Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Neuntes Kapitel

Am­bro­si­us Tel­le­r­at lieb­te also Rosa, denn die­ses dünk­te ihn die ein­zi­ge sei­ner wür­di­ge Be­schäf­ti­gung in die­sem klein­li­chen Nes­te. So­bald Rosa sich auf der Stra­ße zeig­te, be­geg­ne­te ihr Am­bro­si­us und grüß­te sie, bald mit dem höf­lich kal­ten Gruß des Welt­man­nes, bald mit ei­nem in­ni­gen, viel­sa­gen­den Nei­gen des Kop­fes. Er ging vor ih­rem Fens­ter auf und ab und sand­te ihr durch den Bur­schen sei­nes Schus­ters einen Strauß. Was zu tun war, ge­sch­ah.

Rosa freu­te sich na­tür­lich ih­res Tri­um­phes; na­tür­lich tat sie ihr Mög­lichs­tes, um Am­bro­si­us auf­zu­mun­tern. Wenn er, sehr kor­rekt in ei­nem dunklen Über­zie­her ein­ge­knöpft, einen ho­hen, spie­gelblan­ken Hut ein we­nig schief auf dem Kopf, un­ter Ro­sas Fens­ter vor­über­ging, dann schau­te sie je­des­mal hin­aus. Er grüß­te hin­auf, sie grüß­te hin­ab, er­rö­te­te – zog den Kopf vom Fens­ter zu­rück und steck­te ihn gleich wie­der hin­aus. Am­bro­si­us pfleg­te eine Wei­le dort ste­hen­zu­blei­ben. Er wieg­te sich sach­te in den Hüf­ten, zog sei­ne Man­schet­ten weit über die Hän­de, die in neu­en Hand­schu­hen steck­ten, dreh­te sei­nen Spa­zier­stock und blick­te süß em­por. Die­se saub­re, ge­pfleg­te Fest­tags­er­schei­nung – denn einen so blan­ken Hut, so neue Hand­schu­he, so gute Klei­der trug man im Städt­chen nur an ho­hen Fest­ta­gen – die­se Fest­tags­er­schei­nung, die je­den Werk­tags­nach­mit­tag vor Ro­sas Fens­ter stand und sie be­wun­der­te, brach­te einen großen und neu­en Reiz in das Le­ben des Mäd­chens. Die selbst­be­wuss­te Kühn­heit, mit der Am­bro­si­us zu ihr em­por­starr­te, die ge­such­ten Stel­lun­gen, der Auf­wand mit großen, sehr fun­keln­den Hemd­knöp­fen und brei­ten Man­schet­ten, den er trieb, al­les war ihr neu und an­zie­hend; und die Son­nen­strah­len, die auf dem blan­ken Hut blitz­ten, um­ga­ben den ge­fühl­vol­len Hand­lungs­die­ner der Fir­ma La­nin mit ei­ner leuch­ten­den Au­reo­le.

Und muss­te es nicht so sein? Muss­te nicht die­ses Mäd­chen, mit der fie­bern­den Phan­ta­sie und den fie­bern­den Sin­nen sei­ner sieb­zehn Jah­re, die un­ge­dul­dig über das stil­le bür­ger­li­che Le­ben hin­aus­dräng­ten, muss­te es nicht al­lem Neu­en, Un­ge­wohn­ten be­gie­rig zu­flat­tern, und war je­nes Neue auch nur ein Kom­mis, der sei­nen Sonn­tags­rock am Werk­ta­ge trug? Das Sin­nen und Träu­men, dem sich Rosa in ein­sa­men Stun­den gern er­gab, ver­lor viel von sei­ner Un­be­stimmt­heit. Ihre Ge­dan­ken ver­dich­te­ten sich viel­mehr um die eine Ge­stalt. Mit der nai­ven Um­ständ­lich­keit sol­cher jun­gen, nach Ge­nuss ver­lan­gen­den Vi­sio­näre mal­te sie sich Be­geg­nun­gen und Zu­sam­men­künf­te mit Am­bro­si­us aus – rei­che, glän­zen­de Klei­der, die ihn in Er­stau­nen setz­ten; selt­sa­me, un­mög­li­che Le­bens­la­gen, in de­nen sie ihm groß und be­wun­de­rungs­wür­dig er­schi­en. Bald war sie reich und fuhr in ei­ner Ka­le­sche durch die Stra­ßen; Am­bro­si­us stand am Wege und grüß­te; sie ließ hal­ten und sag­te, mit dem nach­läs­si­gen Lä­cheln ei­ner Welt­da­me: »Aber Herr von Tel­le­r­at; stei­gen Sie doch ein!« – Sie wink­te da­bei mit dem Fä­cher. Gott ja! Rosa warf ih­ren Kopf auf die Leh­ne des Stuh­les zu­rück und schloss die Au­gen, die­se Träu­me reg­ten sie auf und er­hitz­ten ihr Blut:

»Aber so stei­gen Sie doch ein, Herr von Tel­le­r­at«, flüs­ter­te sie.

Um die­se Zeit ward auch die Freund­schaft mit Fräu­lein Sal­ly be­son­ders warm. Je­den Nach­mit­tag fühl­te Rosa das Be­dürf­nis, nach ih­rer Freun­din zu se­hen. Saß Fräu­lein Sal­ly nicht in sin­nen­der Stel­lung am Fens­ter, so ging Rosa in den La­den, um nach ihr zu fra­gen. Lurch stand hin­ter dem La­den­tisch, bleich, still, be­staubt, ganz wie er dort ge­stan­den hat­te, seit Rosa ge­lernt, ihn von den Fäs­sern und Kis­ten zu un­ter­schei­den. Am­bro­si­us saß auf ei­ner Kis­te und hielt die Bei­ne auf ei­ner an­dern.

Wenn Rosa ein­trat und ei­ni­ge un­schlüs­si­ge Reb­huhn­schrit­te im en­gen Rau­me mach­te, dann flog ein mat­tes Lä­cheln über Lurchs Ge­sicht, und Am­bro­si­us rich­te­te sich has­tig aus sei­ner nach­läs­si­gen Stel­lung auf, zog sei­ne Man­schet­ten un­ter den Rock­är­meln her­vor und war ganz Sa­lon­mann. »Ah, Fräu­lein Herz! Gnä­di­ges Fräu­lein – hm, Sie su­chen wohl mei­ne Cou­si­ne?«

»Ja, ich habe mit Sal­ly zu spre­chen.«

»Sal­ly kommt so­fort, ge­wiss, mein gnä­di­ges Fräu­lein. Nicht wahr, Lurch? Ge­dul­den Sie sich einen Au­gen­blick, neh­men Sie mit un­se­rer Klau­se vor­lieb.«

»Oh, Herr von Tel­le­r­at, es hat kei­ne Eile.«

»Aber Sal­ly wird so­gleich hier sein. Neh­men Sie Platz, gnä­di­ges Fräu­lein. Sehr pri­mi­tiv, nicht? Ja, ja, sehr ar­ka­disch!«

Rosa setz­te sich. Am­bro­si­us stand ne­ben ihr und führ­te die Un­ter­hal­tung. Rosa schlug ihre Au­gen voll zu ihm auf, und er blick­te an­ge­strengt in die­se blau­en run­den Au­gen. Das mach­te für bei­de die­ses Zu­sam­men­sein zu ei­nem be­deu­tungs­vol­len.

»Gute Au­gen!« pfleg­te Am­bro­si­us spä­ter zu Lurch zu sa­gen.

»Wer? Ah, Fräu­lein Rosa!«

»Ja – hm – Fräu­lein Herz. Man muss eben ver­ste­hen, den rech­ten Fun­ken aus Wei­be­rau­gen her­aus­zu­schla­gen.« Am­bro­si­us kniff die Au­gen­li­der zu­sam­men, um die Metho­de an­zu­ge­ben. »Ver­ste­hen muss man das, da­mit die Mä­del einen so recht an­schau­en; die Au­gen auf­schla­gen und einen so plötz­lich an­se­hen, so – wis­sen Sie?«

»Ja.« Lurch ver­stand ihn.

Den gu­ten Her­weg hat­te Lan­ins schö­ner Nef­fe aus Ro­sas Her­zen ver­drängt. Am­bro­si­us hat­te auch viel vor Her­weg vor­aus, nicht nur den blan­ken Hut und die bes­ser ge­mach­ten Klei­der, son­dern auch – was mehr war – er hat­te vor Her­weg den fes­ten Glau­ben an sei­ne Un­wi­der­steh­lich­keit, die große, wah­re Be­wun­de­rung sei­ner selbst vor­aus. Er lieb­te Rosa, weil er es sich so vor­ge­nom­men hat­te. Aber es lag nicht in sei­ner Art, sich mit dem blo­ßen Be­wusst­sein ge­gen­sei­ti­ger Lie­be zu be­gnü­gen, dazu er­reg­te das leb­haf­te Mäd­chen mit dem schö­nen, klu­gen Lä­cheln, der nai­ven Kühn­heit sei­ner Ge­fall­sucht, den blan­ken, sinn­li­chen Au­gen viel zu leb­haf­te Wün­sche in Am­bro­si­us’ wei­chem Ge­mü­te. Halb war es die bru­ta­le Lüs­tern­heit ner­vö­ser Men­schen, halb die Be­harr­lich­keit des Ge­cken, der einen je­den zur Be­wun­de­rung zwin­gen will.

Ei­nes Sonn­tags, als Rosa am Lan­in­schen Hau­se vor­über­ging, stürm­te Fräu­lein Sal­ly an das Fens­ter und bat Rosa, so­fort her­ein­zu­kom­men, sie müs­se ih­ren Rat ein­ho­len.

Rosa fand den Lan­in­schen Sa­lon in sonn­täg­li­cher Ruhe und Ord­nung. Auf den Ti­schen la­gen schwar­ze An­dachts­bü­cher, die Mö­bel hat­ten sich der wei­ßen Über­zü­ge ent­le­digt und prang­ten im Voll­glanz des ro­ten Man­che­s­ters. Der star­ke Duft der Sonn­tags­kohl­sup­pe er­füll­te das Ge­mach, und Fräu­lein Sal­ly stand in die­ser At­mo­sphä­re fröh­lich und un­be­fan­gen, als wäre das ihr Ele­ment. Sie hat­te heu­te die Trau­er um den On­kel ab­ge­legt und trug ein net­tes wei­ßes Kleid, das bei je­dem Schritt an­ge­nehm knis­ter­te, als wäre Fräu­lein Sal­ly ein Pa­pier­korb.

»Ah, da bist du ja!« rief sie Rosa ent­ge­gen. »Der Cou­sin und ich – wir be­ra­ten uns hier eben über das Fest.«

Ein stol­zes Lä­cheln um­spiel­te Fräu­lein Sal­lys Lip­pen. Am­bro­si­us be­grüß­te Rosa mit ei­ner hüb­schen Ver­beu­gung und streck­te sich dann wie­der nach­läs­sig in sei­nem Ses­sel aus. Rosa ver­moch­te nur »Ah, wirk­lich!« zu er­wi­dern.

»Ja, mor­gen – du weißt«, sag­te Fräu­lein Sal­ly. »Setz dich, mein Herz. Es kommt näm­lich dar­auf an –« sie rieb sich ge­schäf­tig das Knie und schau­te ih­ren Vet­ter an.

»Ja«, ver­setz­te die­ser und lä­chel­te gut­mü­tig, »es kommt dar­auf an, wie man die­ses – hm – die­ses klei­ne Fest, die­sen klei­nen ge­müt­li­chen Tanz­abend, ei­gent­lich thé dan­sant, ge­hö­rig ar­ran­giert. Nun, ich – wenn die Da­men mei­ne Mei­nung hö­ren wol­len, ich –« Er schwieg und blies den Rauch sei­ner Zi­ga­ret­te durch die Nase.

Die bei­den Mäd­chen sa­hen ihn ge­spannt an, als aber nichts er­folg­te, er­griff Fräu­lein Sal­ly wie­der das Wort: »Die Trep­pe muss ge­schmückt wer­den.«

»Das kann nichts scha­den«, mein­te Am­bro­si­us.

»Ja, Pflan­zen – tro­pi­sche Pflan­zen«, fuhr Fräu­lein Sal­ly fort. »Ich habe vier Myr­then­stö­cke, du, Rosa, hast einen Gera­ni­um. Gott, es fin­det sich schon.«

»Vi­el­leicht könn­te man auch in den Sa­lon Blu­men stel­len?« schal­te­te Rosa ein.

Fräu­lein Sal­ly war un­schlüs­sig, Am­bro­si­us be­geis­ter­te sich aber für die­sen Ge­dan­ken. »Ge­wiss, Grup­pen, warum nicht? Sehr gut – hm – Grup­pen.«

»Gut also.« Fräu­lein Sal­ly fuhr mit der Hand über ihr Knie, zum Zei­chen, dass die­ser Punkt ab­ge­tan sei. »Wir kom­men jetzt zu den Er­fri­schun­gen. Zum Be­ginn Kaf­fee, na­tür­lich. Ich habe mir ge­dacht, ein Vier­tel Zi­cho­rie, und so – du weißt? Wäh­rend des Tan­zes wer­den But­ter­bro­te ge­reicht. Vi­el­leicht – viel­leicht er­laubt es der Papa, die Pa­ri­ser an­zu­schnei­den, das wäre himm­lisch!« Fräu­lein Sal­ly zähl­te alle Genüs­se des Fes­tes eif­rig auf. Sie ver­stand es, den ge­wöhn­lichs­ten Din­gen einen Nim­bus des Groß­ar­ti­gen und Vor­neh­men zu ge­ben, nur durch die Art, in der sie von ih­nen sprach.

Am­bro­si­us gab auch Ratschlä­ge in sei­ner nach­läs­si­gen, mit­lei­di­gen Wei­se. Sei­ne Plä­ne zeich­ne­ten sich je­doch durch zu große Über­schweng­lich­keit aus. So woll­te er im Da­men­zim­mer ein Zelt aus Sei­den­ga­ze auf­schla­gen und es mit bun­ten Lam­pen er­leuch­ten.

Fräu­lein Sal­ly war dem nicht ganz ab­ge­neigt; sie mein­te, man kön­ne dazu die baum­wol­le­nen Bett­vor­hän­ge ih­rer Mut­ter und die Spei­se­zim­mer­lam­pe ver­wen­den.

 

Rosa mach­te hin und wie­der auch einen Vor­schlag, den Fräu­lein Sal­ly ge­wöhn­lich be­kämpf­te und den Am­bro­si­us warm ver­trat.

Es däm­mer­te; die Ecken des Ge­ma­ches wur­den ganz fins­ter, nur in der Nähe des Fens­ters lag noch ein un­si­che­res Licht.

Fräu­lein Sal­ly sprach eif­rig, die bei­den and­ren wa­ren ein­sil­big. Nur sel­ten schal­te­te Am­bro­si­us ein »Hm« oder einen zu­sam­men­hang­lo­sen Satz ein. Er war mit an­de­ren Din­gen be­schäf­tigt. Vor­sich­tig hat­te er Ro­sas Hand er­grif­fen und hielt nun die­ses wil­len­lo­se, war­me klei­ne Ding, leg­te es dann wie­der fort, um eine sehr hei­ße Wan­ge zu strei­fen.

Fräu­lein Sal­ly war bei ih­rer Toi­let­te an­ge­langt. »Nicht wahr, denkst du nicht auch?« wand­te sie sich an ihre Freun­din, die nur ein hei­se­res »Ja« ver­lau­ten ließ. Fräu­lein Sal­ly wun­der­te sich nicht dar­über. Sie wuss­te, ein hüb­sches Kleid war für Rosa ein un­lieb­sa­mes The­ma. Na­tür­lich, sie hat­te ja nur das wei­ße Mus­se­lin­kleid, das sie schon zu ih­rer Ein­seg­nung ge­tra­gen, das arme Mäd­chen.

Der Mond kam plötz­lich über dem Gie­bel des ge­gen­über­lie­gen­den Hau­ses zum Vor­schein und zeich­ne­te das Fens­ter­kreuz auf den Estrich, groß und schwarz auf gol­de­nem Grun­de. Alle schwie­gen. Fräu­lein Sal­ly neig­te das Köpf­chen und blick­te zum Fens­ter hin­über. Rosa rück­te ih­ren Stuhl in den Mond­schein hin­ein und saß still und fei­er­lich da; sie fühl­te, sie sei schön. Am­bro­si­us starr­te sie, rot vor Er­re­gung, an; auch Fräu­lein Sal­ly konn­te ihre Be­wun­de­rung die­ser blon­den, mond­be­glänz­ten Ge­stalt nicht ver­sa­gen; um auch ih­ren Teil an die­ser Schön­heit zu ha­ben, beug­te sie sich an Rosa her­an, leg­te die brau­nen Löck­chen an die blon­den Zöp­fe und sag­te zärt­lich: »Mein lie­bes, lie­bes Herz!«

»Es ist spät«, ver­setz­te Rosa ernst und ge­rührt, wie es Mäd­chen zu sein pfle­gen, die sich ge­ra­de schön wis­sen. Sie er­hob sich, um heim­zu­ge­hen. Das Mond­licht war so hell, dass es fast wie Ta­ges­licht über dem Städt­chen lag. Ein bläu­li­cher Glanz er­füll­te die Luft und blitz­te auf den Fens­ter­schei­ben. Rosa ging lang­sam ihre Wege, sah in die Mond­schei­be und at­me­te has­tig und tief, als lie­ße sich das Licht trin­ken. Mit­ten auf dem Markt­platz stand der Apo­the­ker und hielt sei­ne Uhr ge­gen den Mond, um zu se­hen, wie spät es sei. Aus dem Fens­ter ei­nes Erd­ge­schos­ses beug­te sich eine Dienst­magd her­aus und leg­te ihre mäch­ti­gen nack­ten Arme vor sich auf das Fens­ter­brett, um sie in der Abend­luft zu küh­len, ne­ben ihr saß ein Bur­sche und hielt mit bei­den Hän­den des Mäd­chens di­cke, rote Ba­cken. In ei­nem Win­kel zwi­schen zwei Häu­sern stand die Tröd­ler­s­toch­ter Ida Wulf mit ih­rem Schus­ter­bu­ben. Sie dräng­ten sich an­ein­an­der und ki­cher­ten.

Rosa hör­te ei­li­ge Schrit­te hin­ter sich und blieb ste­hen. Am­bro­si­us war es, au­ßer Atem und sehr er­regt: »Oh! Fräu­lein Herz, gnä­di­ges Fräu­lein, ge­hen Sie schon heim?«

»Ja, es ist spät«, er­wi­der­te Rosa und be­gann mit klei­nen Schrit­ten wei­ter­zu­ge­hen.

»Ja! – hm – Oh, gnä­di­ges Fräu­lein, ich woll­te nur… ich muss. Sie sind mein Ide­al; ge­wiss, mein Ide­al!« Nun ward er feu­rig: »Vor­hin – im Mond­schein, Sie wa­ren zu schön. Ich muss es Ih­nen sa­gen. – Sei­en Sie nicht grau­sam, Sie sind ein En­gel – hm – mein En­gel.« – Rosa war be­stürzt, den­noch kam ihr der Ge­dan­ke: »Jetzt ist der Au­gen­blick ge­kom­men, so muss es sein! Jetzt muss et­was ge­sche­hen, und wenn du nichts sagst und nichts tust, dann ist es vor­über.« Aber sie sag­te und tat nichts.

»Müs­sen Sie wirk­lich nach Hau­se?« frag­te Am­bro­si­us schmel­zend.

»Ja, mein Va­ter er­war­tet mich.«

»Wir müs­sen also schei­den. Ge­ben Sie mir Ihre Hand, o Lie­be!« Am­bro­si­us nahm Ro­sas Hand, dann Rosa selbst und küss­te ihre Lip­pen, dann ließ er sie los. Schwei­gend und zit­ternd stan­den sich bei­de ge­gen­über. Schrit­te wur­den hör­bar. »Auf Wie­der­sehn«, flüs­ter­te Am­bro­si­us, »mein Ide­al« – und has­tig fuh­ren sie aus­ein­an­der.

An der Trep­pe der Herz­schen Woh­nung fand Rosa Ida Wulf. Das Ju­den­mäd­chen rich­te­te sei­ne schwar­zen Au­gen for­schend auf Rosa und lä­chel­te ein al­tes, über­le­ge­nes Lä­cheln.

»Nun, Ida, was treibst du?« frag­te Rosa.

»Nichts, Fräu­lein Rosa. Schön ist es heu­te.« Rosa nick­te. »Fräu­lein Rosa«, fuhr Ida lei­se fort und leg­te zwei ma­ge­re brau­ne Hän­de auf Ro­sas Arm. »Die­ser jun­ge Herr bei Lan­ins, der ist schön, nicht? Ich bin auch ver­liebt in ihn.« Rosa schlug die Au­gen nie­der und sag­te un­si­cher: »Du soll­test um die­se Zeit schon zu Bet­te sein, Ida.«

Das Ju­den­mäd­chen lach­te. »Nein! Ich blei­be lan­ge drau­ßen. Aber Fräu­lein Rosa, ich ken­ne vie­le, vie­le Stel­len, wo man zu­sam­men sein kann. Sie wis­sen, Fräu­lein Rosa, so al­lein. Der Pe­ter, Sie wis­sen, Fräu­lein Rosa, der gars­ti­ge Schus­ter­bub und ich, wir wis­sen alle sol­che Stel­len. Soll ich sie Ih­nen zei­gen, Fräu­lein Rosa?« Da­bei nahm Ida einen von Ro­sas Zöp­fen und wog ihn in der fla­chen Hand. »Wozu?« er­wi­der­te Rosa. »Was machst du denn dort mit dem Schus­ter­bu­ben?« füg­te sie hin­zu und blick­te über das Ju­den­mäd­chen hin­weg.

»Wo?« frag­te Ida ernst.

»Nun – an – an je­nen Stel­len« – – –

»Oh, der Pe­ter!« ki­cher­te Ida, »wie der gars­tig ist – das kann ich Ih­nen gar nicht sa­gen, Fräu­lein Rosa.« Mit die­sen Wor­ten lief Ida da­von. Rosa stand noch einen Au­gen­blick sin­nend an der Trep­pe und hör­te die schwe­ren Schu­he des Ju­den­mäd­chens die Stra­ße hin­ab­klap­pern.

Zehntes Kapitel

Am Mon­ta­ge fand Fräu­lein Schank ihre Schü­le­rin­nen nicht all­zu flei­ßig bei der Ar­beit. Die pflicht­treues­ten – selbst Ma­ri­an­ne Schulz – hat­ten Au­gen­bli­cke gänz­li­cher : Geis­tes­ab­we­sen­heit. Fräu­lein Sal­ly war stolz und sin­nend, als las­te eine große Verant­wor­tung auf ihr. Fräu­lein Schank zeig­te sich heu­te nach­sich­tig ge­gen den Man­gel an Auf­merk­sam­keit. Sie be­nütz­te nur die Ge­le­gen­heit, um eine Rede zu hal­ten, in der sie die The­se auf­stell­te: »Nur nach ge­ta­ner Ar­beit schmeckt das Ver­gnü­gen.« Die­se Be­haup­tung soll­te auch das The­ma für die nächs­te schrift­li­che Ar­beit sein. Die nächs­te Ar­beit? Gro­ßer Gott, wie fern lag die! Die nächs­te Ar­beit? – Also in ei­ner Zeit, da der Ball längst vor­über sein wird. Nach dem Ball! Das war eine Zeit­rech­nung, die kei­ner be­griff. Ma­ri­an­ne Schulz riss ihre Au­gen auf, als Fräu­lein Schank die Auf­ga­be für den fol­gen­den Tag stell­te. Das Wort »Die Ge­sell­schaft«, das Fräu­lein Sal­ly so groß­ar­tig aus­zu­spre­chen ver­stand, er­füll­te Ma­ri­an­ne mit an­däch­ti­ger Freu­de. Sie, die kaum an den großen Au­gen­blick zu den­ken wag­te, in dem sie wirk­lich das wei­ße Mus­se­lin­kleid und den grü­nen Gür­tel wür­de an­le­gen dür­fen, sie soll­te an einen Tag glau­ben, da al­les vor­über sein wür­de? Das konn­te sie nicht, Fräu­lein Schank dünk­te ihr eine Kas­san­dra, die un­heim­li­che, trau­ri­ge Schick­salss­prü­che in die Welt hin­aus­ruft.

Nun – und dann war er da, die­ser große, be­se­li­gen­de Abend.

Der Kron­leuch­ter des Lan­in­schen Saa­l­es strahl­te. Der Estrich war wohl­ge­bohnt. Die Stie­gen prang­ten im Schmuck der Gir­lan­den, die den Ein­tre­ten­den mit dem an­ge­neh­men Fest­duft wel­ken­der Krän­ze um­weh­ten. Fräu­lein Sal­ly, in ei­nem blau­en Tar­la­tan­klei­de, stand re­gungs­los un­ter dem Kron­leuch­ter und harr­te ih­rer Gäs­te. Sie leg­te einen Fin­ger an die Lip­pen und wand­te den Kopf zu­rück, mit der zar­ten An­mut je­ner Da­men in den Mo­de­blät­tern, un­ter de­nen »Rück­sei­te der Ball­toi­let­te« zu le­sen ist.

Rosa war die ers­te, die in den Saal trat. Ja, sie trug das wei­ße Ein­seg­nungs­kleid; aber ei­ni­ge rote Hau­ben­bän­der aus dem Nach­lass des Fräu­lein Ina ga­ben ihm ein neu­es, bun­tes An­se­hen. Und dann – die­ses kind­li­che Kleid, in dem Rosa fromm und an­däch­tig vor dem Al­tar ge­stan­den, es war so­weit ver­welt­licht, dass es ihr Hals und Schul­tern frei ließ. Die Haa­re bil­de­ten über dem Schei­tel einen Strauß von Löck­chen, und mit­ten in ih­nen saß eine rote Ka­me­lie, auf der sich eine blaue Li­bel­le wieg­te. Dass das Rot der Ka­me­lie ein we­nig ver­gilbt war, dass der Li­bel­le ein Flü­gel fehl­te – wer sah das? – au­ßer Fräu­lein Sal­ly, die mit ei­nem Blick alle Män­gel des An­zugs ih­rer Freun­din her­aus­ge­fun­den hat­te. Män­gel wa­ren ge­nug da; den­noch woll­te es Fräu­lein Sal­ly schei­nen, als sei der Tri­umph des blau­en Tar­la­tan über den wei­ßen Mus­se­lin nicht voll­stän­dig. In Ro­sas An­zug lag et­was Ge­woll­tes, Küh­nes, et­was, das man an Schank­schen Schü­le­rin­nen nicht ge­wohnt war. Statt des In­be­griffs ei­ner Ball­toi­let­te, statt des wei­ßen Klei­des, der ro­sen­far­be­nen Schär­pe und dem Ro­sen­kranz auf dem glatt­ge­schei­tel­ten Haar hat­te die­ses Kleid, das so weit von den Schul­tern her­ab­fiel, hat­ten die ro­ten Bän­der, die ni­cken­den Lo­cken, hat­te al­les in Fräu­lein Sal­lys Au­gen das Über­ra­schen­de und Aben­teu­er­li­che ei­nes Mas­ken­an­zu­ges. Es war un­schick­lich, ja! – und doch…

»Ah! Rosa! Schön, dass du die ers­te bist«, rief Fräu­lein Sal­ly und lä­chel­te, als wür­den auch ihre Lip­pen von ei­nem zu en­gen Schnür­leib be­drückt. »Ich mein­te, ich könn­te dir hel­fen«, er­wi­der­te Rosa. Sie küss­ten sich, lang­sam die Köp­fe zu­ein­an­der nei­gend – vor­sich­tig – um die Klei­der nicht zu zer­knit­tern. Dann gin­gen sie, mit klei­nen Schrit­ten, ne­ben­ein­an­der auf und ab, weh­ten sich Küh­lung mit den Ta­schen­tü­chern zu und un­ter­hiel­ten sich höf­lich – kur­ze Sät­ze, bei de­nen die Bli­cke zer­streut im Ge­mach um­her­irr­ten. Fräu­lein Sal­ly er­klär­te die Ein­rich­tung: »Hier das Da­men­zim­mer. Sehr gut – nicht wahr? – – Hier das Zo­fen­zim­mer –; du weißt, je­mand tritt ei­nem auf die Schlep­pe – ein Band – oder so­was… eine Zofe ist im­mer nö­tig.« Das Zo­fen­zim­mer war ziem­lich düs­ter, nur eine Ker­ze brann­te in dem­sel­ben. Zwei Zo­fen wa­ren be­reits da. Ag­nes Stock­mai­er und Fräu­lein Sul­ler, die Wirt­schaf­te­rin der Lan­ins. Sie sa­ßen vor ih­ren Kaf­fee­tas­sen, steck­ten die grei­sen Köp­fe zu­sam­men und plau­der­ten lei­se. »Gut?« frag­te Fräu­lein Sal­ly.

»Ja, o ja!« er­wi­der­te Rosa, ob­gleich es ihr schi­en, als habe die­ses Ge­mach, mit sei­ner tief bren­nen­den Ker­ze, mit den bei­den alt­be­kann­ten Ge­sich­tern, et­was All­täg­li­ches an sich, das zu dem großen Abend nicht recht stim­men woll­te. Sie hat­te sich ein Zo­fen­zim­mer doch an­ders ge­dacht.

Die Gäs­te ka­men. Ein Flüs­tern, ein Rau­schen der Män­tel und Tü­cher – dann zo­gen sie ein in lan­gen Rei­hen, die Da­men in wei­ßen Klei­dern mit bun­ten Bän­dern. Run­de Krän­ze la­gen auf den spie­gelblan­ken Lo­cken; die Hän­de, in wei­ßen Hand­schu­hen, drück­ten sich fest an den Gür­tel. Eine Schar Kon­fir­man­den, die mit den wei­ßen Klei­dern auch die fei­er­lich erns­ten Ge­sich­ter an­ge­legt hat­ten. Un­si­cher trip­pel­ten sie über den glat­ten Fuß­bo­den und blin­zel­ten zum Kron­leuch­ter auf. Hin­ter ih­nen die Müt­ter in dunklen Sei­den­ro­ben. Freund­li­che Ge­sich­ter, die aus großen Spit­zen­hau­ben her­vor­lä­chel­ten. End­lich die Her­ren – sehr kor­rekt in schwar­zen Frä­cken und mit stark ge­öl­tem Haar. Schü­ler gin­gen Arm in Arm im Saal um­her, stie­ßen sich in die Sei­te und ki­cher­ten. Hand­lungs­die­ner stell­ten sich an die Wand und mach­ten Ver­beu­gun­gen. Herr Klappe­kahl er­schi­en mit sei­ner Toch­ter Er­nes­ti­ne, ei­nem großen blon­den Mäd­chen, das nicht mehr die Schu­le be­such­te, ein gel­bes Schlepp­kleid, einen Veil­chen­kranz und einen Fä­cher trug. Herr La­nin, ein Stück Or­dens­band im Knopf­loch, be­grüß­te sei­ne Gäs­te wohl­wol­lend und wür­dig, wäh­rend sei­ne Gat­tin – in grau­er Sei­de – mäch­tig und lie­bens­wür­dig grü­ßend durch die Men­ge schritt. An­fangs gab es ein stei­fes, un­be­hag­li­ches Um­her­ste­hen, bis Fräu­lein Sal­ly die Da­men zu den Sit­zen nö­tig­te, ei­ni­ge bei den Hän­den nahm und sie zu den Stüh­len führ­te – mit ei­ner Mie­ne, auf der deut­lich die Pf­licht­er­fül­lung zu le­sen war. Die Müt­ter setz­ten sich auf So­fas und be­gan­nen ihre Ge­sprä­che über Dienst­bo­ten; Ge­sprä­che, die den Töch­tern eine Pro­fa­na­ti­on des Abends dünk­ten. Herr La­nin klopf­te dem Dok­tor auf den Rücken und for­der­te ihn zu ei­ner Par­tie auf; »wäh­rend die Ju­gend hüpft« – und sie ta­ten bei­de der Ju­gend leid. Klappe­kahl blieb im Saal. Mit knar­ren­den Stie­feln ging er zwi­schen den Da­men um­her, lach­te, scherz­te – mit rit­ter­li­chen Be­we­gun­gen ei­nes al­ten Sa­lon­hel­den –, steck­te sein Ge­sicht noch zu den er­rö­ten­den Mäd­chen­ge­sich­tern und wei­ßen Kin­der­schul­tern und er­götz­te sich als raf­fi­nier­ter Groß­städ­ter an all den auf­blü­hen­den Frau­en­rei­zen. Rosa stand mit­ten im Saal und sprach mit Her­weg über die Hit­ze des heu­ri­gen Som­mers: je­doch Am­bro­si­us’ Aus­blei­ben be­un­ru­hig­te sie. End­lich kam er. Spät – na­tür­lich! Er hat­te einen Spa­zier­gang ge­macht, der Abend war so schön! Sein An­zug war un­ta­del­haft. Wie eine wei­ße Rüs­tung wölb­te sich die Wä­sche aus der weit­aus­ge­schnit­te­nen Wes­te her­vor. Die Lo­cken glänz­ten und duf­te­ten zu bei­den Sei­ten des Schei­tels. Er fä­chel­te sich Luft mit sei­nem Hute zu sprach mit den Müt­tern. Oh, er war be­wun­de­rungs­wür­dig mit sei­ner hei­te­ren, un­be­fan­ge­nen Ruhe in die­sem Au­gen­blick, der alle an­de­ren mit an­däch­ti­ger Steif­heit er­füll­te!

 

Er­fri­schun­gen wa­ren ge­reicht wor­den. Die Da­men wisch­ten sich zart die Fin­ger­spit­zen an ih­ren Ta­schen­tü­chern und sa­ßen ge­ra­de da. Der Tanz soll­te be­gin­nen; es war je­doch nicht leicht, den An­fang zu ma­chen, da mein­te Am­bro­si­us, un­be­fan­gen lä­chelnd, als hand­le es sich um einen ge­ring­fü­gi­gen, lus­ti­gen Um­stand: »Nun, Cou­si­ne, tan­zen wir nicht?« – – »Oh, ge­wiss, Cou­sin! Ma­chen Sie den An­fang, bit­te – bit­te.« Man rief nach Mu­sik. Fräu­lein Wut­ter, die Mu­sik­leh­re­rin der Schank­schen Schu­le, setz­te sich an das Kla­vier, und die Mu­sik spiel­te einen Wal­zer. Am­bro­si­us er­griff sei­ne Cou­si­ne und dreh­te sie an­mu­tig im Saal her­um. Der Bann war ge­bro­chen! Die Müt­ter stri­chen sich die Sei­den­klei­der glatt und schau­ten lä­chelnd in das wir­re Durchein­an­der flat­tern­der Bän­der und wei­ßer Klei­der. Die Ka­va­lie­re stie­ßen und dräng­ten sich, um zu den Da­men zu ge­lan­gen und sie mit has­ti­gen, schie­fen Ver­beu­gun­gen zum Tanz auf­zu­for­dern; und die Da­men, mit nie­der­ge­schla­ge­nen Au­gen, er­hitz­ten Wan­gen, lie­ßen sich an­däch­tig durch den Saal schwen­ken. – – Rosa tanz­te mit Am­bro­si­us. Er drück­te ihre Hand mit ei­ner ab­ge­run­de­ten Be­we­gung auf sein Herz und blick­te ge­fühl­voll auf sie nie­der. »Oh, gnä­di­ges Fräu­lein! Ich habe viel an den gest­ri­gen Abend ge­dacht – an Sie – an den Mond – es war köst­lich!« – »Ich auch«, er­wi­der­te Rosa und schlug ihre Au­gen lang­sam zu ihm auf, ge­ho­ben von dem Ge­fühl, dass sie et­was Küh­nes, Un­er­hör­tes be­gin­ne. Als sie an der Türe vor­über­tanz­ten, sah Rosa ih­ren Va­ter dort ste­hen. Lä­chelnd wieg­te er sein wei­ßes Haupt nach dem Tak­te der Mu­sik und blick­te kri­tisch auf die vor­über­tan­zen­den Füße. Dies grei­se, lä­cheln­de Männ­lein er­schi­en Rosa ein we­nig ver­ächt­lich und ih­rer nicht ganz wür­dig. – Der Kron­leuch­ter warf durch den auf­ge­wir­bel­ten Staub ein röt­li­ches Licht auf die wo­gen­de Schar. Das Lä­cheln auf den Lip­pen der zu­schau­en­den äl­te­ren Leu­te nahm eine müde Ste­tig­keit an, wäh­rend die Tan­zen­den schwei­gend atem­los und eif­rig da­hin­stürm­ten.

Fräu­lein Sal­ly wur­de sehr ge­fei­ert, und bei je­dem neu­en Tän­zer, der sei­nen Arm um ihre schlan­ke, fes­te Tail­le leg­te, be­trieb sie das Tan­zen ru­hi­ger, ge­schäfts­mä­ßi­ger. Sie mach­te einen äu­ßerst rou­ti­nier­ten Ein­druck, und das woll­te sie. Rosa war auch viel um­wor­ben, ihre Tri­um­phe er­reg­ten sie je­doch, ihre Lip­pen wur­den heiß und die Au­gen leuch­tend, »wie Gi­ran­do­len«, sag­te Klappe­kahl mit ei­nem groß­städ­ti­schen Fremd­wort. In der Tat! Sie fühl­te sich heu­te schön und an­zie­hend. Ihr war es, als ste­he sie hoch über ih­ren Ge­nos­sin­nen, als käme sie aus ei­ner frem­den, vor­neh­men Welt in die­se Ge­sell­schaft be­schränk­ter Schü­le­rin­nen und dürf­te mit Ver­ach­tung auf die schüch­ter­nen Back­fisch­ma­nie­ren und en­gen Vor­ur­tei­le die­ser klei­nen Mäd­chen mit den hoch über die Schul­tern ge­hen­den Klei­dern her­ab­se­hen. Sie sprach wäh­rend der Rund­tän­ze. Sie wur­de müde. und die Her­ren muss­ten lan­ge ne­ben ihr war­ten. Sie for­der­te den Apo­the­ker zu ei­nem Wal­zer auf, und als er ihr viel Lie­bens­wür­di­ges zu­flüs­ter­te, gab sie necki­sche Ant­wor­ten, die alle mit »mein Herr« be­gan­nen oder schlos­sen. Oh, viel hat­te sie heu­te abend ge­lernt! War sie nicht eine ganz an­de­re Per­son? Wie im Fie­ber, aber in ei­nem be­glücken­den, er­he­ben­den Fie­ber, flat­ter­te sie durch den Saal. Die Über­zeu­gung, der Mit­tel­punkt des Fes­tes zu sein, ver­schön­te sie.

Klappe­kahl beug­te sich nah an Fräu­lein Schanks brau­ne Ban­deaux her­an und flüs­ter­te: »Se­hen Sie doch die Rosa Herz. Wel­che ver­ve! Die schaut nicht aus, als käme sie aus Ih­rer Schu­le.«

»Ach was«, mein­te das Fräu­lein und mach­te ein Ge­sicht, als habe Klappe­kahl wie­der sei­ne Auf­ga­be nicht ge­lernt. »Sie wer­den das Kind ganz zur När­rin ma­chen; es ist oh­ne­hin heu­te laut ge­nug.«

»Büh­nen­blut!« ki­cher­te Klappe­kahl, »aber fa­mos – die­se Büs­te!« Fräu­lein Schank tat. als höre sie ihn nicht, und saß ernst und ge­ra­de da.

Es wur­de eine Pau­se ge­macht, die Da­men soll­ten sich vor dem Sou­per er­ho­len. Die Mäd­chen leg­ten ihre nack­ten Arme in­ein­an­der und gin­gen lang­sam im Saa­le auf und ab. Die Her­ren lehn­ten an der Wand und flüs­ter­ten mit­ein­an­der. Nur Am­bro­si­us hat­te sich den Da­men an­ge­schlos­sen. Mit klei­nen Schrit­ten ne­ben ih­nen ein­her­ge­hend, führ­te er die Un­ter­hal­tung. Er schil­der­te Fräu­lein Klappe­kahl den Ein­druck, den der ers­te Thea­ter­abend auf ihn ge­macht hat­te, wie ein Traum sei ihm al­les er­schie­nen, er habe vor Auf­re­gung fast mit­ge­spro­chen, und spä­ter habe er die gan­ze Nacht über ge­weint, denn er sei ein ner­vö­ses, phan­tas­ti­sches Kind ge­we­sen, so­zu­sa­gen »phan­tas­tisch-träu­me­risch«

Rosa lehn­te ein­sam in der Türe des Da­men­zim­mers und schau­te sin­nend in den Saal hin­ein. Sie durf­te heu­te nicht das tun, was ihre Ge­nos­sin­nen ta­ten; sie hat­te einen Nim­bus zu wah­ren. Die Wür­de ei­ner Ball­kö­ni­gin war ihr noch zu neu, und sie fürch­te­te be­stän­dig, die­se Wür­de zu ver­let­zen. Je­der Au­gen­blick, der sie an die gest­ri­ge, ge­wöhn­li­che Rosa Herz er­in­ner­te, be­drück­te sie. Die Kühn­heit, mit der sie ei­ni­ge Schü­ler ne­ben sich hat­te war­ten las­sen, mit der sie wäh­rend des Tan­zes ge­spro­chen und ge­lacht, mach­te sie in ih­ren Au­gen – zu ei­ner glän­zen­den, mut­wil­li­gen Ge­sell­schafts­ni­xe, die alle Her­zen be­tört und selbst ein ge­heim­nis­vol­les Herz un­ter dem knap­pen Mie­der trägt. Gro­ßer Gott! We­ni­ge rote Bän­der, ei­ni­ge Hand­lungs­die­ner, die sich um einen Wal­zer sto­ßen, ei­ni­ge nei­di­sche Freun­din­nen­au­gen ma­chen aus ei­nem glück­s­ar­men Mäd­chen eine über­mü­ti­ge Ball­kö­ni­gin! Gebt solch ei­nem jun­gen Her­zen, das in sei­nem kärg­li­chen Le­ben stets von gren­zen­lo­ser Se­lig­keit träumt, gebt ihm einen klei­nen Au­gen­blick ganz ge­wöhn­li­cher Lus­tig­keit, und es wird in die­sem einen lus­ti­gen Au­gen­blick eine gan­ze Se­lig­keit hin­ein­zwän­gen. Rosa gab sich – dort am Tür­pfos­ten – ei­nem tie­fen weh­mü­ti­gen Sin­nen hin, das sie den­noch glück­lich mach­te. Denn ne­ben der schö­nen, ge­fei­er­ten Rosa leb­te noch Rosa, die Schank­sche Schü­le­rin im wei­ßen Mus­se­lin­klei­de, und die­se be­wun­der­te das trau­ri­ge Sin­nen der ge­fei­er­ten Rosa.