Die Gleichschaltung der Erinnerung

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Das KZ Bergen-Belsen

Hanna Lévy-Hass wurde im Sommer 1944 nach Bergen-Belsen deportiert, zu einem Zeitpunkt, als sich der Charakter dieses Lagers entscheidend verändert hatte: aus dem sogenannten »Vorzugslager«, wie es – so auch das KZ Theresienstadt – in SS-Kreisen bezeichnet wurde, hatte sich ein Konzentrationslager mit ständig steigender Häftlingszahl entwickelt.

Anfang 1943 hatte das Auswärtige Amt der SS vorgeschlagen, Juden mit Pässen oder Konsulatsbescheinigungen der »Feindstaaten« zum Austausch mit internierten Deutschen zur Verfügung zu stellen und sie vorläufig nicht in die Vernichtungslager im Osten zu deportieren. Die SS ordnete im April an, in Bergen-Belsen ein Sammellager für 10000 »Austauschjuden« zu schaffen und erließ Richtlinien für die »Bestimmung des jüdischen Per­sonenkreises«, der dort festgesetzt werden sollte: »Juden mit verwandtschaftlichen oder sonstigen Beziehungen zu einflußreichen Personen im feindlichen Ausland... Juden, die als Geiseln und als politische oder wirtschaftliche Druckmittel brauchbar sein könnten; jüdische Spitzenfunktionäre«. Für das »Aufenthaltslager« übernahm die SS einen Teil eines bereits bestehenden Kriegsgefangenenlagers, wo 1941/42 Tausende von russischen Soldaten durch Hunger, Erschöpfung, Ruhr und Fleckfieber umgekommen waren. Aus durchsichtigen Gründen erhielt Bergen-Belsen nicht den Status eines Zivilinternierungslagers.

In einem Rundschreiben des SS-Wirtschafts-Verwal­tungs­hauptamts vom Juni 1943 heißt es: »Wie der Chef der Sicherheitspolizei und des SD mitteilt, muß aus taktischen Gründen an Stelle der Bezeichnung ›Zivilinterniertenlager Bergen-Belsen‹ die Bezeichnung ›Aufenthaltslager Bergen-Belsen‹ treten. Diese Änderung ist er­forderlich, da Zivilinterniertenlager gemäß der Genfer Kon­vention internationalen Kommissionen zur Besichtigung zugänglich sein müssen.« So wurde das »Aufenthaltslager« von Anfang an in die Konzentrationslagerver­waltung der SS eingegliedert.

Zwischen Mitte 1943 und Herbst 1944 wurden ungefähr 5000, vornehmlich holländische Juden nach Bergen-Belsen gebracht. Sie waren im »Sternlager«, so genannt, weil die Häftlinge den »Judenstern« auf ihrer Kleidung tragen mußten, die stärkste Gruppe neben Juden aus Saloniki, jugoslawischen, albanischen, nordafrikanischen und französischen Juden. Sowohl an der ursprünglich geplanten Anzahl von 10000 wie an den zum vorgeblichen Austausch nach Bergen-Belsen geschafften und an den nur 357 tatsächlich ausgetauschten Juden mag man ersehen, wie bedeutungslos das »Austauschprogramm« gewesen ist. Es beeinträchtigte die zur selben Zeit fahrplanmäßig abgehenden Vernichtungstransporte ebenso wenig, wie das ökonomische Interessen oder die Erfordernisse der Kriegslage taten.

Der auf einer »Fahrplankonferenz« im Mai 1944 in Wien aufgestellte Zeitplan, der den täglichen Umfang der Mordtransporte von ungarischen Juden auf 12000 festlegte (über 300000 ungarische Juden wurden nach Auschwitz verschleppt), wurde minutiös eingehalten, obwohl zu diesem Zeitpunkt jeder Eisenbahnzug gebraucht worden wäre, um die Front mit Nachschub zu versorgen. Jüdische KZ-Häftlinge wurden von der SS nur nach Maß­gabe des Programms der »Endlösung« an industrielle Unternehmen »ausgeliehen«. Dazu heißt es in einem Rund­schreiben Himmlers vom 9.10.1942: »Gegen alle diejenigen jedoch, die glauben, hier mit angeblichen Rüstungsinteressen entgegentreten zu müssen, die in Wirklichkeit lediglich die Juden und ihre Geschäfte unterstützen wollen, habe ich Anweisung gegeben, unnachsichtlich vorzugehen.« Für die unter dem Vorwand eines even­tuellen Austauschs verschleppten Juden, die sich das »Privileg«, nicht sofort zum »Arbeitseinsatz nach Osten«, das hieß zur Vernichtung deportiert zu werden, mitunter teuer erkauft hatten, war die Vorspiegelung der möglichen Befreiung bloß eine besonders infame und immer wieder ergiebige Quelle für Illusionen.

Ab März 1944 schickte die SS auch KZ-Häftlinge nach Bergen-Belsen, die durch den Einsatz in Rüstungsbetrieben so geschwächt waren, daß sie durch andere ersetzt werden mußten. Der erste Krankentransport, 1000 meist tuberkulöse Häftlinge, kam aus dem Lager Dora, einem unterirdischen Außenkommando des KZ Buchenwald, wo die Häftlinge unter viehischen Bedingungen bei der Produktion von V-Waffen eingesetzt waren. Die stetig wachsende Gruppe von »nicht mehr Arbeitsfähigen« wurde im äußersten Teil des »Austauschlagers« abgetrennt zusammengepfercht, im sogenannten »Häftlingslager«, das für ein »Baukommando« von 500 aus verschiedenen KZ nach Bergen-Belsen geschafften Häftlingen angelegt worden war. Die von der SS in anderen Konzentrationslagern pedantisch durchgeführte Kategorisierung und Hierarchisierung der Häftlinge wurde in Bergen-Belsen um eine räumliche Dimension erweitert, jede Kategorie wurde im Lager durch hohe Drahtzäune von der anderen getrennt, so daß es mehrere »Binnenlager« im »Aufenthaltslager« gab:

das schon erwähnte Sternlager, in das man die Verfasserin des Tagebuchs [Hanna Lévy-Hass] verschleppt hatte und in dem mörderischer Arbeitszwang bestand. Selbst Greise wurden in die Arbeitskommandos zum »Stubbengraben« (d.h. Ausgraben und Zerkleinern von Baumstümpfen und Wurzeln in den Heidewäldern) gezwungen;

das Häftlingslager, das von Anfang an wie ein »normales« KZ verwaltet wurde: Sträflingskleidung, Sklavenarbeit, Kapo-Regime, Mißhandlungen, mangelnde medizinische Betreuung. Sofort nach dem Eintreffen des oben erwähnten Transports aus Dora stieg die Sterbequote sprunghaft an;

das Neutralenlager, in dem mehrere hundert Juden neu­traler Staaten (Spanien, Portugal, Argentinien, Türkei) ohne Arbeitszwang unter bis März 1945 vergleichbar »erträglichen« Bedingungen inhaftiert waren;

das Zeltlager, ein Komplex hinter dem »Sternlager«, der ab Herbst 1944 mit Tausenden von Frauen aus dem Konzentrationslager Auschwitz belegt wurde;

schließlich das Ungarnlager, errichtet im Juli 1944, wo ähnliche Bedingungen herrschten wie im »Neutralenlager«. Die ungarischen Juden trugen Zivilkleidung mit dem »Judenstern« (über ihren Austausch verhandelte Himmler über Mittelsmänner mit jüdischen Organisationen). 1685 ungarische Juden wurden nach langwierigen Kopfgeldverhandlungen zwischen der SS und jüdischen Hilfsorganisationen im Dezember 1944 mit einem Zug in die Schweiz gebracht. Zu dieser Zeit waren bereits mehrere Hunderttausend ungarische Juden in Auschwitz ermordet worden.

Im »Sternlager« entwickelten sich selbst noch unter den chaotischen Zerfallserscheinungen der totalitären Herrschaft die Formen der »Zwangsgemeinschaft«, die für das Konzentrationslagersystem charakteristisch waren und die H.G. Adler detailliert für das KZ Theresienstadt beschrieben hat und denen in Bergen-Belsen vor allem die Beobachtungen und Reflexionen von Hanna Levy-Hass gelten. Ein ausgefeiltes System der Häftlingshierarchie, vom Lagerältesten bis zum Vorarbeiter, hielt jeden einzelnen Häftling ununterbrochen im Netz des Terrors gefangen, so daß in Bergen-Belsen bei immer steigender Häftlingszahl einige Dutzend SS-Leute, die zudem angesichts der um sich greifenden Epidemien immer weniger in Erscheinung traten, die Massen der Häftlinge dem sicheren Tod durch Hunger, Krankheit und Erschöpfung aussetzen konnten.

Ähnlich wie im KZ Theresienstadt waren im »Stern­lager« Männer und Frauen, ganze Familien inhaftiert, und die Illusion einer bevorzugten Behandlung trug wesentlich zur Zerrüttung der psychischen Verfassung der Insassen bei. Denn Gerüchte über einen angeblich bevorstehenden Austausch, über mögliche Maßnahmen der SS- Lagerverwaltung oder über die Frontlage spielten im »Sternlager« eine eminente Rolle. Sie zirkulierten als Meldungen einer fiktiven Agentur, der »JPA«, was Jüdische Presseagentur bedeutete und als Kürzel synonym für Gerücht galt.

Als im Winter 1944 die alliierten Armeen immer weiter vordrangen, verschleppte die SS die noch überlebenden Häftlinge frontnaher KZ ins Innere Deutschlands. Oft wochenlang waren diese Transporte unterwegs, auf »Todesmärschen« oder in offenen Güterwaggons bei eisiger Kälte und ohne Verpflegung. Durch die Massentransporte von entkräfteten Zwangsarbeitern, die zur »Erholung« nach Bergen-Belsen gebracht wurden, und infolge der Evakuierungstransporte aus Auschwitz und seinen Nebenlagern, aus den KZ Ravensbrück, Groß-Rosen, Mauthausen u.a. (vor allem Frauen) stieg die Häftlingszahl in Bergen-Belsen rapide an: Ende November 1944 etwa 15000 Häftlinge, Ende Januar 1945 ungefähr 22000, Ende Februar 41000 und zur Zeit der Befreiung des Lagers Mitte April etwa 60000.

Mit dem neuen Lagerkommandanten Josef Kramer, einem erfahrenen KZ-Fachmann, der es vorher bis zum Adjutanten des Auschwitz-Kommandanten Höß und zum Kommandanten des Lagers Auschwitz II (Birkenau) gebracht hatte, mit der systematischen Überfüllung, dem organisierten Hunger, den umfassenden Epidemien und Krankheiten, schließlich mit den ununterbrochenen Mißhandlungen war die Umwandlung von Bergen-Belsen in ein »regelrechtes« KZ und Vernichtungslager abgeschlossen. Wenige Tage vor der Übergabe des Lagers an die Engländer wurden die »Austauschjuden« in drei Zügen abtransportiert, und so wurde auch formal dokumentiert, daß das »Aufenthaltslager Bergen-Belsen« seit einigen Monaten – ohne daß die »Austauschjuden« eine bessere Behandlung als die anderen Insassen erfahren hätten – als Sammelstelle für die Evakuierungstransporte diente: als gigantischer Ablagerungsplatz für menschliches Roh­material, das nach dem Ausfall der Verwertungsanlagen nurmehr als Abfall betrachtet und behandelt wurde. Und wie eine Müllkippe fanden die Engländer das Lager vor: Tausende zu Leichenbergen aufgeschichtete tote Körper, Fäulnis, Verwesung, Gestank.

Bergen-Belsen zeigt im Unterschied etwa zu Auschwitz und dem bürokratisch kalkulierten Mord der Gaskammern, wie wenig dem vorherrschenden Perfektionismus der industriellen Massenvernichtung die historischen Mittel der Massenverbrechen fremd sind. Denn planmäßiger Hunger und gewollte Seuchen waren die Hauptursachen des Massensterbens im KZ Bergen-Belsen. Verglichen damit wurde kaum eine große Zahl von Häftlingen Opfer unmittelbarer persönlicher Gewaltanwendung von seiten des SS-Wachpersonals, durch Erschießungen oder Mißhandlungen.

 

Allein im März 1945 starben in Bergen-Belsen über 18000 Menschen oder kamen bereits tot mit den eintreffenden Transporten an; bis zur Befreiung des Lagers erhöhte sich die Zahl der durch Hunger und Fieberepidemien vernichteten Menschen auf 35000. Und nach der Befreiung starben weitere 13000 an den Folgen der Erkrankungen und Entbehrungen, trotz der medizinischen Hilfe der Engländer, die in den Arsenalen der Lagerverwaltung riesige Mengen zurückgehaltener Lebensmittel und Medikamente entdeckten.

Vom 17. September bis zum 16. November 1945 fand in Lüneburg vor einem britischen Militärgericht der Bergen-Belsen-Prozeß statt. Angeklagt waren 33 SS-Leute und 11 Häftlinge mit Aufsichtsbefugnissen, sogenannte Kapos. Ein großer Teil des SS-Wachpersonals blieb vollkommen unbehelligt, da die Engländer nur jene anklagten, die sie bei der Übernahme des Lagers vorgefunden hatten. Der Prozeß wurde auf der Grundlage der britischen Militärgerichtsbarkeit geführt, was heißt, daß die deutschen Angeklagten prozessual wie englische Soldaten behandelt wurden und ihnen individuelles Verschulden nachgewiesen werden mußte. 11 SS-Angehörige wur­den zum Tod verurteilt, 11 weitere Angehörige des SS-Wachpersonals und 8 Kapos zu Freiheitsstrafen, 14 Angeklagte wurden freigesprochen.

Über den Bergen-Belsen-Prozeß findet man in den Lüneburger Bibliotheken kein einziges Buch. Eine Anfrage im Stadtarchiv nach Unterlagen über den Prozeß oder anderem zeitgeschichtlichen Material wurde knapp beantwortet: nach den Archivierungsvorschriften fallen das Konzentrationslager Bergen-Belsen und der Prozeß nicht unter Angelegenheiten, welche die Stadt Lüneburg betreffen.

In Bremke, einem kleinen Dorf in Südniedersachsen, in der Nähe von Göttingen, findet man an der Stelle der niedergebrannten Synagoge heute einen deutschen Vorgarten: Immergrün und Gartenzwerge. Mit liebevoller Gründlichkeit ist hier die Vergangenheit »aufgearbeitet« worden. In Lüneburg die kleinstädtische Variante der Politik des verbauten Gedächtnisses, die auf die Politik der verbrannten Erde folgt: noch die Erinnerung an die Erinnerung wurde getilgt. An der Stelle des 1976 abgerissenen Prozeßgebäudes, der alten Städtischen Turnhalle, befindet sich heute ein Parkplatz.

Nachtrag: Die einzige detaillierte Studie über das KZ Bergen-Belsen, das 1962 in Hannover erschienene Buch von Eberhard Kolb (»Bergen-Belsen«), ist längst vergriffen und wird – nach Auskunft des Verlags – in absehbarer Zeit nicht wieder aufgelegt. Eine gedrängte Zusammenfassung der Monographie von Kolb findet man in den »Studien zur Geschichte der Konzentrationslager«, Stuttgart 1970 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nummer 21, S. 130-153).

Einige wichtige Publikationen über den Nationalsozialismus waren ebenfalls über viele Jahre hinweg nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Zu einer Zeit, in der den Deutschen die von ihnen begangenen Verbrechen unter dem Markenzeichen HOLOCAUST so griffig und geläufig werden wie NIVEA und nach dem Muster eines beliebten TV-Spiels jedermann zur Mitwirkung an einer inszenierten Betroffenheit aufgefordert ist, zu einer Zeit, in der ein Hitler-Fest-Film und ein Hitler-Fest-Buch bestimmt nicht das Andenken eines Verstorbenen verunglimpfen, von dem Adorno gesagt hat, man wisse nicht genau, ob er tot oder entkommen sei, ist es angebracht, auf einige Wiederauflagen längst vergriffener Titel hinzuweisen:

Hannah Arendt, »Eichmann in Jerusalem«, Rowohlt-Taschenbuch 1978.

Eugen Kogon, »Der SS-Staat«, Heyne-Taschenbuch 1977.

Jean Améry, »Jenseits von Schuld und Sühne«, Klett 1977.

Rudolf Höss, »Kommandant in Auschwitz«, dtv 1978.

Gerhard Schönberner, »Der gelbe Stern«, Bertelsmann 1978.

Abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche6

I.

Einmal im Amt, besteht die Würde des deutschen Berufs­politikers vor allem in unbeugsamem Durchhaltevermögen. Jeder Mißgriff eine Verpflichtung zum Weitermachen, jede Blamage eine Aufforderung zur nächsten, jede Verletzung der politischen Moral ein Beweis der eigenen Unversehrbarkeit.

Anders als in Ländern, in denen der Tatsache, daß jemand Minister oder Senator wurde, immer noch Wenigstens der Schein persönlicher Tüchtigkeit und individuellen Erfolgs anhaftete – Prädikate, derer man im politischen Geschäft ebenso rasch verlustig gehen konnte, wie man sie im wirklichen Geschäftsleben errungen hatte –, anders als in diesen Ländern sind Politiker in Deutschland schon immer staatliche Einrichtungen gewesen. Ihr Profil gewannen sie am Schwungrad des etatistischen Räderwerks, ihre Physiognomie war identisch mit der ihnen zugedachten Aufgabe: Als Scharnier der Staatsmaschinerie hatten sie vor allem zu funktionieren.

Bis heute sind die deutschen Politiker, von unglücklichen Ausnahmen abgesehen, nur die Anhängsel einer Sache, mit der sich die Sozialwissenschaften seit über hundert Jahren abmühen: Sie sind Funktionäre eines mittlerweile überdimensionalen Apparats. Nie der gewandte und wortgewaltige Repräsentant einer gesellschaftlichen Klasse, der es verstünde, noch das partikularste Interesse als große politische Idee feilzubieten, kennt der deutsche Politiker nur eine Tugend, welche er mit dem Sprachungetüm »Treuepflicht« auch gleich zur Richtschnur öffentlichen Handelns erhoben hat: Ein jeder Krise, jedem politischem Wolkensturm die Stirn bietendes Beharrungsvermögen, gleichgültig gegen jeden Inhalt, robust und zählebig. Politiker haben in der Regel eine hohe Lebenserwartung; wie meist der General den Gefreiten, so überlebt der Minister seinen Chauffeur. Weltläufigkeit, Eleganz, Bildung und Geschmack, savoir vivre wie dégoût für die Banalitäten des politischen Kleinkrams waren in Deutschland nie die einer politischen Karriere förderlichen Attribute; im Gegenteil: Der von jenen Zutaten gereinigte, aber dadurch um nichts weniger gesellschaftliche Stoff, aus welchem die Politiker der letzten Jahrzehnte ihre eigentümliche Immunität und Resistenz bezogen haben, dieser Stoff ist das Gleitmittel moderner Herrschaft. Er ist ein Amalgam aus Knechtsmentalität und dem ziellosen Hunger nach entleerter Macht. Wird er, wofür eine ausgeklügelte Laufbahnordnung sorgt, in der richtigen Dosierung verabreicht, so wird aus dem kleinen Befehlsempfänger, der nur im Bett von den Schalthebeln der Macht träumen kann, nach einer strapaziösen Bewährungsfrist ein Stadtdirektor, ein Ministerialbeamter, ein Staatssekretär, ein Minister und manchmal auch ein Kanzler oder ein Bundespräsident. Ihre Lebensläufe gleichen einander wie künstliche Wasserstraßen, und wer es auf diesen vertikalen Kanälen nicht frühzeitig zum Kapitänspatent bringt, bleibt sein Leben lang der von den Erfolgreichen abschätzig belächelte Kanalarbeiter. Kaum eine steile Karriere, selten ein großer Intrigant, kaum eine Persönlichkeit, nie ein Hasardeur, manchmal ein Überzeugungstäter, aber nie ein Staatsmann.

Friedrich der Große, von dem der ominöse Glaubensartikel des verstaatlichten Politikers formuliert wurde: »Ich bin der erste Diener meines Staates«, besaß gleichwohl die absolutistische Arroganz, zwischen sich als ersten Diener und den Staat noch ein besitzanzeigendes Fürwort einzufügen, außerdem besaß er beträchtliche philosophische Kenntnisse und eine mit eigenen Kompositionen angereicherte Soiree genoß er mit gleichem Kunstverstand wie mit Sachverstand eine einfallsreiche Schlachtordnung. Von der Bildung ist übriggeblieben das Hobby, und Kenntnisreichtum macht keinen Politiker mehr, was ihn auszeichnet ist Versiertheit.

Der bestallten Dummheit sieht man einiges nach, denn im Ritual der öffentlichen Blamage enthüllt die Demokratie unter Bedingungen des Spätkapitalismus ihr Wesen: ein Dummkopf ist potentiell jeder – wer ihn angreift, der kriegt es mit allen zu tun. Im augenzwinkernden Einverständnis mit den Repräsentanten des Gemeinwesens kommen die Massen nicht zu ihrem Recht, wohl aber auf ihre Kosten. Nach dem Muster modischer Therapiezirkel fungiert der öffentliche Fauxpas als Selbstdarstellung der applaudierenden Zuschauer. Indem sich derart unanfechtbar eine hohlköpfige Koalition der Gefolgschaft koalierter Hohlköpfigkeit versichert, scheint sich unwiderruflich jene letzte, »schließliche Form« bürgerlicher Herrschaft etabliert zu haben, von der Marx im »18. Brumaire« im Zusammenhang mit – einem heute allerdings überflüssigen – Napoleon gesprochen hat.

Was im Staatsmann noch eine Einheit bildet, im deutschen Berufspolitiker zerfällt es: Er ist der auswechselbare Staatsdiener mit Freizeitbereich. Büro und abends Familie. Er ist den Nichtpolitikern so unterschiedslos ähnlich, daß diese jenen zu Recht nicht einmal kennen. Jede Umfrage beweist es aufs Neue: Wer weiß denn tatsächlich, daß es einen Minister für Forschung und Technologie gibt und wie dieser heißt? Der niedersächsische Ministerpräsident veranstaltet häusliches Chorsingen und hält sich Schafe, soweit die Füße ihn trugen hat der Bundespräsident die Republik durchwandert, usw. – eine endlose Reihe von Biedermännern mit Job und Weekend, eine Galerie mit Gesichtern von der Stange. Je mehr sie »unser Staat« sagen, desto weniger haben sie davon; und eigentlich meinen sie auch, wie jeder Büroangestellte, damit nur ihre Bezüge. Weil sie zu einer kümmerlichen Existenz verurteilt sind, sprechen sie vom »sozialen Besitzstand«, worin sie, wie jeder Gewerkschaftsfunktionär, die Verkörperung der sittlichen Vernunft erblicken. Der unbedeutende Unterschied des Politikers zum Nichtpolitiker besteht alleine noch in dem Umstand, daß jener auf der Kommandobrücke eines Schiffes Platz genommen hat, worin dieser einen Ausflug zum Malstrom gebucht hat. Und damit sitzen sie wirklich alle im sprichwörtlich einen Boot.

Für den Verlust an Format, dem chronischen Leiden deutscher Politiker, rächen diese sich auf ihre Weise. Weil sie der Möglichkeit nach nichts sind, wollen sie in Wirklichkeit alles sein; weil sie im Leben niemand ernst nehmen würde, wollen sie andere den Ernst des Lebens spüren lassen. Wo jeder alles und jeden versteht, herrscht an Verzeihung kein Mangel: Es mag ein Politiker noch die ausgemachteste Schandtat aushecken, er wird sich nicht einmal dadurch unsterblich blamieren, daß er in flagranti beim Verfassungsbruch oder in der Halbwelt erwischt wird, im Gegenteil: Solche Blamage macht unsterblich.

Die politischen Tugenden des citoyen haben hier ihr spirituelles Leben ausgehaucht und sind ersetzt worden durch ein Arsenal regressiver Reflexe: Im Land des Berechtigungswesens und des Bewährungsaufstiegs muß man vor allem gut sitzen können; es zählen Eigenschaften, wie man sie im Höhlenzeitalter kannte und nach der Neutronenbombe braucht – Hartnäckigkeit, Durchhaltevermögen, Zähigkeit, Robustheit und Überlebenswillen.

Wenn Politik keine von sich verschiedenen Zwecke mehr intendiert, wenn sie identisch wird mit ihren Methoden, dann ist sie nichts und wiederum auch alles. Und damit schlägt die Stunde des Kleinbürgers, den Politik als Selbstzweck fasziniert. Hannah Arendt bezeichnet diesen Typus, der im 20. Jahrhundert Geschichte machen kann als »Spießer«. Nachdem die Menschen Gott nicht mehr zu fürchten haben und ihnen ihr Gewissen durch den Funktionscharakter ihrer Handlungen abgenommen ist, fühlen sie sich höchstens noch ihrer Familie gegenüber verantwortlich. Aus dem an öffentlichen Angelegenheiten interessierten Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, das sich seiner Verantwortung für das Gemeinwesen bewußt war, ist der an seinem privaten Dasein klebende Spießer geworden. Und in den kleinen menschlichen Schwächen der Großen findet sich der kleine Mann immer wieder. Öffentliche Tugenden kennt er nicht, und wenn in dem ihm ähnlichen Versager Herrschaft und Knechtschaft eine lächerliche, doch eben darum lebensgefährliche Symbiose eingehen, dann erkennt er zufrieden sein eigenes Spiegelbild: Auch einer von uns, ein Anstreicher. Hauptsache Durchschnitt – nach dieser Devise wurden deutsche Politiker gemodelt. Friedrich Ebert, der biedere Charakter mit Sitzfleisch stand Modell, nicht Walter Rathenau, der den Haß der Abgerichteten auf sich zog.

Gerade weil sie so austauschbar sind, kleben sie an ihren Stühlen; weil man im politischen Geschäft keine Adlerschwingen mehr benötigt, tapsen sie die Hühnerleiter hinauf bis zum Ruhestand. Es geht ihnen – gemäß dem olympischen Spruch: »Dabei sein ist alles« – wie ihrer Gefolgschaft: Wer nicht mitmacht, ist schon draußen. Weil dabei weder Gesinnung noch Verantwortung jene Rolle mehr spielen, die Max Weber an der Wende zur verwalteten Welt als die ethische Paradoxie der Politik bezeichnet hat, sondern durch unspezifische Ausdauer ersetzt sind, beschäftigt sich die politische Soziologie heute mit den Härtetests von Laufbahnpolitikern. Mit dem Topos »Zirkulation der Eliten« hat die moderne Sozialwissenschaft den Sachverhalt beschrieben, daß die gerade nicht regierende Partei in gepolsterten Sesseln wie in einem Startloch kauert und bei gewonnenem Rennen nur die Plätze getauscht werden. Keine strittige Sache bezeichnet der Begriff der Elite mehr, sondern einen Naturvorgang: Ein System von kommunizierenden Röhren, worin die Geister im umgekehrten Verhältnis zu ihrem spezifischen Gewicht in die Höhe steigen. »Geist habilitiert sich nicht«, beschied deshalb ein Frankfurter Ordinarius das Habilitationsbegehren von Walter Benjamin, der damals begreifen mußte, daß Intelligenz nicht zu den Voraussetzungen gehört, um in Deutschland Professor zu werden.

 

Daß einer freiwillig seinen Platz räumt in einem System, das nur nach oben offen ist, gehört zu den unerklärlichen Wundern der Zeitgeschichte. Wo wegen eines Mißerfolgs oder einer diskreditierenden Affäre ein Politiker in früheren Zeiten zurückgetreten ist und dies anderwärts heute noch selbstverständlich ist, da nimmt in Deutschland keiner seinen Hut. Um ihr Gesicht nicht zu verlieren, treten andere mit gebührendem Anstand zurück; da deutsche Politiker das eine nie besessen haben und deshalb das andere nie erwerben konnten, harren sie anstandslos mit der ernstesten Miene aus. Und geht wirklich einmal einer vorzeitig, was dann?

II.

Einen Monat nach der Wahl des ehemaligen NSDAP- Mitglieds Carstens zum neuen Bundespräsidenten – Mitte 1979 – und eine Woche vor der damaligen Nominierung von Strauß zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU trat der Sozialdemokrat Hans Seifriz, 52 Jahre alt und seit zehn Jahren Senator der Hansestadt Bremen, von seinem Amt zurück. Zwischen zwei normalen Ereignissen der deutschen Nachkriegsgeschichte vielleicht eine Kehrtwende? Neunundneunzig Sünder und ein Gerechter?

Eine der CDU nahestehende Wochenzeitung hatte einen für politische Karrieren in der Bundesrepublik nicht untypischen Befähigungsnachweis von Seifriz in die Hände bekommen und schadenfroh veröffentlicht. Als angehender Journalist hatte Seifriz unter anderem folgende Talentprobe veröffentlicht: »Eine in fast allen Völkern lebende gottverfluchte Rasse war es, die immer wieder die Völker unterwühlte, ihr Eigenleben störte und Kriege anzettelte ... Der Jude ist der erbittertste Feind jedes völkischen Eigenlebens ... Wenn wir an die zum Teil himmelschreienden Verhältnisse denken, dann müssen wir dem Führer aus tiefstem Herzen dankbar sein, daß durch die nationalsozialistische Staatsform die Geburt von gesunden Kindern garantiert wird; denn nur dadurch kann sich ein Volk lebenskräftig erhalten.« (zit. nach Frankfurter Rundschau vom 25.6.1979).

Wäre der Senator, der als Jugendsünde gewertet wissen wollte, was doch angesichts der Zeit, in der er seine ersten öffentlichen Sporen sich verdient hat, nämlich Ende 1944, eher als Einübung in eine der politischen Karriere förderlichen Tugend gelten kann, in die Tugend, konsequent, d.h. wider besseres Wissen bis zum eigenen Untergang zu handeln – wäre dieser Senator schweigend und in betreten schweigender Stimmung zurückgetreten, dann hätte man, wenn auch mit falscher Hoffnung, vielleicht ein wenig aufatmen können: Gut, einer weniger. Einer von wievielen?

Wir wissen es nicht, und die Umstände des Rücktritts bewiesen auch, daß wir es auch gar nicht so genau zu wissen brauchen. Denn dieser Einzelfall komplettiert nur das Bild. Nicht trotz des Nationalsozialismus hat es einer zu einem öffentlichen Amt gebracht, sondern eben deshalb. Von den Unionsparteien war bekannt, daß sie sozusagen als Überleitungsgesellschaft ehemaligen Nazis die nötige freiheitlich-demokratische Stromlinie verpaßt und manchen damit sogar bis zum Kanzler und Bundespräsidenten gebracht haben. Nach dem Rücktritt des Bremer Senators muß man sich mit der Vorstellung vertraut machen, daß auch die Sozialdemokraten zu jenem bislang von anderen Parteien verkörperten Phänomen rechnet, dem die Soziologie Sockelqualifikation mit Transferleistungen bescheinigen würde. Ehrenmänner die sie sind, bedanken sie sich, indem sie kompromittierten Figuren wie Seifriz (oder dem schon längst wieder vergessenen Präsidenten des Frankfurter Landesarbeitsgerichts Joachim) »eine Chance gegeben haben« für den Umstand, daß der Nationalsozialismus auch willigen Sozialdemokraten eine Chance eingeräumt hatte. Nimmt man die damaligen Äußerungen einiger Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionäre ernst – an ihnen lag es nicht, daß diese Chancen nicht genutzt werden konnten.

Als wäre Politik Strafvollzug und ein öffentliches Amt die vom Bewährungshelfer verordnete Resozialisierungs­maßnahme, sprachen der Betroffene und der Bremer Regierungschef Koschnik von »Jugendsünden« und von »verblendeten Menschen, denen man die Chance gegeben habe, nicht abseits zu stehen, sondern neu anzufangen«.

Seifriz ist zurückgetreten mit der Erklärung, er habe sich zu diesem Schritt entschlossen, um die Partei nicht zu schädigen. Doch der Schaden besteht gerade darin, daß er durch sie etwas geworden ist. Jean Améry hat auf die Rechtfertigungsversuche wie auf die wortreiche Reue der ehemaligen Schreibtischtäter mit einem kategorischen: »Sie sollen der Mund halten« reagiert; nur wenn diese schwiegen, seien die Toten, die Würde der Opfer einigermaßen sicher.

Die hier von verzeihlichen Jugendsünden redeten, halten ansonsten schon die Tatsache, daß ein Schüler, der auf eine kommunistische Zeitung abboniert ist, schon für gravierend genug, daß sie ihn deshalb nicht einmal Friedhofsgärtner werden lassen wollen. Seifriz hat seine Nazi-Artikel in einem Alter geschrieben, in dem man heute nicht nur den Führerschein machen, sondern als Polizist anderen Menschen den »finalen Rettungsschuß« verpassen darf. Und neidvoll werden sicher viele Eltern und Großeltern den gestammelten Unsinn ihrer eigenen 18jährigen mit dem elaborierten, flotten Henkersdeutsch jenes aufstrebenden jungen Mannes von damals vergleichen.

Wie Weimar und Hitler sich als Kreuzung in der deutschen Politik nach 1945 fortzeugen, so auch in der deutschen Presse. Als ein Beispiel unter vielen mag hier der meinungsstiftende Kommentar eines stellvertretenden Chefredakteurs gelten, dessen Ausführungen »Feiges Nachgeben« überschrieben sind.7 Für die Tatsache, daß ein junger angehender Journalist mit widerlichen Veröffentlichungen reüssieren konnte, hat am ehesten Verständnis, wer selbst mit zusammengebissenen Zähnen als stellvertretender Chefredakteur seinen Job verrichtet und unnachgiebig ausharrt. Als »dumme Hetzartikel«, als hämischer Streich eines Hitlerjungen erscheint, was die Ermordung von Millionen Menschen mit zu verantworten hat. Im Kommentar zum Fall Seifriz ist die Rede vom »Sündenfall einer Pimpfengeneration«, als sei der National­sozialismus der Einbruch des Unglaubens in die Zivilisation gewesen, aus welcher er in Wahrheit doch hervorgegangen ist.