Ambrosius Tellerat liebte also Rosa, denn dieses dünkte ihn die einzige seiner würdige Beschäftigung in diesem kleinlichen Neste. Sobald Rosa sich auf der Straße zeigte, begegnete ihr Ambrosius und grüßte sie, bald mit dem höflich kalten Gruß des Weltmannes, bald mit einem innigen, vielsagenden Neigen des Kopfes. Er ging vor ihrem Fenster auf und ab und sandte ihr durch den Burschen seines Schusters einen Strauß. Was zu tun war, geschah.
Rosa freute sich natürlich ihres Triumphes; natürlich tat sie ihr Möglichstes, um Ambrosius aufzumuntern. Wenn er, sehr korrekt in einem dunklen Überzieher eingeknöpft, einen hohen, spiegelblanken Hut ein wenig schief auf dem Kopf, unter Rosas Fenster vorüberging, dann schaute sie jedesmal hinaus. Er grüßte hinauf, sie grüßte hinab, errötete – zog den Kopf vom Fenster zurück und steckte ihn gleich wieder hinaus. Ambrosius pflegte eine Weile dort stehenzubleiben. Er wiegte sich sachte in den Hüften, zog seine Manschetten weit über die Hände, die in neuen Handschuhen steckten, drehte seinen Spazierstock und blickte süß empor. Diese saubre, gepflegte Festtagserscheinung – denn einen so blanken Hut, so neue Handschuhe, so gute Kleider trug man im Städtchen nur an hohen Festtagen – diese Festtagserscheinung, die jeden Werktagsnachmittag vor Rosas Fenster stand und sie bewunderte, brachte einen großen und neuen Reiz in das Leben des Mädchens. Die selbstbewusste Kühnheit, mit der Ambrosius zu ihr emporstarrte, die gesuchten Stellungen, der Aufwand mit großen, sehr funkelnden Hemdknöpfen und breiten Manschetten, den er trieb, alles war ihr neu und anziehend; und die Sonnenstrahlen, die auf dem blanken Hut blitzten, umgaben den gefühlvollen Handlungsdiener der Firma Lanin mit einer leuchtenden Aureole.
Und musste es nicht so sein? Musste nicht dieses Mädchen, mit der fiebernden Phantasie und den fiebernden Sinnen seiner siebzehn Jahre, die ungeduldig über das stille bürgerliche Leben hinausdrängten, musste es nicht allem Neuen, Ungewohnten begierig zuflattern, und war jenes Neue auch nur ein Kommis, der seinen Sonntagsrock am Werktage trug? Das Sinnen und Träumen, dem sich Rosa in einsamen Stunden gern ergab, verlor viel von seiner Unbestimmtheit. Ihre Gedanken verdichteten sich vielmehr um die eine Gestalt. Mit der naiven Umständlichkeit solcher jungen, nach Genuss verlangenden Visionäre malte sie sich Begegnungen und Zusammenkünfte mit Ambrosius aus – reiche, glänzende Kleider, die ihn in Erstaunen setzten; seltsame, unmögliche Lebenslagen, in denen sie ihm groß und bewunderungswürdig erschien. Bald war sie reich und fuhr in einer Kalesche durch die Straßen; Ambrosius stand am Wege und grüßte; sie ließ halten und sagte, mit dem nachlässigen Lächeln einer Weltdame: »Aber Herr von Tellerat; steigen Sie doch ein!« – Sie winkte dabei mit dem Fächer. Gott ja! Rosa warf ihren Kopf auf die Lehne des Stuhles zurück und schloss die Augen, diese Träume regten sie auf und erhitzten ihr Blut:
»Aber so steigen Sie doch ein, Herr von Tellerat«, flüsterte sie.
Um diese Zeit ward auch die Freundschaft mit Fräulein Sally besonders warm. Jeden Nachmittag fühlte Rosa das Bedürfnis, nach ihrer Freundin zu sehen. Saß Fräulein Sally nicht in sinnender Stellung am Fenster, so ging Rosa in den Laden, um nach ihr zu fragen. Lurch stand hinter dem Ladentisch, bleich, still, bestaubt, ganz wie er dort gestanden hatte, seit Rosa gelernt, ihn von den Fässern und Kisten zu unterscheiden. Ambrosius saß auf einer Kiste und hielt die Beine auf einer andern.
Wenn Rosa eintrat und einige unschlüssige Rebhuhnschritte im engen Raume machte, dann flog ein mattes Lächeln über Lurchs Gesicht, und Ambrosius richtete sich hastig aus seiner nachlässigen Stellung auf, zog seine Manschetten unter den Rockärmeln hervor und war ganz Salonmann. »Ah, Fräulein Herz! Gnädiges Fräulein – hm, Sie suchen wohl meine Cousine?«
»Ja, ich habe mit Sally zu sprechen.«
»Sally kommt sofort, gewiss, mein gnädiges Fräulein. Nicht wahr, Lurch? Gedulden Sie sich einen Augenblick, nehmen Sie mit unserer Klause vorlieb.«
»Oh, Herr von Tellerat, es hat keine Eile.«
»Aber Sally wird sogleich hier sein. Nehmen Sie Platz, gnädiges Fräulein. Sehr primitiv, nicht? Ja, ja, sehr arkadisch!«
Rosa setzte sich. Ambrosius stand neben ihr und führte die Unterhaltung. Rosa schlug ihre Augen voll zu ihm auf, und er blickte angestrengt in diese blauen runden Augen. Das machte für beide dieses Zusammensein zu einem bedeutungsvollen.
»Gute Augen!« pflegte Ambrosius später zu Lurch zu sagen.
»Wer? Ah, Fräulein Rosa!«
»Ja – hm – Fräulein Herz. Man muss eben verstehen, den rechten Funken aus Weiberaugen herauszuschlagen.« Ambrosius kniff die Augenlider zusammen, um die Methode anzugeben. »Verstehen muss man das, damit die Mädel einen so recht anschauen; die Augen aufschlagen und einen so plötzlich ansehen, so – wissen Sie?«
»Ja.« Lurch verstand ihn.
Den guten Herweg hatte Lanins schöner Neffe aus Rosas Herzen verdrängt. Ambrosius hatte auch viel vor Herweg voraus, nicht nur den blanken Hut und die besser gemachten Kleider, sondern auch – was mehr war – er hatte vor Herweg den festen Glauben an seine Unwiderstehlichkeit, die große, wahre Bewunderung seiner selbst voraus. Er liebte Rosa, weil er es sich so vorgenommen hatte. Aber es lag nicht in seiner Art, sich mit dem bloßen Bewusstsein gegenseitiger Liebe zu begnügen, dazu erregte das lebhafte Mädchen mit dem schönen, klugen Lächeln, der naiven Kühnheit seiner Gefallsucht, den blanken, sinnlichen Augen viel zu lebhafte Wünsche in Ambrosius’ weichem Gemüte. Halb war es die brutale Lüsternheit nervöser Menschen, halb die Beharrlichkeit des Gecken, der einen jeden zur Bewunderung zwingen will.
Eines Sonntags, als Rosa am Laninschen Hause vorüberging, stürmte Fräulein Sally an das Fenster und bat Rosa, sofort hereinzukommen, sie müsse ihren Rat einholen.
Rosa fand den Laninschen Salon in sonntäglicher Ruhe und Ordnung. Auf den Tischen lagen schwarze Andachtsbücher, die Möbel hatten sich der weißen Überzüge entledigt und prangten im Vollglanz des roten Manchesters. Der starke Duft der Sonntagskohlsuppe erfüllte das Gemach, und Fräulein Sally stand in dieser Atmosphäre fröhlich und unbefangen, als wäre das ihr Element. Sie hatte heute die Trauer um den Onkel abgelegt und trug ein nettes weißes Kleid, das bei jedem Schritt angenehm knisterte, als wäre Fräulein Sally ein Papierkorb.
»Ah, da bist du ja!« rief sie Rosa entgegen. »Der Cousin und ich – wir beraten uns hier eben über das Fest.«
Ein stolzes Lächeln umspielte Fräulein Sallys Lippen. Ambrosius begrüßte Rosa mit einer hübschen Verbeugung und streckte sich dann wieder nachlässig in seinem Sessel aus. Rosa vermochte nur »Ah, wirklich!« zu erwidern.
»Ja, morgen – du weißt«, sagte Fräulein Sally. »Setz dich, mein Herz. Es kommt nämlich darauf an –« sie rieb sich geschäftig das Knie und schaute ihren Vetter an.
»Ja«, versetzte dieser und lächelte gutmütig, »es kommt darauf an, wie man dieses – hm – dieses kleine Fest, diesen kleinen gemütlichen Tanzabend, eigentlich thé dansant, gehörig arrangiert. Nun, ich – wenn die Damen meine Meinung hören wollen, ich –« Er schwieg und blies den Rauch seiner Zigarette durch die Nase.
Die beiden Mädchen sahen ihn gespannt an, als aber nichts erfolgte, ergriff Fräulein Sally wieder das Wort: »Die Treppe muss geschmückt werden.«
»Das kann nichts schaden«, meinte Ambrosius.
»Ja, Pflanzen – tropische Pflanzen«, fuhr Fräulein Sally fort. »Ich habe vier Myrthenstöcke, du, Rosa, hast einen Geranium. Gott, es findet sich schon.«
»Vielleicht könnte man auch in den Salon Blumen stellen?« schaltete Rosa ein.
Fräulein Sally war unschlüssig, Ambrosius begeisterte sich aber für diesen Gedanken. »Gewiss, Gruppen, warum nicht? Sehr gut – hm – Gruppen.«
»Gut also.« Fräulein Sally fuhr mit der Hand über ihr Knie, zum Zeichen, dass dieser Punkt abgetan sei. »Wir kommen jetzt zu den Erfrischungen. Zum Beginn Kaffee, natürlich. Ich habe mir gedacht, ein Viertel Zichorie, und so – du weißt? Während des Tanzes werden Butterbrote gereicht. Vielleicht – vielleicht erlaubt es der Papa, die Pariser anzuschneiden, das wäre himmlisch!« Fräulein Sally zählte alle Genüsse des Festes eifrig auf. Sie verstand es, den gewöhnlichsten Dingen einen Nimbus des Großartigen und Vornehmen zu geben, nur durch die Art, in der sie von ihnen sprach.
Ambrosius gab auch Ratschläge in seiner nachlässigen, mitleidigen Weise. Seine Pläne zeichneten sich jedoch durch zu große Überschwenglichkeit aus. So wollte er im Damenzimmer ein Zelt aus Seidengaze aufschlagen und es mit bunten Lampen erleuchten.
Fräulein Sally war dem nicht ganz abgeneigt; sie meinte, man könne dazu die baumwollenen Bettvorhänge ihrer Mutter und die Speisezimmerlampe verwenden.
Rosa machte hin und wieder auch einen Vorschlag, den Fräulein Sally gewöhnlich bekämpfte und den Ambrosius warm vertrat.
Es dämmerte; die Ecken des Gemaches wurden ganz finster, nur in der Nähe des Fensters lag noch ein unsicheres Licht.
Fräulein Sally sprach eifrig, die beiden andren waren einsilbig. Nur selten schaltete Ambrosius ein »Hm« oder einen zusammenhanglosen Satz ein. Er war mit anderen Dingen beschäftigt. Vorsichtig hatte er Rosas Hand ergriffen und hielt nun dieses willenlose, warme kleine Ding, legte es dann wieder fort, um eine sehr heiße Wange zu streifen.
Fräulein Sally war bei ihrer Toilette angelangt. »Nicht wahr, denkst du nicht auch?« wandte sie sich an ihre Freundin, die nur ein heiseres »Ja« verlauten ließ. Fräulein Sally wunderte sich nicht darüber. Sie wusste, ein hübsches Kleid war für Rosa ein unliebsames Thema. Natürlich, sie hatte ja nur das weiße Musselinkleid, das sie schon zu ihrer Einsegnung getragen, das arme Mädchen.
Der Mond kam plötzlich über dem Giebel des gegenüberliegenden Hauses zum Vorschein und zeichnete das Fensterkreuz auf den Estrich, groß und schwarz auf goldenem Grunde. Alle schwiegen. Fräulein Sally neigte das Köpfchen und blickte zum Fenster hinüber. Rosa rückte ihren Stuhl in den Mondschein hinein und saß still und feierlich da; sie fühlte, sie sei schön. Ambrosius starrte sie, rot vor Erregung, an; auch Fräulein Sally konnte ihre Bewunderung dieser blonden, mondbeglänzten Gestalt nicht versagen; um auch ihren Teil an dieser Schönheit zu haben, beugte sie sich an Rosa heran, legte die braunen Löckchen an die blonden Zöpfe und sagte zärtlich: »Mein liebes, liebes Herz!«
»Es ist spät«, versetzte Rosa ernst und gerührt, wie es Mädchen zu sein pflegen, die sich gerade schön wissen. Sie erhob sich, um heimzugehen. Das Mondlicht war so hell, dass es fast wie Tageslicht über dem Städtchen lag. Ein bläulicher Glanz erfüllte die Luft und blitzte auf den Fensterscheiben. Rosa ging langsam ihre Wege, sah in die Mondscheibe und atmete hastig und tief, als ließe sich das Licht trinken. Mitten auf dem Marktplatz stand der Apotheker und hielt seine Uhr gegen den Mond, um zu sehen, wie spät es sei. Aus dem Fenster eines Erdgeschosses beugte sich eine Dienstmagd heraus und legte ihre mächtigen nackten Arme vor sich auf das Fensterbrett, um sie in der Abendluft zu kühlen, neben ihr saß ein Bursche und hielt mit beiden Händen des Mädchens dicke, rote Backen. In einem Winkel zwischen zwei Häusern stand die Trödlerstochter Ida Wulf mit ihrem Schusterbuben. Sie drängten sich aneinander und kicherten.
Rosa hörte eilige Schritte hinter sich und blieb stehen. Ambrosius war es, außer Atem und sehr erregt: »Oh! Fräulein Herz, gnädiges Fräulein, gehen Sie schon heim?«
»Ja, es ist spät«, erwiderte Rosa und begann mit kleinen Schritten weiterzugehen.
»Ja! – hm – Oh, gnädiges Fräulein, ich wollte nur… ich muss. Sie sind mein Ideal; gewiss, mein Ideal!« Nun ward er feurig: »Vorhin – im Mondschein, Sie waren zu schön. Ich muss es Ihnen sagen. – Seien Sie nicht grausam, Sie sind ein Engel – hm – mein Engel.« – Rosa war bestürzt, dennoch kam ihr der Gedanke: »Jetzt ist der Augenblick gekommen, so muss es sein! Jetzt muss etwas geschehen, und wenn du nichts sagst und nichts tust, dann ist es vorüber.« Aber sie sagte und tat nichts.
»Müssen Sie wirklich nach Hause?« fragte Ambrosius schmelzend.
»Ja, mein Vater erwartet mich.«
»Wir müssen also scheiden. Geben Sie mir Ihre Hand, o Liebe!« Ambrosius nahm Rosas Hand, dann Rosa selbst und küsste ihre Lippen, dann ließ er sie los. Schweigend und zitternd standen sich beide gegenüber. Schritte wurden hörbar. »Auf Wiedersehn«, flüsterte Ambrosius, »mein Ideal« – und hastig fuhren sie auseinander.
An der Treppe der Herzschen Wohnung fand Rosa Ida Wulf. Das Judenmädchen richtete seine schwarzen Augen forschend auf Rosa und lächelte ein altes, überlegenes Lächeln.
»Nun, Ida, was treibst du?« fragte Rosa.
»Nichts, Fräulein Rosa. Schön ist es heute.« Rosa nickte. »Fräulein Rosa«, fuhr Ida leise fort und legte zwei magere braune Hände auf Rosas Arm. »Dieser junge Herr bei Lanins, der ist schön, nicht? Ich bin auch verliebt in ihn.« Rosa schlug die Augen nieder und sagte unsicher: »Du solltest um diese Zeit schon zu Bette sein, Ida.«
Das Judenmädchen lachte. »Nein! Ich bleibe lange draußen. Aber Fräulein Rosa, ich kenne viele, viele Stellen, wo man zusammen sein kann. Sie wissen, Fräulein Rosa, so allein. Der Peter, Sie wissen, Fräulein Rosa, der garstige Schusterbub und ich, wir wissen alle solche Stellen. Soll ich sie Ihnen zeigen, Fräulein Rosa?« Dabei nahm Ida einen von Rosas Zöpfen und wog ihn in der flachen Hand. »Wozu?« erwiderte Rosa. »Was machst du denn dort mit dem Schusterbuben?« fügte sie hinzu und blickte über das Judenmädchen hinweg.
»Wo?« fragte Ida ernst.
»Nun – an – an jenen Stellen« – – –
»Oh, der Peter!« kicherte Ida, »wie der garstig ist – das kann ich Ihnen gar nicht sagen, Fräulein Rosa.« Mit diesen Worten lief Ida davon. Rosa stand noch einen Augenblick sinnend an der Treppe und hörte die schweren Schuhe des Judenmädchens die Straße hinabklappern.
Am Montage fand Fräulein Schank ihre Schülerinnen nicht allzu fleißig bei der Arbeit. Die pflichttreuesten – selbst Marianne Schulz – hatten Augenblicke gänzlicher : Geistesabwesenheit. Fräulein Sally war stolz und sinnend, als laste eine große Verantwortung auf ihr. Fräulein Schank zeigte sich heute nachsichtig gegen den Mangel an Aufmerksamkeit. Sie benützte nur die Gelegenheit, um eine Rede zu halten, in der sie die These aufstellte: »Nur nach getaner Arbeit schmeckt das Vergnügen.« Diese Behauptung sollte auch das Thema für die nächste schriftliche Arbeit sein. Die nächste Arbeit? Großer Gott, wie fern lag die! Die nächste Arbeit? – Also in einer Zeit, da der Ball längst vorüber sein wird. Nach dem Ball! Das war eine Zeitrechnung, die keiner begriff. Marianne Schulz riss ihre Augen auf, als Fräulein Schank die Aufgabe für den folgenden Tag stellte. Das Wort »Die Gesellschaft«, das Fräulein Sally so großartig auszusprechen verstand, erfüllte Marianne mit andächtiger Freude. Sie, die kaum an den großen Augenblick zu denken wagte, in dem sie wirklich das weiße Musselinkleid und den grünen Gürtel würde anlegen dürfen, sie sollte an einen Tag glauben, da alles vorüber sein würde? Das konnte sie nicht, Fräulein Schank dünkte ihr eine Kassandra, die unheimliche, traurige Schicksalssprüche in die Welt hinausruft.
Nun – und dann war er da, dieser große, beseligende Abend.
Der Kronleuchter des Laninschen Saales strahlte. Der Estrich war wohlgebohnt. Die Stiegen prangten im Schmuck der Girlanden, die den Eintretenden mit dem angenehmen Festduft welkender Kränze umwehten. Fräulein Sally, in einem blauen Tarlatankleide, stand regungslos unter dem Kronleuchter und harrte ihrer Gäste. Sie legte einen Finger an die Lippen und wandte den Kopf zurück, mit der zarten Anmut jener Damen in den Modeblättern, unter denen »Rückseite der Balltoilette« zu lesen ist.
Rosa war die erste, die in den Saal trat. Ja, sie trug das weiße Einsegnungskleid; aber einige rote Haubenbänder aus dem Nachlass des Fräulein Ina gaben ihm ein neues, buntes Ansehen. Und dann – dieses kindliche Kleid, in dem Rosa fromm und andächtig vor dem Altar gestanden, es war soweit verweltlicht, dass es ihr Hals und Schultern frei ließ. Die Haare bildeten über dem Scheitel einen Strauß von Löckchen, und mitten in ihnen saß eine rote Kamelie, auf der sich eine blaue Libelle wiegte. Dass das Rot der Kamelie ein wenig vergilbt war, dass der Libelle ein Flügel fehlte – wer sah das? – außer Fräulein Sally, die mit einem Blick alle Mängel des Anzugs ihrer Freundin herausgefunden hatte. Mängel waren genug da; dennoch wollte es Fräulein Sally scheinen, als sei der Triumph des blauen Tarlatan über den weißen Musselin nicht vollständig. In Rosas Anzug lag etwas Gewolltes, Kühnes, etwas, das man an Schankschen Schülerinnen nicht gewohnt war. Statt des Inbegriffs einer Balltoilette, statt des weißen Kleides, der rosenfarbenen Schärpe und dem Rosenkranz auf dem glattgescheitelten Haar hatte dieses Kleid, das so weit von den Schultern herabfiel, hatten die roten Bänder, die nickenden Locken, hatte alles in Fräulein Sallys Augen das Überraschende und Abenteuerliche eines Maskenanzuges. Es war unschicklich, ja! – und doch…
»Ah! Rosa! Schön, dass du die erste bist«, rief Fräulein Sally und lächelte, als würden auch ihre Lippen von einem zu engen Schnürleib bedrückt. »Ich meinte, ich könnte dir helfen«, erwiderte Rosa. Sie küssten sich, langsam die Köpfe zueinander neigend – vorsichtig – um die Kleider nicht zu zerknittern. Dann gingen sie, mit kleinen Schritten, nebeneinander auf und ab, wehten sich Kühlung mit den Taschentüchern zu und unterhielten sich höflich – kurze Sätze, bei denen die Blicke zerstreut im Gemach umherirrten. Fräulein Sally erklärte die Einrichtung: »Hier das Damenzimmer. Sehr gut – nicht wahr? – – Hier das Zofenzimmer –; du weißt, jemand tritt einem auf die Schleppe – ein Band – oder sowas… eine Zofe ist immer nötig.« Das Zofenzimmer war ziemlich düster, nur eine Kerze brannte in demselben. Zwei Zofen waren bereits da. Agnes Stockmaier und Fräulein Suller, die Wirtschafterin der Lanins. Sie saßen vor ihren Kaffeetassen, steckten die greisen Köpfe zusammen und plauderten leise. »Gut?« fragte Fräulein Sally.
»Ja, o ja!« erwiderte Rosa, obgleich es ihr schien, als habe dieses Gemach, mit seiner tief brennenden Kerze, mit den beiden altbekannten Gesichtern, etwas Alltägliches an sich, das zu dem großen Abend nicht recht stimmen wollte. Sie hatte sich ein Zofenzimmer doch anders gedacht.
Die Gäste kamen. Ein Flüstern, ein Rauschen der Mäntel und Tücher – dann zogen sie ein in langen Reihen, die Damen in weißen Kleidern mit bunten Bändern. Runde Kränze lagen auf den spiegelblanken Locken; die Hände, in weißen Handschuhen, drückten sich fest an den Gürtel. Eine Schar Konfirmanden, die mit den weißen Kleidern auch die feierlich ernsten Gesichter angelegt hatten. Unsicher trippelten sie über den glatten Fußboden und blinzelten zum Kronleuchter auf. Hinter ihnen die Mütter in dunklen Seidenroben. Freundliche Gesichter, die aus großen Spitzenhauben hervorlächelten. Endlich die Herren – sehr korrekt in schwarzen Fräcken und mit stark geöltem Haar. Schüler gingen Arm in Arm im Saal umher, stießen sich in die Seite und kicherten. Handlungsdiener stellten sich an die Wand und machten Verbeugungen. Herr Klappekahl erschien mit seiner Tochter Ernestine, einem großen blonden Mädchen, das nicht mehr die Schule besuchte, ein gelbes Schleppkleid, einen Veilchenkranz und einen Fächer trug. Herr Lanin, ein Stück Ordensband im Knopfloch, begrüßte seine Gäste wohlwollend und würdig, während seine Gattin – in grauer Seide – mächtig und liebenswürdig grüßend durch die Menge schritt. Anfangs gab es ein steifes, unbehagliches Umherstehen, bis Fräulein Sally die Damen zu den Sitzen nötigte, einige bei den Händen nahm und sie zu den Stühlen führte – mit einer Miene, auf der deutlich die Pflichterfüllung zu lesen war. Die Mütter setzten sich auf Sofas und begannen ihre Gespräche über Dienstboten; Gespräche, die den Töchtern eine Profanation des Abends dünkten. Herr Lanin klopfte dem Doktor auf den Rücken und forderte ihn zu einer Partie auf; »während die Jugend hüpft« – und sie taten beide der Jugend leid. Klappekahl blieb im Saal. Mit knarrenden Stiefeln ging er zwischen den Damen umher, lachte, scherzte – mit ritterlichen Bewegungen eines alten Salonhelden –, steckte sein Gesicht noch zu den errötenden Mädchengesichtern und weißen Kinderschultern und ergötzte sich als raffinierter Großstädter an all den aufblühenden Frauenreizen. Rosa stand mitten im Saal und sprach mit Herweg über die Hitze des heurigen Sommers: jedoch Ambrosius’ Ausbleiben beunruhigte sie. Endlich kam er. Spät – natürlich! Er hatte einen Spaziergang gemacht, der Abend war so schön! Sein Anzug war untadelhaft. Wie eine weiße Rüstung wölbte sich die Wäsche aus der weitausgeschnittenen Weste hervor. Die Locken glänzten und dufteten zu beiden Seiten des Scheitels. Er fächelte sich Luft mit seinem Hute zu sprach mit den Müttern. Oh, er war bewunderungswürdig mit seiner heiteren, unbefangenen Ruhe in diesem Augenblick, der alle anderen mit andächtiger Steifheit erfüllte!
Erfrischungen waren gereicht worden. Die Damen wischten sich zart die Fingerspitzen an ihren Taschentüchern und saßen gerade da. Der Tanz sollte beginnen; es war jedoch nicht leicht, den Anfang zu machen, da meinte Ambrosius, unbefangen lächelnd, als handle es sich um einen geringfügigen, lustigen Umstand: »Nun, Cousine, tanzen wir nicht?« – – »Oh, gewiss, Cousin! Machen Sie den Anfang, bitte – bitte.« Man rief nach Musik. Fräulein Wutter, die Musiklehrerin der Schankschen Schule, setzte sich an das Klavier, und die Musik spielte einen Walzer. Ambrosius ergriff seine Cousine und drehte sie anmutig im Saal herum. Der Bann war gebrochen! Die Mütter strichen sich die Seidenkleider glatt und schauten lächelnd in das wirre Durcheinander flatternder Bänder und weißer Kleider. Die Kavaliere stießen und drängten sich, um zu den Damen zu gelangen und sie mit hastigen, schiefen Verbeugungen zum Tanz aufzufordern; und die Damen, mit niedergeschlagenen Augen, erhitzten Wangen, ließen sich andächtig durch den Saal schwenken. – – Rosa tanzte mit Ambrosius. Er drückte ihre Hand mit einer abgerundeten Bewegung auf sein Herz und blickte gefühlvoll auf sie nieder. »Oh, gnädiges Fräulein! Ich habe viel an den gestrigen Abend gedacht – an Sie – an den Mond – es war köstlich!« – »Ich auch«, erwiderte Rosa und schlug ihre Augen langsam zu ihm auf, gehoben von dem Gefühl, dass sie etwas Kühnes, Unerhörtes beginne. Als sie an der Türe vorübertanzten, sah Rosa ihren Vater dort stehen. Lächelnd wiegte er sein weißes Haupt nach dem Takte der Musik und blickte kritisch auf die vorübertanzenden Füße. Dies greise, lächelnde Männlein erschien Rosa ein wenig verächtlich und ihrer nicht ganz würdig. – Der Kronleuchter warf durch den aufgewirbelten Staub ein rötliches Licht auf die wogende Schar. Das Lächeln auf den Lippen der zuschauenden älteren Leute nahm eine müde Stetigkeit an, während die Tanzenden schweigend atemlos und eifrig dahinstürmten.
Fräulein Sally wurde sehr gefeiert, und bei jedem neuen Tänzer, der seinen Arm um ihre schlanke, feste Taille legte, betrieb sie das Tanzen ruhiger, geschäftsmäßiger. Sie machte einen äußerst routinierten Eindruck, und das wollte sie. Rosa war auch viel umworben, ihre Triumphe erregten sie jedoch, ihre Lippen wurden heiß und die Augen leuchtend, »wie Girandolen«, sagte Klappekahl mit einem großstädtischen Fremdwort. In der Tat! Sie fühlte sich heute schön und anziehend. Ihr war es, als stehe sie hoch über ihren Genossinnen, als käme sie aus einer fremden, vornehmen Welt in diese Gesellschaft beschränkter Schülerinnen und dürfte mit Verachtung auf die schüchternen Backfischmanieren und engen Vorurteile dieser kleinen Mädchen mit den hoch über die Schultern gehenden Kleidern herabsehen. Sie sprach während der Rundtänze. Sie wurde müde. und die Herren mussten lange neben ihr warten. Sie forderte den Apotheker zu einem Walzer auf, und als er ihr viel Liebenswürdiges zuflüsterte, gab sie neckische Antworten, die alle mit »mein Herr« begannen oder schlossen. Oh, viel hatte sie heute abend gelernt! War sie nicht eine ganz andere Person? Wie im Fieber, aber in einem beglückenden, erhebenden Fieber, flatterte sie durch den Saal. Die Überzeugung, der Mittelpunkt des Festes zu sein, verschönte sie.
Klappekahl beugte sich nah an Fräulein Schanks braune Bandeaux heran und flüsterte: »Sehen Sie doch die Rosa Herz. Welche verve! Die schaut nicht aus, als käme sie aus Ihrer Schule.«
»Ach was«, meinte das Fräulein und machte ein Gesicht, als habe Klappekahl wieder seine Aufgabe nicht gelernt. »Sie werden das Kind ganz zur Närrin machen; es ist ohnehin heute laut genug.«
»Bühnenblut!« kicherte Klappekahl, »aber famos – diese Büste!« Fräulein Schank tat. als höre sie ihn nicht, und saß ernst und gerade da.
Es wurde eine Pause gemacht, die Damen sollten sich vor dem Souper erholen. Die Mädchen legten ihre nackten Arme ineinander und gingen langsam im Saale auf und ab. Die Herren lehnten an der Wand und flüsterten miteinander. Nur Ambrosius hatte sich den Damen angeschlossen. Mit kleinen Schritten neben ihnen einhergehend, führte er die Unterhaltung. Er schilderte Fräulein Klappekahl den Eindruck, den der erste Theaterabend auf ihn gemacht hatte, wie ein Traum sei ihm alles erschienen, er habe vor Aufregung fast mitgesprochen, und später habe er die ganze Nacht über geweint, denn er sei ein nervöses, phantastisches Kind gewesen, sozusagen »phantastisch-träumerisch«
Rosa lehnte einsam in der Türe des Damenzimmers und schaute sinnend in den Saal hinein. Sie durfte heute nicht das tun, was ihre Genossinnen taten; sie hatte einen Nimbus zu wahren. Die Würde einer Ballkönigin war ihr noch zu neu, und sie fürchtete beständig, diese Würde zu verletzen. Jeder Augenblick, der sie an die gestrige, gewöhnliche Rosa Herz erinnerte, bedrückte sie. Die Kühnheit, mit der sie einige Schüler neben sich hatte warten lassen, mit der sie während des Tanzes gesprochen und gelacht, machte sie in ihren Augen – zu einer glänzenden, mutwilligen Gesellschaftsnixe, die alle Herzen betört und selbst ein geheimnisvolles Herz unter dem knappen Mieder trägt. Großer Gott! Wenige rote Bänder, einige Handlungsdiener, die sich um einen Walzer stoßen, einige neidische Freundinnenaugen machen aus einem glücksarmen Mädchen eine übermütige Ballkönigin! Gebt solch einem jungen Herzen, das in seinem kärglichen Leben stets von grenzenloser Seligkeit träumt, gebt ihm einen kleinen Augenblick ganz gewöhnlicher Lustigkeit, und es wird in diesem einen lustigen Augenblick eine ganze Seligkeit hineinzwängen. Rosa gab sich – dort am Türpfosten – einem tiefen wehmütigen Sinnen hin, das sie dennoch glücklich machte. Denn neben der schönen, gefeierten Rosa lebte noch Rosa, die Schanksche Schülerin im weißen Musselinkleide, und diese bewunderte das traurige Sinnen der gefeierten Rosa.