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Wie auch immer, es gab einen mit Üblichkeiten und Unheimlichkeiten befassten Gesellschaftswissenschaftswissenschaftler, der, aus kleinsten Verhältnissen stammend, eigentlich Zauberer werden und dem Entfesselungskünstler Houdini nachkommen hat wollen und sich zuerst nach dem Zauberhelden der Tafelrunde des König Artus in King Merlin umbenannte. Sein späterer Name lautet Robert King Merton. Die Welt verdankt ihm unter anderem das solide Wissen um die selbsterfüllenden Prophezeiungen, um das sogenannte Thomastheorem, das da lautet: Wird eine Situation als real definiert, so sind ihre Folgen real. Merton hat seine Theorien in der Zeit der großen Weltwirtschaftskrise zu entwickeln begonnen. Mertons bahnbrechende Arbeiten zur Anomie, also zu den großen und kleinen gesellschaftlichen Zusammenbrüchen, durch die es in einem Gemeinwesen zum ganz alltäglichen Krieg aller gegen alle und jedes gegen jeden kommt, stammen aus dem Jahr 1938. Der Anomie-begriff selber stammt bekanntlich vor allem vom Franzosen Durkheim, der vor dem 1. Weltkrieg durch seine Forschungen die Solidarität zwischen Menschen ermöglichen wollte. Und dabei auch die Selbstmorde zu erklären und die Selbstmordepidemien zu lindern versuchte.

Die anomischen Gegenwärtigkeiten, die unter anderem zum Beispiel dadurch entstehen, dass jeder Mensch, jeder Arbeitnehmer, jede Arbeitnehmerin wissen muss, dass sie, dass er nicht gebraucht wird, sondern jederzeit durch einen anderen, durch eine andere ersetzt werden kann, beschrieben, so will mir scheinen – egal nun, ob der Begriff der Anomie dabei wortwörtlich verwendet wurde oder nicht –, z. B. der sozusagen frühe Martin Seligman, also Seligman I, in Erlernte Hilflosigkeit, Pierre Bourdieu im Elend der Welt, Richard Sennett in Der flexible Mensch, Baudrillard in Die Agonie des Realen. Der viel verworfene Jean Baudrillard, vormals Übersetzer von Bert Brecht und Peter Weiss und seines Zeichens eine Art Sozialphilosoph, der sich selber den Pataphysikern zurechnete, hat ab Ende der 1970er Jahre den völligen Realitätsverlust der Gegenwartsgesellschaft, nämlich den digitalen, internetlerischen, supervirtuellen Neokapitalismus als medialen Exzess, als obszöne, jedes Geheimnis zerstörende, hyperreale, permanente Simulation analysiert. Als Betrugsvorgang in Höchstgeschwindigkeit und ohne Ende. Als Lüge, die sich wahrlügt.

Im 5. Jahrhundert vor Christus und im 1. Jahrhundert vor Christus haben Thukydides und Sallust in Athen und in Rom, also in einer Art von Demokratie und in einer Art von Republik, solche verkehrte Welten, solche anomische Zustände, in denen die Worte und Werte plötzlich ihr eigenes Gegenteil bedeuten, solche demolierende, beschädigende Vorgänge und Pervertierungen für alle Ewigkeiten festgehalten. Sozialpsychologisch. Staatstheoretisch. Anfang des 20. Jahrhunderts tat dasselbe der sprachlich am Latein des verbannten Dichters Ovid geschulte Österreicher Karl Kraus. Der von Bourdieu hochgeschätzte Karl Kraus, der immer das Gefühl gehabt haben soll, das alles schon einmal erlebt zu haben und es deshalb so schnell begreifen und benennen zu können, beschrieb wie Thukydides und Sallust Korruption, Ausgeliefertsein, Ruin, Krieg, den Krieg im Inneren wie den Krieg nach außen. Vom Kriegstheoretiker Clausewitz, gestorben 1831, stammt bekanntlich der in den Militärakademien, in der Unternehmensführung und im Marketing unsterblich gewordene Satz: Der Krieg ist ein Chamäleon. Ich persönlich meine, dass das so ist; das Problem beginnt bei der Kindesmisshandlung und endet in der Weltwirtschaftskrise. Dazwischen Hilfseinrichtungen, die nicht viel mehr sind als Lazarette. Es ist immer dasselbe. Der Krieg ist ein Chamäleon.

Der pataphysische Sozialstaatsschuber handelt wie gesagt von den Anomien, Simulationen, Exzessen, all den Milgram- und Dörnerexperimenten, von denen der freie Mensch alias Auweh Kenntnis hat, insbesondere davon, wie Hilfseinrichtungen samt Helfern zu Milgramexperimenten und zu Dörnerexperimenten werden und wie man bewerkstelligt, dass sie nicht dazu werden. Seit Jahrzehnten hat der Kognitionspsychologe und Experte im Fehlermachen Dörner Unfälle und Katastrophen simuliert, politische, technische, ökonomische, z. B. in Städten, Staaten, AKWs. Und zwar, um die Desaster zu verhindern. Er schult seine Versuchspersonen zu diesem guten Zwecke nach. Sein legendäres Erstversuchsland hieß übrigens Tanaland, man könnte heutzutage meinen, es sei Griechenland. Seine Erstversuchsstadt hieß Lohhausen, man könnte heutzutage in der Realität meinen, es seien die bankrotten Gemeinden und Regionen. Und aus Tschernobyl, das Dörner genau rekonstruiert hat, wurde in der jetzigen Realität eben Fukushima. Lassen Sie es mich ganz simpel so sagen: Immer wenn man als Helfer, Verantwortungsträger, Entscheidungen Treffender Es geht nicht anders oder Es geht nicht anders: Es ist das kleinere Übel zu jemandem sagt oder selber gesagt bekommt und es gar auch noch selber glaubt, befindet man sich wahrscheinlich gerade als Versuchsperson in einem grausigen Milgramoder Dörnerexperiment. Und zu glauben, man könne es sich für sich selber oder für die Seinen trotz allem schon irgendwie richten, gehört zum Verlauf des Experiments.

Infolge des Sozialstaatsschubers – das viele Freundliche und Ermutigende, für das ich dankbar bin, lasse ich im Moment beiseite, insbesondere die schriftlichen Rezensionen im Falter, in den Salzburger Nachrichten, in der Presse, im Wiener Literaturhaus – ist spontan in Gesprächen allerlei geargwöhnt, ja befürchtet worden. Zum Beispiel sei ich maßlos, übertreibe das Leid, wolle auf diese Weise moralisch erpressen, Privilegien lukrieren, mich gegen Kritik immunisieren. Und ich beschriebe fast nur Verhängnisse und Finsternis. Überfordere auch dadurch. Sei hermetisch. Zwischendurch unglaubwürdig. Redundant sowieso. Und was die Kindergeschichten anlange, so seien diese oft weder alters- noch kindadäquat. Kinder seien nicht so, denken nicht so. Auch das Kind nicht, von dem ich vor allem erzählte. Des Weiteren sei der Sozialstaatsschuber ein Schlüsselroman. Und Schlüsselromane seien ganz einfach keine Literatur, sondern eine Gemeinheit. Und wie ich gewisse verantwortliche Entscheidungsträger darstelle und wie bestimmte staatliche Institutionen oder gemeinnützige Hilfseinrichtungen schildere, sei ungerecht und entspreche so gewiss nicht der Realität. Ich wolle mich offensichtlich rächen. Und ich verlöre kein Wort über all den Idealismus, den Heroismus, die Bescheidenheit, die Selbstlosigkeit trotz Arbeitsleides und Geldmangels.

Sollten auch Sie, verehrte Damen und Herren, den Eindruck haben, ich sei respektlos, irren Sie sich – wie man so sagt – gewaltig. Ich habe nämlich sehr wohl Hochachtung vor den Menschen, die so, wie gerade berichtet, auf den Sozialstaatsschuber reagiert haben und in Beruf und Alltag aus allem, auch aus dem Schlimmsten, das Beste zu machen gewohnt sind und sich bemühen. Es sind Menschen oft in Zwangs-, Not- und Extremsituationen. Auch diejenigen unter ihnen, die im System sehr gut positioniert sind. Was Letztere wissen, macht ihnen, meine ich, selber Angst. Auch wenn sie öffentlich ganz anders reden. Zum Beispiel mannhaft. Oder wie große Kommunikatoren oder Organisatoren oder Macher. Das Insgesamt ist unterm Strich dennoch eine Form von Helferhilflosigkeit.

Ich habe jedenfalls kein einziges Leid erfunden. Leid und Leidende zu erfinden ist mir unmöglich. Kein einziges Leid im Sozialstaatsroman ist erfunden und kein einziger leidender Mensch. Das Leid habe ich auch nicht übertrieben. Es ist in der Realität zu viel. Das kommt daher, wenn den Hilfsbedürftigen nicht geholfen wird. Dann nimmt das Leid kein Ende, wiederholt sich dauernd. Für den Hilfsbedürftigen ist das im Gegensatz zum Leser keine langweilige Angelegenheit, sondern eine Qual. Und jede, jede Situation ist von neuem und auf andere Weise bedrohlich. Der Leser kann ein Buch weglegen, ein Hilfsbedürftiger hingegen entkommt der Realität nicht. Die Notsituation nimmt in der Realität kein Ende, solange keiner in der Realität Abhilfe schafft.

Der Sozialstaatsroman ist kein Schlüsselroman, aber wenn man sich als Mensch darin wiederfindet oder einen Menschen, den man liebt, ist der Sozialstaatsroman gelungen. Den Sozialstaatsroman als Schlüsselroman zu lesen, würde ihn nicht verständlicher machen, sondern ihn verschließen und zerstören. Denn man würde irgendwelche XYZs lautstark beschuldigen und verteufeln, anstatt die Systemfehler zu benennen und zu beheben, die potentiell jeder der heute hier Anwesenden, mit Verlaub, jeder von uns, begehen kann. Als Schlüsselroman wäre der Sozialstaatsschuber wirkungslos und bloß eine Art Ablenkungsmanöver. Was im Schuber, wenn es nach mir geht, beschrieben wird, sind vielmehr Menschen in Milgramexperimenten, sprich: in Hilfseinrichtungen. Die Experimentatoren dabei sind die Politiker und die Wirtschaftsherren. Die malträtierten Versuchspersonen sind die Ausübenden der helfenden Berufe und die Hilfesuchenden.

Ein Kulturmanager war mir übrigens einmal kurz gram, auch das eine Folge des Schubers, weil ich treuherzig gesagt hatte, das Problem sei, dass es keine Fehlerkultur gebe, und ein Ausweg wäre, wenn es endlich eine Fehlerkultur gäbe. Man nahm das als unfairen Vorwurf an den gegenwärtigen Kulturbetrieb, insbesondere gerade auch an den sich sozial engagierenden. Ich hatte das gar nicht so gemeint und war sehr erstaunt über die heftige Reaktion. Sie gab mir zu denken. Ich bleibe daher dabei: Dass eine Fehlerkultur nicht selbstverständlich ist, ist ein großer Teil des Problems.

Was die Vorhaltung anlangt, ich beschreibe nur Verhängnis – nun: Ich behaupte, Sie werden im Sozialstaatsroman auf keinen einzigen Menschen stoßen, egal, ob er Ihnen sympathisch ist oder widerwärtig, der nicht versucht, aus irgendeinem Verhängnis herauszukommen. Die meisten dieser Versuche wären m. E. tatsächliche Auswege gewesen und sie sind das m. E. immer noch. Und, mit Verlaub, es waren und sind oft einfache Auswege. Der Sozialstaatsroman will, soweit es nach mir geht, in jeder seiner Geschichten sichtbar machen, was alles im Guten ohne sonderlich großen Aufwand und ohne sonderlich große Anstrengung möglich gewesen wäre. Alle angeblichen Tragödien im Sozialstaatsschuber handeln davon, dass die Hilfe so leicht wäre und trotzdem unterbleibt. Jeder Ausweg ist, behaupte ich, im Sozialstaatsroman ablesbar; gerade in der jeweiligen scheinbaren Ausweglosigkeit. Man kann diese scheinbare Ausweglosigkeit als Leser versuchsweise von neuem durchspielen und man würde, hoffe ich, erkennen, was man alles tun hätte können, tun könnte – und wie leicht.

 

Apropos schwer und leicht: Von Leuten, die in den Sozialstaatsroman hineingelesen haben, wurde mir im Gespräch des Öfteren gesagt, dass es im Schuber ja doch offensichtlich um Salutogenese und Resilienz gehe. Und dass die Salutogenese und die Resilienz eben so wichtig und faszinierend seien und einem das Leben leichter und schöner machen, wurde mir gesagt. Was mir jedoch am 08/15-Alltagsgerede über die sogenannte Resilienz- und Ressourcenforschung und auch über die Positive Psychologie heutzutage gar so unheimlich ist: Man interessiert sich zwar vernünftigerweise und lebhaft dafür, wodurch Menschen überleben und sich des Lebens freuen können. Durch welche Fertigkeiten, Fähigkeiten, Werte, mitmenschlichen Konstellationen. Aber man schaut, so will mir aufgrund des 08/15-Alltagsgeredes scheinen, nicht nach, wie viele Menschen nicht überleben oder sich des Lebens nicht freuen können, weil ihr Überlebenskampf, ihre Fertigkeiten, Fähigkeiten und Werte, ihre Schönheiten und ihr Einfallsreichtum nicht wahrgehabt werden, weil also all das, was diese Menschen alles versucht haben und gekonnt haben, ignoriert oder für wertlos erachtet wurde. Gerade davon handelt der Sozialstaatsschuber. Und auch von Leuten, Funktionären, feinen Maxln, die liebend gerne von Resilienz und Ähnlichem reden, aber sich von ihren Mitarbeitern, besser gesagt Untergebenen, hinten und vorn bedienen lassen. Und dabei gar nicht auf die Idee kommen zu fragen, was ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alles können würden oder was diese selber an Hilfe brauchen. Das übliche 08/15-Gerede von Resilienz kaschiert da nur, dass Hilfe verweigert wird und dass ein Konkurrenzkampf herrscht.

Mit dem, was ich soeben über Resilienz und Ähnliches vorgebracht habe, will ich kein Wort gegen Martin Seligmans Positive Psychologie gesagt haben, ich verstehe bloß Seligmans gute Beziehungen zur Wallstreet und zur US-Army nicht; und mit dem vielumjubelten sogenannten Flow ist das auch so eine Sache. Jörg Haider, als er rauschig in den Tod raste, war nämlich gewiss auch im Flow. Jeder Suchtkranke will dorthin. Und jede Neonazihorde, die einen Migranten hetzt, ist im Flow. Sei dem, wie es sei, selbstverständlich handelt der Sozialstaatsschuber von Resilienz, Salutogenese, Flow, Flourish, Kreativität und so weiter. Aber auf der anderen Seite genauso davon, dass z. B. der Gebrauch des Wortes Resilienz auch eine Unverschämtheit und eine Brutalität sein kann und eine sehr ungesunde Sache.

Ein Journalist sagte freundlich lächelnd zu mir, für meinen Sozialstaatsschuber brauche man einen Waffenschein. Und jemand anderer, einer, der Menschen dabei hilft, gesund zu werden und zu bleiben, scherzte neckisch, man könne durch die Lektüre meines Sozialstaatsromans krank werden. Kritisiert wurde freilich auch, ich sei zu weit oben in den Wolken; die Menschen seien nicht so, wie ich meine; ich überschätze sie. Man sei nur in beschränktem Ausmaß lernfähig. Und zu verächtlich und vorurteilsbeladen Politikern gegenüber sei ich auch. Und mein Kriegsvorwurf an die Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft sei unsinnig, ja hetzerisch. Auch kämen die redlichen Bemühungen der Unternehmer, der sogenannten sozialen Kapitalisten, von denen manche sogar für das bedingungslose, voraussetzungslose, allgemeine Grundeinkommen sich stark machen, im Sozialstaatsroman gar nicht vor.

Dem ist meiner Meinung nach nicht so. Denn zum Beispiel die sozialen Unternehmer Hans Pestalozzi und Daniel Goeudevert kommen im Sozialstaatsroman ausgiebig zu Wort. Die sind vor gar nicht so langer Zeit an ihrer sozialen Gesinnung fast respektive tatsächlich zugrunde gegangen. Goeudevert, jahrzehntelang Spitzenmanager und Vorstandschef verschiedener Konzerne der Autoindustrie, hat sich öffentlich Gedanken gemacht über Lebens-, Wirtschafts-, Energie- und Automobilalternativen und hat derlei Forschungen finanziell massiv gefördert. Von VW-Piëch wurde er daher ein für alle Male abserviert. Und Pestalozzi, den viele mit Jean Ziegler verglichen haben, war Spitzenmanager des Schweizer Migros-Konzerns, welcher später dann, nach Pestalozzis Hinauswurf, den pleitegegangenen roten Konsum Österreich hätte retten sollen, aber nicht wollte. Der in St. Gallen ausgebildete Wirtschaftswissenschaftler Pestalozzi war die rechte Hand seines Ziehvaters Duttweiler, dessen Genossenschaftskonzern Migros eigentlich den Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus hätte gehen sollen und dies bis zum Tod Duttweilers und dem Hinauswurf Pestalozzis auch tat. Für Duttweiler war das Ziel nicht Wirtschaftswachstum gewesen, sondern die Demokratisierung der Schweizer Wirtschaft und das Lösen elementarer gesellschaftlicher Probleme, nämlich die faire Grundversorgung. Pestalozzi veranstaltete in diesem Duttweilerschen Sinne und in Analogie zum Prager Frühling einen M-Frühling. Und unterlag damit endgültig seinen konzerninternen Konkurrenten. Ein Schweizer Spitzenmanager einer Bank sagte einmal zu ihm, würde seine Bank bei ihren Geschäften ethische Verantwortung übernehmen, hätte das für die Schweiz Massenarbeitslosigkeit zur Folge. Und der in der BRD dazumal wichtigste Headhunter sagte zu Pestalozzi, damit die Wirtschaft weiterflorieren könne, brauche es endlich wieder einen Krieg. Besagter Headhunter bezeichnete sich selber als Psychotherapeuten, da ohne ihn so viele Spitzenmanager den modernen wirtschaftlichen Realitäten nie und nimmer gewachsen wären. Von Managern, die allen Ernstes und stolz sagen, ihrem Unternehmen und ihnen selber gehe es exzellent, der Beweis dafür sei, dass sie selber schon den ersten Herzinfarkt gehabt haben, erzählte Pestalozzi auch. Und von machiavellistischen Managerkursen im schönen Florenz. Tagungsthema: Wie treibe ich meinen Kontrahenten in der Firma in den Herzinfarkt. Also: Wie bringe ich ihn um? Antwort: Ein Anfang ist, dass ich in sein Privatleben eindringe und sukzessive seine Ehe und damit seine Familie kaputt mache. Von Pestalozzi und Goeudevert berichte ich Ihnen, geschätzte Damen und Herren, der schönen neuen Welt hier und jetzt wegen und zum Zwecke der Illusionslosigkeit den heutigen sozialen Kapitalisten gegenüber, die Goeudevert und Pestalozzi in der Realität, so fürchte ich, nicht das Wasser reichen können. Von Höhn hätte ich andererseits auch erzählen können. Von ihm stammt der Begriff Delegieren. Höhn hat in den Jahrzehnten seines Tätigseins an der Deutschen Akademie für Führungskräfte zwischen einer viertel und einer halben Million Manager ausgebildet. Die Arbeitgebervertreter haben ihn dafür sehr geschätzt und ihn einen Humanisten genannt. Allerdings war er SSler und Geheimdienstler gewesen, im Stabe Heydrichs. So viel davon, dass der Krieg ein Chamäleon ist.

Ein paar Worte noch, was aus den Sozialstaatsromanmenschen geworden ist, zu einigen von ihnen; und zu den Auswegen; und worum es überhaupt geht. Der persische Flüchtling ist, sagen wir einmal, vor ein paar Monaten gestorben. Ich würde den freien Menschen des Romans Uwe alias Auweh Folgendes erzählen lassen: Zu dem Tages- und Monatsdatum, als der Iraner vor 20 Jahren hierher ins Land gekommen war, ist er gestorben. Ich weiß nicht, ob von eigener oder von fremder Hand oder ob er in der letzten Zeit wirklich so schwer krank gewesen war, jedenfalls war er am Ende. Wir hatten, meine ich, alles versucht, dass er ein Leben haben kann, 20 Jahre zuvor war das gewesen und wir waren Freunde gewesen. Die Männer, die seinen Sarg trugen, beteten und ihn eingruben, erschienen mir jetzt zwischendurch, als kämpfen sie beim Begräbnis vergeblich mit aller Kraft um sein Leben. Sein ganzes Leben hier, soweit ich sein Leben kenne, erschien mir genauso anstrengend und chancenlos wie der Kampf der Männer mit dem schweren Sarg und der harten Erde. Die Gäste bekamen süße Datteln. Ich wusste nicht, was damit tun; nach ein paar Stunden spuckte ich den Kern versehentlich in einen Mistkübel an einem Straßenrand. Meine Frau wird mit ihrem Dattelkern einen Baum zu setzen versuchen. Und natürlich werden wir einmal erfahren, was wirklich geschehen ist. Die ganze schiefe Bahn. Und aus der Familie des Auschwitzwärters hat sich ein junger Mann umgebracht. Ein Enkelkind des Auschwitzwärters. Und der erfolgreiche Ermittler, der beliebte Polizist, der Sonnyboy, hat seinen Dienst quittiert, nachdem bei einer Bewerbung andere ihm vorgezogen und vorgesetzt worden sind; er hat einfach seine Arbeit aufgegeben, ohne jeden Anspruch gekündigt, für seine Frau und seine Kinder ist das eine Katastrophe, für ihn selber sowieso. So also würde ich den Sozialstaatsroman weiterführen. So würde ich es meinen freien Menschen Auweh erzählen lassen. Und noch einiges dazu.

Sie fragen sich vielleicht, verehrte Damen und Herren, was das alles denn mit dem Sozialstaat zu tun haben soll und wie der Sozialstaat bei solchen einzelnen Lebensgeschichten und Lebensereignissen überhaupt zuständig sein soll, das sei doch nicht einzusehen. Mit Verlaub, wenn der iranische Flüchtling viel früher, Jahre früher, hier hätte legal arbeiten können, hätte er hier seinen Platz im Leben gefunden und sein Leben wäre völlig anders verlaufen und er wäre noch am Leben. Darauf wette ich meines. Und der Polizist stand stets unter gewaltigem Leistungsdruck und hatte niemanden außerhalb seiner Familie, an den er sich um Hilfe wenden konnte. Es gab keine Hilfseinrichtung, keinen Helfer, an den, an die er sich vertrauensvoll mit seinen Problemen, zumal als Geheimnisträger, wenden konnte. Mit Verlaub, die Polizei ist, die PolizeibeamtInnen sind Teil des Sozialstaates. Die Suizidanten sind das auch. Der erwähnte junge Mann, das Enkelkind eines Auschwitzwärters, stammte aus einer Familie, deren Mitglieder nahezu alle in helfenden Berufen arbeiten, selber auch hilfsbereit sind und zwischendurch auch sehr katholisch. Oft hatten sie das Problem, sie, die Helfer, dass sie nicht wussten, an wen sie sich um Hilfe wenden können. Sie kannten nämlich ihresgleichen. Helfer, die selber nicht wissen, was sie tun sollen. Oder Helfer, die eben keine Schwächen zeigen wollen. Oder die ihren eigenen Kindern nicht helfen können. Oder die damit aufgewachsen sind, dass jeder selber schauen muss, wo er bleibt, inmitten all der Hilflosigkeit. Und inmitten all dessen, worüber man nicht reden darf. Die Probleme von Menschen in helfenden Berufen gehören m. E. zum Sozialstaat. Auch die sogenannten privaten Probleme. Bourdieu, wie Sie wissen, riet, über all die Dinge anders zu reden. Und über andere Dinge zu reden als üblich.

Bourdieu für Österreicher / Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman, SUPI-Konferenz zum Thema Social Vulnerability, FH Joanneum, Graz