Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Am­bro­si­us ward zer­streut und wie­der­hol­te sich in der Schil­de­rung sei­nes poe­tisch-träu­me­ri­schen Kin­der­ge­mü­tes. Er muss­te be­stän­dig zu Rosa hin­über­schie­len, den gan­zen Abend schon nag­te die Be­wun­de­rung für das Mäd­chen an sei­nem wei­chen Her­zen. Die Aner­ken­nung, die ihr an­de­re zoll­ten, er­höh­te sein Ver­lan­gen, und den­noch war es ihm, als ver­sag­te Rosa durch die Hul­di­gun­gen, die sie ent­ge­gen­nahm, ihm einen Teil der Ver­eh­rung, die sie ihm schul­de­te. »Ich mei­ne, es ist Zeit, ein we­nig nach dem Sou­per zu se­hen«, mein­te er neckisch und ver­ließ Fräu­lein Klappe­kahl, die die­se Neu­gier des Herrn von Tel­le­r­at köst­lich fand.

Ernst und er­regt trat Am­bro­si­us an Rosa her­an.

»So nach­denk­lich?« frag­te er.

Rosa blick­te starr zum Kron­leuch­ter auf.

»Soll ich in Ihren Au­gen le­sen?« fuhr er fort.

»Vi­el­leicht«, mein­te Rosa.

»Oh, ich lese schon – einen wah­ren Ro­man.«

»Ro­man? Wer weiß?«

»Ja – ich weiß es!« Am­bro­si­us sprach mit hal­ber Stim­me und et­was hei­ser: »Ich er­zäh­le ihn dir – spä­ter – hm – Lieb­chen.«

Rosa zuck­te leicht mit den Schul­tern, er­rö­te­te und warf einen scheu­en Blick auf Am­bro­si­us, der eben­falls dun­kel­rot ge­wor­den war und mit bren­nen­den Au­gen auf die Lip­pen des Mäd­chens starr­te.

Man ging zum Sou­per.

Frau La­nin öff­ne­te die Tü­ren des Spei­se­saals und mach­te Kom­pli­men­te wie ein Herr. Die­ser Ein­la­dung fol­gend, er­ho­ben sich die äl­te­ren Da­men, schüt­tel­ten freu­dig die Mü­dig­keit ab, die auf ih­nen las­te­te, und knüpf­ten neue Ge­sprä­che an, wäh­rend sie lang­sam in den Spei­se­saal ein­zo­gen, denn kei­ne woll­te zu ei­lig er­schei­nen. Die jun­ge Schar dräng­te nach. Auch hier er­wärm­te die Er­war­tung des Mah­les die Hei­ter­keit. Die Ta­fel reich­te von ei­nem Ende des Ge­ma­ches bis zum an­de­ren. Vie­le Ker­zen in sil­ber­nen Arm­leuch­tern ga­ben ihr ein glän­zen­des An­se­hen, und die Fül­le der auf­ge­tra­ge­nen Spei­sen hat­te et­was Groß­ar­ti­ges. Am un­te­ren Ende der Ta­fel stand Fräu­lein Sal­ly – ru­hig, fast gleich­gül­tig. Sie war mit all den Herr­lich­kei­ten viel zu ver­traut, um das freu­di­ge Stau­nen der Gäs­te zu tei­len.

»Sal­ly­chen, Sie ha­ben viel zu tun ge­habt; aber da­für ist es auch schön«, sag­te Fräu­lein Schank und leg­te zärt­lich ihre stren­ge Hand auf Fräu­lein Sal­lys hei­ße Wan­gen.

»Ich hof­fe, es ist nicht ganz miss­lun­gen«, er­wi­der­te Fräu­lein Sal­ly kühl.

»Se­hen Sie nur, lie­be Schank!« rief das alte Fräu­lein Kat­ter, das sich von Fräu­lein Schank füh­ren ließ, »se­hen Sie nur, um des Him­mels wil­len – ein gan­zes Schwein­chen! Wie lieb das ist!«

Ja, ein gan­zes klei­nes Schwein­chen lag auf der Schüs­sel, weich in Salat­blät­ter ge­bet­tet. Sorg­los sei­ne brau­ne Kin­der­nackt­heit zei­gend, schi­en es zu schlum­mern.

»Wel­che Über­ra­schung!« mein­te Fräu­lein Schank.

»Ja«, ver­setz­te Fräu­lein Sal­ly kurz und schob mit har­tem, rück­sichts­lo­sem Fin­ger den Kopf des klei­nen Tie­res auf den Salat­blät­tern zu­recht.

»Nur tap­fer her­an«, er­mun­ter­te Herr La­nin die jun­gen Leu­te und stieß ei­ni­ge von ih­nen jo­vi­al in den Rücken. »Wen­den Sie sich nur an mei­ne Toch­ter. Sie – Tod­dels – Sie, Herr von Koll­hardt – wen­den Sie sich nur an Sal­ly.«

»So­gleich, lie­ber Papa«, ent­geg­ne­te Fräu­lein Sal­ly ge­reizt. »Al­len zu­gleich kann ich nicht die­nen! Fräu­lein Kat­ter, wün­schen Sie ein Stück Fer­kel?«

»Fast ist es scha­de, das lie­be Tier an­zu­schnei­den«, ent­geg­ne­te das alte Fräu­lein, lach­te und sah da­bei Fräu­lein Schank an, die­se aber woll­te nicht mit­la­chen.

»Set­zen wir uns, mei­ne Her­ren!« schrie Klappe­kahl und rück­te sei­nen Stuhl ganz nahe an den Tisch her­an. »Nur kei­ne Be­schei­den­heit, das ist die schlech­tes­te Po­li­tik; auf dem Ball muss ein je­der ver­su­chen, den schöns­ten Bis­sen zu er­wi­schen – so­wohl beim Tanz so­wie beim Sou­per. Das ist kal­ter Trut­hahn, nicht wahr, Fräu­lein Sal­ly? Ah, su­perb! Ich bit­te um ein Stück; von Ih­rer Hand vor­ge­legt, schmeckt es um so bes­ser. Ein gu­tes Stück ist in un­se­rem Al­ter das ein­zi­ge, was wir von jun­gen Schö­nen be­an­spru­chen dür­fen. Wie, Dok­tor? Ah! Fräu­lein Ma­ri­ann­chen, Sie set­zen sich ne­ben mich! Su­perb! Fräu­lein Sal­ly, ich bit­te um ein Stück Trut­hahn für mei­ne Nach­ba­rin.«

»Ma­ri­an­ne!« er­tön­te Fräu­lein Sal­lys Stim­me im schar­fen Ge­schäftston. »Wün­schen Sie auch Aspik?«

Ma­ri­an­ne schwieg und schau­te Fräu­lein Sal­ly an­däch­tig aus ih­ren run­den Au­gen an.

»Aspik?« wie­der­hol­te Fräu­lein Sal­ly und sprach die­ses Wort so glatt und ge­übt aus, dass es wie ein­sil­big klang; als Ma­ri­an­ne aber im­mer noch nicht ver­ste­hen woll­te, zuck­te Fräu­lein Sal­ly die Ach­seln und reich­te ihr den Tel­ler.

»Ah, das ist Aspik?« flüs­ter­te Ma­ri­an­ne und starr­te den ro­ten Gal­lert ver­klärt an. »Ist Aspik im­mer so?« wand­te sie sich schüch­tern an den Apo­the­ker.

»Ja – o ja!« er­wi­der­te die­ser mit vol­lem Mun­de, »im­mer – von je­her –«

»Ge­wiss! Ich sage«, er­tön­te die ge­wich­ti­ge Stim­me des Haus­herrn, »hö­ren Sie, Dok­tor, was ich sage. Ich sage also: Es­sen ist al­ler­dings eine Ar­beit, zu der man einen ge­wis­sen Ernst mit­brin­gen muss. Es­sen rech­ne ich qua­si un­ter die Pf­lich­ten.«

»Ich bit­te um ein we­nig Pas­te­te. Ich ken­ne mei­ne Pf­licht. Ich ver­gra­be nicht mein Pfund«, rief Klappe­kahl da­zwi­schen.

»Nein«, fuhr Herr La­nin fort, »ins Lä­cher­li­che kann man al­les zie­hen. Aber – ab­ge­se­hen von al­len Wit­zen – ich sage: der Mensch muss es­sen. Durch das Es­sen füh­ren wir uns Le­bens­stoff zu. Das zwei­te ist: Be­we­gung. Da ver­ar­bei­ten wir den emp­fan­ge­nen Stoff. Das drit­te – sage ich – ist: Wis­sen­schaft!« Da­bei schlug er so kräf­tig auf den Tisch, dass Ma­ri­an­ne Schulz er­schro­cken zu­sam­men­fuhr. »Wis­sen­schaft! Denn den ver­ar­bei­te­ten Le­bens­stoff müs­sen wir dazu ver­wen­den, uns Wis­sen­schaft zu er­wer­ben und un­se­ren Geist zu bil­den«, da­bei mach­te Herr La­nin ein Hand­be­we­gung nach oben, als müss­te der ge­bil­de­te Geist sehr hoch aus sei­nem Kop­fe her­aus­wach­sen.

»Ach, das sind Ihre sys­te­ma­tisch-he­gel­schen Ide­en, bes­ter La­nin«, wand­te Klappe­kahl ein.

Herr La­nin mach­te eine wür­de­vol­le Mie­ne. Ja, sei­ne Ide­en wa­ren viel­leicht he­gelsch, er woll­te das nicht in Ab­re­de stel­len. He­gel aber, mein­te er, habe auch man­ches Gute. Das är­ger­te den Apo­the­ker. He­gel war ein Phan­tast, be­haup­te­te er, nichts wei­ter. Heut­zu­ta­ge brau­che man Po­si­ti­ves. Er – Klappe­kahl – hielt es mit Dar­win.

»O Gott!« rief Fräu­lein Schank lei­se, und Fräu­lein Kat­ter frag­te teil­neh­mend:

»Ist Ih­nen et­was in die falsche Keh­le ge­kom­men, lie­be Schank?«

»Nein – aber Dar­win. Hör­ten Sie denn nicht?«

»Pfui, pfui, der schlech­te Affe!« ver­setz­te dar­auf das alte Fräu­lein er­schro­cken.

»Ja, ich stam­me vom Af­fen ab!« fuhr Klappe­kahl warm fort. »Ich bin stolz dar­auf, denn dass ich kein Affe bin, ver­dan­ke ich den An­stren­gun­gen mei­ner Ah­nen und – so­zu­sa­gen – mei­nen ei­ge­nen An­stren­gun­gen. Der Mensch ist ein Par­ve­nü, aber er soll sich sei­ner Ab­kunft nicht schä­men – er soll sich viel­mehr der er­run­ge­nen Stel­lung, des er­run­ge­nen Ver­mö­gens freu­en: des In­tel­li­genz­ver­mö­gens«, und der Red­ner streck­te sei­ne fla­che Hand über den Tisch, als läge das herr­li­che lan­ge Wort dar­auf und soll­te al­len ser­viert wer­den.

»Mora­li­sches Ge­fühl und Rechts­be­wusst­sein kann sich nie­mand er­wer­ben, das wird uns von oben ver­lie­hen«, wand­te Herr La­nin mit fei­er­li­cher Be­stimmt­heit ein, wie ein Pries­ter bür­ger­li­cher Moral – der er war.

Rosa hat­te sich dicht un­ter einen Arm­leuch­ter ge­setzt und aß. Am­bro­si­us stand schwei­gend hin­ter ihr und be­dien­te sie. Ein leich­ter Dampf, von den Spei­sen auf­stei­gend, trüb­te die Luft, und die Ker­zen hat­ten matt­gel­be Flam­men, wie Lich­ter im Ne­bel. Es war heiß im Ge­mach. Mit ro­ten Wan­gen und Au­gen­li­dern lehn­ten sich die An­we­sen­den in ihre Ses­sel zu­rück; vor ih­nen das wir­re Durchein­an­der großer Spei­se­res­te. Das Bild war häss­lich, wie es ein zu Ende ge­hen­des Fest­mahl zu sein pflegt. – Un­ter all den er­hitz­ten sat­ten Leu­ten schi­en Rosa, still über ih­ren Tel­ler ge­beugt, für Am­bro­si­us, der sie auf­merk­sam und an­däch­tig be­trach­te­te, et­was Fei­er­li­ches und Poe­sie­vol­les an sich zu ha­ben, et­was, das sie von ih­rer Um­ge­bung ab­son­der­te und sie mit wär­me­rem, zar­te­rem Lich­te ver­klär­te. Legt in zwei ganz all­täg­li­che Au­gen nur ein klei­nes Fünk­chen jun­ger Lie­be und Lei­den­schaft, und die­se Au­gen wer­den euch um vie­les vor­neh­mer er­schei­nen.

»Ich bin satt – und Sie«, sag­te Rosa und wand­te sich lä­chelnd nach Am­bro­si­us um.

»Oh, ich«, er­wi­der­te Am­bro­si­us, »ich mag nicht!«

»Doch! Ich gebe Ih­nen mei­nen Platz. Ich bin fer­tig.«

Wie sie das so ein­fach ge­sagt hat­te, fand er nicht so­gleich et­was Zier­li­ches zu er­wi­dern und setz­te sich auf den Stuhl, den Rosa ihm über­ließ.

Im Saal ne­ben­an wa­ren die Fens­ter ge­öff­net wor­den, um fri­sche Luft zu­strö­men zu las­sen, und der Zug­wind jag­te den auf­ge­wir­bel­ten Staub um die Flam­men des Kron­leuch­ters. Rosa stell­te sich an ein Fens­ter. Kühl schlug ihr die Nacht­luft ent­ge­gen und er­schreck­te sie fast. – Ein hef­ti­ger Som­mer­re­gen fiel rau­schend und duf­tend nie­der. Der Markt­platz lag fins­ter da, nur die feuch­ten Stei­ne hat­ten einen mat­ten, un­si­chern Glanz. Im ge­gen­über­lie­gen­den Hau­se, hoch oben in ei­nem Er­ker­fens­ter, war Licht. Eine Lam­pe stand auf ei­nem Tisch. Rosa ver­moch­te ihre Bli­cke von die­sem ru­hi­gen, schläf­ri­gen Lich­te nicht ab­zu­wen­den, ob­gleich es ihr zu­wi­der war. Glänz­te es nicht dort oben so dumm und fade, als wüss­te es nichts von der auf­re­gen­den Welt des Lan­in­schen Sa­lons. Plötz­lich er­schi­en auf der Wand ein Schat­ten, eine je­ner großen, wun­der­li­chen Fi­gu­ren, wie wir sie an stil­len Win­ter­aben­den mit mü­dem Auge zu be­trach­ten lie­ben. Hier­auf trat eine Frau an den Tisch. Sie trug ein ge­blüm­tes Ka­mi­sol und band sich eine Nacht­hau­be um ihr ru­hi­ges wei­ßes Ge­sicht. Sie gähn­te; deut­lich sah Rosa den weit­ge­öff­ne­ten Mund. Die Frau er­griff die Lam­pe, und bei­de ver­schwan­den. Rosa wand­te sich schnell ab – dort im Spei­se­saal sa­ßen sie noch alle bei­sam­men in der trü­ben Luft, un­ter den Ker­zen, die jetzt dun­kel brann­ten. Herr La­nin beug­te sich über den Tisch und starr­te vor sich hin, sein Ge­sicht war dun­kel­rot, und er at­me­te schwer. Klappe­kahl rauch­te eine Zi­ga­ret­te. Er hat­te den Arm über die Leh­ne sei­nes Stuh­les ge­legt und er­zähl­te Ma­ri­an­ne Schulz et­was, blick­te je­doch be­stän­dig in den Spie­gel, der ihm ge­gen­über hing. Am­bro­si­us saß noch auf dem Stuhl, den Rosa ihm ab­ge­tre­ten hat­te, und un­ter­hielt sich mit Tod­dels. Auf­merk­sam be­trach­te­te Rosa das Ni­cken die­ses glatt­ge­kämm­ten Zop­fes, und die Art, wie Am­bro­si­us ein Brot über sei­nem Tel­ler brach, fand sie schön. O ja, sie lieb­te ihn! Sie wuss­te das ganz ge­wiss. So und nicht an­ders war es, wenn man lieb­te. Nun konn­te al­les groß und herr­lich wer­den; und war es nicht schon groß und herr­lich? Der ge­füll­te Eß­saal, das Licht, das in den Bow­leglä­sern blitz­te, das Stim­men­ge­s­ur­re – der star­ke Duft von Spei­sen, Wein, Zi­gar­ren –, war das nicht schon ein Stück der großen Welt? Ein schläf­ri­ges wei­ßes Ge­sicht, das sich mit sei­ner Nacht­hau­be gäh­nend zu Bet­te leg­te, muss­te man ver­ach­ten und be­mit­lei­den. Rosa stell­te sich vor den Spie­gel und drück­te die ge­fal­te­ten Hän­de auf den Gür­tel. Hübsch war es, wie das ro­si­ge blon­de Mäd­chen dort im Spie­gel so tra­gisch die Hän­de auf das Herz preß­te. »Lieb­chen«, sag­te Rosa vor sich hin, und bei die­sem Wort ward ihr zu­mut, als müss­te sie et­was Tol­les be­gin­nen, ihr Kleid tiefer von der Schul­ter ziehn – laut auf­schrei­en – sie wuss­te es selbst nicht…

 

»Sehr be­dau­er­lich, dass in der Schu­le kein Spie­gel hängt, sie wür­de dich dann viel­leicht eher fes­seln.« Fräu­lein Schank mach­te die­se Be­mer­kung und mus­ter­te ihre Schü­le­rin mit säu­er­li­chem Blick: »Lie­be Rosa«, fuhr sie fort, »be­nimm dich ein we­nig ge­setz­ter. Sich doch Sal­ly an; wie ist sie heu­te al­ler­liebst! – Wer hat dein Kleid so toll aus­ge­schnit­ten? Es ist un­er­laubt. Mor­gen bringst du’s mir; ich wer­de es än­dern. Bald ist es auch elf Uhr; man muss ans Schla­fen­ge­hen den­ken.« Rosa warf einen bit­ter­bö­sen Blick auf die alte Dame, sie hät­te sie schla­gen mö­gen und lief has­tig fort – mit großer Ent­rüs­tung im Her­zen.

Im Zo­fen­zim­mer saß Ag­nes am Tisch und schlief, den Kopf auf die Brust ge­senkt. Rosa kau­er­te sich auf dem Sofa hin, zog die Knie an sich, um­fass­te sie mit bei­den Ar­men, stütz­te ih­ren Kopf dar­auf und wein­te. Zu­wei­len schau­te sie auf, und dann ruh­ten ihre Bli­cke sin­nend auf dem stil­len Bil­de vor ihr. Ag­nes’ al­tes, schlum­mern­des Ge­sicht un­ter den trü­ben Flam­men der Ker­ze, die durch Ro­sas Trä­nen mit wun­der­lich krau­sen Strah­len um­ringt schi­en. – – –

Mu­sik scholl her­über. Fräu­lein Sal­ly trat ins Ge­mach. »Rosa!« rief sie, »bist du hier? Was treibst du?« Rosa er­wi­der­te nichts und blick­te starr vor sich hin, die Le­bens­la­ge, die sie eben noch so drückend emp­fun­den hat­te, dünk­te ihr jetzt, da sie be­merkt ward, in­ter­essant.

»Wa­rum so al­lein?« fuhr Fräu­lein Sal­ly fort und setz­te sich ne­ben ihre Freun­din. »Du hast ge­weint? Sag, was gibt es?«

»Nichts«, ent­geg­ne­te Rosa ge­heim­nis­voll.

»Doch, mein Herz!« Fräu­lein Sal­ly wur­de zärt­lich und strich Rosa das Haar an den Schlä­fen glatt. »Sag es mir.«

»Nichts. Es über­kam mich so.«

»Ja, das pas­siert mir auch häu­fig. Eben noch dach­te ich an den ar­men On­kel. Weißt du, mit­ten in all der Lust schnür­te es mir das Herz zu­sam­men. Es reg­ne­te, und ich muss­te den­ken, jetzt liegt er in sei­nem Gra­be, bei dem Wet­ter; und erst im Herbst, wenn der Sturm, weißt du, um den Grab­hü­gel heult – oder Schnee… Ach, er war so gut!« Fräu­lein Sal­ly wisch­te sich mit dem Ta­schen­tuch die Au­gen und trock­ne­te dann auch Ro­sas Trä­nen. »Komm! Man tanzt den Sou­per-Wal­zer. Un­se­re Ab­we­sen­heit könn­te auf­fal­len. Komm! Lass uns mu­tig sein.« Die Arme zärt­lich in­ein­an­der ver­schlun­gen, kehr­ten die Freun­din­nen mit lang­sa­men, mü­den Schrit­ten in den Saal zu­rück. Dort dreh­ten sich wie­der die schwar­zen Bei­ne und wei­ßen Rö­cke um­ein­an­der. Die tan­zen­den Füße über­tön­ten mit ih­rem schar­ren­den Geräusch die sechs sich stets wie­der­ho­len­den Wal­zer­tak­te des Fräu­lein Wut­ter. Die jun­gen Leu­te be­trie­ben ihr lus­ti­ges Ge­schäft mit atem­lo­sem Ei­fer, die rück­sichts­lo­se Hast, in der die Her­ren nach den er­hitz­ten Däm­chen grif­fen, zeig­te, wie ei­nem je­den die schnel­le, tol­le Be­we­gung das Wich­tigs­te war, und im ge­mein­sa­men Ver­gnü­gen ver­gaß ei­ner des an­de­ren Per­son. Den­noch zeig­te sich nur sel­ten ein Lä­cheln auf den jun­gen Ge­sich­tern. Die Da­men hat­ten rote Wan­gen und leuch­ten­de, ver­wun­der­te Au­gen. Ihr Blut, von Wein und Be­we­gung er­hitzt, schi­en den jun­gen Her­zen et­was Erns­te­res zu pre­di­gen, das sich in den Tanz misch­te – et­was, das die we­nigs­ten ver­stan­den.

»Wir ha­ben Sie ge­sucht, Fräu­lein La­nin!« rief Tod­dels. »Bei Gott, wie eine Steck­na­del ha­ben wir Sie ge­sucht! Ich bit­te um Ihren Wal­zer, Sie sind das mir und sich selbst schul­dig.« Fräu­lein Sal­ly nick­te und warf sich hin­ge­bend in die lan­gen schwar­zen Arme des jun­gen Tod­dels. Rosa tanz­te mit ei­nem vier­schrö­ti­gen Se­kun­da­ner, ei­nem so­ge­nann­ten »for­schen« Tän­zer, der laut mit den Ab­sät­zen auf­klapp­te und mit zu­rück­ge­wor­fe­nem Kopf, die Au­gen halb ge­schlos­sen, durch den Saal rann­te. Als sie an der Türe des Eß­saa­l­es vor­über­tanz­ten, sah Rosa Lurch an der halb ab­ge­deck­ten Ta­fel sit­zen. Her­weg stand vor ihm und trank ihm zu; bei­de lach­ten, wo­bei Lurch den Mund weit und schmerz­voll öff­ne­te.

»Aha! Koll­hardt hat den Lurch vor. Das wird Scherz ge­ben«, be­merk­te der Se­kun­da­ner Ge­or­ges – Ro­sas Tän­zer.

»Was tut er ihm?« frag­te Rosa.

»Nichts, mein Fräu­lein, Sie kön­nen un­be­sorgt sein; er säuft ihn nur ein we­nig ein«, er­wi­der­te Ge­or­ges sehr höf­lich.

Ma­ri­an­ne Schulz saß ker­zen­ge­ra­de auf ih­rem Stuhl und war­te­te: »Wie­viel Uhr ist’s, Herr Tod­dels – bit­te«, flüs­ter­te sie. »Drei­vier­tel elf«, er­wi­der­te er hoch­mü­tig und bat Fräu­lein Klappe­kahl um ih­ren Tanz. »Gott sei Dank, erst drei­vier­tel elf!« rief Ma­ri­an­ne aus. Sie fal­te­te ihre ro­ten Händ­chen, blick­te mit den kla­ren run­den Au­gen still vor sich hin und war­te­te auf das große Glück des Abends.

»Wie fin­den Sie die Rosa Herz heu­te abend?« frag­te Frau La­nin den Apo­the­ker.

»Sü­perb! Sie ist so – so –«, Klappe­kahl streck­te sei­ne fünf Fin­ger em­por, um et­was sehr fei­nes an­zu­deu­ten, wo­für er das rech­te Wort nicht fand.

»Ja, o ja!« nahm Frau La­nin wie­der sanft und freund­lich das Wort. »Sehr hübsch und mun­ter. Fin­den Sie nicht, dass sie ein we­nig –«, Frau La­nin lä­chel­te fromm, »ein we­nig un­pas­send ist? Sie hat et­was, das nicht hier­her ge­hört. Na­tür­lich nichts Schlech­tes! Aber doch et­was Ple­be­ji­sches.«

»So?« mein­te Klappe­kahl ernst. »O ja! Es ist so et­was – so…« Wie­der ho­ben sich die fünf Fin­ger, die­ses Mal aber be­weg­ten sie sich.

»Nichts Schlech­tes!« fuhr Frau La­nin fort. »Nein! Ich lie­be das gute Kind. Ach Gott, es hat kei­ne Mut­ter zur Sei­te ge­habt, und ohne Mut­ter, da ist es schwer! Ob­gleich – die Mut­ter der Rosa, hät­te die ge­lebt – wer weiß! Es ist viel­leicht bes­ser so, wie der lie­be Gott es ge­fügt hat.« Frau La­nin seufz­te und schau­te der vor­über­tan­zen­den Rosa zärt­lich nach. »Die gute Schank nimmt sich ih­rer an. Ich – so­viel ich konn­te – ließ dem ar­men Kin­de auch Rat und Hil­fe an­ge­dei­hen. Sie kommt oft zu Sal­ly. Zu­wei­len ißt sie bei uns. Zu Hau­se wird sie nicht viel Gu­tes be­kom­men, so gön­ne ich ihr von Her­zen einen Löf­fel Sup­pe, ein Stück Bra­ten an un­se­rem Tisch. Gott, man tut, was man kann, aber bei die­sem Va­ter! Das arme Kind! Es ist recht – recht trau­rig!« Träu­me­risch blick­te Frau La­nin auf ih­ren graus­ei­de­nen Leib nie­der.

»Ja! De­mi­mon­de«, ver­setz­te der Apo­the­ker mit Hef­tig­keit.

Die Rei­he der äl­te­ren Leu­te ward im­mer stil­ler und re­gungs­lo­ser, stumm sa­ßen die Müt­ter da – ver­dros­se­ne Ka­rya­ti­den des An­stands. Plötz­lich er­hob Fräu­lein Schank ihre schar­fe Stim­me: »Lie­be Mut­ter! Es ist wirk­lich ge­nug. Be­den­ken wir, mor­gen ist kein Fei­er­tag.« – Eine all­ge­mei­ne Ent­rüs­tung mach­te sich Luft. »Was un­ter­steht sich die­se Per­son in mei­nem Hau­se«, flüs­ter­te Fräu­lein Sal­ly mit fun­keln­den Au­gen. Ein großes Ge­tüm­mel ent­stand um das Kla­vier und Fräu­lein Schank. Rosa stand ru­hig am Fens­ter. Sie wuss­te es wohl, die­ser merk­wür­di­ge Abend konn­te nicht – so ohne wei­te­res – zu Ende sein, nur weil mor­gen Schul­tag war. Nein! Aber was konn­te noch ge­sche­hen? Am­bro­si­us trat ei­lig an sie her­an und sag­te lei­se: »Jetzt – dort durch jene Tür.« Rosa ver­stand ihn nicht, er aber zog die Stir­ne kraus und wie­der­hol­te hef­tig: »Dort durch jene Tür – durch den Flur.« Rosa senk­te den Kopf und ging auf den Flur hin­aus. Die Türe zur Stra­ße hin stand of­fen, und der Mond warf einen brei­ten gel­ben Streif auf die feuch­ten Stei­ne des Fuß­bo­dens. Ein kal­ter Luft­zug ström­te her­ein, und man hör­te den wei­chen Ton ei­ni­ger Trop­fen, die vom Dachran­de auf das Pflas­ter fie­len. Zit­ternd stand Rosa da und be­deck­te mit den Ar­men ihre hei­ßen Schul­tern. Was soll­te ge­sche­hen? Sie hör­te Schrit­te ne­ben sich. Am­bro­si­us war ihr ge­folgt und zog sie zur ge­gen­über­lie­gen­den Türe, die er auf­s­tieß. Sie stan­den in ei­nem fins­tern Rau­me. An dem Ge­würz- und Fisch­ge­ruch er­kann­te Rosa den La­den. Am­bro­si­us tapp­te durch das Ge­mach – schob et­was – räus­per­te sich; plötz­lich fie­len Mond­strah­len in die Nacht durch ein klei­nes Fens­ter, von dem Am­bro­si­us eben den La­den ent­fern­te, und die­ses Licht, wie es so durch die en­gen, ver­staub­ten Schei­ben drang, er­schi­en selbst grau und ver­küm­mert. Nun mach­te sich Am­bro­si­us mit der Licht­kis­te zu schaf­fen, rück­te sie aus ih­rer Ecke her­aus, be­frei­te sie vom Staub, schob sie hin und her – ge­schäf­tig und ernst – mit der pein­li­chen Lang­sam­keit trä­ger Leu­te, die mit großem Zei­t­auf­wand al­les für eine Ar­beit vor­be­rei­ten, an die sie un­gern ge­hen. »So – den­ke ich, wird es gut sein«, ver­setz­te er end­lich. Dann blick­te er zu Rosa hin­über und sag­te un­si­cher: »Kom­men Sie.« Rosa fürch­te­te sich, am liebs­ten wäre sie da­von­ge­lau­fen, und doch hät­ten die Neu­gier und der Durst nach Er­leb­nis­sen die­ses ver­we­ge­ne Mäd­chen be­wo­gen, in noch wun­der­li­che­ren Au­gen­bli­cken aus­zu­har­ren. So setz­te sie sich auch jetzt lang­sam auf die Licht­kis­te und saß – mit dem scheu er­war­tungs­vol­len Blick ei­nes Kin­des, das ge­schol­ten wer­den soll – auf­recht da. Sie be­deck­te noch im­mer ihre Schul­tern mit den Hän­den, und den Kopf ge­senkt, blick­te sie auf das gel­be, blas­se Licht her­ab, das auf dem Fuß­bo­den zit­ter­te. »Rosa – hm –«, be­gann Am­bro­si­us lei­se, müh­sam die Wor­te su­chend, als habe er ge­wusst, was er sa­gen woll­te, und müs­se sich wie­der dar­auf be­sin­nen. »Sie – viel­mehr du – weißt, dass ich dich – hm – lie­be. Ich konn­te dich heu­te nicht al­lein spre­chen. Ich mein­te, hier wür­den wir un­ge­stört bei­sam­men sein. Hier ist es zwar pri­mi­tiv – aber – hm – warum sprichst du nicht – sage?« frag­te er dann in plötz­li­cher Hilf­lo­sig­keit. »Rosa, ist Ih­nen bang?« – Rosa nick­te. – »Bang? Aber ich tu Ih­nen nichts – ge­wiss nicht!« Er setz­te sich auf die Kis­te und er­griff Ro­sas Hän­de: »Ich dir et­was tun? Ich lieb dich doch –« Er zog sie ganz nah zu sich her­an: »Hier ist es trau­lich – nicht, Lieb­chen?«

Rosa lä­chel­te; Am­bro­si­us’ Be­fan­gen­heit gab ihr Mut, und sie blick­te zu ihm auf, er­schrak aber vor die­sem schmerz­voll er­reg­ten Ge­sich­te mit den star­ren Au­gen, den fest zu­sam­men­ge­preß­ten Lip­pen. Sie woll­te sich aus den Ar­men be­frei­en, die sie fest um­schlun­gen hiel­ten, und rief ängst­lich: »Oh, Tel­le­r­at!« – Er aber hielt sie fest: »Rosa, Rosa«, flüs­ter­te er und drück­te mit hei­ßen Hän­den die nack­ten Arme des Mäd­chens. »So ist’s gut!… So sind wir bei­ein­an­der.« Er lach­te – er wuss­te nicht mehr, was er sprach; sei­ne Fin­ger, die krampf­haft sich an Rosa fest­klam­mer­ten, ta­ten ihr weh – sie woll­te schrei­en, dann kam es aber wie große Mut­lo­sig­keit und Mü­dig­keit über sie – bleich lehn­te sie sich zu­rück und starr­te vor sich hin. Men­schen, die an­ge­strengt lau­schen, et­was er­war­ten, ha­ben die­sen ste­ti­gen, ab­we­sen­den Blick. Wil­len­los in die Arme des jun­gen Man­nes ge­schmiegt, ließ sie al­les über sich er­gehn, wäh­rend Am­bro­si­us mit fie­ber­haf­ter Hast an ihr zerr­te. Er bog den blon­den Kopf zu­rück und küss­te das erns­te Ant­litz – er riss das wei­ße Kleid von den Schul­tern – warf die gan­ze schlan­ke Ge­stalt in sei­nen Ar­men hin und her mit der Bru­ta­li­tät ei­nes jun­gen, der sei­ne ers­te Lie­be zu ei­ner Dir­ne in die Schu­le ge­schickt hat. Dann plötz­lich, als wäre er er­schöpft, als mach­te die Lei­den­schaft ihn krank, ließ er die Hän­de sin­ken und saß, an das Mäd­chen ge­lehnt, ru­hig da. Rosa hat­te ih­ren Kopf auf Am­bro­si­us’ Schul­ter ge­stützt – ihr Ge­sicht war un­be­wegt – wie das ei­ner Schla­fen­den, nur – dass die Au­gen weit of­fen­stan­den und an den Wim­pern Trä­nen hin­gen. Nein, sie dach­te an nichts. Sie fühl­te nur das Fie­ber ih­res Blu­tes, hör­te nur das Po­chen ih­res Her­zens. Mecha­nisch schweif­ten ihre Bli­cke im däm­me­ri­gen Rau­me um­her. Fahl kroch das Mond­licht die Fäs­ser und Bal­len hin­an. Mäch­ti­ge Schat­ten wuch­sen an den Wän­den em­por; auf ei­ner Leis­te er­glomm in ei­ner Fla­sche ein ro­ter Fun­ke und blin­zel­te. Von der De­cke hing die Pa­ri­ser Wurst nie­der, ein run­des Un­ge­heu­er, ein Rie­sen­blut­egel, der sich dort oben an­ge­zo­gen hat­te. Un­ge­ord­net, wie im Halb­schlum­mer, be­gan­nen sich Ro­sas Ge­dan­ken um die­se Ge­gen­stän­de zu dre­hen, und un­will­kür­lich müh­te sie sich ab, die­sel­ben zu un­ter­schei­den. Dort stand die He­ring­ston­ne – da­hin­ter schim­mer­te es matt. – Oh, das wa­ren die klei­nen Fi­sche! Die­ser spit­ze Schat­ten kam von der Ecke des La­den­ti­sches – – dort lag ein Tuch – dann ging es fins­ter hin­ab, ein schwar­zer Schacht – dort war noch et­was; et­was wei­ßes – Rosa schau­te es an; der Mehl­sack war es nicht, der stand dort. Nein, sie ver­moch­te es nicht zu er­ken­nen, so­sehr sie sich auch be­müh­te. Stün­de die Ton­ne et­was mehr nach rechts – be­rech­ne­te sie –, dann wür­de sie es un­ter­schei­den kön­nen. Es hät­te ein Ge­sicht sein kön­nen – die bei­den Pünkt­chen die Au­gen –, das schwar­ze Loch der Mund. Am­bro­si­us drück­te Rosa stür­misch an sich und stör­te sie aus ih­rem Hin­brü­ten auf; das wei­ße Ding – jetzt sah sie es deut­lich – es war ein blei­ches, ver­zerr­tes Ge­sicht. Es stütz­te das Kinn auf den Rand der Ton­ne – hat­te die Au­gen weit of­fen – es lach­te. »Dort in der Ecke«, ver­moch­te Rosa nur her­vor­zu­brin­gen, dann sank sie be­täubt zu­sam­men. Nun sah es auch Am­bro­si­us. Fahl und la­chend hing das Ge­sicht noch über der Ton­ne: »Lurch«, rief Am­bro­si­us un­si­cher. »Herr von Tel­le­r­at«, ant­wor­te­te eine lei­se, freund­li­che Stim­me. Am­bro­si­us beug­te sich vor und starr­te mit bit­ter­bö­ser Mie­ne in die Ecke, aus der die Stim­me kam. »Was tun Sie da? Wo kom­men Sie her?«

 

»Ja, Herr von Tel­le­r­at«, er­wi­der­te Lurch höf­lich. »Ich weiß das selbst kaum. Ich muss wohl müde ge­we­sen sein. Je­den­falls ver­lang­te mich – ganz plötz­lich – nach mei­nem Bett. Ja – und nun – so glau­be ich«, ein blei­cher Fin­ger tauch­te aus dem Dun­kel auf und leg­te sich an die blei­che Nase, »nun hab ich mein Zim­mer wohl nicht fin­den kön­nen – das ver­mu­te ich –, so bin ich denn hier her­ein­ge­ra­ten. Mög­lich ist es, dass ich ge­glaubt habe, die­ses hier sei mein Bett, ob­gleich mir so et­was wohl schon am Sams­tag – Sie wis­sen – pas­siert ist – aber am Mon­tag nie, von ei­nem Mon­tag ist mir kein sol­cher Fall er­in­ner­lich – kein ein­zi­ger. Ich kann es mir nicht recht er­klä­ren. Üb­ri­gens habe ich hier nicht übel ge­schla­fen – bis auf das eine Bein, das stark ge­drückt wor­den ist. Nun – Gott! Das ist auch na­tür­lich, es wird auch ge­wiss nicht von Be­deu­tung sein.« Zwei dün­ne Bei­ne schlän­gel­ten sich hin­ter der Ton­ne her­vor, dann Lurchs gan­ze Ge­stalt – wun­der­lich zer­knit­tert, ver­bo­gen, be­staubt. »Es ist wirk­lich selt­sam«, mein­te er mit sei­nem jung­fräu­lich schüch­ter­nen Lä­cheln.

»Selt­sam«, stieß Am­bro­si­us her­vor. »Sie ha­ben sich un­an­stän­dig be­trun­ken und kom­men jetzt, um mich zu stö­ren, um mir auf­zu­lau­ern.«

»O nein, Herr von Tel­le­r­at. Ich bit­te sehr, nicht so un­freund­lich mit Ihrem Kol­le­gen zu spre­chen.« Lurch pro­tes­tier­te mit mehr Si­cher­heit, als Am­bro­si­us an ihm ge­wohnt war. »Auch soll­ten Sie nicht so laut spre­chen, es könn­te Sie je­mand hö­ren, und das wäre – Fräu­lein Rosa un­an­ge­nehm, denn Sie ha­ben Fräu­lein Rosa ge­küsst, mit Er­laub­nis zu sa­gen; dar­um war ich so still, ich moch­te Sie nicht stö­ren. Wenn aber je­mand käme…«

»Ah – hm«, ließ Am­bro­si­us ver­lau­ten. »Ja so!« Er warf einen scheu­en Blick auf sei­nen Kol­le­gen, denn er fühl­te, dass die­ser un­be­que­me Mit­wis­ser sich sei­ner Macht wohl be­wusst war. Da­rum lach­te Am­bro­si­us und gab sich das An­se­hen, als ma­che er sich aus der gan­zen Ge­schich­te nicht viel.

»Sie ver­ges­sen ja das arme Täub­chen«, rief Lurch sen­ti­men­tal. »Da liegt es; ach, es ist ohn­mäch­tig.«

Be­we­gungs­los lag Rosa da, die Auf­re­gung und der Schreck hat­ten ih­rem blei­chen Ge­sicht einen Aus­druck so tie­fen Schmer­zes auf­ge­prägt, dass die bei­den jun­gen Män­ner be­stürzt wur­den.

»Was tun wir, Lurch?« frag­te Am­bro­si­us hilf­los und är­ger­lich.

»Oh, mit ein we­nig Spi­ri­tus ist aus­ge­hol­fen – hier hab ich die Fla­sche.«

Un­schlüs­sig nag­te Am­bro­si­us an sei­ner Un­ter­lip­pe. »Lurch«, be­gann er dann, »man wird uns im Saa­le ver­mis­sen.«

»Ja, Herr von Tel­le­r­at, das ver­mu­te ich al­ler­dings«, er­wi­der­te Lurch sehr un­deut­lich, denn er hielt den Kor­ken der Fla­sche zwi­schen den Zäh­nen, wäh­rend er den Spi­ri­tus auf sein Ta­schen­tuch goß.

»Das könn­te uns kom­pro­mit­tie­ren?« frag­te Am­bro­si­us wei­ter.

»Mög­lich, Herr von Tel­le­r­at, mög­lich wäre es im­mer­hin«, war die Ant­wort.

Am­bro­si­us fass­te sei­nen Ent­schluss, leg­te Ro­sas Kopf has­tig auf die Kis­te und eil­te zur Türe. »Nicht wahr, bes­ter Lurch«, rief er zu­rück, »Sie se­hen nach Rosa – nach – hm dem Mäd­chen? Ich keh­re in den Saal zu­rück. Mei­ne Ab­we­sen­heit wird auf­fal­len – –«

Er ver­schwand.

Freund­lich, mild und gut­ge­launt blick­te Lurch auf das da­lie­gen­de Mäd­chen; wun­der­lich aber war es, wie die­se Freund­lich­keit, die­se Mil­de und gute Lau­ne ihm übel stan­den und sein Ge­sicht ver­zerr­ten. Mit krum­men Kni­en und auf den Fuß­spit­zen nä­her­te er sich der Kis­te und drück­te be­hut­sam sein Ta­schen­tuch ge­gen Ro­sas Ge­sicht; da­bei stieß er zu­wei­len einen kla­gen­den Laut aus oder sprach lei­se vor sich hin in der wei­chen, lal­len­den Wei­se, in der Am­men ihre Säug­lin­ge an­zu­re­den pfle­gen. »So – so – es wird bes­ser. Le­gen wir das auf die klei­ne Stirn – die klei­ne, klei­ne Stirn –; ist’s so gut, was?« Rosa be­weg­te sich. »Oh«, mein­te Lurch ernst, hielt in sei­ner Be­schäf­ti­gung inne, lausch­te einen Au­gen­blick und drück­te dann sei­nen gel­ben Mit­tel­fin­ger fest an Ro­sas Schul­ter.