Die Gleichschaltung der Erinnerung

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»Kann ein Jude Faschist sein?«, fragte Jahre, bevor die Linke sich der nämlichen Frage annahm, um der eigenen Geschichte Generalpardon zu gewähren, ein Rezensent in der Zeit. Daß die Nürnberger Gesetze nun wirklich nicht mehr gelten sollen, mochte er offenbar nicht ganz glauben. Nicht dann schon, wenn man es unterläßt, die anderen zu verteufeln, sondern erst wenn man aufhört, von ihnen zu verlangen, sie hätten als Unterdrückte und Verfolgte auch noch die besseren Menschen zu sein – erst dann findet die Diskriminierung ein Ende.

Wenn – um diesen Gedanken an einem extremen Beispiel zu verdeutlichen – Bokassa und Amin in Afrika das tun, was die Europäer schon immer taten, dann dürfen wir sie nicht gewähren lassen. Die Entrüstung darüber, daß auch Schwarze zu Kolonialverbrechen fähig sind, ist jedoch ein Privileg der Schwarzen. In der Bundesrepublik ist für nüchterne Kritik Grund genug vorhanden, doch nur Juden haben dort das Recht zum subjektiven Affekt, wo wir nur kritisieren und bekämpfen können.

Wenn beispielsweise Hans Rosenthal, immerhin Vorstandsmitglied einer jüdischen Gemeinde, zum Gedenktag des Pogroms von 1938 im Fernsehen eine Ausgabe von »Dalli-Dalli« präsentiert, können wir ihm keinen besonderen Vorwurf daraus machen, daß er sich weder einsichtiger noch mutiger zeigt als der Rest der Fernsehvolksgemeinschaft. Aber Juden, insofern sie sich Rosen­thal auf besondere Weise verbunden wissen, sind dazu berechtigt. Wenn Galinski, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in West-Berlin, vormals KZ-Häftling, und Bun­despräsident Carstens, damals in der NSDAP, einen florierenden Tauschhandel mit Orden und Glückwunschtelegrammen pflegen, dann steht uns zu, ob der Unverfrorenheit zu erbleichen, mit welcher ein Vertreter des NS-Regimes einem Opfer desselben unter die Augen zu treten wagt. Das Vorrecht der Juden ist es, sich über das Verhalten ihrer Repräsentanten in der Bundesrepublik zu entrüsten, wir hingegen können nur nüchtern feststellen, daß das Opfer den Henker tröstet.

Daß die Opfer der Ordnung von damals sich willfährig zur Rechtfertigung der Ordnung von heute einspannen lassen, daß Juden wegen der Ermordeten der Repression heute das Wort reden, wegen der Gewalt von gestern die Gewalt von heute begrüßen – das kann für uns nur heißen, über die Verhältnisse zu reden, die solches ermöglichen. Daß jemand im KZ eingesperrt war, daß jemand Verfolgung erlitten hat, ist immer nur ein Beweis gegen die organisierte Barbarei, gegen deren Folterknechte, Henker und Nutznießer und nicht, so betrüblich das uns auch erscheinen mag, die Voraussetzung für eine unnachgiebige und jener Demütigungen eingedenkende Kri­tik. Wer also Zeuge der Reinwaschung wurde, die beispielsweise der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland mit Filbinger vorgenommen hat, dem werden die Verhältnisse suspekt, die solche Inszenierung zulassen oder erforderlich machen. Im Verdienstkreuz mit Stern, das die Rechtsnachfolger des Nationalsozialismus an die Opfer von einst verleihen, ist auf spezifisch nachkriegsdeutsche Weise der gelbe Stern aufgehoben: bezeichnet und belohnt wird damit das Einverständnis und der Verzicht der Opfer auf Rache. Wenige Jahre nach der prägnanten Formel von Strauß: »Ein Volk, das solche wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, Auschwitz zu vergessen«, konnte der Bundestag eine »endgültige Wiedergutmachung« beschließen.

Mit Lobreden und Orden behängen deutsche Politiker die Juden, um sich des eigenen Gedächtnisverlustes durch den der anderen zu versichern. Indem die Selbst- vergessenheit der Überlebenden mit Auszeichnungen honoriert und die Davongekommenen einmal jährlich zu Brüdern herabgewürdigt werden, fügt ihnen diese Gesellschaft die vorerst letzte Schmach zu. Im Vergessen daran, was ihnen und anderen geschah, sind sie den Verfolgern von einst und den Repräsentanten von heute ähnlich und damit akzeptabel geworden, müssen sich jovial auf die Schulter klopfen und das anbiedernde »jüdische Mitbürger« gefallen lassen. Dergestalt für koscher erklärt, warteten die Deutschen auf die Gelegenheit, sich nicht trotz, sondern wegen der Juden als nationales Kollektiv zu konstituieren. Diese Gelegenheit kam mit dem israelischen Einmarsch in den Libanon.

IV.

»Angesichts der zionistischen Greueltaten verblassen jedoch die Nazigreuel und die neonazistischen Schmierereien, und nicht nur ich frage mich, wann den Juden ein Denkzettel verpaßt wird, der sie aufhören läßt, ihre Mitmenschen zu ermorden ...« (»Grüner Kalender 1983«, aus dem Beitrag: »Israel, die Mörderbande«)

Eine Quizfrage, die nur in der Bundesrepublik das Publikum in Verlegenheit brächte, könnte lauten: »Woher glauben Sie, stammt der folgende Text?«:

»Das Oberkommando der Großisraelitischen Wehrmacht gibt bekannt: Massierte Totenkopf-Panzerver­bän­de unter General Mosche Guderian haben, aus der Luft vom Stuka-Rudel ›Salomo‹ unterstützt, PLO-Parti­sa­nen­nester in Beirut mit umfassend vernichtendem Flächenfeuer belegt. Infanterie und die mobile Raketen-Batterie ›Schalom‹ unter dem Befehl Infanterie-Gene­rals Josua ›Sepp‹ Dietrich haben die Vorstadt L’Idice mit Punktfeuer dem Erdboden gleichgemacht. Seit 5 Uhr ist L’Idice araberfreie Zone. Die Befestigungen der Partisanen in den Hügeln von Hol O’Caust stehen vor der Kapitulation. Die Endlösung der Palästinenserfrage ist eine Frage von Stunden usw.«

Richtig: Diese aktuelle Kasino-Humoreske erschien nicht in der National- und Soldatenzeitung, sondern in der Juli-Ausgabe (1982) des Satiremagazins Pardon.11

Daß Auschwitz für ein deftiges Späßchen gut ist, das ist nicht neu. Es ist der Versuch der Deutschen, sich gemütlich mit dem angerichteten Grauen zu arrangieren. Humor ist, wenn der Täter lacht – das ist die geheime Devise von Zadeks NS-Revue bis zu den zahlreichen Holocaust-Witzeleien. Neu ist außer der Beitragswut der Linken daran wirklich nichts: schon die Nazis brauchten für ihr mörderisches Handwerk den hämischen Kalauer zur Entlastung und wollten sich schier totlachen, wenn ein Jude ihren antisemitischen Wahnvorstellungen nicht entsprach. Heute darf gelacht werden, weil im Libanon die Juden doch die wirklichen Deutschen sind.

Deutsch-jüdische Zombies namens Mosche Guderian oder Josua Sepp Dietrich nehmen die »Endlösung der Palästinenserfrage« in Angriff – die Linken wissen, was wirklich im Libanon passiert ist: Das war nicht die Soldateska eines chauvinistischen Angreifers, sondern dort müssen Einsatzkommandos mit der fabrikmäßigen Vernichtung beschäftigt gewesen sein; das waren nicht die durchschnittlichen Verbrechen, die von den Kreuzzügen über die Entdeckung Amerikas bis zu Vietnam zum Alltag des christlichen Abendlandes zählen, sondern die Israelis müssen dort bereits Gaskammern installiert haben.

Der Verfasser dieser Polit-Glosse weiß, was er seiner Herkunft schuldig ist und verwandelt mit feinem Gespür für einen in Deutschland bekannten Ton die israelische Armee nicht in die großisraelische, sondern in die großisraelitische Wehrmacht. Einige haben diesen Wink sofort verstanden und sind vor die übriggebliebenen Synagogen gerannt.

Neu an der gegenwärtig von Jungdemokraten, Spontis und Kommunisten so eifrig betriebenen Gleichsetzung von Israelis und Nazis, ist nur, daß in ihr die nationalsozialistische Wahrnehmung der Realität seitenverkehrt reproduziert wird. Damals gab es die jüdische Weltverschwörung, die, wie jeder weiß, eine Verschwörung der Deutschen gegen die Juden war und gegen die Menschheit; damals wurde auf die Juden projiziert, was die Deutschen sich anschickten zu verwirklichen. Im Unterschied dazu erscheint in der Gleichsetzung von heute, was die Deutschen bereits getan haben. Was beides wiederum verbindet, die pathische Projektion der Nazis wie die anklägerische Wahrnehmung der Jungdeutschen, ist der Umstand, daß sie in den Juden nur sich selbst sehen, zur Fratze verzerrt. Es sollen nur wieder andere dafür büßen, daß die Deutschen so unausstehlich sind.

Doch der Grund der heuchlerischen und geschichtslosen Empörung ist auch ohne Zuhilfenahme der Psychologie zu entdecken, man muß nur auf die Verlautbarungen der Szene hören. Das neue Kollektivgefühl, gespeist aus Atomangst, Vergiftungsfurcht und Fremdenfeindlichkeit, entbehrt bislang einer versöhnlichen Quelle: des ungetrübten Rückblicks, der Tradition. Ohne Skrupel deutsch sein ist, wonach die wunden Seelen lechzen. Und wenn Auschwitz vergleichbar wird, dann steht dem neuen Patriotismus nicht einmal mehr die bloß noch hypothetische Unterscheidung in Links und Rechts im Wege.

Indem die Juden dergestalt wiedergutgemacht werden, nämlich zu Deutschen, fällt letzteren eine Zentnerlast vom Herzen; mit soviel identitätsstiftendem Glück hatte niemand gerechnet.

Mit der Reaktion der deutschen Linken auf den Krieg im Libanon kommt eine Entwicklung zum Abschluß, die man – vom Resultat her betrachtet – als die geglückte doppelte Rehabilitierung der Deutschen als Deutsche bezeichnen muß. Geglückt deshalb, weil sie, wie der allumfassende Eifer in der »deutschen Frage« oder die ein­vernehmliche Sorge über die Ausländer zeigen, eine innere Verbundenheit gestiftet hat, die vom letzten Sponti bis zum ersten Mann des Staates reicht. Und doppelt aus folgendem Grund: Der Gleichsetzung von Israelis und Nazis voraus und diese erst ermöglichend ging der Rollentausch von Juden und Deutschen. Letztere waren auf einmal die Opfer.

Wir wissen heute, eine wie häufig konvertible Währungseinheit das Schicksal der Juden im politischen Geschäft geworden ist. Wenn auch alle Gewalt seit Hitler unweigerlich die Namen der Henker und die Stätten der Vernichtung evoziert, wenn von Südamerika bis in die Sowjetunion die Verbrechen der Herrschenden unwillkürlich an die Nazikatastrophe erinnern, wenn gar die Linke im Lande der Mörder aus nun wirklich niedrigen Beweggründen – nämlich der Sehnsucht nach nationaler Identität – aus jedem routinemäßigen Verbrechen des Imperialismus einen Völkermord macht, so gilt doch umgekehrt, daß die Opfer der Vernichtungslager keine Erben haben. Alles andere ist Indienstnahme.

 

Nachdem sie für nichts und wieder nichts umgebracht worden waren, wurden die Ermordeten auf einmal zu äußerst nützlichen Toten. Sie kamen regelrecht ins Geschäft, noch ehe das Fernsehen an ihre Verwertung dachte. Zwar gab es schon israelische Politiker, die für sehr physische Zwecke eine Art metaphysischen Alleinvertretungsanspruch geltend machten und das unbegreifliche Grauen für sehr begreifliche Ziele reklamierten; zwar gab es deutsche Politiker, denen diese Nutzanwendung selber wiederum nützlich war; zwar gab es deutsche Theologen, welche die nützliche Bestimmung von Auschwitz erklärten und die Vernichtung gewissermaßen als Fegefeuer auf dem heilsgeschichtlichen Weg des Volkes Israel erklärten, daß man beinahe darüber vergessen konnte, daß die Deutschen subalterne Mörder waren, denn im Hinblick auf das Ergebnis erschienen sie fast als der lange Arm Gottes.

Den wirklichen Durchbruch aber schaffte erst die Linke. Sie vollendete erst richtig jene Profanisierung der auf Exkulpation bedachten Theologie und vervollkommnete die Mystifizierung der Geschichte, indem sie das Schicksal der Juden zum abstrakten Symbol, zum wiederverwendbaren Fetisch, zur Anstecknadel und Gesinnungsbrosche vernutzte.

Die der geheuchelten Empörung vorausgehende Schande besteht darin, daß die Linke vergessen hat, wo sie wohnt: Nämlich im Hause des Henkers.

Daß die ganze Nation wie ein Mann hinter dem Kanzler stand, als der israelische Ministerpräsident die unangenehme Wahrheit ausposaunte, Schmidt habe als Nazisoldat nie seinen Fahneneid gebrochen, habe also – zivil gesprochen – bis zum Ende fest auf der nationalsozialistischen Grundordnung gestanden; daß die einhellige Entrüstung über diesen lichten Moment Begins von keinem Zwischenruf getrübt wurde, das lag nicht an den mysteriösen Führungsqualitäten des ehemaligen Kanzlers, sondern nur an der Kopflosigkeit der Linken, an ihrer Selbstgleichschaltung auf die Frequenz des Herzschrittmachers der Nation.

Im Unterschied zu den Unvereinbarkeitsbeschlüssen der Exekutive kennt die Linke nichts mehr, was sich einer Vereinbarung entzöge. Sie sah, wie alle Welt, in Begin nur den wildgewordenen israelischen Chauvinisten, der er zweifellos ist. Die Linke hätte sich im Widerspruch gegen diesen erneuten Beweis zunehmender nationaler Eintracht nicht mit der israelischen Besatzungspolitik gemein gemacht, sondern erst die Voraussetzungen für deren Kritik geschaffen. Sie hätte die Glaubwürdigkeit und Aktionsfähigkeit zurückgewonnen, die sie für einen flüchtigen Augenblick einmal besessen hat.

Wie die eigene Herkunft, so vergißt die neudeutsche Linke, daß nicht die Glorie Herzls über Israel schwebt, sondern der traumatisierende Schatten Hitlers, und aus diesem Vergessen erhebt sich der Antisemitismus in neuer Gestalt. So demagogisch es ist, Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen, so richtig ist die Feststellung, daß die geschichtslose Unschuld, die sich revolutionär gebärdet, an Israel einen neuen Universalfeind gefunden hat.

Begann nicht damals, als ein Berliner Kommunarde mit einer Kalaschnikow in Jordanien spielte, statt an seinen Lustproblemen zu werkeln, eine Entwicklung mit dem Ziel der moralischen Selbstverstümmelung? Aus Amman kam seinerzeit ein offener Brief »An die Genossen«, sie sollten ihren »Judenknax« endlich überwinden und sich nicht aufregen, wenn im Jüdischen Gemeindehaus, dieser »Agentur des Zionismus«, gezündelt oder gebombt wurde.

Man kann die verschiedenen Garstufen des neuen Nationalismus überspringen, die Selektion in Entebbe und das Schweigen danach, die offenherzigen Loyalitätsbezeugungen nach Schleyer, Stammheim und Mogadishu, die Ignoranz und das Gelächter, die Améry tödlich beleidigt haben, die Alternativbewegung mit Müsli im Herzen und Deutschland auf den Lippen, die neue Heimatliteratur wie den neuen deutschen Film – es genügt, aus dem Resultat dieses Kochvorgangs, dem friedensbewegten Patriotismus, eine Kostprobe zu entnehmen. Sie ist repräsentativ deshalb, weil beim Eintopf ein Löffel so viel Auskunft gibt wie der andere.

Er habe sich, so schrieb ein Leser der tageszeitung angelegentlich der Polen-Erklärung der Bundesregierung, zum ersten Mal in seinem Leben nicht geschämt, Deutscher zu sein.

»Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen«, schrieb Tucholsky, der die Folgen der deutschen Selbstfindung zu spüren bekam. Wiedergefundene Identität und Verlust der Contenance gehen auch heute zusammen. Und daß Deutschland wieder die verfolgende Unschuld spielen kann, setzt voraus, daß sich alle darin einig sind, unschuldig Verfolgte zu sein. Verfolgt von den Ausländern, bedroht von der Bombe, besetzt von einer Supermacht. »Keine Heimat – wer schützt mich vor Amerika?« lautet der Refrain des letzten Hits der neuen deutschen Welle. Überfremdet, kolonisiert und heimatlos sind die Deutschen die neuen Verdammten dieser Erde, die Juden unter den Völkern. Daß heute, beim Verteilungskrieg der Sterne, schon jeder nach ihnen greifen kann, das verdanken die Deutschen ihrer Linken, die es vorgemacht hat. Daß CSU-Politiker weinen, sie fühlten sich diskriminiert wie Juden, wenn sie auf die demokratische Etikette hingewiesen werden, daß katholische Geistliche den Abbruch einer Schwangerschaft als legalisierten Völkermord bezeichnen, das ist nicht bloß obszön. Jemand muß ihnen die Zunge gelöst und das Stichwort gegeben haben: Jude. Als die Linke von der Bühne abgetreten ist, hat sie mit diesem Codewort souffliert, der herrschaftsfreie Diskurs über die Vergangenheit könne nun beginnen.

Seit Alice Schwarzer den Genozid am weiblichen Geschlecht entdeckt und die Frau zum ewigen Juden erkoren hat, braucht sich Stoiber nicht zu schämen, wenn er sich den Stern anheftet. Seit die Grünen ihre Wandgemälde mit der Parole »Gorleben = Holocaust« schmücken, wissen auch die Bauern, wie lebensgefährlich ein einbehaltener Milchpfennig ist: »Brüssel = Auschwitz« heißt es auf ihren Plakaten, ganz so als sei Auschwitz das Brüssel der Juden gewesen.12

Noch 1968 wäre in der Protestbewegung niemand auf den Gedanken gekommen, die Singularität des Schicksals der KZ-Opfer in einer Demonstration zu demokratisieren. Damals, um ein Beispiel zu nennen, wurde auf einer hysterischen Kundgebung des Berliner Senats die beobachtende Fahndung mit dem Dekret »Ihr müßt diesen Typen genau ins Gesicht schauen« aus der Taufe gehoben. Wenig später fielen die Schüsse auf Dutschke.

Es war das Vorrecht eines Emigranten, jene rassistische Anleitung zur Gesichtskontrolle mit der Bemerkung zu kommentieren, die Demonstranten seien die »Juden der Stadt«. Umgekehrt verbot es sich von selbst, diese Bemerkung Adornos für die Linke zu reklamieren.

Erst als die Linke vergessen hatte, woher sie kam, sondern nur noch wußte, wohin sie wollte, nämlich heim und ins Grüne, erst in der Mutation der Protestbewegung zur Szene. hauchte jene Selbstverständlichkeit ihren Geist aus. Erst nachdem einige Ignoranten mit dem Blick progressiver Unschuld sich den gelben Fleck ans Revers geheftet hatten und nur das Berufsverbot meinten, da hieß es: Ring frei! Die moralische Substanz des Protests war, wenn man das überhaupt sagen darf, der einzige und nur dürftige Schutz der Toten vor den Siegern. Nun gab es nur noch Sieger. Und bei der Siegesfeier flossen Tränen. Mehrere Monate wurde geweint und bereut, eine ganze Nation war betroffen. Die Deutschen hatten das Wort des Jahres gewonnen und den Preis des Jahrzehnts: sie hatten wieder eine Vergangenheit. »Wie es damals war« ist die Parole der Stunde, von den Trümmerfrauen in Courage bis zu Faßbindcrs »Lilly Marleen«. Auf das »wie« kommt es dabei schon gar nicht mehr so genau an, Hauptsache es gibt ein Damals. Die gemeinschaftsstiftende Entdeckung der Vergangenheit der No-Future-Ge­ne­ration, etwa unter dem Konjunkturtitel »Alltag im Nationalsozialismus«, ist zum Treibstoff einer eindimensionalen Meinungsvielfalt geworden, in welcher die Linken so staatstragend auftreten, um politisch endgültig abzutreten. Denn wie immer: Sie haben nichts davon.

Auch nach außen bloße Verlierer, schwammen ihnen mit der neuen Nahostpolitik der Bundesregierung wieder einmal alle Felle davon. Die plötzlichen rohöligen Sympathieerklärungen für die Palästinenser waren Ausdruck eines gewandelten Verhältnisses, des Umstands nämlich, daß alle, die Linke wie der Außenminister von der Heimat für die Palästinenser sprachen und nicht mehr von der Notwendigkeit des Umsturzes von Verhältnissen, welche Vertreibung, Hunger, Elend und Tod so naturgesetzlich implizieren wie Heimat, Nation und Staat. Auch die PLO erwies sich als dankbar; sie spendierte Rundreisen, Druckkostenzuschüsse und erlaubte einigen linken Nahostexpertcn, sich kurzfristig in dem schmeichelhaften Traum zu wiegen, zu den Schaltstellen der deutschen Außenpolitik vorgedrungen zu sein, weil sie die Türöffner für alerte Bundestagsabgeordnete spielen durften. Damit waren die Proportionen aber auch schon wieder zurechtgerückt, denn auf dem neuen Stand der Dinge, der diplomatischen Bühne, waren die Linken weder dienlich, noch in der Lage, eine gute Figur zu machen.

Lange bevor die Westdeutsche Linke ihren sympathischen Geburtsfehler mit der Wendung zum Nationalstaat kollektiv wettmachen wollte, hatte die PLO erkannt, daß in der Bundesrepublik ein historisches Entlastungsbedürfnis schlummerte, das es zu wecken galt. Damals, als die Jüdische Gemeinde in Berlin vorsätzlich mit dem israelischen Verteidigungsministerium verwechselt und zum Angriffsobjekt wurde, und die Akteure zur Belohnung mit Kefia und Kalaschnikov in Jordanien trainieren durften – damals entstand der neue Antisemitismus. Andere wußten immer besser Bescheid über die Linke als diese über sich selbst und ließen sich von deren antiimperialistischen Theaterdonner nicht beeindrucken. Es führen viele Wege nach Palästina, das war jahrelang die taktische Devise der PLO. Warum also nicht auch über Paris, Antwerpen, Berlin, Wien oder Rom, dem Ort des vorerst letzten Verbrechens in einer Serie von Attentaten, die in Europa die blutige Spur eines neuen Antisemitismus hinterlassen haben. Warum also nicht über Entebbe mit der deutschen Linken und über Nürnberg mit der deutschen Rechten? Je nachdem.

Nicht jedesmal folgt der Bombe die Botschaft, denn daß die Juden schuld seien, das will der neue Antisemitismus vor allem dadurch beweisen, daß er sie tötet. »Schlagt die Juden, wo ihr sie trefft« ist sein Programm, und die beständige Drohung – die er übrigens mit den fanatischen Chauvinisten Israels teilt –, daß ein Jude seines Lebens nur in Israel sicher sein kann, wird dadurch plausibel, daß er sie wahrmacht. Gegen die schreckliche Vision dieser Anschläge erscheint der Zionismus wie der rettende Engel, auch wenn er in Gestalt von Scharen nur künftiges Kanonenfutter sucht.

Die Attentate sind deshalb ein doppeltes Verbrechen: Diejenigen, die es verüben, rechtfertigen damit genau den katastrophalen Zustand im Nahen Osten, für den Rache zu nehmen sie über Unschuldige herfallen. Daß Palästinenser an den verschiedenen Anschlägen beteiligt waren, das weiß jeder. Aufgrund dieses Umstands und nicht aus prinzipieller Abscheu verurteilte in der Regel die PLO diese Morde. Doch – obwohl die Palästinenser in den letzten Monaten selbst in die Rolle des Opfers gebombt wurden – kaum jemand ließ sich von diesen Erklärungen beeindrucken.

Warum? Glaubt man den verbissenen Anstrengungen der PLO nicht, auf dem politischen Parkett salonfähig zu erscheinen? Schwingt in den eilfertigen Distanzierungen vielleicht jene Anbiederung mit, die von den Adressaten als Habitus des Parvenus verachtet wird? Aber das ist keine Geschmacksfrage. Wer sein Gedächtnis nicht verloren hat, ist weder erstaunt noch enttäuscht über die Mutation einer Befreiungsbewegung zu einem ordentlichen Schattenkabinett mit hauptsächlich nationalen Interessen. Im Unterschied zur westdeutschen Linken, für welche die PLO mittlerweile das ideale und von Gewissensbissen befreite Projektionsfeld ihrer eigenen Heimatbewegung wurde, muß man festhalten, daß die PLO der organisierte Kompromiß widersprüchlicher Interessen und Tendenzen ist. (Kleine Erinnerung: vor über einem Jahrzehnt galt Arafat der Linken noch als kleinbürgerlicher Nationalist. Ist er mittlerweile ein Sozialrevolutionär geworden oder hat sich die westdeutsche Linke verändert?) Und eine dieser Tendenzen führt genau in jenes Halbdunkel, wo sich das politische Strandgut aller Richtungen zusammenfindet, wo sich Gescheiterte aller Projekte und Hasardeure jeder Couleur auf einen gemeinsamen Nenner verabreden: Auf die bare Bezahlung oder die wechselseitige Versicherung, daß eine Hand die andere wasche. Und bei jedem schändlichen Coup hatte die PLO eine blütenreine Weste und immer ein Dementi parat.

 

Die Kette von antisemitischen Untaten könnte ein für allemal zerrissen werden, wenn die PLO produktiv mit ihrer eigenen Vergangenheit brechen und als Befreiungsbewegung sich von jenem gespenstischen Überhang der Vergangenheit befreien würde – also auch von ihren zweifelhaften deutschen Sympathisanten –, der das Elend der Palästinenser doch nur verlängert. Ohne den Antisemitismus und ohne Auschwitz hätte es vielleicht einige jüdische Lebensreformer in Palästina gegeben, aber nicht das Leid, das mit der Gründung Israels heraufgezogen ist. Diese Einsicht in Politik zu übersetzen ist innerhalb der PLO oft noch ein selbstmörderisches Unterfangen und gegenüber den Feinden, die sich darin einig sind, die PLO zu vernichten, scheint sie hoffnungslos illusionär. Sie erfordert nämlich den Mut, den zahlreiche Israelis aufbringen, wenn sie gegen die zionistische Politik und für die Rechte der Palästinenser kämpfen.

Dadurch kehrte vielleicht auch etwas von der internationalistischen Phrase Verschiedenes ins Denken der westdeutschen Linken zurück, und die Solidarität mit den Palästinensern gewänne etwas von der Glaubwürdigkeit wieder, die längst verspielt war, ehe die israelische Armee ihr Zerstörungswerk begann.

Daß die Bundesregierung angesichts des palästinensischen Unglücks an die Ostpreußen erinnert und die Linke an den Massenmord, darin wird eine geschichtliche Trieb­kraft sichtbar, die in diesem Jahrhundert alles Berechenbare schon einmal umstandslos verdrängt hat. Denn im ökonomischen Kalkül, so sehr es die neue Nahost-Politik bestimmt, geht – wie jede Ideologie – die staatsmännisch und moralisch drapierte Anteilnahme am Schicksal der Palästinenser nicht auf.

V.

»Ja, alle sind wir natürlich gegen Strauß, aber wir sind für Deutschland.« (Der Filmregisseur Schlöndorff im TIP, 8/1980)

Ohne Krise gäbe es vielleicht eine. Denn wenn die D-Mark fällt, dann steigen in diesem Land die seelischen Wertpapiere; wenn die Produktivität absackt, dann zieht die Kreativität an; wenn der Außenhandel stagniert, dann wird das Innenleben angekurbelt; wenn die Wirtschaft in der Talsohle hängt, dann wird aus den Deutschen ein Volk von Gipfelstürmern.

Der neue Kanzler hatte, im Unterschied zu seinen Vorgängern, listig ein großes Versprechen abgegeben, das er gar nicht zu brechen brauchte, weil es mit seinem Amtsantritt bereits in Erfüllung ging. Er hatte schon lange zuvor angekündigt, wonach alle hungerten: die geistige und moralische Erneuerung. Im Verlauf dieser Erneuerungsbewegung hat sich die Bundesrepublik in eine einzige Wiederaufbereitungsanlage verwandelt. In ihr wurden die nicht erkalteten Brennelemente der deutschen Geschichte auf ihre neuerliche Verwendungsfähigkeit hin getestet.

Daß dieser Test so erfolgreich verlief, verdankt das Land hauptsächlich der vielzitierten Experimentierfreudigkeit der Alternativ- und Friedensbewegung. Es ist ihr unbestreitbares Verdienst, im Prozeß der Wiedergutwerdung der Deutschen die dazugehörigen politischen Formen und Symbole, überhaupt die Ästhetisierung der Politik, rehabilitiert zu haben. Seit es wieder Mahnwachen und Fackelzüge gibt, seit die Demonstrationen wieder einem Feldgottesdienst zum Verwechseln ähnlich sehen, seitdem gehört die Friedensbewegung nicht mehr zu den Dingen, die man nur aus Gründen des guten Geschmacks kritisieren muß.

Die Diagnose, daß es beim neuen Nationalismus mit zwingender Logik auch antisemitisch zugeht, würde natürlich von denen, die nicht mehr wie Heinemann ihre Frau, sondern die Heimat und den Staat lieben, entrüstet zurückgewiesen. Aber seit der Antisemitismus, wie Hork­­heimer/Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« geschrieben haben, keine selbständige Regung mehr ist, sondern nur Planke einer Plattform, die man als institutionalisierten Gegenradikalismus oder als Barbarei in der Zivilisation bezeichnen kann, seither gilt, daß Fremdenfeindlichkeit, der Haß auf den Luxus und der Hang zur Volkstümlichkeit (»Man soll etwas für das Volk tun, weg mit dem Kaviar«, Bertolt Brecht), der Regionalismus wie der Patriotismus zwangsläufig sich auch antisemitisch einfärben.

Aus ihrem Herzen machen die Linken schon lange keine Mördergrube mehr. Ob es gegen Ausländer und für die Mundart, gegen Theorie und für das Erlebnis, gegen das Individuum und für die Gemeinschaft geht, sie vertrauen ihre furchterregenden Einfälle keinem Analytiker in der diskreten Abgeschiedenheit eines Sprechzimmers, sondern plaudern munter und unwidersprochen alles öffentlich aus. Das verläuft deshalb so reibungslos, weil die individuelle Pathologie mit der kollektiven konform geht.

Hitler, so schrieb Wilhelm Reich in »Massenpsychologie des Faschismus«, sei wegen der Massenresonanz sei­ner Wahnvorstellungen der Ausbruch einer Geisteskrank­heit erspart geblieben. Auch heute leidet keiner, denn als eine Art seelische Große Koalition ist die deutsche Bevölkerung, wie es Alfred Dregger formuliert hat, »aus dem Schatten Hitlers herausgetreten« und »normal« geworden.

Der Antisemitismus hat deshalb überlebt, weil in der Geschichte der Bundesrepublik das Kalkül der SS, daß die Menschen erst tot wären, wenn wirklich nichts mehr an sie erinnerte, vollends aufgegangen ist. Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm, hat geschrieben: »Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.«

Irgendwann ist der Gedanke, die Toten nicht dem Feind zu überlassen, als der bestimmende Grund subversiven Denkens und revoltierender Praxis verschwunden. Keine Niederlage des Feindes war auszumachen, worin einzig das Eingedenken erlösende Gestalt annehmen könnte. Nicht Revolution, nicht Rache, stattdessen Reprisen. Die Linke hat Deutschland noch nicht wiedervereinigt, aber wiederentdeckt. Und wie vordem die Massenmorde nicht von einer Masse Deutscher, sondern nur »im Namen Deutschlands« begangen worden sein sollen, so berufen sich die lauthalsen Verurteiler der israelischen Politik gerade darauf, als Deutsche sich zu empören. Vergessen ist Horkheimers denkwürdige Anmerkung über die Hartnäckigkeit, mit welcher die Deutschen nach dem Sturz des Nationalsozialismus am kollektiven »wir« festhielten, vergessen auch die Passage, die wie gemünzt auf den friedensbewegten Patriotismus klingt, der die Verbrechen nicht leugnet und gleichwohl ihre Voraussetzungen akzeptiert:

»Die Kotaus vor den Widerstandskämpfern, die offiziellen Absagen an den Antisemitismus, von den Syna­gogenbesuchen bis zum Schweigen bei Anne Frank [da­mals gab es die »Betroffenheit« noch nicht – EG], all dieses bereits kleinlaut und formell gewordene Schuldbekenntnis hat die bloße Funktion, sich zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen. Der Patriotismus in Deutschland ist so furchtbar, weil er so grundlos ist«. (»Notizen«, 1956).

Ein beliebiges Beispiel dafür ist die Spätheimkehrer-Prosa des Schriftstellers Piwitt, in dessen neuestem Roman es heißt: »Es gibt nichts Heimatloseres, Entwurzelteres, Ahasverhafteres als das Kapital.« Der neue Patriotismus macht aus seiner Seele kein Zwischenlager, und seine Wortführer sind bereits zu dem geworden, wozu sie die ganze Welt erst noch machen wollen: zu einem Re­cyc­ling-Produkt.

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