Die Wiedergutwerdung der Deutschen

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Eike Geisel, 1984 - Foto: Wolfgang Pohrt

Runder Tisch mit Eichmann
Über den kleinen Unterschied zwischen dem »anderen Deutschland« und der zivilisierten Welt

1984 wurde Joshua Sobols »Getto« in Deutschland zum ersten Mal aufgeführt. Seitdem wissen zumindest das deutsche Theaterpublikum oder die Leser des Spiegel, dass eine »Art Wahlverwandschaft zwischen Opfer und Henker« existiert hat. Erst 1994 wurde dieser Gedanke zu Ende gedacht. Erst in diesem Jahr wurde die logische Entsprechung zum moralisch zweifelhaften Opfer gefunden: der moralisch zweifelsfreie Täter. Und die Entdeckung des Jahres ist deshalb der »gute Nazi«. Vorher war diese Formel als Verdikt in Gebrauch. Bezeichnet wurde damit das besonders rührige Mitglied einer kriminellen Vereinigung. Seit Oskar Schindler – außen Nazi, innen gut – weiß man es besser. Und dieser Einzelfall hat Appetit auf mehr gemacht. Nach dem Deutschen, der gut sein konnte, weil er besser verdiente, sollten nun aus besonderem Anlass jene Deutschen gefeiert werden, die ein weiches Herz hatten, das unter einem Eisernen Kreuz schlug. Man steckte Schindler in eine Uniform und ließ ihn in Kompaniestärke zum 50. Jahrestag der Offiziersrevolte gegen Hitler als Repräsentanten des »anderen Deutschland« antreten.

Am 20. Juli 1994 wurde in Berlin an historischer Stätte ein ganz besonderer Staatsakt zelebriert. Der Bundeskanzler, immer auf symbolische Gesten erpicht, ob auf den Schlachtfeldern von Verdun oder auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, hatte sich für die historische Feierstunde eine besonders reizvolle Zeremonie ausgedacht. Auf dem Hof des Gebäudes, wo vor 50 Jahren ein Füsilierkommando unter dem Befehl »Legt an!« einige der Verschwörer noch am Abend des missglückten Attentats auf Hitler erschoss, brachte das Wachbataillon der Bundeswehr bei der Gedenkfeier die Gewehre in Anschlag: »Präsentiert das Gewehr«. Ein uniformierter Musikzug blies einen preußischen Armeemarsch dazu.

Mit den jährlichen offiziellen Feiern zum 20. Juli war man bislang nicht besonders erfolgreich gewesen. Die Anteilnahme am Schicksal der militärischen Verschwörer war so gering, wie die Kenntnis antifaschistischer Widerstandsaktionen von Kommunisten oder Sozialdemokraten mangelhaft war. Generationen von Schülern der Bundesrepublik gähnten an diesem Tag, wenn ihre Geschichtslehrer den Versuch unternahmen, ihnen die Generäle und Offiziere des 20. Juli pädagogisch schmackhaft zu machen. Man sollte sie schätzen lernen als eine Art Rote-Kreuz-Truppe, als Vorläufer eines Kirchentagspräsidiums oder als frühe Kinkel-Initiative, weil es – wie dem Außenminister heute, wenn Türken in Deutschland angezündet werden – den Verschwörern schon damals hauptsächlich um das Ansehen des Staates im Ausland gegangen war. In einem für die Nazi-Wehrmacht gedachten Auf­ruf der Verschwörer hieß es 1944: »Wir müssen handeln, weil – und das wiegt am schwersten – in Eurem Rücken Verbrechen begangen wurden, die den Ehrenschild des deutschen Volkes beflecken und seinen in der Welt erworbenen guten Ruf besudeln.« Doch dass die Naziarmee keine Verbrecherbande, sondern ein Verein zur Veranstaltung von Abenteuerreisen gewesen war, das glaubte allenfalls noch die Bundeswehr. Selbst ein CDU-Minister gelangte trotz der jährlichen patriotischen Pflichtübung einmal zu der kurzlebigen Einsicht, dass Auschwitz nur so lange funktionierte, wie die Wehrmacht dafür die logistischen Hilfsdienste leistete.

Die Schüler begriffen nur, dass Aufstand in Deutschland eine ziemlich verschlafene Angelegenheit sein musste, wenn die endlosen Debatten und Denkschriften der Verschwörer ein »Aufstand des Gewissens« sein sollten. An diesem besonderen Tag wurde man als Jugendlicher regelmäßig mit Gewissenskonflikten von Leuten gelangweilt, die sich endlos damit abgequält hatten, ob sie Hochverrat üben, ihren Eid brechen oder Tyrannenmord begehen dürften. Sie hätten alle umstandslos geputscht, wenn der Führer es ihnen befohlen hätte. Aber leider lag kein Befehl dazu vor. Andererseits hatten sie keine sichtbaren Probleme damit gehabt, halb Europa in Schutt und Asche zu legen und Millionen von Menschen umbringen zu lassen. Sie hatten ein reines Gewissen, weil sie es nie benutzt hatten. Dass ausgewiesene Zerstörungs- und Vernichtungsexperten in genau dem Augenblick, als die Firma pleite ging und sie den Chef loswerden wollten, sich als absolute Dilettanten erwiesen, das konnte keinen nachhaltigen Eindruck bei jungen Leuten hinterlassen, die im Unterricht etwas über Julius Caesar, Ludwig XVI. oder den Zaren erfahren hatten. Sie mussten zu der Auffassung gelangen, dass die dramatische Hauptperson des Putschversuchs das Telefon war, denn die Protagonisten der Verschwörung kämpften hauptsächlich mit der Telefonanlage auf ihrer Büroetage im Oberkommando des Heeres. Ein Stockwerk tiefer war das Dritte Reich ungefährdet.

Mit vielen anderen, die die Erinnerung an den 20. Juli für einen nationalpädagogischen Auftrag halten, bedauert die Mitherausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit, Gräfin Dönhoff, seit Jahren, »dass der 20. Juli 1944, der als moralisch-politische Tat weit herausragt aus der deutschen Geschichte, nie wirklich in das Bewusstsein eingegangen ist.« Mehr noch als heimische Gleichgültigkeit macht sie, die mit einigen der Verschwörer befreundet war und sich als Wahrerin des geistigen Erbes der Widerständler versteht, die westlichen Alliierten für das Desinteresse der Deutschen verantwortlich. Sie hat Engländern und Amerikanern bis heute nicht verziehen, dass diese die Militärs damals nicht als gleichberechtigtes Gegenüber, sondern als politische Bankrotteure betrachteten, weil die Offiziere von einem Großdeutschland, also vom Anschluss Öster­reichs und des Sudetenlands oder gar von der Rückgabe der Kolonien, träumten. »Im Ausland aber wurde die Existenz eines deutschen Widerstands von den Alliierten wider besseres Wissen geleugnet«, heißt es in ihrem Jubiläumsbuch »Um der Ehre willen«. Für ganz besonders ehrverletzend hält sie eine Erklärung Churchills, der im Sommer 1944 im Unterhaus gesagt hatte, bei den Vorgängen des 20. Juli 1944 handle es sich »um Ausrottungskämpfe unter den Würdenträgern des Dritten Reiches«. Mit Sicherheit irrte der britische Premier nicht darin, dass er von den Würdenträgern Deutschlands sprach. Am meisten freilich nimmt sie den Engländern noch heute übel, was schon die Verschwörergruppe 1944 mehr umgetrieben hatte als der organisierte Massenmord: »Vermutlich wollte Churchill nicht nur Hitler erledigen, sondern ein für allemal die Macht der Deutschen brechen.« Gräfin Dönhoff wird Trost bei dem Gedanken finden, dass wie zur Rache für jene vernünftige Absicht die Ehre der Verschwörer nun wiederhergestellt ist, indem deren Vorstellung von einem vereinten Europa unter deutscher Vorherrschaft endlich verwirklicht scheint.

Seit der Wiedervereinigung und seit insbesondere auch die ehemaligen Friedensfreunde heftig nach dem ersten Großeinsatz der Armee rufen, ist das Bedürfnis gewachsen, auch an dieser Front die Geschichte zu entsorgen. Jetzt kommen wieder die psychologischen Ladenhüter des deutschen Landsers zu Ehren, der sich, je weniger er es selbst glaubte, desto heftiger immer einreden musste, dass er anständig geblieben sei. »Das ist die einzige Lebensform, in der man noch mit einigem Anstand existieren kann«, kolportiert zustimmend Gräfin Dönhoff die Auskunft des Mitverschwörers Schulenburg, der, ehe er 1941 mit einigem Anstand seinem Kriegstagebuch anvertraute, der Überfall auf die Sowjetunion sei ein »Auftrag des Schicksals«, 1932 in die NSDAP eingetreten war.

Auch die Rechtsradikalen wollen bei dieser Generalüberholung nicht abseits stehen. Galten ihnen bislang die Verschwörer, die den Mut für das Attentat aufbrachten und mit dem Leben dafür bezahlten, alle samt und sonders als Verräter, so verleihen sie ihnen nun, im Einklang mit dem Bedürfnis nach einer gereinigten Nationalerinnerung posthum den Ehrentitel von »Reformnationalsozialisten«. Wolfgang Venohr, ehemals Chefredakteur des Fernsehkanals Stern TV, auf seine alten Tage vom jungen Hitler begeistert, erklärte angelegentlich seiner Rehabilitierungsschrift »Patrioten gegen Hitler«, warum der Widerstand eigentlich eine Notwehrmaßnahme war, mit welcher der Nationalsozialismus gerettet werden sollte. Über die in seinen Augen ehrenvollen Motive der Verschwörer, die nur Hitler vor Hitler schützen wollten, sagte Venohr: »Hitler hatte in ihren Augen sein eigenes Credo verraten, als er vom Nationalisten zum Imperialisten denaturierte. Die Grundidee des nationalen Sozialismus bekämpften die jungen Aktivisten des Widerstands mitnichten. [...] Man könnte sagen: Sie erstrebten einen na­tio­nalen deutschen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.«

Wie auch immer begründet, würde die Publizistin Gräfin Dönhoff dagegen einwenden, »entscheidend war nur, ob der Betreffende für oder gegen Adolf Hitler war. Ob er dies als Monarchist, Sozialist oder aufgeklärter Konservativer war, das interessierte niemanden, jedenfalls nicht in der frühen Phase.« In der etwas späteren Phase wird man aber vielleicht nachfragen müssen, ob in diesem pluralistischen Panorama nicht eine Farbe fehlt. Wenn schon alle in einen Topf geworfen werden, dann sollte man den Antisemitismus als würzende Zutat nicht vergessen. Er hat dem Verschwörerkreis nämlich genau jenes Aroma verliehen, das Hannah Arendt 1963 in einem Brief an den Philosophen Karl Jaspers folgendermaßen beschrieben hat: »Was ich meine, ist, dass jeder, der politisch auftrat, auch wenn er dagegen war, auch wenn er im geheimen ein Attentat vorbereitete, in Wort und Tat von der Seuche angesteckt war. In diesem Sinn war die Demoralisation komplett.«

 

Die Verschwörer des 20. Juli dürfen Reaktionäre oder Reformer, Nazis, Parafaschisten oder Christen gewesen sein, aber von ihrem antijüdischen Einverständnis soll nicht die Rede sein. Selbst der renommierte Historiker Hans Mommsen widersteht in seinem immer wieder aufgelegten und überarbeiteten Essay über »Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstands« erfolgreich der Versuchung, auch nur andeutungsweise diesen politischen Charakterzug der ganzen Verschwörung zu erwähnen. Einzig die akademische Garde, die der – einst jüdische – Ullstein-Verlag jüngst mit der Rettung der Nation durch den Sammelband »Für Deutschland« beauftragt hat, zeigt keine Scheu, die antisemitische Grundausstattung vieler Akteure des 20. Juli offenzulegen: »Dem Gedanken, die Juden aus ihrer teilweise beherrschenden Stellung im Zeitungs- und Theaterwesen zurückzudrängen, stimmten die Stauffenbergs zu.« Gelegentlich aber sind die Autoren selber ratlos angesichts der Weiterungen derartiger Kavaliersdelikte und »müssen zugeben, dass wir es nicht wissen«, warum General Carl-Heinrich von Stülpnagel ein Schreiben des Ober­kom­man­dos in Russland unterzeichnete, in welchem ein »vermehr­ter Kampf gegen das Judentum« gefordert wurde, oder dass er verlangte »bei Notwendigkeit raschen Zugriffs besonders [auf] die jüdischen Komsomolzen als Träger der Sabotage und Bandenbildung« zurückzugreifen.

Derlei darf das offizielle Gedenken nicht belasten, denn die Offiziere des 20. Juli sollen ein moralisches Bindeglied der neuen Großmacht zu ihrer eigenen Vergangenheit sein. Traditionsbewusst, allerdings etwas vorlaut, hat sich dabei das Wachbataillon der Bundeswehr neulich hervorgetan, als einige seiner Angehörigen zur Ausführung eines in ihrem Inneren schlummernden Tagesbefehls schritten und »Juden raus«! grölten. Zur Strafe dürfen diese Leute, die sonst bei Empfängen für ausländische Staatsoberhäupter strammstehen, nun ins Kino und »Schindlers Liste« ansehen.

Bei der Gedenkfeier zur 50jährigen Wiederkehr des Attentats könnten sie durchaus unter dieser Parole antreten, denn das »andere Deutschland«, das hier gefeiert werden soll, war, wie Hannah Arendt einmal schrieb, »noch durch einen Abgrund von der zivilisierten Welt getrennt«. Der traditionsstiftende Begriff vom »anderen Deutschland« gehört zu den zählebigsten Gründungsmythen der Bundesrepublik. Wie aus einem Jungbrunnen entstieg mit dieser contradictio in adjecto, kaum war es mit der kriminellen Volksgemeinschaft vorbei, ein runderneuertes Kollektiv, das ganz anders, vor allen Dingen anders deutsch, nämlich anständig gewesen war. Abgesehen vom völkischen Denkmuster, das mit dem Begriff vom »anderen Deutschland« tradiert wird; abgesehen von der Berufung auf die Anständigkeit, einen Charakterzug, auf den gerade die Nazis ihre Schlächter immer eingeschworen haben; abgesehen von der Tatsache, dass es Widerstandsaktionen von einzelnen Personen und isolierten Gruppen, nicht aber eine anderen Ländern vergleichbare Widerstandsbewegung gegeben hat; abgesehen von all diesen Momenten wird bei der Berufung auf das »andere Deutschland« dessen größte Schande sanktioniert: die im besten Fall absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden.

Gleichgültigkeit in dieser Frage brauchen sich freilich die Verschwörer des 20. Juli bestimmt nicht vorwerfen zu lassen. Die Akteure hätten sich mit Eichmann durchaus an einem Runden Tisch zur Judenfrage zusammensetzen können, denn auch sie wollten eine Lösung der Judenfrage, eine »Dauerlösung«. Bei diesem Treffen hätten sie Eichmann dann versichert, sie »hätten die Rassengrundsätze des Nationalsozialismus an sich bejaht, hätten sie aber für überspitzt und übersteigert gehalten« (so ein Bruder des Attentäters beim Verhör durch die Gestapo). Diese Einschränkung allerdings hätte Eichmann weniger interessiert als die Durchführungsbestimmungen, die von der präsumtiven Regierung vorgesehen waren. Denn hier hätte er sich wieder auf vertrautem Terrain befunden. »Ich komme immer noch in die alte Tour«, wird er später in Jerusalem sagen, wo ihm vorgehalten wurde, er rede immer noch wie ein waschechter Nazi. Aber genau diese »alte Tour« war von den Verschwörern gefragt. Vertraut gewesen wäre Eichmann nicht nur der Ton der Gruppe (»dass das jüdische Volk einer anderen Rasse angehört, ist eine Binsen-Weisheit.«), sondern auch deren Vorstellung, die Juden in Kanada oder in Südamerika anzusiedeln. Das war nichts anderes als eine Reprise des »Madagaskar-Projekts«, mit dem sich Eichmann 1940 beschäftigt hatte, als er mit der Austreibung der Juden aus Deutschland und Österreich nicht mehr so richtig vorankam. Eichmann jagte, wie er später nicht ohne Stolz bekannte, die Juden aus Sympathie für den Zionismus aus dem Deutschen Reich. Von ähnlicher Zuneigung war die Absicht der Verschwörer durchdrungen, für den Fall, der Putsch gelänge, die Juden nach Übersee zu verfrachten, denn die Welt käme nicht eher zur Ruhe, so ihre Auffassung, bis nicht eine globale »Neuordnung der Stellung der Juden« erreicht sei. Als alte Bekannte hätte Eichmann auch die juristischen Maßnahmen zur Ausgrenzung von Juden im Innern begrüßen können. Eingedenk der von vielen Verschwörern geteilten Auffassung, dass – so ein Stauffenberg–Bruder im Verhör – »die Grundideen des Nationalsozialismus [...] in der Durchführung fast alle in ihr Gegenteil verkehrt worden« sind, besann man sich auf eine nationalsozialistische Grundidee: auf einen Passus des sogenannten 25-Punkte-Programms der frühen NSDAP, in dem einigen »Verdienstjuden«, wie sie später hießen, die Möglichkeit eingeräumt wurde, deutsche Staatsangehörige zu werden. Carl Goerdeler, dessen Hand­schrift alle diese 1941 formulierten und noch in der Todeszelle bekräftigten Verwaltungsbestimmungen tragen, brauchte nur bei sich selbst abzuschreiben: im Sommer 1934, damals noch Oberbürgermeister von Leipzig, hatte er sich in einer Denkschrift an Hitler für eine »Konsolidierung der deutschen Rassepolitik« eingesetzt. Er forderte Hitler auf, »eine echte Volksgemeinschaft herzustellen«, und hoffte, worauf auch die Naziführung spekulierte, nämlich auf das internationale Einverständnis der Antisemiten: eine gesetzliche Regelung der Judenfrage werde im Ausland »als Selbstschutz kaum beanstandet werden.« Diese Regelung, so riet er Hitler, müsse sich, »unter eiserner Disziplin und unter Vermeidung von Ausartungen und Kleinlichkeiten vollziehen.« Um Schlimmes, nämlich die unkontrollierten Übergriffe der SA, zu verhindern, hatte er damals für Schlimmeres plädiert: ein Sonderrecht für Juden, das die Nazis dann auch zügig verwirklichten. Diese einfühlsame Voraussicht auf die bürokratisch-legalistischen Bedürfnisse der Nazis ist kürzlich als »Versuch der Durchsetzung einer alternativen Politik« in den Titel einer wissenschaftlichen Untersuchung in Deutschland eingegangen.

Eichmann hätte den Verschwörern, die er natürlich alle für Lumpen hielt, aus eigener Erfahrung bestätigen können. Was die Gestapo im Verhörprotokoll mit Geringschätzung vermerkt hatte, nämlich dass sie in ihrer »Einstellung zur Rassenfrage [...] auch nicht über einen einzigen neuen fruchtbaren und konstruktiven Gedanken verfügten.« Neu war keiner der Gedanken, die der als Reichskanzler vorgesehene Goerdeler in einer Denkschrift (»Das Ziel«, 1942) für die Verschwörergruppe formuliert hatte. Neu und nun wirklich originell war freilich, dass die Verschwörer sich Maßnahmen zur Sonderbehandlung von Juden ausdachten, die schon sonder- behandelt, nämlich ermordet waren.

Nicht also die Tatsache ist der Skandal, dass der Sohn des Attentäters Stauffenberg damit drohte, die offizielle Gedenkstätte in Berlin wie den Staatsakt zu boykottieren, wenn dort, wie ihm Rechtsradikale soufflieren, die »Pa­trio­ten des 20. Juli mit Landesverrätern moralisch auf eine Stufe gestellt (werden)«, soll heißen, wenn dort auch antifaschistischer Widerstandskämpfer gedacht werden sollte. Er hat mit seinem Protest völlig recht. Denn die Kommunisten hätten, wäre der unwahrscheinliche Fall einer Revolution gegen die Nazis eingetreten, seinen Vater wie alle anderen Militärs zum Teufel gejagt – im besten Fall. Selbst Sozialdemokraten fanden damals noch angemessene Worte, die ihnen kurze Zeit später recht peinlich waren. In der New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau schrieb Friedrich Stampfer wenige Wochen nach dem missglückten Attentat: »Nicht nur die Revolution, auch die Konterrevolution frisst ihre eigenen Kinder. Es ist immerhin ein Fortschritt, dass die Galgen schon stehen. Man wird sie noch brauchen.« Man brauchte sie bekanntlich nicht. In Deutschland war es nicht einmal nötig, »die wirklich Schuldigen vor dem Zorn der Leute zu schützen«, wie Hannah Arendt 1950 in einem Bericht über die Nachwirkungen der Naziherrschaft notierte. »Diesen Zorn gibt es nämlich heute gar nicht, und offensichtlich war er auch nie vorhanden.« Zu dieser Zeit hatten die Sozialdemokraten das Wirtschaftswunder noch vor, ein anderes Wunder aber bereits hinter sich, nämlich »das eine große Wunder, dass nach zwölf Jahren Diktatur noch so viele Menschen anständig geblieben sind«. Diese Zauberformel von 1946 stammt von Kurt Schumacher, dem ersten Nachkriegs-Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei.

Der Skandal in Deutschland heute besteht eher darin, dass niemand – keine jüdischen Gruppierungen, nicht die Reste der antifaschistischen Linken – auf dem Riß beharrt, der irreparabel durch die Geschichte geht. Auch die Gegner und Opfer von einst wollen heim ins Reich, wenigstens heim ins Reich der Erinnerung.

1994

No Business like Shoahbusiness

Hätten sie damals zu ihren Eltern gehalten, dann wären sie vielleicht heute auch irgendwo oben und nicht nur dazwischen. Mit großer Verspätung haben die Linken begriffen, dass die einzig erfolgreiche kriminelle Organisation die Familienbande ist. Die erfolgreiche Mutation der revolutionären Zellen zu Keimzellen des Staates fasste der SPD-Funktionär Glotz einmal in einem vernichtenden Lob zusammen, er sprach von der »zur Standhaftigkeit geläuterten Protestgeneration von 1968«. Trotz dieses Persilscheins benötigte der sozialdemokratische Parteivorstand noch fast zwei Jahre, um die selbst verschuldete Harmlosigkeit der ehemaligen Aufrührer zu honorieren.

Im Frühjahr 1988 traf die SPD mit der Aufhebung des »Unvereinbarkeitsbeschlusses« eine jener richtungsweisenden Entscheidungen, welche die Behauptung unterstreichen, die hundertjährige Geschichte der Sozialdemokratie sei die Geschichte des Aufstiegs von Karl Marx zu Hans-Jochen Vogel. Die Mitglieder des SDS, eines linksradikalen Vereins, den es schon seit 1970 nicht mehr gibt, dürfen diesem Beschluss zufolge also wieder der SPD beitreten. Genau so relevant wäre etwa eine Ankündigung des Finanzministeriums, die Krawattensteuer sei abgeschafft oder die Frustrationsabgabe für Verheiratete werde aufgehoben. Nicht einmal im Traum würde einer der geläuterten Revolutionäre auf den Gedanken kommen, den ehemaligen Verein wiederzubeleben, aber nach diesem Beschluss können sie doch besser schlafen. Denn wie der gläubige Katholik erst die Absolution braucht, um ohne Gewissensbisse zum Abendmahl zu treten, so wünschen die Genossen von einst, makellos dazustehen, wenn sie das Sakrament einer Planstelle empfangen.

Jahrzehnte, ehe sich so viele wieder familiär zusammenrotteten, legte der spätere Bundespräsident bereits jenen herzlichen Familiensinn an den Tag, den heute alle uneingeschränkt an ihm bewundern. Mit seiner Wahl hatte auch die deutsche Nachkriegsliteratur ihren ersten und einzigen politischen Erfolg vorzuweisen: Weizsäcker war die Antwort auf die Spätheimkehrerprosa Ende der siebziger Jahre, die Antwort auf ein von der sogenannten Väterliteratur formuliertes kollektives Bedürfnis. Deshalb kann man heute kaum mehr unterscheiden, ob der neueste Artikel Hochhuths vom Kanzler diktiert oder die letzte Kirchentagsrede des Bundespräsidenten von Walser verfasst wurde; deshalb gibt es heute keine Klassen mehr, sondern nur noch Väter, Söhne und Enkel.

Seinen Vater, bei dessen Verteidigung er im Nürnberger Prozess »aus tiefer Überzeugung« mithalf, würde Richard von Weizsäcker, wie er israelischen Journalisten erklärte, heute genauso unterstützen wie damals. Die vornehme Zurückhaltung des Bundespräsidenten, nicht die unmanierliche Wut, mit welcher der Stern-Redakteur Niklas Frank sich seines von den Alliierten gehängten Vaters annahm, wirkte stilbildend auf zahlreiche Bekenntnisse, die unter Titeln wie »Zweite Generation« oder »Kinder der Täter« zur neuen Betroffenheitsbelle­tris­tik zählen.

Alle diese Berichte illustrieren vornehmlich die Binsenweisheit, dass einer keine Nazieltern haben musste, um unter ihnen zu leiden – wie umgekehrt gilt, dass ein lieber fürsorglicher Familienvater die allerbesten Voraussetzungen mitbringt, auch ein guter Nazi zu werden. Die gestandenen und geständigen Mittvierziger, denen die eigenen Bälger mit unangenehmen Fragen nach dem gegenwärtigen Mitläufertum auf der Nase herumtanzen, entdecken nun, dass sie vor allen Dingen die lebenslänglichen Kinder ihrer Eltern sind. Nicht von ungefähr forderte deshalb eine Psychoanalytikerin, welche die Selbstdiagnose dieses Personenkreises als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ansah, die sofortige Umwandlung der Bundesrepublik in eine geschlossene Anstalt. Ihren Kollegen, so war im Spiegel zu lesen, warf sie vor, es versäumt zu haben, der »massenhaften Traumatisierung der Deutschen ins Auge zu sehen«.

 

Doch wie unheilbar gesund und in Sehnsucht nach Wiedervereinigung von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind sich verzehrend die angeblich traumatisierten erwachsenen Kleinen sind, geht aus den Aufzeichnungen einer Autorin über sich und andere »Kinder der Täter« hervor. Dörte von Westerhagen, die ihr Hobby, Familienarchäologie, in Therapiezirkeln und Interaktionsseminaren professionalisiert hat, schreibt: »In dem verzweifelten Bemühen, sich von negativen Elternbildern zu befreien und gleichzeitig doch noch zu bekommen, wonach man sich sehnte, Verständnis, Zugang zu guten Eltern, machten wir später den Eltern den Prozess, klagten sie in Wut und Hass an und wurden unsererseits zum Verfolger.« Weder sie selbst, noch eine der Personen, von denen sie berichtet, hat sich je an den Eltern vergriffen wegen deren Nazivergangenheit; es hat sich alles, abgesehen vom Vaterschänder Frank, zum Guten gewendet. Nur gelegentlich werden durchschnittliche Kinder von Rachege­lüs­ten gepackt und begehen dort einen Mord, wo die meis­ten Kapitalverbrechen geschehen: zu Hause. Das gehört zu den Betriebskosten der familiären Sicherungsverwahrung. Zu diesen Kosten rechnet die Autorin auch die für den deutschen Hausgebrauch verschärfte Anwendung des fünften Gebots: »Es geht außerdem darum, die Liebe zu den Eltern, wie belastet sie immer waren, möglich zu machen (es) entsteht ansatzweise auch Dankbarkeit...«

Mittlerweile handelt es sich zumeist um posthume Familienfürsorge. Auch der Vater des Bundespräsidenten, der ehemalige Staatssekretär mit hohem SS-Rang, kommt nicht in die Lage, das vom Sohn erneuerte juristische Beistandsangebot anzunehmen. Erstens ist er tot, und zweitens interessieren sich, so wie die Dinge liegen, die deutschen Gerichte bestimmt nicht für ihn. Wahrscheinlich würde er als Widerstandskämpfer anerkannt und trotzdem eine Pension beziehen. Denn nach eigener Aussage war seine Mitgliedschaft in NSDAP und SS ein persönliches Opfer, um das Schlimmste zu verhindern, das er gerade durch seine Tätigkeit im Auswärtigen Amt damals anrichtete.

Auch der Bundespräsident will immer das Schlimmste verhindern. Er ist die personifizierte Begrenzung des Schadens, den alle um die Familienehre, will heißen um die Reputation der Bundesrepublik Besorgten, abwenden wollen und doch so zielsicher herbeiführen. Und am Ende kommt immer heraus, was angeblich keiner gewollt hat: zum Beispiel die neue Lust am historischen Schuldbekenntnis der Deutschen.

Horkheimer diagnostizierte 1960 das »kleinlaut und formell gewordene Schuldgetue«, welches nur die Funktion habe, sich »zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen«. Nach den tapsigen Auftritten des Kanzlers in Israel, in Bitburg und Bergen-Belsen hat sich kleinlaute Verdrücktheit in die stolze und vollmundig selbst von Helmut Kohl verkündete Einmaligkeit der deutschen Verbrechen verwandelt. Vor der als Historikerstreit bekannt gewordenen Ausrede, der Massenmord sei eine Doublette gewesen, rangiert nun die Verteidigung des Urheberrechts, der Anspruch auf Originalität: Auschwitz bleibt deutsch. Als Verbrechen zwar, aber doch auch als unvergleichliche Spitzenleistung.

Mit dieser Erklärung hat sich der Kanzler die offizielle Eintrittskarte zur »Zentralen Gedenkveranstaltung« am 9. November 1988 in der Frankfurter Synagoge erworben. Nachdem er sich bislang nur blamiert und immer bloß der Bundespräsident gute Zensuren ausgestellt bekommen hat, möchte er sich nun öffentlich bestätigen lassen, dass einige seiner besten Juden die Freunde der Deutschen seien.

Der inoffizielle Passierschein, mit dem der Kanzler zur Feierveranstaltung der neuen deutsch-jüdischen Symbiose durchgelassen wird, sieht hingegen anders aus – nämlich wie ein Bankauszug des verstorbenen Zentralratsvorsitzenden der Juden. Im Feudalismus wurden die Hofjuden physisch bedroht, damit sie den Finanzhaushalt des bankrotten Fürsten in Ordnung brächten; die Hofjuden, die sich die Bundesrepublik hält, werden finanziell unter Druck gesetzt, damit sie den angegriffenen Seelenhaushalt der Gesellschaft ausgleichen. Ihr oberster Funktionär hatte nämlich etwas getan, wovon abgestuft die ganze Bevölkerung seit der Nazizeit profitiert, und war in die Rolle des Vernichtungsgewinnlers geschlüpft, was deshalb als besonders skandalös galt, weil es ihn, wenn die Deutschen noch genügend Zeit gehabt hätten, eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen. Als Werner Nachmanns1 Unterschleif bekannt wurde, meldeten sich sofort besorgte Politiker und warnten davor, das Vergehen dieses Nachahmungstäters antisemitisch auszuschlachten. Damit waren sie bereits zum Symptom der Krankheit geworden, die sie verhindern wollten.

Und so kommt Kohl nach Frankfurt. Weil er will, was alle wollen, nämlich die ganze deutsche Geschichte, ist die Kritik verstummt. Die Kritiker haben sich in bekennende Historiker verwandelt. Mit der Konkursmasse aus einer neuerlichen Pleite, nämlich mit den Trümmerstü­cken des friedensbewegten Patriotismus, beteiligen sie sich fleißig am Wiederaufbau der Nationalgeschichte. Sie wollen auch nichts anderes als Deutschland, nur Deutschland anders. »Die deutsche Geschichte – dreigeteilt niemals!« ruft es aus dem Kanzleramt, und aus dem Westberliner Arbeitszimmer Peter Schneiders schallt es zurück: »Es muss endlich ein Ende haben mit dem gekrümmten Gang. Die deutsche Geschichte ist länger als zwölf Jahre ...«

Einige Jahrzehnte vor Auschwitz hatte sein Dichterkollege Börries Freiherr von Münchhausen, der in keinem Schullesebuch fehlt, eine stimmige poetische Metapher für die deutsche Traditionsbildung gefunden – die Lederhose: »Ja – Geschlechter kommen, Geschlechter gehen, / hirschlederne Reithosen bleiben bestehen.«

Mit der nationalen Wiedergutwerdung der Deutschen, die am 9. November 1988 in der Frankfurter Synagoge jüdisch abgesegnet wurde und die Verwandlung der Bundesrepublik in Deutschland abschließen soll, werden andererseits die Juden aus dem runderneuerten Kollektiv, vor dem sie schon heute mit bewaffneter Polizei geschützt werden müssen, ausgeschlossen. Manchmal explodiert schon heute ein Sprengsatz in einem Gemeindezentrum; aber abgesehen davon ist, wie Politiker immer wieder versichern, das Verhältnis von Deutschen und Juden ganz normal.

Als Antwort auf die Mutation von deutschen Linken in linke Deutsche haben sich jüdische Linke in linke Juden verwandelt. Zu welch vergleichbar komischen Resultaten diese Veränderung geführt hat, liest man gelegentlich in der taz, wenn ohne Arg über jüdisch-christliche Andachtsrituale von Linken berichtet wird, die sich vorzugsweise in evangelischen Akademien treffen, um sich nach dem gemeinsamen Kiddusch ans heitere Beruferaten »Was bin ich?« zu machen.