunder auch! Er war in Auschwitz der einzige seiner Familie, der überlebte«, warb die Zeit um Nachsicht für Galinskis »harte Kanten« und seine »schneidende Stimme«, will sagen für die Marotten »dieses ständig Mahnenden, unverdrossen Warnenden«.

Gelegentlich auf Friedhöfen, insbesondere aber an Gedenkstätten für das vergangene Grauen, findet sich die Inschrift »Die Toten mahnen«. Doch abgesehen von der verlogenen Allgemeinheit dieser Behauptung, welche die Geschichte in ein wohnliches Massengrab für Mörder wie Ermordete verwandelt, sind Tote bloß tot. Sie können gar nichts mehr tun und niemandem etwas anhaben. Bei der gesellschaftlichen Hausaufgabenverteilung in Deutschland ist es der Beruf der Juden, es jenen Toten gleichzutun, zu mahnen. Sie sollen wissen, sie sind Tote auf Abruf. Sie haben nicht, sie sind überlebt.

Dass den Vernichtungslagern etwas Gutes abzugewinnen sei, diese nachkriegsdeutsche Kosten-Nutzenanalyse hat längst aufgehört, exklusives geistiges Eigentum alter und neuer Nazis zu sein. Wer immer betonte, man dürfe die »nationale Frage« nicht den Rechten überlassen, musste beim völkischen Mitbestimmungsbegehren notwendigerweise versuchen, den extremsten Ausdruck dieser nationalen Frage – Auschwitz – für sich auf erträgliche Weise zu reklamieren. Dabei gingen moralische Attitüde und politisches Kalkül jene Verbindung ein, die im neuen Bewährungshelferidiom mit der Standardformel »Gerade wir als Deutsche« ihrem rhetorischen Dauerausdruck fand. Mit dem regelmäßig an Israel wie an ausgewählte Überlebende gerichteten Ansinnen, die Juden nach Hitler hätten gefälligst die besseren Menschen zu sein, wurden die Konzentrationslager als Tötungsfabriken und Weiterbildungseinrichtungen ins alternative Geschichtsbild integriert.

Wie alles populär wird, was alternative Weltsicht in Umlauf bringt, weil deren Ideologen als Aufreißer des Massenbewusstseins und als Animateure des politischen Betriebs fungieren, so verbreitete sich auch der Gedanke von der pädagogischen Nützlichkeit der Konzentrationslager. Nicht immer wurde daraus ein Vorwurf an Uneinsichtige. Gelegentlich kam es zu einem Lob. Galinski etwa, so erfuhr man bei der Trauerfeier für den verstorbenen Gemeindevorsitzenden, war im Lager tatsächlich durch eine harte Schule, sozusagen durch die Vorschule der Demokratie gegangen, wie der Regierende Bürgermeister Diepgen zu sagen wußte: »Das Leid hat ihn nicht gebrochen, sondern ihm die Kraft gegeben, beim Aufbau einer neuen, demokratischen und freiheitlichen Ordnung mitzuwirken.«

Diese Sichtweise von Auschwitz als Fitnesscenter für künftige Demokraten war ein Plädoyer für die sofortige Deportation der gesamten deutschen Bevölkerung in Konzentrationslager. Ähnlich radikal musste ein Redakteur des Tagesspiegel gedacht haben, als er Galinskis oft wiederholte Äußerung – »Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu bestimmten Vorkommnissen den Mund zu halten« – mit der Anmerkung zitierte, kein Satz des Verstorbenen sei so richtig gewesen wie dieser. Und wie um diese volkspädagogische Schlussfolgerung aus der Massenvernichtung zu beweisen, machte der Tagesspiegel wenige Tage nach dieser Erläuterung den Mund weit auf und trug zu jenen bestimmten Vorkommnissen bei, angesichts derer nicht den Mund zu halten man offenbar erst ein Konzentrationslager überlebt haben muss.

Anfang September lautete eine Meldung im Lokalteil der Zeitung: »Ein in Polen geborener 44jähriger Postangestellter ..., der seit 1977 in Berlin wohnt, wurde ... zu einer Geldbuße von 2100 DM verurteilt, weil er sich durch falsche Angaben die deutsche Volkszugehörigkeit erschleichen wollte.« Das war ein Schritt in die richtige Richtung, gemacht von Redakteuren, die nicht das Lager, sondern die Tarifrunde hinter sich haben und deshalb einer demokratiefordernden Erfahrung ermangeln, deren kulturellen Höhepunkt das Feuilleton der Zeitung schon im Frühjahr 1992 mit »Die Stunde der Gasöfen ist die Stunde der Dichtung« beschrieben hatte. Der Weg dorthin ist gepflastert mit trockenen Meldungen. Die Stunde des Pogroms ist unpoetisch, es ist die Stunde des Ariernachweises.

Heinz Galinski war der im kugelsicheren Terrarium gut gehütete Gewissenswurm der Deutschen; er war der meistgehasste Bürger dieser Republik, der Itzig der Nachkriegszeit. Noch im Tode benötigte er Polizeischutz. Sein Bekanntheitsgrad war ein zuverlässiger Indikator für die Bestimmung des Debilitätskoeffizienten der Bevölkerung. Wer nichts wußte, wußte, wer Galinski war; wer nichts zu sagen hatte, dem fiel zu Galinski etwas ein. Und selbst Kinder, deren Idole und Monster schrille Phantasiegeschöpfe der Filmindustrie sind, standen den Erwachsenen an Realitätstüchtigkeit nicht nach: ein Berliner Schüler, dem zu Bismarck allenfalls der gleichnamige Hering einfiel, überraschte seinen Geschichtslehrer einmal mit der präzisen zeitgeschichtlichen Auskunft, Galinski würde am liebsten alle Deutschen nach Israel deportieren und dort in ein KZ stecken.

Der weitverbreitete Hass auf Galinski freilich war nicht Ausdruck dumpfer Verdrängung der mörderischen Vergangenheit, sondern eine Leistung des wachen Bewusstseins: mit der jüngeren deutschen Geschichte sollte nicht einfach Schluss sein, sondern diese sollte, indem es gegen Galinski ging, erst richtig zu ihrem Abschluss gebracht und – vollendet werden. Dass er noch da war, ging nicht mit rechten Dingen zu. Etwas war schiefgelaufen. Auch das Lamento über »die Vergangenheit, die nicht vergehen will«, war in Wahrheit nur eine Äußerung mürrischer Ungeduld: die Überlebenden, an ihrer Spitze Galinski, sollten endlich von der Bildfläche verschwinden. Denn sie sind die Toten, die nicht sterben wollen. Sie sind die Gespenster der Vergangenheit in der deutschen Gegenwart; sie sind die Untoten der Lager; sie sind die Geister, die ausgetrieben werden müssen, wenn sie sich nicht an die jährliche Geisterstunde halten.

Der Rädelsführer dieser Spukgestalten ist verschwunden, und plötzlich vermissen ihn alle. »Seine Stimme ist erloschen ... Eine Stimme, die den Deutschen fehlen wird, allen Deutschen«, hieß es in der Zeit. Mit dieser Verlustmeldung war Heinz Galinski endlich zuhause, richtig eingebürgert und unwiderruflich gemeinschaftsfähig: als moralisches Heinzelmännchen.

1992