Ich zähle jetzt bis drei

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Intervention 4. Jänner 2012

Ein üblicher Bericht über ein Kind, das nur zufällig überlebt hat. Davon, wie Menschen waren und was aus ihnen geworden ist. Und über die Hilfseinrichtungen, deren jeder Mensch im Laufe seines Lebens bedarf; wenn nicht er selber, dann die ihm Nahestehenden. Von den Glücks- und Unfällen darin. Von erlernter Helferhilflosigkeit, professionell unterlassener Hilfeleistung, Schweigepflichten und dem Totreden. Von Not- und Zwangssituationen quer durch die Milieus und Metiers, Klassen, Schichten und Institutionen und von Happy Ends. Und über das Unterleben und über berufliches Looping. Und darüber, dass man Zeit und Zeitverlust besser in Menschenleben und Menschenleid misst. Von Systemfehlern und Systemunfällen und vom Beheben und Verhindern derselben. Eine loyale Systemanalyse von innen und von den Folgen her. Und eine all dessen, was die geld- und gesetzgebenden Politiker aufzwingen.

Ein Nachdenken über die Aussichten einer Frauen- und die Chancen einer Sozialstaatspartei. Über all die gegenwärtigen Versuche, die Politik neu zu erfinden, wirklich, rechtzeitig und gemeinsam. Und darüber, dass die Linken und Alternativen den Rechten und angeblich Konservativen immer zwei, drei Revolutionen hinten nach sind. Und wie der Staat mittels des Staates außer Kraft gesetzt wurde. Und dass die neoliberale Revolution jetzt ihre Kinder frisst.

Eine Erinnerung an diejenigen Leute, die den Pflegenotstand, das Versagen der Jugendwohlfahrt, die Notwendigkeit von Politiker- und Parteienhaftungen, die Verdrittweltlichung der Ersten Welt, eine bevorstehende Arbeitslosenrate von 10 Prozent, die Leere der gewerkschaftlichen Streikkassen, das bevorstehende Platzen der Immobilienblase, die Gefährdung der Pensionen durch die Börsen, den Realwirtschaftsanteil von lediglich 5 Prozent am weltweiten Kapital in die öffentliche Diskussion zu bringen sich beizeiten und lebhaft bemühten. Somit ein kleines Einmaleins des globalen Neoliberalismus auf der einen, der weltweiten glokalen sozialen Bewegungen und des europäischen Sozialstaates auf der anderen Seite. Und der organisierten Verantwortungslosigkeit und der grotesken Katastrophen. Ein Aufspüren wirklich nennenswerten Unternehmertums und wirkliche Abhilfe schaffender Sozialarbeit. Und immer in der Hoffnung auf einen Generalstreik der Frauen.

*

Das hier Berichtete hat als erfunden zu gelten. Jede Ähnlichkeit mit lebenden, verstorbenen oder künftig geborenen Personen sowie mit realen Geschehnissen, Entscheidungen, Verhältnissen und Zuständen ist zufällig, unerwünscht und unvermeidbar. Die drei Bücher handeln von Menschen wie du und ich, deren Leben aufgegeben wurde, die jedoch Glück hatten, und davon, dass in einer Demokratie jede Wahl eigentlich eine Revolution ist, durch die die Politik neu erfunden wird; die Verhängnisse haben nicht mehr die Oberhand, die Happy Ends finden statt. Gebrauchsanleitung liegt bei.

Folgende pataphysische Thesen liegen dem Sozialstaatsroman zugrunde

1. Die gegenwärtigen politischen, ökonomischen und intellektuellen Eliten sind ungebildeter als die Eliten jemals zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg. Daher entscheiden sie falsch und sind weder der demokratischen Prävention noch fürsorglicher Prophylaxe fähig.

2. Man gerät, wenn man in Not ist und Hilfe braucht, im gegenwärtigen Sozialstaat sehr schnell und sehr leicht in Extremsituationen, auch als Helfer selber und genauso als etablierte Hilfseinrichtung insgesamt. Das war seit jeher so und wird gegenwärtig von neuem immer schlimmer.

3. Wirkliche Hilfe muss auch aufsuchend und nachgehend sein. Sie ist dann gegen alle Widrigkeiten möglich, wenn sich die Helfenden von den Hilfesuchenden durch nichts und niemanden trennen lassen und mit ihnen zusammen eine Welt in der Welt sind. Die sogenannte professionelle Distanz hingegen ist meistens nur ein anderes Wort für Feigheit oder für Heuchelei. Und Fehlerkultur ist in den helfenden Berufen im Alltag für die meisten immer noch ein Fremdwort.

4. In einer Demokratie ist potentiell jede Wahl eine Revolution; die Revolution unterbleibt aber nahezu jedes Mal, und zwar bereits im Wahlkampf. Wenn es gegenwärtig zu Revolutionen kommt, dann ausschließlich von rechts. Von dort dann freilich in Permanenz.

5. Da die Gegenwartsgesellschaft als ganze schwer sucht- und angstkrank ist und sich im permanenten Ausnahmezustand befindet, sollte sie sich an den Anonymen Alkoholikern ein Beispiel nehmen und von ihnen schnellstens gutes Benehmen, Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit erlernen.

6. Da die Verdrittweltlichung der Ersten Welt rapide fortschreitet, sollten deren BürgerInnen von den Bevölkerungen der Dritten Welt schnellstens das Überleben erlernen.

7. Da infolge der neoliberalen Weltwirtschaftskrise die Grundversorgung der Bevölkerungen des Westens und Nordens zunehmend gefährdet ist, sollte diese Grundversorgung so schnell wie irgend möglich gesichert werden. Wie man das macht, ist wiederum am ehesten von der Dritten Welt und von den Anonymen Alkoholikern zu erlernen.

8. Die Thesen 6 und 7 sind nicht zynisch und nicht menschenverachtend, sondern befinden sich in Übereinstimmung mit dem Gedankengut Ivan Illichs, Leopold Kohrs, Paulo Freires und Jean Zieglers. Und mit dem Ideenschatz von AlternativnobelpreisträgerInnen.

9. Da sich die Gegenwartskultur in einem infantilen Regress befindet, und zwar psychisch, sozial, politisch, wirtschaftlich und geistig, muss sie, ob sie will oder nicht, zurück in die Antike und dort ihr Amerika samt Europa von Grund auf neu lernen, z. B. die Gegenwartsgriechen ihren Staat von den alten Griechen, zuvorderst von Thukydides und ein bisschen von Aristoteles, die Gegenwartsitaliener den ihren von den alten Römern, zuvorderst von Sallust und ein bisschen von Cicero. Österreich muss nicht so weit in die Antike zurück, sondern lediglich ins Wien um 1900, in die Zeit der Donaumonarchie und der Ersten Republik.

10. Von den Germanen und Kelten kann man, entgegen allen esoterischen, neopaganen und quasireligiösen Bestsellern in Belletristik und Cineastik, nach wie vor nicht das Geringste lernen außer Größenwahn, Realitätsverweigerung, Nekrophilie und Nazikitsch. Das Neonazitum ist militant pseudoreligiös. Ablesbar z. B. im Hymnentext: Adolf Hitler, steig’ hernieder und regiere Deutschland wieder. Hoch zum Himmel heben wir die Hand. Dass der Nationalsozialismus eine Form von Sozialismus ist, macht ihn neben seinen eben genannten sekten-religiösen Komponenten dermaßen gefährlich. Ebenso, dass der sozialdemokratische Sozialismus korrupt ist.

11. Der Mittelstand und die Mittelschicht sind gegenwärtig nicht die Stützen der Gesellschaft, sondern gefährden die Gesellschaft.

12. Die Christen sind ihren eigenen Werten nicht gewachsen.

13. Überall, wo Hoffnung ist, ist zugleich der Wurm drinnen. (Und umgekehrt.)

14. Es gibt nicht den geringsten Grund für staatsbürgerliche Depressionen oder Erschöpfungszustände, wiewohl die Linken und Grünen in den letzten 10 Jahren versagt haben und sich auch weiterhin von der Angst vor der eigenen Courage leiten lassen werden, zumal sie ungebildet sind. Ungebildet verwende ich auch hier im Sinne von unvorbereitet.

15. Die gegenwärtige staatsbürgerliche Grunderfahrung ist es, jederzeit von den anderen ersetzt oder im Stich gelassen werden zu können, also dass ein Menschenleben heutzutage nicht viel zählt. Auch dieses Grundgefühl kommt daher, dass die gegenwärtigen Eliten ungebildet sind und daher ihren Mitmenschen nicht zu helfen verstehen. Die Eliten haben jahrzehntelang das Grundlegendste für banal und primitiv und für eine Art beliebig nachproduzierbarer Massenware erachtet und hatten immer jemanden, der die basalen Dinge für sie erledigte oder bereitstellte. Die gegenwärtige Folge ist eine desorientierte Dienstbotengesellschaft mit dekadenten Herrschaften.

16. Die Thesen 1–15 hätten liebenswürdiger und hilfsbereiter formuliert werden können, was prinzipiell ab und zu besser wäre und im Lebenswerk Pierre Bourdieus systematisch nachgelesen werden kann, z. B. in den Schriften Gegenfeuer, Die verborgenen Mechanismen der Macht und Das Elend der Welt. Desgleichen in meinem empfehlenswerten Sozialstaatsroman. Ebenso in kollektiven Einmischungsbüchern von Bourdieuschülern, Titel z. B. Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Ein halbes Leben. Immer geht es unterm Strich darum, wie man aus der unterlassenen Hilfeleistung, der erlernten Hilflosigkeit herauskommt und aus den Milgramexperimenten, welche zu sein Hilfseinrichtungen die Neigung haben.

17. Der Wohlfahrtsstaat ist die Grundlage des allgemeinen Wohlstands, die Wirtschaft und Industrie haben diesen Wohlstand massiv gefährdet und großflächig zerstört, indem sie ihre Gewinne nicht in die eigene ökologische Unternehmensentwicklung und schon gar nicht in den Sozialstaat, also in die sichere Versorgung der Bevölkerung, investierten, sondern an den Börsen verspekulierten. Und die Politiker aller Couleurs haben den Keynesianismus falsch verwendet, nämlich zur Finanzierung des neoliberalen, mafiösen Wirtschaftsdesasters. Der Motor des Neoliberalismus ist das Erpressen und die Geiselnahme, der des Keynesianismus die Erpressbarkeit und die Geiselhaft. Das Opfer ist in beiden Fällen der Sozialstaat. Die Losung aller Couleurs Im Sozialen links, in der Wirtschaft rechts hat sich als unhaltbar erwiesen.

18. Ungebildet ist jeder, der nicht weiß, dass Orwells 1984 nicht bloß von der UdSSR und dem Kommunismus, sondern, verschlüsselt, vom United Kingdom und dessen Demokratie handelt. Von Orwells Lebenserfahrungen mit dem britischen Schul-, Erziehungs-, Bildungs- und Koloniewesen. Nicht zufällig war für die deutschen Nazi-NAPOLAs z. B. Eton Vorbild, die britischen Eliteschulen eben, nämlich die Erzeugung und Ausmerzung angeblicher Minderwertigkeit. Horst-Eberhard Richter nannte den Neoliberalismus neues Ausmerzungsdenken. Im Übrigen haben Leute wie Matthias Horx nie Recht; darin würde mir Orwell Recht geben.

 

19. Hilfreich ist es in der Tat, rechtzeitig, wirklich und gemeinsam über das zu reden, worüber ansonsten nicht geredet wird. Z. B. darüber, wodurch das Zusammenhalten, Zusammenhelfen, Füreinandereinstehen, Füreinandereinspringen, die Solidarität also, verhindert und verwirkt wird und wodurch das alles andererseits ermöglicht und verwirklicht wird. Also über das Im-Stich-Lassen und Im-Stichgelassen-Werden. Bourdieus Idee im Elend der Welt war, dass immer mehr Menschen sich anderen Menschen öffentlich anzuvertrauen beginnen. Ein affines Demokratie- und Politikmodell ist der israelisch-palästinensische Verständigungs- und Vertrauensort Newe Schalom. Das Gespräch der Feinde in Newe Schalom, Bourdieus Elend der Welt, praktiziert quer durch die Milieus und Metiers, und vor allem die Redepraxis der Anonymen Alkoholiker sind bislang von den Sozial-, Alternativ- und Demokratiebewegungen völlig ungenutzte Gegenmittel gegen die Ohnmacht der Öffentlichkeit. Diese ständigen Ohnmachtsanfälle sind durch die Zerstörung des zwischenmenschlichen Vertrauens verursacht, also von Politik und Wirtschaft.

20. Nichts muss so sein, wie es ist.

21. These 20 gilt im Schlechten wie im Guten.

22. Die Menschen sind gut und klug, wenn man sie lässt.

23. Gott hilft, so viel er kann. Vermutlich braucht er aber selber Hilfe.

24. Jesus heißt, dass Gott hilft. Nicht zuletzt aus den Details der Evangeliumsstelle vom Barmherzigen Samariter entwickelten abendländische Denker den Sozialstaat. Die buddhistischen Ideen zum Sozialstaat, v. a. die des Ambedkar, Justizminister und Verfassungsbeauftragter unter Gandhi, waren aber weltweit nicht weniger interessant, da sie das Kastenwesen aufbrechen, jegliches, also die Faschismen aller Orte und Zeiten und Parteien. Im Wissen, dass alle Kreatur Hilf’ von allen braucht.

25. Das Wichtigste auf der Welt sind Liebenswürdigkeit, Hilfsbereitschaft, Einfallsreichtum, Lachyoga (= Humor + Geistesgegenwart) und Verlässlichkeit.

26. Alles, was wichtig ist, kann man lernen.

27. Lernen ist einfach.

Leseproben (S. 3–8) aus Egon Christian Leitner, Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, Wieser Verlag, 2012

Intervention November 2020 bis Februar 2021

2.–9.11. [...]

1. Die Schwester der Ermordeten: Frieden!; Sprengstoffgurt Attrappe; Mörderlauf. Das Opferfest, die Freude für die Kinder, das schönste, innigste Ereignis, freundlich. Der Vater teilt sein Trinkwasser mit den Gefährten, die einander Weisungen vorlesen. Der Vater kehrt heim, umarmt seinen kleinen Sohn, dann seinen alten Vater; kauft mit dem Kind Geschenke auf dem Markt, Spielzeug, Spielzeugwaffen, für den Buben auch Kampfanzug, Kopfbedeckung, Gürtel. Das Essen wird bereitet, geteilt, verzehrt. Hierauf auch gemeinsam in die Moschee und ins Spital, dort werden Verwundete besucht, mit Süßigkeiten beschenkt. Vater und Sohn sitzen jetzt lachend im sich drehenden Riesenrad. Wieder auf festem Boden wirft der Vater den Sohn ein paar Mal hoch in die Luft, fängt ihn glücklich auf. Ein Vater schnallt seiner kleinen Tochter und seinen zwei kleinen Söhnen Sprengstoffgürtel aus Pappendeckel um. Eine Frau läuft mit ihrem Kind verzweifelt um Wasser, werden verdursten. Im Einzelnen: Ein Werbefilm des IS für m. W. Wien; eine Demo in Berlin; die Urgeschichte von Herkunft und Errettung der Araber, Moslems. Die Religionspsychologie hilft, Wünsche, Ängste, Alltagsgewalt assoziativ-therapeutisch leichter auszusprechen. Dass »wir« miteinander reden, wünscht sich ja die Schwester der Ermordeten. Es ändert aber nichts, ist die Grunderfahrung von Kriegsberichterstatter Orter. Zu ihm haben die Mörder wie folgt geredet: Wir bringen dich nicht um, du gehörst zu uns. Wer zu uns gehört, braucht keine Angst zu haben! Wir bringen nur die um, die uns umbringen. Wir machen mit denen nur, was die mit uns machen. Denen ist egal, wenn wir verrecken, deswegen ist es uns egal, dass die verrecken. – Aber vielleicht töten die »uns« bei »uns« da hier, weil »wir« »sie« bei »ihnen« dort töten.

2. Die Dörner-Simulationen per Computer dienen seit 50 Jahren der Schulung von politischen, ökonomischen, technischen Eliten in extrem schwierigen Situationen: (A) Eine Stadt in der BRD mit viel Arbeitslosigkeit, Umweltproblemen, Rechtsextremismus. (B) Ein Dritte-Welt-Land mit Seuchen, Hunger, hoher Sterblichkeit. (C) Die realen Geschehnisse der Tschernobyl-Katastrophe. Je mehr Fehler die Versuchspersonen machen, umso herrischer, uneinsichtiger, grausamer, rücksichtsloser agieren sie, egal ob Mann oder Frau. Diese lebensgefährlichen Fehler kommen daher, dass man diese im Routinealltag immer mehr zulässt, die Grundregeln außer Kraft setzt, so immer weiter in die nicht mehr bewältigbare Ausnahmesituation, Katastrophe, gerät. Nahezu alle VP sind den Zusammenhängen, Geschwindigkeiten, Abläufen nicht gewachsen, zerstören das, was sie aufbauen oder retten sollen. Scheiternd reden sie sich ein, das Grundproblem bereits, immer oder demnächst im Griff zu haben. Die Experimente sind gruseliger als die Zimbardos oder Milgrams, denn die jeweilige VP handelt frei, ungezwungen, keine beigestellte Autorität manipuliert sie weiterzumachen, egal, wie es den überantworteten Menschen dabei ergeht. Die lebensbedrohlichen, quälenden Interventionsfolgen werden vom Computertäter als notwendige Durchgangsphase deklariert.

3. Warum gibt es in der Schule kein Unterrichtsfach, das Helfen heißt, und warum im Fernsehen kein Friedensprogramm? Ein paar Stunden pro Woche. Auf jedem Sender die Analysen, was man wo tun kann, und in jeder Schule Helfen als Pflichtfach für da hier. Und warum wird nicht endlich – Herrschaftszeiten! – das präventive Sozialstaatsvolksbegehren wiederholt von 2002 (initiiert damals u. a. durch Frauenministerin Dohnal, den Volksschullehrer, Notfallchirurgen, Pflegeanwalt Vogt, den Ökonomen Schulmeister, den Theologen, Historiker Tálos)? Warum drücken sich SPÖ, ÖGB, AK, Armutskonferenz, Caritas, Diakonie, APO samt KPÖ permanent vorm Sozialstaatsvolksbegehren, verstärken so die Helferhilflosigkeit massiv, welche die Folge der Defekte und Defizite des Sozialstaats ist. Z. B. der Pflegenotstand in Wahrheit seit Jahrzehnten. Oder die Resozialisierung in der Jugendarbeit. Meine Erklärung des unsolidarischen Desasters, roten wie christlichen: der geschäftliche Konkurrenzkampf. Aber der wäre in Wirklichkeit der guten Sache wegen ja nur als gegenseitige Kontrolle und rechtzeitige, konsequente Fehlerkorrektur von Nutzen. (Im Sinne K. Poppers. Und der Dörner-Experimente, die früher grünes Basiswissen waren. Wie sehen Gesundheitsminister Anschober, Simulationsexperte N. Popper das?) Die Spielaufstellung ist zurzeit wie folgt: Entweder Kooperation oder Konkurrenz, entweder Prävention oder Pathologie. Richtig wäre z. B. Schonung. Schonen, sich, die anderen. Dadurch wird man leichter gesund. Nicht so leicht krank. Ein Lockdown im Sinne von Lessings Freund Moses Mendelssohn wäre das: Verschonet Euch untereinander!, hat der nämlich gesagt zu den Leuten.

*

10.11. Ihre gebrauchten Masken tragen Mann wie Frau offen wie Schmuck am Handgelenk, Oberarm, Hals. Aber die Masken sind ja eigentlich benutzte Taschentücher oder Unterhosen. Derlei wechselt man oder wirft’s weg! In Österreich nicht. Da benimmt man sich auf Straßen, Plätzen, Einkauf, Geselligkeiten s. o. Bei uns ist auch der verordnete Mindestabstand am engsten: 1 m; in Deutschland 2. Die Maskenpflicht hier soll’s Distanzdefizit kompensieren und ist o. k. Die massenweis’ falsche Verwendung schweinisch + virulent. Die Leut’ können nichts dafür. Ihr Informationsdefizit ist politisch + medial. Dass die Politiker die Schuld an der Seuche jetzt der Bevölkerung geben, ist schamlos.

11.11. Die Ärztin, seit einem Jahr in Pension, telefoniert mit einem Freund (aktiven Spitalsarzt). Der sagt, horrend viele Leute kommen mit anderen Problemsymptomen in die zentrale Erstaufnahme, aber es ist SARS. Und dass so viele sterben. Die Pensionistin sagt, man suche nach pensionierten Ärzten & Pflegern. Sie könne nicht mehr. Die meisten Schwestern, Pfleger seien seit jeher mit 55 Jahren ausgezehrt, verheizt. Dazu jetzt das! & die jungen Kräfte haben Familie, Angst, dass die eigenen Lieben angesteckt werden, draufgehen. Das Politikergerede über Heldentum, Großartigkeit sei schäbig, Unfähigkeit.

12.11. Der Behindertenbetreuer erträgt die mediale Berichterstattung nicht. Die verwirre, zerstöre das Vertrauen, auf nichts könne man sich verlassen. Die Politiker werden nie wirklich zur Rede gestellt. Von Anfang an sei das unterlassen worden. Alles wurde immer unverständlicher, bedrohlicher. Seine Supervisorin, eine Therapeutin mit Mutter (im Heim), weiß auch keinen Rat außer Augen zu und durch, auf sich selber schauen, das eigene Privatleben, den Genuss von Bildungs- und Kulturgütern, sich innerlich weiterbilden. Aber ein Helfer ist zum Helfen da, meint er, der Sozialarbeiter, nicht zum Davonlaufen.

13.11. Brecht dichtete zirka, wer keinen Ausweg weiß, soll jetzt still sein, damit er das herrschende Wirrwarr nicht mehrt. Des Weiteren, dass es um einen Staat schlecht bestellt ist, selbiger falsch beschaffen ist, der Helden braucht. Und dass man den Finger ja auf jeden Zahlenposten legen soll, denn man muss ja die Rechnung bezahlen. Ihr, die ihr dies hört, mögt nicht in Zorn verfallen, denn alle Kreatur braucht Hilf’ von allen! ist auch von Brecht, kommt mir vor – und dass die Ärztin, der Sozialarbeiter gestern, vorgestern alles, was sie sagten, so gemeint haben wie Brecht. Außer das mit dem Zorn.

14.11. Werde auf meinen Coronatagebucheintrag angesprochen im Netz. Soll das Sozialstaatsvolksbegehren erklären. Die Jungen heutzutage kennen das ja nicht mehr, sagt ein »Alter« zu mir, der dann sagt, dass er 2002 gerade sein Haus gebaut, von nicht viel sonst was mitbekommen hat. Die Dörnerexperimente soll ich ihm auch für heutzutage erklären. Erwidere, beides sei nicht nötig; er habe mich gewiss ganz genau verstanden. Dann verspreche ich ihm aber Genaueres in den kommenden Wochen. Verweise ihn bis dahin auf Werner Vogts Arztroman. Der sei in ehrlicher, nüchterner, packender Biografieform eine Sozialgeschichte der Zweiten Republik, der Hilfseinrichtungen und der tatsächlichen Zivilgesellschaft. Wie man Menschen hilft & sich selber schützt, stehe drinnen. Immer jeweils, wie man Unglück in Glück zu drehen vermochte. Trotz Unbill etwas bewerkstelligt, das Hand & Fuß hat & Nutzen. Unter anderem z. B. 2002 eben das Sozialstaatsvolksbegehren. Zur Prävention damals gegen bevorstehende Ausweglosigkeit, z. B. jetzige.

15.11. Eine Lehrerin ruft mich aus der Türkei an. Die Schulen sind ganz geöffnet, die Fenster auch immer, es ist fürchterlich kalt in den Klassen, anstrengend. Denke mir, die jetzt so dafür sind bei uns, dass die Schulen ja offen bleiben, vielleicht bedenken die nicht, dass der Winter kommt; wie kalt die frische Luft ist auch bei unseren Fenstern herein. Freilich: Wenn dann Kinder krank sind, kann man sagen: Nein, nicht Corona! Nicht einmal Grippe! Die Schulsachen ärgern mich immer. Apropos: Das berühmte Peterprinzip besagt, dass man aufsteigt bis zur Unfähigkeit. In Machtpositionen dann Schaden macht, sich wichtig oder bestenfalls Nutzloses (laterale Arabesken). Peters Gegenbeispiel: die gute Lehrerin, die nicht einmal Direktorin werden will, sondern jahrzehntelang nur 1. Klassen unterrichtet. Aber bei niemandem lernen die Kinder so leicht, hilfreich wie bei ihr. Bei uns sind viele Lehrer in der Politik, Regierung. Habe keinen Eintragsplatz mehr jetzt für die Alternativlehrer Erich Fromm, Paulo Freire, Ivan Illich, Leopold Kohr. Die wären zurzeit wichtig wie das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren. Pierre Bourdieu war für so etwas europaweit. Von Besagten next week same time same station! (Hoffe, die Soldaten, die mich, die Meinen, ganz Österreich wöchentlich [?] auf Corona testen werden, arbeiten clean.)

*

16.11. Das Sozialstaatsvolksbegehren, Schlingensief, der Aktionskünstler, würd’s sofort versuchen da hier. & die Leut’ würden mitmachen & alles würde gut ausgehen.

17.11. Eine Virologin, international renommiert, sagte heute, man wisse nicht, ob die Impfung gegen Corona vor der Infektion schützt oder den Krankheitsverlauf mildert; auch nicht, ob es durch die Impfung zu einem Herdenschutz kommt. Das seien wichtige Unterschiede. Denn je nachdem könnte man in der Folge zu Virusträgern werden, die andere anstecken.

 

18.11. Ein Freund, der in den letzten Monaten ein paar Mal getestet werden musste, sagt, dass es beim letzten Mal lang gedauert hat – Autoschlange, Radfahrer, zu Fuß auch viele, Luft schlecht. Wie die Massentestung also wohl werden wird? Unansteckend hoffentlich! Habe keinerlei Zutrauen, dass die Verantwortlichen das Prozedere logistisch zustande bringen, ohne Kollateralschäden. – Es ist aber ja doch eh alles im Freien! An der frischen Luft! Ja, aber wo ist die in Graz im Winter? Smog war da bis dato! Unsere Luft ist gesünder als sonst wo. Ja, in Teheran z. B. ist’s, als ob jeder 24 Stunden lang Kettenraucher wäre & in Peking haben wegen des Smogs die Verkehrspolizisten eine Lebenserwartung von 40 Jahren. Graz ist super!

19.11. Meine Frau ärgert sich über den Virologen, der sagt, die Bevölkerung sei dumm, weil die sich nach dem Lockdown in den Weihnachtseinkaufsrummel stürzen wird. Das solle er den Politikern & Wirtschaftsleuten sagen! & mich ärgert der dumme Witz jetzt grad, dass Österreich über 9 Millionen Virologen verfüge. Denn die 9 Millionen ÖsterreicherInnen wissen m. E. tatsächlich selber, was sie jetzt brauchen.

20.11. Parlamentssitzung: ein Gewerkschafter zur Regierung: Verarschts wen anderen!, & ein Gewerkschafter sagt, im Strafgesetzbuch stünden aufs Regierungsvorhaben bis zu 3 Jahre. Schleichts euch!, sagt auch einer; & einer, die große Regierungspartei benehme sich der kleinen gegenüber wie der Fuchs bei den Hühnern; & einer, dass er wegen seiner gewerkschaftlichen Tätigkeit unter Druck gesetzt & dass gegen ihn bei seinem Arbeitgeber intrigiert worden sei. & der ÖGB-Präsident verlangt 1.000 € für jede/n ArbeitnehmerIn heuer vor Weihnachten. Der Wirtschaftskammerpräsident detto. (Sozialpartnerschaftlich.) Ich find’s lustig, weil das 4,5 Milliarden wären auf die Schnelle & das bedingungslose Grundeinkommen einen Monat lang. Was Schlingensief da alles draus machen würde! Sofort zum Sozialstaatsvolksbegehren dazu das bedingungslose Grundeinkommen!

21.11. Grad wieder sagt wer, es sei jetzt da hier zum Fürchten wie im Krieg. Mir fällt der Kriegsberichterstatter ein, der immer sagt, man müsse von den Opfern berichten & präventiv & was man tun, helfen kann. Rechtzeitig eben alles! Vorige Woche die beiden Ärzte z. B., die Coronakranke daheim betreuen. Alles daran setzen, dass die nicht ins Spital müssen. Es berichten jetzt ja immer mehr Menschen, wie es ihnen selber ergangen ist & was wer tun kann selber oder als Angehöriger. Es ist eben nicht wahr, dass Testen, Ausselektieren & Wegsperren Helfen ist. Da fehlt viel! Bourdieu (wahlverwandt Karl Kraus & Thomas Bernhard) sagte, dass nie die Ideen der Generäle die Abhilfe schaffen, sondern stets nur die der Untergebenen. Nun, es wäre in Österreich ja nicht das erste Mal, dass die vom Generalstab alles verhauen. In den Schwejkfilmen ist das lustig.

22.11. Der Weltpriester offen, hilfsbereit, Fels in der Brandung; seine Worte Wohltat, seine Handlungen umsichtig, gewissenhaft. Lässt niemanden der ihm Anvertrauten verrecken. Sagt heute, Jesus sei nicht nervös gewesen. & dass man nicht nach Schuldigen suchen soll in der jetzigen Situation, sondern zusammenhalten & das Beste aus allem machen. Damit macht er mich aber wirklich wahr nervös, der ich mir ja wünsch’, dass die Kleriker jetzt einfach bloß sagen, der Ausweg für die Politik jetzt ist die Bergpredigt. & ein paar Schlingensief-Leut’ würd’s brauchen dann nur noch & die Bergpredigt wär’ – Simsalabim! – das Sozialstaatsvolksbegehren. Letzten Sonntag die Predigt von einem anderen vorbildlichen Priester – da war ich auch perplex. Ging um die Evangelienstelle, dass dem, der hat, gegeben, dem, der nicht hat, auch noch das Wenige weggenommen wird. Das Geld & die Banken stehen dort & viel Diktatur. Eine 97-jährige Ärztin hat mich gegen diese ihrer Meinung nach tyrannische Passage aufgehetzt, aufgeherzt, telefonisch. Die Frau ist gläubig, die Messe ihr heilig: das Wandlungssakrament, durch das sie ihres Empfindens immer wieder von neuem wirklich ein Mensch zu sein vermag; aber genauso das Messgeschehen insgesamt als von aller Last befreiende Gegenwart Gottes. Aber wegen genanntem Passus würde sie manchmal am liebsten austreten. Vor ein paar Tagen jetzt Knochenbruch. Verstand & Gewissen unkaputtbar; Seele ruhig, Sohn, Enkeltochter liebevoll, ruhig, da.

*

23.11. Seit Wochen, Monaten höre ich das Wort Problem nicht. Alle sagen Herausforderung. Wenn die wenigstens Überforderung sagten, ehrlicherweise! Nehme zurzeit fast nur Führungskräfte wahr, welche sich vor den tatsächlichen Problemen drücken. Meine das ernst. Nehm’s persönlich, wenn die Menschen, für die ich Verantwortung trage, durch die Fehlentscheidungen der jeweils offiziellen Obrigkeit Schaden an Leib, Leben, Existenz nehmen.

24.11. Waldspaziergang, jetzt täglich Massenauflauf. Ein Mann sagt zu mir, dass er früher da hier auch Gämsen gesehen habe. Weiße Elefanten auch?, frag ich. Aber hier gehen jetzt ja wirklich an einem Tag so viele Leut’ wie früher in einem Jahr. Die Rehe, Kitze haben sich heuer auch völlig zurückgezogen, im Frühling schon. Sind sonst insgeheim zu den Häusern gekommen oder in den Wiesen gelegen.

25.11. Die Theaterleut’, die die Arbeit, die Geber & die Nehmer & die Arbeitslosigkeit darstellen, die Erfahrungen, das Empfinden, den Alltag, die Leut’ sich selber. Was wer zu tun versucht in der und der Situation. Wem was einfällt. Augusto Boals Theater der Unterdrückten ist das; in Graz Interact. Die im Theater im Bahnhof machen oft auch ähnliche Sachen. Wie die Marx Brothers. Würd’ die allesamt gern dazu bringen, dass sie das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren durchprobieren, proben. Voraufführen. Wie das sein könnt’, gelingen. Mit der Armutskonferenz zusammen z. B. oder mit den Organisationen, die bei Österreich hilft Österreich dabei sind usf.

26.11. Eine Frau will wissen, ob die weit über 100 Corona-Todesfälle pro Tag die Intensivstationen entlasten, denn so werden ja regelmäßig wieder viele Intensivbetten frei, oder? Ich weiß nicht, wen ich da fragen kann. Trau mich gar nicht.

27.11. Eine andere Kollegin sagt, Gesundheitsminister Anschober habe Tränen in den Augen gehabt & gesagt, dass jetzt durch die Impfung die Hilfe für die Österreicherinnen & Österreicher komme. Die Frau will aber wissen, ob die Menschen unmittelbar vor der Corona-Impfung auf Corona schnell getestet werden & ob man vor der Impfung kurz auf den Gesundheitszustand untersucht werde, damit es keine Komplikationen & ungewollte Nebenwirkungen gibt. Sie sei niemals gegen Impfungen gewesen, aber überzeugt, es müsse mit größter Sorgfalt voruntersucht werden & dass eben der Staat hafte. Bei jeder Impfung sollte das so sein, dann wäre nämlich immer alles ganz einfach. Mit Impfgegnerschaft habe, was sie wolle, nichts zu tun, sondern es gehe um Gewissenhaftigkeit & Professionalität. Dauernd auch sage jetzt irgendein Politiker, dass er sich selbstverständlich gegen Corona impfen lasse, zumal er zu Vorbildlichkeit verpflichtet sei. Sie beeindrucke das nicht & sie verstehe das Argument nicht. Es sei denn, die Politiker lassen sich experimentell als Erste impfen & die Bevölkerung schaut, was dann geschieht. Andererseits, denke ich mir, wäre es nicht gut, würden die Systemerhalter systematisch weggeimpft werden. Wenn die also ausfielen! Das Gesundheitspersonal hierzulande hat jedenfalls verlauten lassen, sie sehen sich als Versuchskaninchen & seien sehr skeptisch! Aufgrund der Verantwortung für die anderen & für sich selber. (Was es alles gibt!)