Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Zweites Kapitel

Der Mor­gen däm­mer­te, als Dora­li­ce er­wach­te. So war es jetzt im­mer, wenn sie sich nie­der­leg­te, schlief sie schnell und tief ein, aber lan­ge vor Son­nen­auf­gang er­wach­te sie, und es war mit dem Schlaf zu Ende. Dann lag sie da, die Arme er­ho­ben, die Hän­de auf ih­rem Schei­tel ge­fal­tet, die Au­gen weit of­fen und schau­te der graublau­en Hel­lig­keit zu, wie sie durch die weiß- und rot­ge­streif­ten Gar­di­nen in das Zim­mer drang, den Wasch­tisch, die bei­den plum­pen Stüh­le, den großen gel­ben Holz­schrank aus der Däm­me­rung her­aus­schäl­te, das Zim­mer er­hell­te, ohne es zu be­le­ben, gleich­sam ohne es zu we­cken. Und die­ses Zim­mer, klein wie eine Schiffs­ka­bi­ne, er­schi­en Dora­li­ce als et­was ganz und gar nicht zu ihr Ge­hö­ri­ges. Sie lag da wohl in dem schma­len Bett un­ter der häss­li­chen rosa Kattun­de­cke, aber sie hat­te nicht die Emp­fin­dung, als sei die­ses die Wirk­lich­keit, wirk­lich für sie war noch die Welt des Traums, aus der sie eben em­portauch­te. Jede Nacht führ­te er sie in ihr frü­he­res Le­ben zu­rück, jede Nacht muss­te sie ihr frü­he­res Le­ben wei­ter le­ben. Am bes­ten war es noch, wenn sie sich in dem al­ten Hei­mats­hau­se ih­rer frü­hen Ju­gend dort in der klei­nen Pro­vinz­stadt be­fand. Ihre Mut­ter lag wie­der auf der Cou­chet­te, hat­te Mi­grä­ne und eine Kom­pres­se von Köl­ni­schem Was­ser auf der Stirn. Sie hör­te wie­der die kla­gen­de Stim­me: »Mein Kind, wenn du ver­hei­ra­tet sein wirst und ich nicht mehr sein wer­de, dann wirst du an das, was ich dir ge­sagt habe, oft zu­rück­den­ken.« Und die­ses Wort »wenn du ver­hei­ra­tet sein wirst«, das in den Ge­sprä­chen ih­rer Mut­ter im­mer wie­der­kehr­te, gab Dora­li­ce wie­der das an­ge­neh­me, ge­heim­nis­vol­le Er­war­tungs­ge­fühl. Drau­ßen der schat­ten­lo­se Gar­ten lag gelb vom Son­nen­schein da, die lan­gen Rei­hen der Jo­han­nis­beer­bü­sche, das Beet mit den Chrysan­the­men, die fast kei­ne Blät­ter und stark ge­schwol­le­ne bron­ze­far­be­ne Her­zen hat­ten. Auf der Gar­ten­bank schlum­mer­te Miss Plum­mers. Das gute alte Ge­sicht rö­te­te sich in der Mit­tags­hit­ze. Dora­li­ce ging un­ru­hig in Kies­we­gen auf und ab, das ein­tö­ni­ge som­mer­li­che Sur­ren um sie her kam ihr wie die Stim­me der Ein­sam­keit und der Er­eig­nis­lo­sig­keit vor. Aber ge­ra­de hier in dem al­ten Gar­ten fühl­te sie es stets am deut­lichs­ten, dass dort jen­seits des Gar­ten­zau­nes eine schö­ne Welt der Er­eig­nis­se auf sie war­te­te. Sie fühl­te es kör­per­lich als selt­sa­me Un­ru­he in ih­rem Blut, sie hör­te es fast, wie wir das Stim­men­ge­wirr ei­nes Fes­tes hö­ren, vor des­sen ver­schlos­se­nen Tü­ren wir ste­hen. Nun und dann war die­se Welt ge­kom­men, in Ge­stalt des Gra­fen Köh­ne-Jas­ky, des hüb­schen äl­te­ren Herrn, der so stark nach new mown hay roch, Dora­li­ce so ver­blüf­fen­de Kom­pli­men­te mach­te und so un­ter­hal­ten­de Ge­schich­ten er­zähl­te, in de­nen stets kost­ba­re Sa­chen und schö­ne Ge­gen­den vor­ka­men. Dass Dora­li­ce ei­nes Ta­ges ihr wei­ßes Kleid mit der rosa Schär­pe an­zog, dass ihre Mut­ter sie wei­nend um­arm­te und der klei­ne kohl­schwar­ze Schnurr­bart des Gra­fen sich in ei­nem Kus­se auf ihre Stirn drück­te, war et­was, das selbst­ver­ständ­lich not­wen­dig war, et­was, auf das Mut­ter und Toch­ter ihr bis­he­ri­ges Le­ben über ge­war­tet zu ha­ben schie­nen.

Am häu­figs­ten aber be­fand Dora­li­ce sich im Traum in dem großen Sa­lon der Dresd­ner Ge­sandt­schaft. Im­mer lag dann ein win­ter­li­ches Nach­mit­tags­licht auf dem blan­ken Par­kett. In den sü­ßen Duft der Hya­zin­then, die in den Fens­tern stan­den, misch­ten die großen Öl­bil­der an der Wand einen leich­ten Ter­pen­tin­ge­ruch. Von der an­de­ren Sei­te des Saals kam ihr Ge­mahl ihr ent­ge­gen, sehr schlank in sei­nen schwar­zen Rock ge­knüpft, die Bart­kom­mas auf der Ober­lip­pe hin­auf­ge­stri­chen. Ein we­nig zu zier­lich aber hübsch sah er aus, wie er so auf sie zu­kam, die glat­te wei­ße Stirn, die re­gel­mä­ßi­ge Nase, die lan­gen Au­gen­wim­pern. Al­lein der Traum spiel­te ein selt­sa­mes Spiel, je nä­her der Graf kam, umso äl­ter wur­de dies Ge­sicht, es welk­te, es ver­wit­ter­te zu­se­hends. Er leg­te den Arm um Dora­li­cens Tail­le, nahm ihre Hand und küss­te sie. »Schar­mant, schar­mant«, sag­te er, »wie­der eine rei­zen­de Auf­merk­sam­keit. Wir ha­ben un­se­re Aus­fahrt auf­ge­ge­ben, weil wir wuss­ten, dass der Ge­mahl heut nach­mit­tag ein Stünd­chen frei hat. Da wol­len wir ihm Ge­sell­schaft leis­ten und ihm selbst den Tee ma­chen. Gute Ehe­frau­en habe ich schon ge­nug ge­se­hen, Gott sei Dank, es gibt noch wel­che, aber ma pe­ti­te com­tes­se ist eine raf­fi­nier­te Künst­le­rin in Ehe­de­li­ka­tes­sen.« Dora­li­ce schwieg und press­te ihre Lip­pen fest auf­ein­an­der und hat­te das un­an­ge­nehm be­en­gen­de Ge­fühl, er­zo­gen zu wer­den. Na­tür­lich hat­te sie aus­fah­ren wol­len, na­tür­lich hat­te sie gar nicht ge­wusst, dass der Ge­mahl heu­te eine Stun­de frei hat­te und hat­te auch gar nicht die Ab­sicht ge­habt, ihm Ge­sell­schaft zu leis­ten. Al­lein das war sei­ne Er­zie­hungs­me­tho­de, er tat, als sei Dora­li­ce so, wie er sie woll­te. Er lob­te sie be­stän­dig für das, was er doch erst in sie hin­ein­le­gen woll­te, er zwang ihr gleich­sam eine Dora­li­ce nach sei­nem Sin­ne auf, in­dem er tat, als sei sie schon da. Hat­te sich Dora­li­ce in ei­ner Ge­sell­schaft mit ei­nem jun­gen Herrn zu gut und zu lus­tig un­ter­hal­ten, dann hieß es: »Wir sind ein we­nig viel­ver­lan­gend, ein we­nig sen­si­bel, man kann sich die Men­schen nicht im­mer aus­su­chen; aber du hast ja recht, der jun­ge Mann hat nicht ein­wand­freie Ma­nie­ren, aber so­viel es geht, wol­len wir ihn fern­hal­ten.« Oder Dora­li­ce hat­te im Thea­ter bei ei­nem Stück, das dem Gra­fen miss­fiel, zu viel und zu kind­lich ge­lacht, dann be­merk­te er beim Nach­hau­se­fah­ren: »Wir sind ein we­nig ver­stimmt: scho­kiert, wir sind ein we­nig zu streng, aber tut nichts, du hast ganz recht, es war ein Feh­ler von mir, dich in die­ses Stück zu brin­gen. Ich hät­te ma pe­ti­te com­tes­se bes­ser ken­nen sol­len, ver­gib die­ses Mal.« Und so war es in al­len Din­gen, die­se ihr auf­ge­zwun­ge­ne frem­de Dora­li­ce ty­ran­ni­sier­te sie, schüch­ter­te sie ein, be­eng­te sie wie ein Kleid, das nicht für sie ge­macht war. Was half es, dass das Le­ben um sie her oft hübsch und bunt war, dass die schö­ne Grä­fin Jas­ky ge­fei­ert wur­de, es war ja nicht sie, die das al­les ge­nie­ßen durf­te, es war stets die­se un­an­ge­neh­me pe­ti­te com­tes­se, die so sen­si­bel und so re­ser­viert war und ih­rem Ge­mahl ge­gen­über im­mer recht hat­te. Wie eine un­er­bitt­li­che Gou­ver­nan­te be­glei­te­te sie sie und ver­lei­de­te ihr al­les.

Als der Graf Köh­ne sei­nen Ab­schied nahm, als er, wie er es nann­te, ge­stürzt wur­de, und sich ge­kränkt und schmol­lend auf sein ein­sa­mes Schloss zu­rück­zog, um sich fort­an da­mit zu be­schäf­ti­gen, die Ge­schich­te der Köh­ne-Jas­kys zu schrei­ben und me­lan­cho­lisch zu al­tern, da war es eine neue Dora­li­ce, die Dora­li­ce dort auf dem al­ten Schlos­se er­war­te­te. »Ah, ma pe­ti­te châte­lai­ne ist hier end­lich in ih­rem wah­ren Ele­men­te, stil­le, ru­hi­ge, et­was ver­träum­te Be­schäf­ti­gun­gen, der wohl­tä­ti­ge En­gel des Ge­mahls und des Gu­tes, das hat uns ge­fehlt.« Und der stil­le wohl­tä­ti­ge En­gel, der sie nun plötz­lich war, drück­te auf Dora­li­ce wie ein blei­er­nes Ge­wand.

Da kam Hans Grill ins Schloss, um Dora­li­ce zu ma­len, Hans mit sei­nem lau­ten La­chen und sei­nen kna­ben­haft un­be­son­ne­nen Be­we­gun­gen und sei­ner un­be­son­ne­nen Art, noch al­les, was ihm durch den Kopf ging, un­ver­mit­telt und eif­rig aus­zu­spre­chen. »Ich emp­feh­le dir mei­nen Schütz­ling«, hat­te der Graf zu sei­ner Frau ge­sagt, »ge­wiss, als Ge­sell­schaf­ter kommt er nicht in Be­tracht, du hast ja ganz recht, ihn sehr à di­stan­ce zu hal­ten, aber den­noch emp­feh­le ich ihn dei­nem Wohl­wol­len.« Es be­gan­nen nun die lan­gen Sit­zun­gen in dem nach Nor­den ge­le­ge­nen Eck­zim­mer des Schlos­ses. Hans stand vor sei­ner Lein­wand, mal­te und kratz­te wie­der ab. Da­bei sprach er stets, er­zähl­te, frag­te, ließ große Wor­te klin­gen. Dora­li­ce hör­te ihm an­fangs neu­gie­rig zu, es war ihr neu, dass je­mand so sorg­los sein in­ners­tes We­sen her­aus­spru­del­te. Er sprach stets von sich, zu­wei­len mit ganz kind­li­cher Zufrie­den­heit und Prahl­sucht, dann ver­trau­te er Dora­li­ce gut­mü­tig an, was ihm an sich sel­ber be­denk­lich schi­en. »An Cha­rak­ter fehlt es zu­wei­len«, sag­te er, »ei, ei!« Was aus die­sen Re­den aber am stärks­ten her­vor­klang, war ein un­bän­di­ger Le­bens­ap­pe­tit und ein un­um­schränk­tes Ver­trau­en, al­les zu er­rei­chen, wo­nach er grei­fen wür­de. »Oh, ich wer­de es schon ma­chen, da ist mir nicht ban­ge«, hieß es. Dora­li­ce tat das wohl, es er­reg­te auch in ihr wie­der Le­bens­hun­ger, es er­weck­te in ihr et­was, das sie fast ver­ges­sen hat­te, ihre Ju­gend. Von di­stan­ce war ei­gent­lich nicht mehr die Rede, die all­zu sen­si­ble châte­lai­ne fiel ganz von ihr ab und es ging jetzt dort in dem Eck­zim­mer oft sehr hei­ter und ka­me­rad­schaft­lich zu. Aber zu­wei­len, wenn sie ge­ra­de recht laut lach­ten, hiel­ten sie plötz­lich inne, horch­ten hin­aus. »Still«, sag­te Hans, »ich höre sei­ne Stie­fel knar­ren« und es war, als sei eine ge­hei­me Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit zwi­schen ih­nen bei­den eine selbst­ver­ständ­li­che Sa­che. Hans ver­lieb­te sich na­tür­lich in Dora­li­ce und war die­sem Ge­füh­le ge­gen­über ganz hilf­los. Er zeig­te es ihr, er sag­te es ihr mit ei­ner nai­ven, fast scham­lo­sen Of­fen­heit und Dora­li­ce ließ es ge­sche­hen, es war ihr, als fass­te das Le­ben sie mit star­ken, ge­walt­sa­men Ar­men und trug sie mit sich fort. Da be­gann in die­sen Spät­herbst­ta­gen Dora­li­ces Lie­bes­ge­schich­te. Hel­le, kal­te Tage und dunkle Aben­de, auf den Bee­ten, die von dem Nacht­frost ge­bräun­ten Ge­or­gi­nen und in den Al­leen des Par­kes wel­kes Laub, das auch beim vor­sich­tigs­ten Schrit­te ra­schel­te. Wenn Dora­li­ce an die­se Zeit dach­te, emp­fand sie wie­der das selt­sa­me schwü­le Bren­nen ih­res Blu­tes, emp­fand sie die ste­te Angst vor et­was Schreck­li­chem, das kom­men soll­te, das je­der Lie­bes­stun­de auch ihr furcht­bar er­re­gen­des Fie­ber bei­misch­te. Wie­der emp­fand sie je­nes wun­der­lich lose, ver­wor­re­ne Ge­fühl, je­nen Fa­ta­lis­mus, der so oft Frau­en in ih­rem ers­ten Lie­bes­rausch er­füllt. Den­noch trug Dora­li­ce leich­ter an den Heim­lich­kei­ten und Lü­gen als Hans. »Ich hal­te es nicht mehr aus«, sag­te er, »im­mer einen so vor mir zu ha­ben, den ich be­trü­ge, wir wol­len fort­ge­hen, oder es ihm sa­gen.«

 

»Ja, ja«, mein­te Dora­li­ce. Es wun­der­te sie selbst, wie ge­ring die Ge­wis­sens­bis­se wa­ren über das Un­recht, das sie ih­rem Man­ne an­tat, ja, es war fast nur so wie da­mals, wenn sie Miss Plum­mers hin­ter­ging. »Und er ahnt es«, sag­te Hans, »er be­wacht uns, man be­geg­net ihm über­all, hast du es be­merkt? Sei­ne Stie­fel knar­ren nicht mehr, wir müs­sen ihm zu­vor­kom­men.«

Al­lein der Graf kam ih­nen zu­vor. Es war ein grau­er Ne­bel­tag, Dora­li­ce stand im großen Saal am Fens­ter und schau­te zu, wie der Wind die Kro­ne des al­ten Birn­baums hin- und her­bog und die gel­ben Blät­ter von den Zwei­gen riss und sie in tol­ler Jagd durch die Luft wir­bel­te. Es sah or­dent­lich aus, als freu­ten sich die­se hell­gel­ben klei­nen Blät­ter, von dem Bau­me los­zu­kom­men, so aus­ge­las­sen schwirr­ten sie da­hin. Dora­li­ce hör­te ih­ren Ge­mahl in das Zim­mer kom­men. Er mach­te ei­ni­ge klei­ne knar­ren­de Schrit­te, rück­te den Ses­sel am Ka­min, setz­te sich, nahm ein Schürei­sen, um, wie er es lieb­te, im Ka­min­feu­er her­um­zu­sto­chern. Als er mit ei­nem »ma chère« zu spre­chen be­gann, wand­te sie sich um und es fiel ihr auf, dass er krank aus­sah, dass sei­ne Nase be­son­ders bleich und spitz war. Er schau­te nicht auf, son­dern blick­te auf das Ka­min­feu­er, in dem er sto­cher­te. »Ma chère«, sag­te er, »ich habe dei­ne Ge­duld be­wun­dert, aber las­sen wir es ge­nug sein, ich habe mit Herrn Grill eben ver­ein­bart, dass er uns heu­te ver­lässt. Mit dem Bil­de wird es ja doch nichts und von dir ist es zu viel ver­langt, dich noch der Lan­ge­wei­le die­ser Sit­zun­gen und die­ser – Ge­sell­schaft zu un­ter­zie­hen. So wer­den wir wie­der en­tre nous sein. Recht an­ge­nehm, was?«

Dora­li­ce war bis in die Mit­te des Zim­mers ge­kom­men, da stand sie in ih­rem schie­fer­far­be­nen Wol­len­klei­de, die Arme nie­der­hän­gend, in der gan­zen Ge­stalt eine Ge­spannt­heit, als woll­te sie einen Sprung tun, in den Au­gen das blan­ke Fla­ckern der Men­schen, die vor ei­nem Sprun­ge von ei­nem leich­ten Schwin­del er­grif­fen wer­den.

»Wenn Hans Grill geht, gehe ich auch«, sag­te sie und im Be­mü­hen ru­hig zu sein, klang ihre Stim­me ihr selbst fremd.

»Wie? Was? Ich ver­ste­he nicht, ma chè­re.« Das Schürei­sen fiel klir­rend aus sei­ner Hand und Dora­li­ce sah wohl, dass er sie gut ver­stand, dass er längst ver­stan­den ha­ben muss­te. Um sei­ne Au­gen zo­gen sich vie­le Fält­chen zu­sam­men und die Bart­kom­mas auf sei­ner Ober­lip­pe zit­ter­ten wun­der­lich.

»Ich mei­ne«, fuhr Dora­li­ce fort, »dass ich nicht mehr dei­ne Frau bin, dass ich nicht mehr dei­ne Frau sein darf, dass ich mit Hans Grill gehe, dass, dass …« Sie hielt inne, Schre­cken und Ver­wun­de­rung über den An­blick des Man­nes dort im Ses­sel lie­ßen sie nicht wei­ter spre­chen. Er knick­te in sich zu­sam­men und sein Ge­sicht ver­zog sich, wur­de klein und runz­lig. War das Schmerz? War das Zorn? Es hät­te auch ein un­heim­lich scherz­haf­tes Ge­sicht­er­schnei­den sein kön­nen. Mit großen angst­vol­len Au­gen starr­te Dora­li­ce ihn an. Da schüt­tel­te er sich, fuhr sich mit der Hand über das Ge­sicht, rich­te­te sich stramm auf. »Al­lons, al­lons«, mur­mel­te er. Er er­hob sich und ging mit stei­fen, zit­tern­den Bei­nen an das Fens­ter und schau­te hin­aus. Dora­li­ce war­te­te angst­voll, aber auch sehr neu­gie­rig, was nun kom­men wür­de. End­lich wand­te sich der Graf zu ihr um, das Ge­sicht asch­far­ben, aber ru­hig. Er zog sei­ne Uhr aus der Wes­ten­ta­sche, wur­de et­was un­ge­dul­dig, weil die Kap­sel nicht gleich auf­sprin­gen woll­te, schau­te dann auf­merk­sam auf das Zif­fer­blatt und sag­te mit sei­ner dis­kre­ten, höf­li­chen Stim­me: »Fünf Uhr drei­ßig geht der Zug.« Er sah auch nicht auf, als Dora­li­ce jetzt lang­sam aus dem Zim­mer ging.

»Mein Herz schlug da­bei sehr stark«, hat­te spä­ter Dora­li­ce zu Hans Grill ge­sagt, »ich hör­te es schla­gen, es schi­en mir das Lau­tes­te im Zim­mer. Ich weiß nicht, was es war, viel­leicht war es plötz­lich eine sehr star­ke Freu­de.«

»Na­tür­lich, na­tür­lich«, mein­te Hans Grill, »was soll­te es denn an­de­res ge­we­sen sein.«

Drittes Kapitel

Im War­de­in­schen An­we­sen er­wach­te das Le­ben, eine Stall­tür knarr­te, nack­te Füße stapf­ten die Holz­stu­fen am Hau­se auf und ab. Dora­li­ce fuhr aus ih­rem Sin­nen auf, aus dem Wei­ter­le­ben des nächt­li­chen Trau­mes. Das Zim­mer war jetzt ganz hell, die De­cke mit den großen Streck­bal­ken, die Mö­bel in ih­rer ro­bus­ten Häss­lich­keit lie­ßen sich nicht mehr weg­den­ken wie vor­hin in der we­sen­lo­sen Däm­me­rung, sie rie­fen Dora­li­ce zu ih­rer Wirk­lich­keit zu­rück, mahn­ten sie, dass sie zu ih­nen ge­hör­te. Die Tür zum Ne­ben­zim­mer stand of­fen, dort schlief Hans. Dora­li­ce sah ihn, wie er in sei­nem Bet­te auf dem Rücken lag, die Wan­gen rot, das gel­be Haar wirr in die Stirn fal­lend, die Lip­pen halb ge­öff­net. Er at­me­te tief und laut, sei­ne brei­te Brust hob und senk­te sich, die Au­gen­brau­en zog er ein we­nig zu­sam­men, was dem Ge­sicht einen Aus­druck ver­lieh, als sei das Schla­fen eine erns­te, schwe­re Ar­beit, der er sich mit gan­zer An­stren­gung wid­me­te. »Der wird’s schon ma­chen«, dach­te Dora­li­ce, »wer so schla­fen kann, wer so da­bei ist, der ist sei­ner Sa­che si­cher.« Das trös­te­te sie ein we­nig in der un­kla­ren Trau­rig­keit ih­rer Mor­gen­stun­den. Aber sie woll­te nicht wie­der schla­fen, sie fürch­te­te sich da­vor, zu träu­men, wie­der hin­über­zuglei­ten in ihr frü­he­res Le­ben. Sie sprang aus dem Bet­te und klei­de­te sich an.

Als sie drau­ßen auf die Düne hin­austrat, weh­te ein leb­haf­ter, küh­ler See­wind ihr ent­ge­gen. Über einen blass­blau­en Him­mel zo­gen ei­li­ge hell­graue Wölk­chen und auf dem Mee­re ho­ben sich die Wel­len ohne Schaum, groß und grün­grau, ein mäch­ti­ges stil­les At­men, erst nä­her dem Stran­de wur­den sie leb­haf­ter und lie­ßen die wei­ßen Schaum­tü­cher flat­tern. Die­ses At­men des Mee­res er­in­ner­te Dora­li­ce an et­was, was war es? Ach ja, an Hans, an sei­ne Brust, die sich dort in dem Zim­mer eben ru­hig und kraft­voll hob und senk­te. Sie be­gann am Stran­de ent­lang zu ge­hen, der Wind fuhr ihr in die Rö­cke, er trieb sie, sie spür­te es deut­lich, wie er zu klei­nen Stö­ßen aus­hol­te, bald von hin­ten, bald von der Sei­te sie an­fiel und das war ein köst­lich er­fri­schen­des Spiel, so muss es den Wel­len zu­mu­te sein, sie wieg­te sich im Ge­hen; es war ihr, als wog­te sie, jetzt fuhr ihr ein stär­ke­rer Wind­stoß in die Haa­re, schüt­tel­te sie. Dora­li­ce mach­te einen Satz, stieß einen lus­ti­gen klei­nen Schrei aus. »Jetzt bran­de ich, jetzt bran­de ich«, dach­te sie. Über ihr ant­wor­te­te ein schril­ler Ruf, eine große wei­ße Möwe hing über dem Was­ser, sie schlug mit den Flü­geln, warf sich wie von plötz­li­cher Lust be­rauscht auf das Was­ser nie­der und schwamm dort, ein klei­ner wei­ßer Punkt auf die­ser wo­gen­den grün­grau­en Sei­de. Vor den Fi­scher­häu­sern auf der Düne stan­den Fi­scher­frau­en, ihre grau­en Rö­cke, ihre ro­ten Tü­cher flat­ter­ten und sie schütz­ten die Au­gen mit der Hand und schau­ten auf das Meer hin­aus nach den Män­nern, die in der Nacht zum Fisch­fang hin­aus­ge­fah­ren wa­ren.

Als Dora­li­ce um den Vor­sprung ei­ner Düne bog, sah sie den Ge­heim­rat von Knos­pe­li­us, der vor ihr her den Strand ent­lang ging. Im gel­ben Lei­nen­an­zug, den Pa­na­ma im Na­cken, einen schö­nen gel­ben Set­ter ne­ben sich, hol­te er mit dem di­cken Spa­zier­stock weit aus, mach­te große Schrit­te, warf sich in den Schul­tern hin und her, hat­te, wie es Ver­wach­se­ne lie­ben, die Be­we­gun­gen star­ker, großer Leu­te. Als er Schrit­te hin­ter sich hör­te, wand­te er sich um, er grüß­te sehr tief und das große, blei­che Kna­ben­ge­sicht lä­chel­te. Da es schi­en, als wol­le er et­was sa­gen, blieb Dora­li­ce ste­hen. »Gu­ten Mor­gen, gnä­di­ge Frau«, be­gann er und schau­te mit sei­nen stahl­blau­en Au­gen scharf und auf­merk­sam hin­auf in Dora­li­cens Ge­sicht, »schon vor Son­nen­auf­gang auf dem Pos­ten?«

Dora­li­ce er­rö­te­te und lach­te: »Es ist Ih­nen wohl ent­fal­len, Ex­zel­lenz, dass das letz­te Mal, als wir uns spra­chen, Sie mir das­sel­be sag­ten, auch so et­was von auf dem Pos­ten ste­hen.«

»So so«, mein­te Knos­pe­li­us, »mög­lich, ich in­ter­es­sie­re mich für die­se Sa­chen. Sie ha­ben ein gu­tes Ge­dächt­nis. Darf ich Sie ei­ni­ge Schrit­te be­glei­ten, gnä­di­ge Frau?«

Sie nick­te, ob­gleich es ihr nicht recht war, die­ses klei­ne Un­ge­heu­er ne­ben sich zu ha­ben, das sie von un­ten auf an­sah, un­be­küm­mert, wie man einen Kup­fer­stich, nicht wie man einen Men­schen an­schaut. Im Ge­hen sprach er mit tiefer Stim­me, de­ren Me­tall ihm selbst zu ge­fal­len schi­en. »Mit dem Schla­fen, mei­ne Gnä­di­ge, scheint es Ih­nen hier auch nicht recht ge­lin­gen zu wol­len.«

»Doch«, mein­te Dora­li­ce, »nur die an­de­ren alle sind so früh auf, die Fi­schers­leu­te, die Häh­ne, nun und das Meer schläft oh­ne­hin nicht.«

Knos­pe­li­us lach­te jetzt sein laut­lo­ses La­chen: »Ja, ja, hier ist Be­trieb, hier kann man was ler­nen. Denn, se­hen Sie«, er wur­de ernst, sein Ge­sicht nahm einen bö­sen, fast has­s­er­füll­ten Aus­druck an, »se­hen Sie, es gibt nichts Düm­me­res, nichts Sinn­lo­se­res als die Schlaf­lo­sig­keit, als im Bett zu lie­gen, auf den Schlaf zu war­ten und nicht schla­fen zu kön­nen. In sol­chen Stun­den kom­me ich mir vor wie mei­ner Men­schen­rech­te be­raubt. Ich tue nicht mei­ne Pf­licht als Mensch.«

»Pf­licht als Mensch«, wie­der­hol­te Dora­li­ce et­was zer­streut.

»Ja, ge­ra­de so«, fuhr der Ge­heim­rat fort, zän­kisch als hät­te je­mand ihm wi­der­spro­chen, »mei­ne Pf­licht als Mensch ist, zu schla­fen oder mein Hand­werk als Mensch zu trei­ben, zu ar­bei­ten wie da die Fi­scher oder zu lie­ben wie Sie und der Herr Ma­ler oder zu strei­ten wie mei­ne Haus­leu­te, gleich­viel, eben Men­schen­ge­schäf­te zu trei­ben und kön­nen wir das nicht, so ha­ben wir zu schla­fen. Das weiß mein Karo auch, kann er den Auf­ga­ben sei­nes Hun­de­le­bens nicht nach­ge­hen, dann schläft er. Aber was wir in ei­ner schlaflo­sen Nacht den­ken und füh­len, ist ganz un­nütz, gar nicht zu brau­chen, weg­ge­wor­fe­nes Le­ben. Se­hen Sie, ich habe viel zu rech­nen, das ist mein Be­ruf, aber in schlaflo­sen Näch­ten muss ich auch rech­nen, Rech­nun­gen, die nie stim­men, die kei­nen Sinn und kein Re­sul­tat ha­ben, das ist doch men­schenun­wür­dig. Wenn Karo mal so da­liegt und mit der Nase im Bu­che der Na­tur liest, dann wit­tert er wirk­li­che Ha­sen und wirk­li­che Hüh­ner, nicht sinn­lo­se Tie­re, die es gar nicht gibt; nein, nein, ich sage, nicht schla­fen kön­nen ist ein Skan­dal und dürf­te ei­nem gar nicht pas­sie­ren.«

Knos­pe­li­us schwieg und schau­te är­ger­lich auf das Meer hin­aus.

Dora­li­ce tat der klei­ne Mann leid. Es war doch eine Qual, die zu ihr ge­spro­chen hat­te, sie woll­te ihm et­was Freund­li­ches sa­gen. Es kam ihr je­doch kühl und flach her­aus: »Ich hof­fe die See­luft wird Ih­nen gut tun, Ex­zel­lenz.« Knos­pe­li­us be­gann wie­der wei­ter zu ge­hen und mur­mel­te: »Ich, ach, es ist nicht das, ich sage es so im All­ge­mei­nen. Wenn man wacht, muss man was er­le­ben kön­nen und wenn man schla­fen will, muss man schla­fen kön­nen. Das dür­fen wir ver­lan­gen.« Plötz­lich lä­chel­te er, ein hüb­sches, fast schüch­ter­nes Lä­cheln. »Na ja, wenn es bei dem einen oder an­de­ren so ’ne Be­wandt­nis hat, wenn da Hin­der­nis­se sind, nu so müs­sen wir uns an die Er­leb­nis­se der an­de­ren hal­ten. Ich in­ter­es­sie­re mich sehr für die Er­leb­nis­se der an­de­ren, ich küm­me­re mich hier stark um die An­ge­le­gen­hei­ten mei­ner Ne­ben­menschen. Ja, ja, was Le­ben be­trifft, bin ich Kom­mu­nist, ich leug­ne das Pri­vatei­gen­tum, ha, ha!«

 

»Er­le­ben denn die Leu­te hier so viel?« frag­te Dora­li­ce.

»O ge­nug«, er­wi­der­te der Ge­heim­rat, »se­hen Sie die Fi­scher, die Kerls ha­ben sich mit dem Mee­re ein­ge­las­sen, und das hält in Atem, das kön­nen Sie mir glau­ben. Und dann die Wei­ber, wie sie dort oben ste­hen und war­ten. So zu ste­hen und auf den Mann oder Sohn zu war­ten, das spannt an. Ha­ben Sie die Au­gen die­ser Frau­en be­ob­ach­tet? Das sind Bli­cke, die nicht so plan­los an den Din­gen her­um­wi­schen, das sind Bli­cke, die ohne Um­weg ge­ra­de auf den Punkt tref­fen, der ih­nen wich­tig ist, wie der Ham­mer in der Hand ei­nes gu­ten Hand­wer­kers ge­ra­de und hart im­mer auf den rich­ti­gen Fleck schlägt. Und Sie soll­ten mal die­se Au­gen se­hen, wenn so ’n Mann oder Sohn nicht zu­rück­ge­kehrt ist und die Frau dann ta­ge­lang am Stran­de hin- und her­läuft und je­den dunklen Punkt auf dem Was­ser oder auf dem Stran­de er­späht und mit furcht­ba­rer Auf­merk­sam­keit be­ob­ach­tet. Das sind Au­gen, die ihr Hand­werk ver­ste­hen. Üb­ri­gens hat es mich sehr in­ter­es­siert, dass Sie her­ge­zo­gen sind. Sie wer­den schon Far­be in den Be­trieb brin­gen. Es wür­de mich freu­en, den Herrn Ma­ler ken­nen zu ler­nen. Es scheint ein le­bens­vol­ler Herr zu sein. Das sehe ich gern. Ha, ha, das sehe ich eben­so gern, wie der Bau­ern­fän­ger den Herrn mit der di­cken Brief­ta­sche gern sieht.« Und er lach­te laut­los und an­dau­ernd über sei­nen Witz.

Der Him­mel wur­de jetzt far­big, die Wol­ken am Ho­ri­zont be­ka­men di­cke gol­de­ne Säu­me und eine Wel­le von Rot über­goss den Him­mel. Auch in das Grau­grün des Mee­res misch­ten sich blan­ke Fä­den, und die Höh­lun­gen der bre­chen­den Wel­len am Stran­de füll­ten sich mit Ro­sen­rot, und plötz­lich be­gann das Meer wei­ter dem Ho­ri­zon­te zu ganz in Rot­gold zu bren­nen. Knos­pe­li­us blieb ste­hen und mach­te mit sei­nem lan­gen Arm eine große Be­we­gung auf das Meer hin­aus, als woll­te er das Meer vor Dora­li­ce aus­brei­ten.

»Se­hen Sie«, sag­te er, »das ist nun der all­mor­gend­li­che Far­ben­spek­ta­kel. Eine hy­gie­ni­sche Maß­re­gel. Die Na­tur wird ganz rück­sichts­los da mit all die­sem Rot und Gold über­schüt­tet. Das soll an­re­gen wie uns die Mor­gen­du­sche oder der Mor­gen­kaf­fee. Wenn Sie noch ei­ni­ge Schrit­te wei­ter ge­hen wol­len, so kön­nen wir einen hüb­schen, ja ich sage ge­ra­de­zu einen hüb­schen An­blick ha­ben.«

So gin­gen sie denn wei­ter. Sie ka­men an eine Stel­le des Ufers, wo eine hohe Sand­dü­ne ganz nah bis an das Was­ser her­an­trat, die Wel­len un­ter­spül­ten sie so, dass die Sand­wand teil­wei­se ein­ge­stürzt war. Bei ho­hem See­gang wa­ren große Stücke des Erd­reichs ab­ge­brö­ckelt und fort­ge­ris­sen wor­den, über­all klaff­ten Höh­len und Ris­se, das al­les trief­te jetzt von ro­tem Mor­gen­licht. Hie und da rag­te aus dem hell­be­schie­ne­nen San­de mor­sches Holz­werk her­vor, das me­tal­lisch glänz­te, und wei­ße Stücke, die … »Aber«, rief Dora­li­ce, »das ist dort eine Hand.« – »Al­ler­dings«, er­klär­te der Ge­heim­rat, »das da ist eine Hand und ein Arm und dort ist ein Schä­del hübsch rosa an­ge­leuch­tet und in dem ver­fal­le­nen Sar­ge dort ein gan­zer Mann. Wie Sie se­hen, ist dies ein Fried­hof, mit dem das Meer lang­sam auf­räumt. Für Fried­hofs­ro­man­tik und Fried­hof­schau­er habe ich we­nig üb­rig, die sind bil­lig. Dies aber ge­fällt mir. Ein Fried­hof, von dem jede Stur­m­nacht ein Stück ab­schnei­det wie von ei­nem Ku­chen, und aus dem San­de gu­cken dann all die­se Stil­len her­aus und las­sen sich den See­wind um die Kno­chen we­hen. Se­hen Sie, wie ko­kett sie sich im Mor­gen­rot fär­ben, die blü­hen wie die Ro­sen. Und dann kommt die Stur­m­nacht und holt sie ab, dann geht es auf die Rei­se ins Meer hin­aus. Aus dem denk­bar Engs­ten und Stills­ten in das Wei­tes­te und Lau­tes­te hin­ein. Das ge­fällt mir. Wie auf ei­ner Lan­dungs­brücke ste­hen die hier und war­ten auf das Schiff, das sie ab­holt. Das könn­te mich rei­zen. Da ist doch Be­trieb. Dem Tode wird hier das Muf­fi­ge ge­nom­men, mit dem man ihn zu um­ge­ben liebt. Nicht?«

Knos­pe­li­us schau­te zu Dora­li­ce auf. Sie war ein we­nig bleich ge­wor­den, sie press­te die Lip­pen auf­ein­an­der und zog die Au­gen­brau­en zu­sam­men. Es sah aus, als sei sie böse. »Nun, es scheint Ih­nen nicht zu ge­fal­len«, be­merk­te der Ge­heim­rat, »fürch­ten Sie sich viel­leicht? Wir wer­den ja zur Furcht vor die­sen Din­gen er­zo­gen.«

»Nein«, er­wi­der­te Dora­li­ce, »ich fürch­te mich nicht. Dies hier ist sehr selt­sam. Nur, ich weiß nicht, ich hät­te es viel­leicht heu­te Mor­gen lie­ber nicht ge­se­hen.«

»So, so«, mein­te der Ge­heim­rat, »dann kön­nen wir ja ge­hen. Sie ha­ben üb­ri­gens recht, über den Tod und was mit ihm zu­sam­men­hängt nach­zu­den­ken ist wohl au­gen­blick­lich ganz und gar nicht Ihr Be­ruf.«

Auf dem Rück­weg war Dora­li­ce schweig­sam. Knos­pe­li­us plau­der­te be­hag­lich vor sich hin. Die Ge­ne­ra­lin Pa­li­kow, ja, die kann­te er. Eine klu­ge alte Frau, ein we­nig laut, und lieb­te es, die An­ge­le­gen­hei­ten an­de­rer Leu­te fest in ihre Hand zu neh­men. Sie fühlt sich stets ver­ant­wort­lich für die An­ge­le­gen­hei­ten an­de­rer. Der Baron Butt­lär, nun – der hat einen wun­der­schö­nen blon­den Schnurr­bart. Wenn er nach Ber­lin kam, da brauch­te er viel Sekt und such­te Aben­teu­er. Solch ein Schnurr­bart ver­pflich­tet eben und macht auch den christ­li­chen Haus­va­ter und Gat­ten oft un­ru­hig. Die Töch­ter, üb­ri­gens hüb­sche Mäd­chen, schmal und bieg­sam wie Wei­den­ru­ten. Das ist die mo­der­ne Fas­son. Jun­ge Mäd­chen muss­ten jetzt aus­se­hen wie Ara­bes­ken. Er, Knos­pe­li­us, zog das frü­he­re, das drei­di­men­sio­na­le For­mat dem heu­ti­gen Sti­le vor.

Dora­li­ce hör­te ihm mit Ab­nei­gung zu. Sie fand jetzt ih­ren Beglei­ter un­heim­lich und er verd­arb ihr den schö­nen Mor­gen. Was ging sie die Welt der Buck­li­gen an, sie sehn­te sich nach Men­schen mit ge­ra­dem Rücken. Dazu hat­te er eine un­an­ge­neh­me Art, so von un­ten her­auf ihr scharf auf die Lip­pen zu se­hen. Dora­li­ce ver­zog die Lip­pen, als schmeck­te sie et­was Bit­te­res.

Nach Son­nen­auf­gang hat­te sich der Wind ge­legt. Das Meer glät­te­te sich und glit­zer­te weit hin­aus. Vie­le Fi­scher­boo­te kehr­ten heim. Von den Dü­nen lie­fen die Fi­scher­frau­en zum Stran­de hin­ab, schürz­ten ihre Rö­cke hoch auf und wa­te­ten in das Was­ser, um den Män­nern be­hilf­lich zu sein die Boo­te auf den Sand zu zie­hen. Mit­ten im Bran­dungs­schaum stan­den alle die­se Men­schen blank von Was­ser und Son­nen­schein. »Ah, un­se­re Fi­scher«, sag­te der Ge­heim­rat. Er trat an eins der Boo­te her­an, be­grüß­te die Fi­scher, die er kann­te: »Gu­ten Mor­gen, An­dree, gu­ten Mor­gen, War­dein, nun, hat es sich ge­lohnt?« – »Biss­chen was ist da«, sag­te War­dein und wisch­te sich den Wel­len­schaum aus dem grau­en Bart. Knos­pe­li­us beug­te sich über den Boots­rand, um die Fi­sche zu se­hen, die auf dem Bo­den des Boo­tes la­gen. Er streif­te sich den Rock­är­mel auf und fuhr mit sei­nen lan­gen Fin­gern mit­ten hin­ein zwi­schen die Dor­sche mit ih­ren blei­chen Sil­ber­lei­bern, die But­ten, die aus­sa­hen wie bräun­li­che Bron­ze­schei­ben, an de­nen wun­der­lich ver­zerr­te Ge­sich­ter sit­zen und die Fül­le der klei­nen Brat­lin­ge, die blank wa­ren wie frisch­ge­präg­te Mark­stücke. Knos­pe­li­us kniff ein Auge zu und lach­te das La­chen ei­nes aus­ge­las­se­nen Schul­jun­gen. »Be­trieb, auch Be­trieb«, sag­te er.

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