Die Gleichschaltung der Erinnerung

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Wer als Flüchtling kam, mußte anrüchig sein, denn er hatte in den Augen der Eingesessenen die Loyalität zu seinem Heimatland aufgekündigt, er war ein Landesverräter. Deshalb sollte er auch keine Heimstatt finden und, weil er hilflos war, keine Hilfe. Schon damals wurden die Neuankömmlinge nach einer letztlich unerheblichen Unterscheidung in politische und Wirtschaftsflüchtlinge ein­geteilt. In den Augen aller waren sie zuerst einmal Störenfriede, unfähig zur Gefolgschaft und – wie es heute heißt – nicht integrierbar. Die allgemeine Angst vor dem Chaos hatte selbst diejenigen erfaßt, die um das Wohl der Flüchtlinge besorgt waren: »Der eigentliche Feind des polnischen Juden ist nämlich die übertrieben individualistische Einstellung seines Innern«, hieß es in einem Bericht der Sozialistischen Monatshefte über »Ostjüdische Arbeiter in Deutschland«. Dieses implizite Lob für die Deutschen hat sich bis in die neuesten Charakterisierungen von Fremden erhalten und taucht beispielsweise 1980 in einer Passage des Verfassungsschutzberichtes auf, in welcher den Türken ein »heftiger, schwer disziplinierbarer Volkscharakter« attestiert wird.

Die Ostjuden kämen der liberalen Wirtschaftsordnung wegen in Scharen nach Deutschland und schleppten die Symptome der Krise und der Asozialität ein, übertönten die Antisemiten die den Massen dämmernde Erkenntnis, daß diese Ordnung sie selbst tendenziell zu überflüssigen Menschen machte. Die Ostjuden ihrerseits mußten bald nach der Ankunft in Deutschland die Illusion begraben, es gäbe noch andere als ökonomische Gründe für die Wahl des Zufluchtsorts. ln der ersten seiner gedruckt vorliegenden Reden beschrieb Hitler stilbildend für den gegenwärtigen veröffentlichten Fremdenhaß nicht nur, mit welchem Erfolg die Ausländer den Deutschen die Arbeitsplätze wegnähmen, sondern auch, daß im Begriff des Wirtschaftsflüchtlings die Rechtlosigkeit der Person oder, antisemitisch ausgedrückt, deren Ausgrenzung als Fremdkörper vorausgesetzt ist: »Vergleichen Sie die l Million Arbeiter in Berlin vom Jahre 1914 mit dem, was sie heute sind: Arbeiter wie damals. Was hat sich an ihnen geändert? Sie sind arm geworden. Und nun suchen Sie nach jenen 100.000 Ostjuden, die in den ersten Kriegsjahren einwanderten. Sie finden sie heute überhaupt nicht mehr. Der größte Teil von ihnen hat sich ›gemacht‹ und sitzt bereits im Auto. Nicht weil sie gescheiter sind (...), sondern aus dem einfachen Grunde, weil diese 100.000 von vornherein niemals bereit waren, redlich mitzuarbeiten in einem gesunden Volkskörper zu gemeinsamem Gedeihen, sondern im vornherein den gesamten Volkskörper als nichts weiter ansehen denn als Mistbeet für sich selber.«

Einen ersten Erfolg konnte die kollektive Überfremdungsangst 1918 mit dem vorübergehenden Grenzschluß verbuchen, der für die östlichen Grenzen des Deutschen Reichs mit dem ausdrücklichen Hinweis auf eine von den Flüchtlingen drohende Verseuchungsgefahr angeordnet wurde. 1920 machte sich der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Ernst, genau die Sorgen, von denen seine Nachfolger heute wieder gequält werden: »Die Ostjudenplage wird, da es sich hier nicht nur um lästige, sondern höchst gefährliche Ausländer handelt, in ihrer jetzigen Duldung und wohlwollenden Behandlung künftighin politisch, wirtschaftlich und gesundheitlich die furchtbarsten Gefahren zeitigen.« Deshalb legte er als Behördenchef nicht nur eine besondere Einsatzfreude bei den legalen Pogromen, den Razzien, an den Tag, sondern empfahl auch, was rund sechzig Jahre später unter die »Reihe von anderen Maßnahmen« fiel: das Sammellager, die Abschiebehaft. Beide sind Einrichtungen einer modernen Entdeckung: der Heimat. Wem nicht zwangsweise wieder zu einer solchen verholfen werden konnte, indem man ihn meist in den sicheren Tod repatriierte, dem blieb als einzige Heimat das Lager.

Unter welchem bis ins Detail reichenden Wiederholungszwang die Gegenwart steht, beleuchtet der folgende Zeitungsbericht über eines der 1921 außerhalb Berlins errichteten Internierungslager: »Vor einigen Tagen ist im Lager Stargard eine mit 80 Mann belegte Baracke abgebrannt. Da absolut keine Löschmittel zur Verfügung standen, die Wachmannschaften offenbar, entgegen ihrer Pflicht, nicht rechtzeitig einsprangen, brannte die ganze Baracke nieder. Da die Baracke verschlossen war, sprangen die Internierten zum Fenster heraus. Sie wurden daraufhin von den Wachmannschaften beschimpft und zum Teil mit Kolbenschlägen mißhandelt. Am folgenden Tage beim Appell wurde den Internierten angedroht, daß sie, falls nochmals eine Baracke in Brand geraten würde, nicht mehr herausspringen dürften, sie sollten ruhig verbrennen.«

Im November 1923 wurde die Frage des sozialdemokratischen Abgeordneten Davidsohn »Wann findet – wenn das so weiter geht – zu Berlin oder sonstwo in Deutschland der erste fidele Judenpogrom statt?« beantwortet: der Mob zog prügelnd und plündernd durch das Berliner Scheunenviertel. »Der Nazismus stieß seinen ersten Schrei aus«, schrieb Döblin. Hier wurde geprobt, was später, als alle mitmachen durften, Programm wurde. Die Sozialdemokraten taten nichts, was den Ehrentitel »Judenschutztruppe«, den ihr die Nazis verliehen, hätte rechtfertigen können, und die Kommunisten waren gerade dabei, die Faschisten als Hilfstruppen der Revolution zu gewinnen. Nie war der Antisemitismus und der Ausländerhaß später wütender als in den Jahren zwischen 1919 und 1923, in denen die Ostjuden als Objekt der Einübung auf Kommendes dienten. Die Rücksichten, die noch deutschen Juden galten, fielen weg. Nach 1933 wurde der Mob an die Kandare genommen und der Antisemitismus in staatliche Regie. Die wilden Pogrome von 1923 waren also das Vorspiel zu dem ein Jahrzehnt später bürokratisch exekutierten »Antisemitismus der Vernunft« (Hitler), der schließlich die industrielle Massenvernichtung vorbereitete.

Die ostjüdischen Flüchtlinge nach 1918 waren die Verkörperung einer unerlaubten Schande: sie hatten nicht einmal den Krieg verloren. Sie waren einfach da. Sie waren zwischen den Fronten gewesen, das beleidigte die Soldaten; sie kamen aus den Zwischenräumen der Gesellschaft, das provozierte die Deklassierten, und sie waren die Parias der Geschichte, das verziehen ihnen die besiegten Deutschen, die sich als Proletarier unter den Völkern fühlten, nicht. Von der Propaganda des nationalen Befreiungskampfes gegen die Siegermächte, dessen Parolen oft bis aufs Wort identisch sind mit den patriotischen Bekenntnissen der Friedensbewegung, führte ein direkter Weg zum Pogrom: weil die »auswärtigen Fronvögte« – wie es damals hieß – nicht greifbar waren, hielten sich die »Unterlinge« – wie es heute (bei Hochhut) heißt – an die Ostjuden, von denen das »besetzte Land« ersatzweise befreit werden sollte; und 1938 konnte man über das Berliner Scheunenviertel, das mittlerweile »befreites Gebiet« war, in der bebilderten Rückschau einer Nazibroschüre lesen: »In dem von Ostjuden besetzten Gebiet Berlins mußte sich der Deutsche wie im Feindesland fühlen. Er wurde beobachtet, umlungert, verfolgt.«

Dem Haß auf die Ostjuden korrespondierte aber auch ein bis zur Hochstimmung gesteigertes Interesse an ostjüdischer Kultur. Von der Euphorie, mit welcher ostjüdische Tradition von einem – sehr kleinen und meist aus Intellektuellen bestehenden – Teil der deutschen Juden rezipiert und spöttisch nach einem ihrer Hauptergriffenen Bubertät genannt wurde, soll hier nicht die Rede sein, sondern von der Faszination, die sie auf die nichtjüdischen Deutschen ausübte. Auf die Ostjuden wurde dabei projiziert, was die Deutschen sich anschickten herzustellen: die Volksgemeinschaft. Aus der Vorstellung des wan­dernden Juden wurden die Veranstaltungen des marschierenden Deutschen, aus dem Bild der völkischen Reinheit und der Vermehrungsfreudigkeit, an dem beispielsweise auch Bebel Gefallen gefunden hatte, wurden die Nürnberger Gesetze und die Nazistiftung für Mutter und Kind, der Lebensborn.

In einer Eloge auf den Maler Hermann Struck, den er während des Ersten Weltkriegs in Wilna kennengelernt hatte, schrieb ein begeisterter Deutscher: »Ich erlebte an ihm und an der Umwelt die Kraftquelle des Judentums, die es über die Diaspora der Jahrtausende erhalten hat: die Einheit von Volkstum und Religion, Nationalität und Glauben und erlebte zugleich die dichte, völlig unzersetzte Atmosphäre, die hier noch um Gottesdienst und religiöses Handeln, um Kult und liturgische Bräuche waren. Die Stärke des Ostens gegenüber dem vielfach zerfallenen Westen wurde hier im jüdischen Bereich fühlbar.«

Ganz ähnliche Motive liegen der modischen nostalgischen Beschäftigung mit der Geschichte der Ostjuden heute zugrunde. Dieses Interesse ergänzt das jahrelang offiziell gehegte Stereotyp von den deutschen Juden als allesamt nobelpreisverdächtig durch ein analoges Klischee: aus Einstein wird Tewje, der Milchmann. Man trifft in jeder nächstbesten Wohngemeinschaft auf die verklärenden melancholischen Photographien von Vish­niac als Poster und muß sich die neueste Platte mit jiddischen Liedern anhören mit dem Hinweis, sie sei von einer deutschen Gruppe, die aus der »Liedermacherbewegung« komme, produziert. Dieser Zusammenhang ist nicht zufällig: die mörderische Vergangenheit wird als Kulturgeschichte begriffen. Daß Menschen dabei umgebracht worden sind, spielt allenfalls am Rande eine Rolle, wie das Wort vom »Ethnozid« oder vom »kulturellen Holocaust« verrät. Da die ostjüdische Kultur hierdurch außerdem grenzüberschreitend mit der deutschen wiedervereinigt und regermanisiert wird als Teil einer untergegangenen Kulturvielfalt – im Unterschied zur beklagten Kolonialisierung durch die Coca-Cola-Kultur –, sind die Opfer eigentlich die Deutschen, denen man etwas getan hat, als die Juden umgebracht wurden. So werden aus sinnlos Ermordeten sinnstiftende Tote, die das Lebens­ge­fühl der deutschen Selbstfindung stärken.

III.

Vierzig Jahre nach Kriegsende befinden sich die Deutschen nach den Worten ihres Bundespräsidenten an der Schwelle zum gelobten Land: »Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt mit dem Einzug ins verheißene Land begann. Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.« Diese ausgeborgte Ver­heißung hatten die Deutschen nach der internationalen Blamage ihrer Versöhnungsfeiern 1985 bitter nötig, denn Bitburg und Belsen stehen nicht für ein vierzigjähriges Pariadasein der Bundesrepublik, das nun zu Ende ging, sondern dort wurde der Bankrott der deutschen Nach­kriegspolitik offenkundig. Vierzig Jahre nach der militärischen Kapitulation des deutschen Reichs legte die Republik ihren moralischen Offenbarungseid ab; wozu es damals der alliierten Armeen und besserer Waffen bedurft hatte, das wurde 1985 von einer der gleichgeschalteten Meinung in der Bundesrepublik unbekannten Wunderwaffe erzwungen: der Waffe der Kritik und einer funktionierenden Öffentlichkeit im demokratischen Ausland, welche die Selbstdarstellung des »neuen Deutschland« als Propagandalüge entlarvten.

 

Dem religiös verbrämten optimistischen Schwindel, die deutsche Nachkriegsgeschichte sei eine zweite jüdische Heilsgeschichte, korrespondiert die antiimperialistische Paranoia, die Deutschen seien das auserwählte Volk einer Verschwörung der Supermächte. Wie um Hitler ein zweites Mal recht zu geben, daß sich das Schicksal Deutschlands an der Judenfrage entscheide, kaprizierten sich die Deutschen in einer absurden Verwechslungskomödie auf die Rolle des eingebildeten Juden.

Die neuerdings auf Traditionen, Mythen und Symbole versessene Gesellschaft braucht derlei Mutationen, um dem trivialen Geheimnis ihrer Herkunft nicht auf die Spur zu kommen. Die Deutschen hätten den Brand in der Westberliner Abschiebehaftanstalt nicht nur als pädagogische Maßnahme präsentieren dürfen, um potentielle Asylsuchende in aller Welt abzuschrecken, sondern auch als Jubiläumsveranstaltung für die hundertjährige Geschichte des Rassismus in Deutschland. Über eine andere Berliner Silvesternacht ungefähr 100 Jahre zuvor, berichtete Eduard Bernstein in seiner »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung«: »Organisierte Banden zogen in der Friedrichsstadt vor die besuchteren Cafés, brüllten, nachdem allerhand Schimpfreden gehalten worden waren, tatkräftig immer wieder ›Juden raus‹, verwehrten Juden oder jüdisch aussehenden Leuten den Zutritt und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüsteneien mehr.«

Immerhin gab es damals noch eine spontane Protestversammlung der Berliner Arbeiterklasse, welcher der Gedanke des »Kommunistischen Manifests«, die Arbeiter hätten kein Vaterland, noch nicht ausgetrieben oder in sein Gegenteil, die Aufforderung zum glühenden Patriotismus, verkehrt worden war.

Der historische Pogrom und der aktuelle Brand, die damalige handgreifliche Bürgerinitiative und der tödliche Verwaltungsvollzug von heute, markieren nicht nur die Entwicklung der Instrumente, die zum Arsenal des völkischen Ressentiments gehören, sondern sie reflektieren auch die zwei Seiten eines gesellschaftlichen Bündnisses, das ungebrochen fortbesteht: das Bündnis von Mob und Elite, der Vertrag zwischen Antisemitismus, Fremdenhaß und Macht. Diese Übereinkunft schließt eine Arbeitsteilung ein, die sich auch nach der Demokratisierung von Mob und Elite erhalten hat. Während die Rollkommandos gewissermaßen empirische Sozialforschung treiben, um durch teilnehmende Beobachtung herauszufinden, ob sich etwa einer rührt, ist man in den Büros mit der Auswertung beschäftigt; dort formalisieren und normieren Wissenschaftler, Verwaltungsexperten und Politiker die rechtsetzende Praxis jener gewalttätigen Demoskopie. Über die Bedeutung des Unterschieds zwischen unkontrollierten Ausbrüchen des Hasses und behördlich kalkulierter Diskriminierung sind sich die modernen Machthaber einig. Hitler empfahl schon in seinen ersten politischen Erklärungen, den Antisemitismus aus »rein gefühlsmäßigen Gründen« durch einen »Antisemitismus der Vernunft«, d.h. durch systematisch entrechtende Verwaltungsakte zu ersetzen, und wie man weiß, waren blutrünstige Sadisten bei der industriellen Massenvernichtung nicht erwünscht, sondern korrekte Beamte.

Wenn heute Politiker in der Bundesrepublik vor Ausländerfeindlichkeit warnen, dann ist diese Warnung in der Regel ein Symptom der Krankheit, die sie diagnostizieren. Wenn ein Kommentator der liberalen Frankfurter Rundschau das rassistische Manifest einiger Treitschkes von heute, die öffentlich die Ausweisung der Ausländer fordern, für eine »überwiegend vernünftig formulierte Diskussionsgrundlage« hält und meint, »daß das Ausländerproblem in der Bundesrepublik öffentlich mit kühler und humaner Vernunft angepackt werden kann«, dann hört sich das wie eine Drohung an. Sie kommt der Vorstellung vom Krieg ohne Haß ganz nahe, deren Verwirklichung Adorno als vollendete Inhumanität bezeichnet hat und stellt eine Neuauflage des Traums dar vom noblen Antisemitismus, den Hans Blüher, einer der Wortführer der deutschen Jugendbewegung nach dem ersten Weltkrieg, träumte: »Darum ist reiner Antisemit nur der, der ohne Haß gegen die Juden ist.«

Kein Träumer hingegen ist der gegenwärtige Bundeskanzler. Es mag noch so tollpatschig aussehen, wenn er sich auf der politischen Bühne bewegt und noch so debil klingen, wenn er den Mund aufmacht – er verkörpert die ungebrochene Fortdauer politischer Herrschaft, die im Deutschland des 20. Jahrhunderts schon ganz andere Gestalten sich ausgesucht hat. Als nach der Demokratisierung der Elite austauschbarer Repräsentant aller Unmündigen kann er nur nach einer Devise verfahren, die schon Bismarck als Geheimnis moderner Herrschaft ausgeplaudert hat: »Ich bin ihr Führer«, sagte er, »also muß ich ihnen folgen.«

Wenige Tage nach seinem Amtsantritt kündigte Kohl im Fernsehen an, seine Regierung werde sich mit der »Ausländerfrage« beschäftigen, denn er gäbe eine »zu große Zahl türkischer Mitbürger«. Für deren Rückführung wolle er sich einsetzen, doch solle dies »menschlich anständig« geschehen. Mit diesem aktuellen Ausdruck des Bündnisses zwischen Volksempfinden und Verwaltung gelang dem Kanzler auch eine unvermeidliche Reprise: in einer Rede vor SS-Führern in Posen hatte Himm­ler 1943 den gestreßten Gehilfen des Massenmords bescheinigt, daß sie »abgesehen von Ausnahmen mensch­licher Schwächen, anständig geblieben« seien. Abgesehen von einem kleinen Silvesterumtrunk waren auch die Wachleute des Berliner Abschiebegefängnisses anständig geblieben. 1984 wurde das Ermittlungsverfahren gegen sie mit der Begründung eingestellt, es habe sich »kein pflichtwidriges Verhalten der vier Beamten erkennen lassen.«

Die allgemeine Enttäuschung darüber, daß man die Ausländer nicht so einfach anzünden kann wie vordem die Juden, weil es sich zumeist um Bürger mit dem Paß eines Nato-Mitgliedstaats handelt, entlädt sich periodisch in Brandstiftungen an Ausländerunterkünften und treibt die bürokratische Phantasie der Behörden an. Diese überbieten sich wechselseitig bei ihrem Bemühen, den Asylsuchenden wieder abschiebefähig zu machen, und in der Praxis ist das Recht auf Asyl nur noch eine von der Willkür gewährte Gnade geworden. Wem sie als Ausländer nicht zuteil wird, der darf sich damit trösten, nicht nur psychologisch, sondern realpolitisch zur deutschen Wiedervereinigung sein Scherflein beigetragen zu haben, denn die für Flüchtlinge aus Südostasien durch eine Vereinbarung der beiden deutschen Regierungen gesperrte Grenze zwischen den zwei Staaten hat sich darüber in ein einigendes Band verwandelt.

Die beabsichtigte verfassungsmäßige Annullierung des Asylrechts wäre identisch mit der formellen Proklama­tion der Volksgemeinschaft. Dann bliebe nur noch, auf die friedliche Lösung zu hoffen, die alle befürchten: daß die Deutschen wirklich aussterben.

1985

Über den Bergen-Belsen-Prozeß

Kommentierte Auszüge aus der Berichterstattung der Lüne­burger Post (Nachrichtenblatt der Alliierten Militärregierung) über den Bergen-Belsen-Prozeß (Mitte September bis Mitte November 1945)

»Alle sechsundvierzig Angeklagten werden zusammen vor Gericht erscheinen, eine Anklagebank wird für die männlichen Angeklagten bereitgestellt, eine zweite für die neunzehn Frauen. (Nr. 11, 11.9.45) … Die Beweisaufnahme ergab, dass Zoddel das Durcheinander bei der Befreiung des Lagers dazu benutzte, um eine Gefangene, ein junges polnisches Mädchen, um den Haufen (sic!) zu schießen. (ibidem) Am ersten Tage der Verhandlung gegen Kramer und Genossen erklären sich alle Angeklagten nicht schuldig.«

Die Prinzipien angelsächsischer Strafjustiz, auf denen auch das Procedere der Militärgerichtsbarkeit fußt, dokumentieren die Unangemessenheit klassischer Rechtsbegriffe angesichts der Massenvernichtung. Umso entschiedener insistiert die Anklage auf der genauen Einhaltung bürgerlicher Rechtsbegriffe, wie zum Beispiel der individuellen Verantwortlichkeit, der Schuldzumessung. So zeigt sich auch in der Justiz, dass die Theorie ihren Gegenstand nicht mehr unter angenommenen Bestimmungen der Vernunft fassen kann – als einigermaßen hilfloser Ausweg aus diesem Dilemma blieb, nicht nur im Belsen-Prozeß, die bescheidene Hartnäckigkeit, mit der Sieger und Überlebende an den vom Faschismus vernichteten Grundsätzen festhielten. Daher oft auch die in gewisser Weise »altertümelnde« Sprechweise, das feierliche Pathos:

»Die Angeklagten werden beschuldigt, zwischen 1. Oktober 1942 und 30. April 1945 im KZ Bergen-Belsen als Mitglieder seiner Verwaltung und verantwortlich für das Wohl der dort Untergebrachten, die Gesetze des Rechts wie des Krieges verletzt zu haben, sich zusammengetan zu haben, alle Insassen übel zu behandeln. Dadurch haben sie den Tod eines britischen Staatsbürgers, zweier Ungarn, eines Franzosen, eines Holländers, eines Belgiers, eines Italieners, eines Staats­angehörigen von Honduras, die alle namentlich genannt wurden, darüber hinaus den weiteren Staatsangehörigen Alliierter Länder unbekannten Namens verursacht. Ferner werden die Angeklagten der Misshand­lung namentlich genannter und namenloser Angehöriger alliierter Länder beschuldigt. (Nr. 13, 18.9.45)«

Bis zur Befreiung durch die Engländer kamen im KZ Bergen-Belsen ungefähr 13.000 Menschen um, an den Folgen starben in den ersten Monaten nach der Befreiung ungefähr noch einmal so viele.

»UNBESCHREIBLICHE REVUE DES ABGRUN­DES (Titel Nr. 14, 21.9. 45) … Die Totengruben von Belsen im Film … Man sah den SS-Wachen, von denen eine ganze Reihe auf der Anklagebank den Film zusahen, an, daß sie diesen Dienst nicht gerne verrichteten. [D.h. unter der Aufsicht der Engländer die zahllosen Leichen in einem Massengrab zu transportieren.] Sie schienen sich ein wenig entwürdigt zu fühlen, die namenlosen Leichen in die Grube tragen zu müssen, sie schleppten sie wie lästige Säcke, warfen sie achtlos zu den Haufen der anderen.«

Der Titel, nicht nur an dieser Stelle, und weitere Passagen – vgl. erstes und unten folgende Zitate – der Berichterstattung illustrieren trefflich Blochs Überlegungen im Essay »Der Nazi und das Unsägliche«: wie jeder Vergleich zur Geschmacklosigkeit gerät. Unbeholfen rettet sich die beschädigte Sprache in vermeintlich nicht kompromittierte literarische Analogien, und so liest man oft den Vergleich mit Dantes Hölle. Dieses gebildete quid pro quo, erstens das den Begriff suchende Stammeln nach dem bloß äußerlichen Abklingen des Schocks, verkennt den Charakter des Nationalsozialismus völlig.

Das geschichtliche Denken, gewohnt, auch noch in den größten Verbrechen der Vorgeschichte einen zumindest unvermeidlichen Tribut an den weltgeschichtlichen Auftrag einer zu vernünftigen Verhältnissen emporstrebenden Menschheit zu sehen, oder – wie die abendländische Literatur in ihren klassischen Tragödien von Sophokles bis Goethe es an herausragenden Einzelschicksalen dargestellt hat – als Tribut des Lasters an die Tugend. Noch in seiner grausamsten Gestalt erschien das Verbrechen verständlich, und auf der Folie großer Gedanken gewann selbst der gräßlichste Übeltäter eine eigentümliche moralische Größe.

Doch nichts von alledem im Nationalsozialismus, gegen welchen Dantes Inferno nur das Versagen traditioneller Begriffe und Vorstellungen enthüllt. Denn einem Eisenbahnbeamten, der fahrplanmäßig die Züge in ein Vernichtungslager abfertigt, eignet nichts Diabolisches; die Herstellung von Zyklon B erfordert keinen Schurken, wie man ihn vom Theater kennt, sondern einen Facharbeiter mit Feierabendhobby. Für den Nationalsozialismus ist charakteristisch nicht ein Übermaß von blindem Schicksal, gegen das menschliche Anstrengung sich aufrichtet im Eingedenken an eine vielleicht bessere Welt, wo noch im Scheitern die Wahrheit des davon verschiedenen Besseren auszumachen wäre. Im Nationalsozialismus fallen Quantität und Qualität des Verbrechens unterschiedlos und ohne Begrenzung zusammen, eigentlich gibt es nur noch Henker und Opfer – und auch diese Differenz hat bloß fließende Grenzen, wie eine bezeichnende Bemerkung verrät: »Daß einer Gegner des nationalsozialistischen Regimes gewesen war, hat man meistens erst dann gemerkt, als man ihn hingerichtet hat.« (Zitiert bei Brentano/Furth). So trivial wie diese Bestimmungen sind auch ihre Protagonisten. Jeder Versuch, den deutschen Faschismus mit den erwähnten literarischen Mitteln zu schildern, muss an dieser Trivialität scheitern. So schreibt Hannah Arendt in einer Kritik über den Charlie-Chaplin-Film »Der Diktator«, der ihr als Beispiel für dieses Misslingen gilt, dass der Film nur beweise, wie jeder Schmierenkomödiant, einen solchen mimt Chaplin in der Rolle eines Friseurs, heute Politiker werden könne. Nicht Schillers »Verbrecher aus verlorener Ehre« betritt im Kollektiv die Bühne der Geschichte, noch weniger die barbarischen Horden der Vorzeit, eher das Rohmaterial der modernen Sozialwissenschaften, welche darum deutlicher auch den angemessenen literarischen Ausdruck der Epoche bilden.

 

Weder Teufel noch Dämon, weder Nero noch Philipp von Spanien, nicht Hades noch Hölle, nicht Athen und nicht Venedig, nicht Hamam und nicht Dschinghis Khan,2 sondern die namenlose, gesichtslose, konturlose und gedächtnislose Monade aus dem zeitgenössischen Ensemble von Bahnbeamten, abgebrochenen Volksschul­lehrern, Tierliebhabern und Feldwebeln, Sekretärinnen und Turnerriegen, Tabellenfachleuten, Wochenendausflüglern, Besserwissern, Familienvätern, Eintopfexperten – solcherart ist die Anthropologie des modernen Durchschnittshelden, der zu Höherem sich berufen fühlt, ein von seiner eigenen Trivialität nicht mehr verschiedenes Wesen und deshalb zuallerletzt ein Gegenstand der Kunst. (»Auch ist ein Mensch, der ganz Bosheit ist« – oder nur noch banal, wie man Schiller heute korrigieren müßte – »schlechterdings kein Gegenstand der Kunst … Man würde umblättern, wenn er redet.«)3*

So beliebig und nichts der Einzelne, der sich folgerichtig auch abgewöhnt hat, Ich zu sagen, so einerlei und banal auch die Schauplätze: jede Familie eine kriminelle Vereinigung, jedes Büro ein geeignetes Schlachthaus, jeder Stempel ein potenzieller Mord, jeder Anruf ein beiläufiges Verbrechen.

»Die Reihe der Angeklagten folgte den Ausführungen der ersten drei Zeugen … zum größten Teil mit verkniffenen Mienen, ohne ein Zeichen besonderer Rührung … das stimmt überein mit dem Bild, das die Zeugen von ihm [gemeint ist Kramer – EG] entworfen haben, als sie ihn in seinem Büro in Belsen vernahmen. Er hatte nicht das mindeste Empfinden von Schuld, eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Häftlinge, die er alle als Berufsverbrecher, Schwerverbrecher und Homosexuelle bezeichnet hatte, zeichnete ihn aus. (Nr. 14, 21.9. 45)«

Genauso unschuldig wie die Opfer fühlen sich die Henker. Hannah Arendt führt in ihrem Essay über Sozialwissenschaften und Konzentrationslager4 die Bedingungen dieser makaberen Assimilation weiter aus: die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der tödlichen Realität auf Seiten der Opfer, und die kalte Indifferenz, welche das Lagerpersonal ausgezeichnet (auch noch vor Gericht, obwohl sie doch mit einer Geste der Selbstanklage besser vor den Tribunalen dran gewesen wären), leitet sie her von der auf verschiedenen Stufen verlaufenden Desintegration der Persönlichkeit im Laboratorium KZ.

»›Muselmänner‹ wurden die armen Teufel in der Lagersprache genannt, die sich um den Abfall aus Küchen, auf dem Misthaufen selbst, noch rissen, die mager und abgezehrt zu keiner Arbeit, selbst nicht zum Tragen der Toten mehr fähig waren. Erstaunlich nur, dass jemand diese Tiefen der Entwürdigung und Vertierung überlebt hat. (Nr. 15, 25.9. 45)«

Günter Anders berichtet in seinem Tagebuch »An die Wand geschrieben«, wie, entsprechend dem heimlichen Wunsch, der aus diesen Zeilen spricht, in Polen einige der Überlebenden genau mit dem Vorwurf, daß sie überlebt haben, erschlagen worden seien. Ähnliches erzählt Marian Rogowski in seinem dokumentarischen Roman »Gewonnen gegen Hitler«. Schon die Nazis hatten peinlich genau darauf geachtet, das keiner davonkommen sollte, aber auch, das keine Zeugnisse der Vernichtung und keine Berichte nach draußen dringen sollten. Vergeblich auch die verzweifelte Hoffnung der Lagerinsassen, die Welt möchte zur Besinnung kommen, wenn sie davon erführe. Dass man einige nachträglich noch erschlagen hat, ist nunmehr offen gewalttätiger Ausdruck der Fortsetzung nationalsozialistischer Politik: der Politik der verbrannten Erde folgt die Politik des verbrannten Gedächtnisses. Zur erwähnen wäre, daß sich vice versa die Opfer, die überlebt haben, mit Schuldvorwürfen quälen, weil sie vom Preis des Davongekommenseins bis ins Innerste zernichtet sind.

»Durch die Gaskammern von Auschwitz, eingerichtet wie Baderäume mit Brausen, nur ohne Wasserabfluß am Boden, sind ungefähr 4 Millionen Juden gegangen. Hatte das Gas seine Wirkung getan, so wurden Klappen im Boden geöffnet, die Leichen vielen in Loren und rollten ins Krematorium. (ibidem)«

»Hatte das Gas seine Wirkung getan« – noch in der Berichterstattung über das Morden bedient sich die kapitulierende Sprache der nazistischen Sprachregelung. Aber es handelt sich nicht bloß um eine Verdinglichung, in welcher eine von Menschen begangene Handlung als Tätigkeit eines Dinges erscheint (dies ist nur der extreme Ausdruck dem Faschismus vorausgegangener objektiver Momente, die in der Warenproduktion wurzeln und subjektiver Formen, die sich bis weit zurück in die Anfänge protestantischer Doppelmoral verfolgen lassen, etwa bei Luther – also zur Trennung von Personal und Praxis), sondern man muß auch das Moment von Wahrheit zur Kenntnis nehmen, das in dieser Sprache widergespiegelt wird: Ohne diesen kostspieligen Maschinenpark wäre das alles gar nicht möglich gewesen. Die Gaskammern, einmal etabliert, machten die Zufuhr von menschlichem Rohstoff zur Herstellung von Leichen zu einer absoluten Notwendigkeit. Dieser Logik folgt, wie wir wissen, die gesamte Kriegsindustrie seit dem zweiten Weltkrieg.

Vergleicht man die heutige Lokalzeitung mit den Ausgaben von damals – ein Viertel Jahr nach dem Sieg der Alliierten – so fällt zu allererst ins Auge die erschreckende Ähnlichkeit in Aufmachung und Inhalt. Als wäre die Nummer von vorgestern, lese ich (auf S. 4 von Nr. 15, 25.9.45) folgende Artikelüberschriften: Umgangsverbot aufgehoben / Energieversorgung im Rheinland / Riesen­defi­zit im Berliner Haushaltsplan / Rektor in Marburg er­nannt / Respektloses Verhalten strafbar / Vieh schwarz­ge­schlachtet / Dr. Eckener wird Verleger / Strafen für Ver­kehrssünder / Monotonie des Grauens, Fortsetzung von Seite 1 / Sport vom Sonntag usw. Eine beliebige Seite, mit vielleicht einem kleinen Unterschied: in den Familienanzeigen, welche fast die Hälfte der Seite einnehmen: Geboren / Vermählt / Gestorben / G e f a l l e n. Eine beliebige Anzeige herausgegriffen: