Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Sechstes Kapitel

Zum zwei­ten Mal stand Rosa rat­los vor ih­rem Le­ben. Nicht nur das schmerz­li­che Ver­mis­sen, nein, vor al­lem war es die voll­stän­di­ge Lee­re, die ihr jede Kraft raub­te. Sie konn­te in ih­rer Kam­mer oder im Wohn­zim­mer am Fens­ter sit­zen, auf die Wie­se oder auf den Hof hin­aus­schau­en, sie konn­te Frau Böhks Kran­ken­ge­schich­ten oder Herrn Böhks Lie­bes­ge­schich­ten an­hö­ren, konn­te mit Gre­the spa­zie­ren­ge­hen, um zu­zu­hö­ren, wie die Bur­schen und Mäd­chen un­ter den Bir­ken am Bach bis spät in die Nacht hin­ein Lie­bes­lie­der san­gen; es hat­te nur, mein­te sie, nicht den ge­rings­ten Zweck; sie war da­bei ganz un­nütz. Sie hät­te ihr Le­ben ge­wiss un­gern fort­ge­ge­ben, was sie je­doch mit ihm be­gin­nen soll­te, wuss­te sie nicht. Da dach­te sie an ih­ren al­ten Va­ter. »Ag­nes schrieb«, sag­te sie zur Heb­am­me, »Papa sei krank. Seit­dem habe ich kei­ne Nach­richt von ihm. Ich fürch­te, es steht schlecht.«

»So wis­sen Sie’s schon?« rief Frau Böhk. »Ag­nes schrieb mir über den zwei­ten Schlag­an­fall des al­ten Herrn. Ich durf­te es Ih­nen nicht sa­gen, Sie nähr­ten das Kind.«

»Oh, Frau Böhk! Sa­gen Sie’s nur; Papa lebt nicht mehr.«

»Nein, wahr­haf­ti­ger Gott, da­von weiß ich nichts. Recht schlecht stand es um ihn, aber…«

Rosa schüt­tel­te den Kopf. Es schi­en ihr ganz na­tür­lich, dass, wo­hin sich ihre Lie­be auch wand­te, der Tod ihr ent­ge­gen­trat. Selt­sam je­doch war es, wie mit der Über­zeu­gung, ihr Va­ter lebe nicht mehr, so­fort der Ge­dan­ke in ihr auf­tauch­te: »Wenn Papa auch tot ist, dann wird das Klei­ne dort – nicht mehr al­lein sein.« Die­se dunkle Vor­stel­lung ließ sie ru­hi­ger der Trau­er um ihre To­ten nach­hän­gen.

Ei­nes Abends lang­te Ag­nes in Ti­glau an. Das schwar­ze Kleid, die schwar­ze Hau­be, die dem al­ten Ge­sicht et­was Frem­des ga­ben, die trä­nen­feuch­ten Au­gen, mit de­nen Ag­nes Rosa an­blick­te, ver­kün­de­ten deut­lich ge­nug, dass Rosa sich nicht ge­täuscht hat­te. »Ich weiß al­les; der arme Papa«, sag­te Rosa, als Ag­nes sie schluch­zend um­arm­te.

Erst als sich bei­de im Gie­bel­stüb­chen zu Bett leg­ten, er­fuhr Rosa die Ein­zel­hei­ten über den Tod ih­res Va­ters.

»Nach dem ers­ten Schlag­an­fall«, be­rich­te­te Ag­nes mit kla­gen­der Stim­me, »stand es schon sehr übel um dei­nen Papa. Er konn­te sei­ne Füße nicht ge­brau­chen, und sein Kopf, weißt du, war ganz schwach. Er ver­gaß im­mer wie­der, dass du nicht mehr bei uns bist. ›Wo ist die Rosa?‹ sag­te er ganz är­ger­lich. ›Es ist schon spät. Ag­nes, geh und hol sie.‹ Wenn ich’s nicht tat, zank­te er, wie er’s in ge­sun­den Ta­gen, weiß es Gott, nie tat. ›Wirst du nicht ge­hen?‹ sag­te er, ›wer ist hier der Herr? Wo­für wirst du be­zahlt?‹ End­lich wein­te er und klag­te: ›Weil ich ein Krüp­pel bin, glaubt ihr mich quä­len zu kön­nen.‹ Gott, Gott! Schwer ge­nug war die Zeit. Ich bin um zehn Jah­re äl­ter ge­wor­den. Nun – und ei­nes Mor­gens, wie ich ihn an­ge­klei­det habe und zu sei­nem Ses­sel füh­ren will, ver­dreht er die Au­gen und fällt rück­lings – der Schreck! Der Dok­tor kam, ließ ihm zur Ader – was weiß ich! Ge­nug ha­ben sie den al­ten Mann ge­quält. Aus dem Bett ist er nicht mehr ge­kom­men, aber das War­ten auf dich hör­te auf, denn er glaub­te, du seist da. Se­hen konn­te er nicht mehr recht; so sprach er denn im­mer mit dir. Was hat er dir in den letz­ten Ta­gen nicht al­les er­zählt! Er woll­te dich un­ter­hal­ten: ›Ro­sa – Kin­d‹, sag­te er, ›du lang­weilst dich. Hör, wie ich noch beim Thea­ter war‹, dann ka­men sei­ne gott­lo­sen Thea­ter­ge­schich­ten. Da­bei wur­de ihm das Spre­chen schwer. In sei­ner Brust koch­te es nur so. Heu­te vor acht Ta­gen lag er den Tag über wie in ei­ner Ohn­macht. Der Dok­tor sag­te, es geht zu Ende. Um zehn Uhr reg­te er sich, ver­lang­te zu trin­ken, frag­te: ›Wo ist Rosa?‹ – ›Das ist sie ja‹, sag­te ich; was soll­te ich denn sa­gen? – ›So – so‹, ant­wor­te­te er und er­zähl­te wie­der et­was; ich hab es nicht ver­stan­den, sei­ne Stim­me war so schwach. Wie er mit der Ge­schich­te zu Ende ist, sag­te er: ›Kind, warum lachst du nicht?‹ – ›Sie lacht ja‹, sag­te ich. ›Nein – nein!‹ jam­mer­te er. ›Sie lacht nicht; sie kennt die Ge­schich­te schon!‹ Das wa­ren sei­ne letz­ten Wor­te. Nach­her lag er still da und seufz­te, bis der Tod kam. Recht an­stän­dig ha­ben wir ihn be­stat­tet, die Leu­te aus der Stadt wa­ren alle da­bei. Dir schrieb ich von all­dem nichts. Ich dach­te mir, du hältst so­viel Not auf ein­mal nicht aus. Ach Gott! So jung und so­viel Bit­te­res er­le­ben zu müs­sen.«

Rosa, die ihr Ge­sicht in die Kis­sen ge­drückt hat­te, rich­te­te sich auf und sag­te: »Ja, sehr viel Bit­te­res. Du hast das Kind nicht ge­kannt. Du weißt nicht, wie es mich lieb­te, mich kann­te, wie es nur bei mir sein woll­te.«

Wäh­rend Rosa von ih­rem Kin­de er­zähl­te, nahm Ag­nes eine stren­ge Mie­ne an. Sie hielt den Tod die­ses Kin­des für kein Un­glück. »Schlaf, Kind«, un­ter­brach sie Ro­sas Be­richt. »Wir wer­den alle un­se­re Kräf­te nö­tig ha­ben.«

Am Vor­mit­tage des fol­gen­den Ta­ges saß Rosa, wie sie es lieb­te, im Gar­ten auf der Schau­kel­bank und be­trach­te­te die son­nen­be­schie­ne­nen Nar­zis­sen­bee­te. Am ge­öff­ne­ten Fens­ter des Wohn­zim­mers sa­ßen Frau Böhk und Ag­nes, steck­ten die Köp­fe zu­sam­men und flüs­ter­ten. Ab und zu drang ein lau­ter ge­spro­che­nes Wort bis zu Rosa – eine Zahl oder Frau Böhks mit sü­ßer Stim­me ab­ge­ge­be­ner Pro­test. »Nein, Schwes­ter, nein. Ich hab’s so wohl­feil wie mög­lich ein­ge­rich­tet.« – »Sie be­rech­nen sich«, dach­te Rosa.

Jetzt er­zähl­te Ag­nes et­was, nick­te mit dem Kop­fe, wisch­te sich die Au­gen. »Wenn wir die Sa­chen auch ver­kau­fen«, hör­te Rosa sie sa­gen, »wie­viel kann denn doch da­bei her­aus­kom­men? Bei all die­sen Krank­hei­ten kön­nen wir Gott dan­ken, dass wir nicht in Schul­den hin­ein­ge­ra­ten sind. Nun – und wenn ich auch mit ihr hier­her­zie­he – dort kann sie na­tür­lich nicht blei­ben –, auch dann reicht das Geld nicht. Ich habe nicht viel, sie hat we­nig. Gott – Gott, wie soll das wer­den!«

»Wie ist das?« sag­te sich Rosa, bog den Kopf zu­rück, blin­zel­te in die Son­ne und über­leg­te: »Ich habe kein Geld, und Ag­nes will mich er­hal­ten, so meint sie es doch? Ja, das darf aber nicht sein; na­tür­lich nicht!… Was dann?« Die Bon­ne der Schank war die ein­zi­ge Aus­hil­fe, das war klar. »Mor­gen fah­ren wir heim«, be­schloss Rosa. Ein Be­dürf­nis zu han­deln er­griff sie. Sie ging in das Wohn­zim­mer und sag­te: »Mor­gen, Ag­nes, fah­ren wir heim.«

»Mor­gen?« rie­fen die bei­den Schwes­tern er­staunt aus.

»Ja, Ag­nes – es muss et­was ge­sche­hen.«

Da blick­ten sich die bei­den Frau­en ver­ständ­nis­in­nig an und mein­ten: »Recht hat das Kind.«

Siebentes Kapitel

Rosa hat­te ge­glaubt, die Rück­kehr in ihre Hei­mat­stadt wür­de sie er­grei­fen. Als sie je­doch bei ein­bre­chen­der Dun­kel­heit durch die wohl­be­kann­ten Stra­ßen fuhr, fühl­te sie kei­ner­lei Er­re­gung. Al­les war un­ver­än­dert. Ein je­des stand auf sei­nem al­ten Platz, und Rosa schau­te ru­hig dar­auf hin, als wäre sie nie fort ge­we­sen.

In der Herz­schen Woh­nung war eine dump­fe, hei­ße Luft ein­ge­schlos­sen. Der Lehn­stuhl am Tisch stand ein we­nig schief, als hät­te je­mand ihn eben ver­las­sen, auf dem Fens­ter­brett lag ein Ta­schen­tuch. Nur eins war un­ge­wöhn­lich. Im Flur und im Wohn­zim­mer la­gen Tan­nen­na­deln über den Fuß­bo­den ver­streut. Ag­nes hat­te ver­ges­sen, sie nach der Lei­chen­fei­er fort­zu­keh­ren, nun ver­brei­te­ten sie einen schar­fen Duft, der Rosa mit Un­be­ha­gen er­füll­te. Sie ging in ihr Zim­mer hin­über. Auf dem Tisch, dem Bett, dem Ro­sen­stock am Fens­ter lag Staub; der trau­te Raum schau­te sie heu­te so tot und nichts­sa­gend an und mach­te sie trau­rig; es war je­doch kei­ne Trau­rig­keit, die uns wei­nen lässt, son­dern ein miss­mu­ti­ges, ödes sich in sich selbst Ver­krie­chen. Ag­nes war viel ge­rühr­ter. Mit feuch­ten Au­gen sah sie Rosa an und klag­te: »Ach Kind, wenn ich den­ke, dass du wie­der hier bist und dass dein Papa das nicht mehr er­lebt! Wie hübsch hät­ten wir drei wie­der bei­ein­an­der ge­lebt. Nun ist al­les aus!«

»Ach ja!« er­wi­der­te Rosa, aber der Schmerz um ein an­de­res Gut war noch zu mäch­tig in ihr, als dass sie um die stil­len Tage der Ver­gan­gen­heit trau­ern konn­te.

Den­sel­ben Abend noch schrieb Rosa an Fräu­lein Schank und bat sie, ihr bei­zu­ste­hen. Fräu­lein Schank ant­wor­te­te, sie wol­le sich nach et­was Pas­sen­dem um­schau­en und es Rosa dann mel­den.

Rosa war­te­te ge­dul­dig meh­re­re Tage. Ei­nes Abends ging sie zum Fried­hof hin­aus, um das Grab ih­res Va­ters zu be­su­chen. Die Stadt hat­te das bun­te, lus­ti­ge Aus­se­hen der Som­mer­aben­de. In der Lin­den­al­lee, die zum Fried­hof führ­te, be­geg­ne­te Rosa vie­len Men­schen, die lang­sam mit be­staub­ten Schu­hen, die Hän­de vol­ler Feld­blu­men, heim­zo­gen. Auch das Ehe­paar Tod­dels ging an Rosa vor­über. Sal­ly trug ein hel­les Som­mer­kleid und einen ro­sa­seid­nen Hut. Sie schiel­te zu Rosa hin­über und dräng­te sich schüch­tern an ih­ren Mann her­an, als fürch­te­te sie sich. Die­ser wuss­te nicht recht, was er tun soll­te, und küss­te flüch­tig und lin­kisch den ro­sa­seid­nen Hut.

Auf dem Fried­hof war es so still, dass man die Schrit­te der we­ni­gen Be­su­cher deut­lich auf dem Kies knir­schen hör­te. Über dem Gra­be des Bal­let­tän­zers er­hob sich ein schwar­zes Kreuz, und vie­le As­tern blüh­ten dort. Nach­denk­lich stand Rosa da­vor. End­lich knie­te sie nie­der und be­te­te; sie konn­te aber nicht wei­nen, und das miss­fiel ihr. Hat­te sie denn ih­ren Va­ter nicht ge­liebt? Wie sie je­doch so vor dem Grab­hü­gel knie­te, er­griff sie ein tie­fes Mit­leid ih­rer selbst, sie beug­te ihre Stirn in die As­tern hin­ein und wein­te bit­ter­lich über sich selbst. –

 

End­lich ei­nes Ta­ges be­schied Fräu­lein Schank Rosa zu sich. Rosa fand sich pünkt­lich ein. Fräu­lein Schank hat­te so­eben zu Mit­tag ge­ges­sen und eil­te ih­rer frü­he­ren Schü­le­rin mit ro­ter Nase und ge­röte­tem Kinn ent­ge­gen.

»Gu­ten Tag. Komm, bit­te, hier her­ein«, sag­te sie has­tig und auf­ge­regt und führ­te Rosa in das Wohn­zim­mer.

In ei­ner Ecke die­ses Zim­mers saß auf ei­nem ge­räu­mi­gen Lehn­ses­sel Fräu­lein Schanks Mut­ter, eine sehr alte, ge­lähm­te Frau. Mit trü­ben gel­ben Au­gen starr­te sie vor sich hin und ver­zog die Un­ter­lip­pe, was ih­rem Ge­sicht einen bö­sen, höh­ni­schen Aus­druck ver­lieh.

»Rosa Herz, Mut­ter«, mel­de­te Fräu­lein Schank. »Nimm Platz, Rosa«, fuhr sie in stren­gem Gou­ver­nan­ten­ton fort, ihre gelb­li­chen Wan­gen wur­den je­doch ganz rot, und sie woll­te die Un­ter­re­dung durch eine zweck­lo­se Ge­schäf­tig­keit noch hin­aus­schie­ben. Das Er­schei­nen ih­rer frü­he­ren Schü­le­rin mach­te sie ver­le­gen. Statt der durch­trie­be­nen Rosa stand eine Frau vor ihr, die we­der zer­knirscht noch de­mü­tig aus­sah, son­dern nur ernst und sehr schön, mit ih­rer vol­len Ge­stalt im schwar­zen Klei­de, mit den leuch­ten­d­ro­ten Lip­pen im blei­chen Ge­sicht und den feuch­ten großen Au­gen, die tiefer in das Le­ben hin­ein­ge­schaut hat­ten als Fräu­lein Schank – trotz ih­rer drei­ßig Jah­re keu­scher Schul­weis­heit.

»So – so! Du sitzt schon? Ich bin auch da«, sag­te sie und setz­te sich ge­ra­de auf ih­rem Stuhl; da­bei ver­such­te sie die be­trüb­te, miss­bil­li­gen­de Mie­ne an­zu­neh­men, die sie auf­zu­set­zen pfleg­te, wenn eine Schü­le­rin »wie­der nicht prä­pa­riert« war; sie ge­lang ihr je­doch nicht. Mit ih­ren spit­zen ro­ten Bäck­chen sah Fräu­lein Schank so be­fan­gen und hilf­los aus, dass Rosa sich frag­te: Was hat sie nur?

»Du siehst an­ge­grif­fen aus«, be­gann Fräu­lein Schank und strich sich ihr Ban­deau glatt. »Nicht wahr, Mut­ter, die Rosa sieht an­ge­grif­fen aus?«

»Ja – ja«, er­wi­der­te die Alte, »das ist die Stre­ber.«

»Rosa Herz, Mut­ter – Herz –« ver­bes­ser­te Fräu­lein Schank, die wie­der ihre schar­fe Art fand.

»Gute Toch­ter«, ent­geg­ne­te die Alte und ver­zog höh­nisch die Un­ter­lip­pe, »ich weiß ja, dass der Stre­ber weg­lief. Als ob ich das nicht wüss­te!«

Fräu­lein Schank zuck­te die Ach­seln, sie woll­te ihre Mut­ter lie­ber gar nicht be­ach­ten.

»Um auf un­ser Ge­schäft zu kom­men«, wand­te sie sich an Rosa, »so habe ich eine Stel­le für dich. Sie ist aber weit von hier – in Mos­kau, und du müss­test gleich ab­rei­sen.«

»Ja – Fräu­lein Schank, ich dan­ke Ih­nen sehr.«

»Und der Stre­ber schreibt gar nicht mehr?« warf die Alte ein und neig­te ihr schie­fes, höh­ni­sches Ge­sicht auf die Schul­ter.

»Die Be­din­gun­gen sind gut«, fuhr Fräu­lein Schank fort. »500 Ru­bel Ge­halt und das Rei­se­geld. Zwei Kin­der sind da. Ein vor­neh­mes, rei­ches Haus. Ich glau­be, es dürf­te dir kon­ve­nie­ren?«

»Ge­wiss! Ich bin Ih­nen sehr dank­bar.«

»Wird denn der Kerl bis nach Russ­land ge­lau­fen sein?« rief die alte Schank da­zwi­schen.

»Ich hof­fe«, schloss Fräu­lein Schank mit kla­gen­der Stim­me, »du wirst dich dort ein­le­ben.« Trä­nen tra­ten ihr in die Au­gen, und sie um­arm­te Rosa. »Gott be­hü­te dich! Ich habe ge­tan, was ich konn­te.«

Als Rosa der al­ten Schank die Hand küs­sen woll­te, hielt die­se sie fest. »Adieu, lie­be Stre­ber, ma­chen Sie sich nichts dar­aus, dass er Ih­nen durch­ge­gan­gen ist. Die Ro­sa­lie ließ auch so ei­ner sit­zen. Wir war­ten auf den Kerl heu­te noch. Wie heißt er doch – Ro­sa­lie? – Dei­ner? Du musst das wis­sen.«

»Mut­ter!« fuhr Fräu­lein Schank ge­reizt auf, »Rosa Herz ist’s – Rosa Herz.«

»Ach Gute! Ich weiß wohl, was ich sage. Ich ken­ne eure schmut­zi­gen Ge­schich­ten ganz ge­nau, nur der Name ist mir ent­fal­len. Du hast aber dei­ne Heim­lich­kei­ten; das kenn ich schon!«

So­mit war es ent­schie­den, Rosa reis­te ab. Wei­nend pack­te Ag­nes die Kof­fer. Um den Zug zu er­rei­chen, muss­te Rosa um neun Uhr abends die Stadt ver­las­sen. Der Post­wa­gen hielt vor der Türe, und der Haus­knecht band die Kof­fer auf. Ag­nes nahm Rosa noch ein­mal in die Arme und flüs­ter­te ihr gute Leh­ren ins Ohr: »– und dann, Kind, nimm dich in acht. Die Rus­sen sind gott­lo­se Leu­te, und du weißt, wie hübsch du bist. War­te, bis ei­ner dich recht lieb hat und bis du ihn auch lieb­ha­ben kannst, dann hei­ra­te ihn. Aber war­te; glau­be mir, Kind, das ist bes­ser.«

»Ja, Ag­nes, das ist bes­ser.«

Der Ge­dan­ke, sie könn­te noch ein­mal je­mand recht lieb­ha­ben, mach­te die­ses lie­bes­durs­ti­ge Frau­en­herz für einen Au­gen­blick ganz warm, und Rosa lä­chel­te.

Als sie aber im Wa­gen saß und durch die Stadt fuhr, wein­te sie doch. Sie beug­te sich vor, um noch einen Blick auf das Stück Le­ben zu wer­fen, mit dem sie nun vollends ab­schloss.

Über dem Rat­haus hing der Mond. Der Markt­platz war so hell be­schie­nen, dass man die Pflas­ter­stei­ne hät­te zäh­len kön­nen. An den Häu­sern ent­lang trip­pel­te eine zier­li­che Ge­stalt mit ei­nem breit­ran­di­gen gel­ben Stroh­hut. Sie mach­te ei­ni­ge Schrit­te und schau­te sich um, ging wei­ter und schau­te sich wie­der um. War das nicht Ma­ri­an­ne Schulz? Ja! Und ihr auf dem Fuß folg­te breit­schult­rig und be­hä­big Her­weg Koll­hardt.

ENDE

Wellen

Vous êtes tous les deux téné­breux et dis­crets:

Hom­me, nul n’a son­dé le fond de tes abî­mes,

O mer, nul ne con­naît tes ri­ches­ses in­ti­mes,

Tant vous êtes ja­loux de gar­der vos se­crets.

Bau­de­lai­re

Erstes Kapitel

Die Ge­ne­ra­lin von Pa­li­kow und Fräu­lein Mal­wi­ne Bork, ihre lang­jäh­ri­ge Ge­sell­schaf­te­rin und Freun­din, ka­men in das Wohn­zim­mer. Sie woll­ten sich ein we­nig er­ho­len. Die Ge­ne­ra­lin setz­te sich auf das Sofa, das frisch mit ei­nem blan­ken, schwarz und ro­ten Kat­tun be­zo­gen war. Sie war sehr er­hitzt und lös­te die Hau­ben­bän­der un­term Kinn. Das lila Som­mer­kleid knis­ter­te leicht, die wei­ßen Haar­ku­chen an den Schlä­fen wa­ren ver­scho­ben und sie at­me­te stark. Sie schwieg eine Wei­le und schau­te mit den ein we­nig her­vor­ste­hen­den grell­blau­en Au­gen kri­tisch im Zim­mer um­her. Das Zim­mer war weiß ge­tüncht, we­nig schwe­re Mö­bel stan­den an den Wän­den um­her und über die Bret­ter des Fuß­bo­dens war Sand ge­streut, der in der Abend­son­ne glit­zer­te. Es roch hier nach Kalk und See­moos.

»Hart«, sag­te die Ge­ne­ra­lin und leg­te ihre Hand auf das Sofa.

Fräu­lein Bork neig­te den Kopf mit dem leicht er­grau­ten Haar auf die lin­ke Schul­ter, blick­te schief durch die Glä­ser ih­res Knei­fers auf die Ge­ne­ra­lin, und das bräun­li­che Ge­sicht, das aus­sah wie das Ge­sicht ei­nes klu­gen äl­te­ren Herrn, lä­chel­te ein nach­denk­li­ches, ver­zei­hen­des Lä­cheln. »Das Sofa«, sag­te sie, »na­tür­lich, aber man kann es nicht an­ders ver­lan­gen. Für die Ver­hält­nis­se ist es doch sehr gut.«

»Lie­be Mal­wi­ne«, mein­te die Ge­ne­ra­lin, »Sie ha­ben die An­ge­wohn­heit, al­les ge­gen mich zu ver­tei­di­gen. Ich grei­fe das Sofa gar nicht an, ich sage nur, es ist hart, das wird man doch noch dür­fen.«

Fräu­lein Bork er­wi­der­te dar­auf nichts, sie lä­chel­te ihr ver­zei­hen­des Lä­cheln und schau­te schief durch ih­ren Knei­fer jetzt zum Fens­ter hin­aus auf den klei­nen Gar­ten, der da­vor lag. Salat und Kohl wuch­sen dort recht küm­mer­lich, Son­nen­blu­men stan­den da mit großen schwar­zen Her­zen und über al­le­dem lag ein leich­ter blon­der Staub­schlei­er. Da­hin­ter der Strand grell oran­ge in der Abend­son­ne, end­lich das Meer un­deut­lich von all dem un­ru­hi­gen Glan­ze, der auf ihm schwamm, von den zwei re­gel­mä­ßi­gen wei­ßen Stri­chen der Bran­dungs­wel­len um­säumt. Und ein Rau­schen kam her­über ein­tö­nig, wie von ei­nem schläf­ri­gen Takt­stock ge­lei­tet.

Die Ge­ne­ra­lin hat­te den Bul­len­krug für den Som­mer ge­mie­tet, um hier an der See ihre Fa­mi­lie um sich zu ver­sam­meln. Vor drei Ta­gen war sie mit Fräu­lein Bork, Frau Klin­ke, der Mam­sell,1 und Er­nes­ti­ne, dem klei­nen Dienst­mäd­chen, hier an­ge­langt, um al­les ein­zu­rich­ten. Es er­for­der­te Ar­beit und Nach­den­ken ge­nug, für alle die­se Men­schen Platz zu schaf­fen und nicht nur Platz, »denn«, pfleg­te die Ge­ne­ra­lin zu sa­gen, »ich ken­ne mei­ne Kin­der, bei al­lem, was ich gebe, sind sie kri­tisch wie ein Thea­ter­pu­bli­kum.« Heu­te nun war die Toch­ter der Ge­ne­ra­lin, die Baro­nin von Butt­lär, mit den Kin­dern, den bei­den eben er­wach­se­nen Mäd­chen Lolo und Nini und dem fünf­zehn­jäh­ri­gen We­dig, an­ge­langt. Der Baron Butt­lär soll­te nach­kom­men, so­bald die Heu­ern­te be­en­det war, und Lo­los Bräu­ti­gam Hil­mar von dem Hamm, Leut­nant bei den Braun­schwei­ger Husa­ren, wur­de auch er­war­tet.

»Wer­den sie auch heu­te Abend alle satt wer­den?« be­gann die Ge­ne­ra­lin wie­der. »Die Rei­se macht hung­rig.« – »Ich den­ke«, er­wi­der­te Fräu­lein Bork, »da sind die Fi­sche, die Kar­tof­feln, die Erd­bee­ren, und We­dig hat sein Beefs­teak.«

»So, so«, mein­te die Ge­ne­ra­lin, »üb­ri­gens der Jun­ge wird es im Le­ben nicht leicht ha­ben, wenn er im­mer sein Beefs­teak ha­ben muss.«

Fräu­lein Bork zuck­te mit den Ach­seln und sag­te ent­schul­di­gend: »Er ist so zart.« Aber das är­ger­te die Ge­ne­ra­lin: »Ge­wiss, ich gön­ne ihm sein Beefs­teak, Sie brau­chen ihn nicht zu ver­tei­di­gen. Nur fin­de ich, lie­be Mal­wi­ne, dass Sie kei­nen rech­ten Sinn ha­ben für das, was man all­ge­mei­ne Be­mer­kun­gen nennt.« Dann schwie­gen die bei­den Da­men wie­der.

Drau­ßen von der Holz­ve­ran­da tön­te Lärm her­über, Teller­ge­klap­per und hohe Stim­men. Er­nes­ti­ne deck­te dort den Tisch für das Abendes­sen und stritt da­bei mit We­dig. Auch Lolo und Nini wa­ren er­schie­nen, sie lehn­ten an der Holz­brüs­tung der Ve­ran­da schmal und schlank in ih­ren blau­en Som­mer­klei­dern. Der See­wind fuhr ih­nen in das leich­te rote Haar und ließ es hübsch um die Ge­sich­ter mit den fast krank­haft fei­nen Zü­gen flat­tern. Die Mäd­chen zo­gen ein we­nig die Au­gen­brau­en zu­sam­men und schau­ten mit den blan­ken braun­ro­ten Au­gen un­ver­wandt auf das Meer und öff­ne­ten die Lip­pen, als woll­ten sie lä­cheln, aber das große be­weg­te Leuch­ten vor ih­nen mach­te sie schwin­de­lig. Auch We­dig hat­te sich nun zu ih­nen ge­sellt und schau­te auch schwei­gend hin­aus. Das kränk­li­che Kna­ben­ge­sicht ver­zog sich, als täte all die­ses Licht ihm weh.

»So«, sag­te die Ge­ne­ra­lin drin­nen zu Fräu­lein Bork, »das war ein an­ge­neh­mer stil­ler Au­gen­blick. Ich höre, mei­ne Toch­ter kommt die Trep­pe her­un­ter, nun kann es wie­der los­ge­hen.«

Frau von Butt­lär hat­te ein we­nig ge­schla­fen, trug ih­ren Mor­gen­rock und hüll­te sich frös­telnd in ein wol­le­nes Tuch. Sie moch­te frü­her das hüb­sche überz­ar­te Ge­sicht ih­rer Töch­ter ge­habt ha­ben, jetzt wa­ren die Wan­gen ein­ge­fal­len und die Haut leicht ver­gilbt. Auf­ge­braucht von Mut­ter­schaft und Haus­frau­en­tum war sie sich ih­res Rech­tes be­wusst, kränk­lich zu sein und nicht mehr viel auf ihr Äu­ße­res zu ge­ben.

Man setz­te sich auf der Ve­ran­da zur Abend­mahl­zeit nie­der an den Tisch, über den das rote Abend­licht hin­flu­te­te und der See­wind an dem Tisch­tuch und den Ser­vi­et­ten zerr­te. Das mach­te die Ge­sell­schaft schweig­sam, so das Meer vor sich, war es, als sei man nicht al­lein, nicht un­ter sich.

»Ich habe mir das Meer grö­ßer ge­dacht«, er­klär­te We­dig end­lich.

»Na­tür­lich, mein Sohn«, mein­te die Ge­ne­ra­lin. »Du willst wohl für dich ein Ex­tra-Meer.«

Frau von Butt­lär lä­chel­te ge­rührt und sag­te lei­se: »Er hat so viel Fan­ta­sie.« Fräu­lein Bork sah We­dig schief durch ih­ren Knei­fer an und mein­te: »An die Fan­ta­sie des Kin­des reicht selbst das Welt­meer nicht hin­an.«

Nun be­gann Frau von Butt­lär mit ih­rer Mut­ter ein Ge­spräch über Re­pe­now, ihr Gut, über Din­ge, die sie an­zu­ord­nen ver­ges­sen hat­te, von Ge­mü­sen, die ein­ge­macht wer­den soll­ten, und Dienst­bo­ten, die un­zu­ver­läs­sig wa­ren, lau­ter Sa­chen, die selt­sam fremd und un­pas­send in das Rau­schen des Mee­res hin­ein­klan­gen, dach­te Lolo. Aber un­ten am Tisch war ein Streit ent­stan­den zwi­schen We­dig und Er­nes­ti­ne. »Er­nes­ti­ne«, sag­te Fräu­lein Bork streng, »wie oft habe ich es dir nicht ge­sagt, du darfst beim Ser­vie­ren nicht spre­chen. Oh! Cet­te en­fant!«2 setz­te sie hin­zu und seufz­te. Die Ge­ne­ra­lin lach­te. »Ja, un­se­re Bork hat es mit Er­nes­ti­nes Er­zie­hung schwer, denkt euch, heu­te Mit­tag ent­schließt sich das Mäd­chen zu ba­den. Sie geht ins Meer nackt wie ein Fin­ger, am hel­len Mit­tag.« – »Aber Mama!« flüs­ter­te Frau von Butt­lär, die Mäd­chen beug­ten sich auf ihre Tel­ler nie­der, wäh­rend We­dig nach­denk­lich Er­nes­ti­ne nach­schau­te, die ki­chernd ver­schwand.

 

Das Abend­licht leg­te sich jetzt plötz­lich ganz grell­rot und un­wahr­schein­lich über den Tisch und Fräu­lein Bork schrie auf: »Seht doch!« Alle fuh­ren mit den Köp­fen her­um. An dem blass­blau­en Him­mel stan­den rie­si­ge kup­fer­ro­te Wol­ken und auf dem dun­kel­wer­den­den Meer schwamm es wie große Stücke rot­glän­zen­den Me­talls, wäh­rend die am Ufer zer­ge­hen­den Wel­len den Sand wie mit rosa Mus­selin­tü­chern über­deck­ten. We­dig blin­zel­te mit den ro­ten Wim­pern und ver­zog wie­der sein Ge­sicht, als schmerz­te es ihn. »Das ist al­ler­dings rot«, mein­te er. Die Ge­ne­ra­lin je­doch war un­zu­frie­den: »Sie ha­ben mich er­schreckt, Mal­wi­ne, Sie ha­ben eine Art, auf Na­tur­schön­hei­ten auf­merk­sam zu ma­chen, dass man je­des Mal zu­sam­men­fährt und glaubt, eine We­s­pe sit­ze ei­nem ir­gend­wo im Ge­sicht.«

Die Mahl­zeit war zu Ende, die Mäd­chen und We­dig stell­ten sich an die Ve­randa­brüs­tung, um auf das Meer zu star­ren. Frau von Butt­lär hüll­te sich fes­ter in ihr Tuch und sprach mit lei­ser, be­sorg­ter Stim­me von ih­ren häus­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten.

Die ge­walt­sa­men Far­ben am Him­mel er­lo­schen jäh. Die farb­lo­se Durch­sich­tig­keit der Som­mer­däm­me­rung leg­te sich über das Land und das Meer, jetzt licht­los, schi­en plötz­lich un­end­lich groß und fremd. Auch das Rau­schen war nicht mehr so ge­ord­net ein­tö­nig und takt­mä­ßig; es war, als lie­ßen sich die ein­zel­nen Wel­len­stim­men un­ter­schei­den, wie sie ein­an­der rie­fen und sich in das Wort fie­len. Klein und dun­kel hock­ten die Fi­scher­häu­ser auf den fah­len Dü­nen, hie und da er­wach­te in ih­nen ein gel­bes Licht­pünkt­chen, das kurz­sich­tig in die auf­stei­gen­de Nacht hin­ein­blin­zel­te. Auf der Ve­ran­da war es still ge­wor­den. Das selt­sa­me Ge­fühl, ganz win­zig in­mit­ten ei­ner Unend­lich­keit zu ste­hen, gab ei­nem je­den für einen Au­gen­blick einen leich­ten Schwin­del und ließ ihn stil­le­hal­ten, wie Men­schen, die zu fal­len fürch­ten.

»Wer wohnt denn dort?« be­gann Frau von Butt­lär end­lich und wies auf ei­nes der Licht­pünkt­chen am Stran­de.

»Das dort«, er­wi­der­te die Ge­ne­ra­lin, »das ist das Haus des Strand­wäch­ters. Eine ver­wach­se­ne Ex­zel­lenz hat sich bei ihm ein­ge­mie­tet. Du kennst ihn auch, den Ge­heim­rat Knos­pe­li­us, er ist bei der Reichs­bank et­was, er un­ter­schreibt, glau­be ich, das Pa­pier­geld.«

Ja, Frau von Butt­lär er­in­ner­te sich sei­ner: »So ein Klei­ner mit ei­nem Bu­ckel. Recht un­heim­lich.«

»Aber so in­ter­essant«, mein­te Fräu­lein Bork.

»Und die an­de­ren Häu­ser?« frag­te Frau von Butt­lär wei­ter.

»Das sind Fi­scher­häu­ser«, er­klär­te Fräu­lein Bork, »das größ­te dort ist das An­we­sen des Fi­schers War­dein und dort, ja, dort wohnt sie doch.«

»Sie?« frag­te Frau von Butt­lär, be­un­ru­higt da­von, dass Fräu­lein Bork ihre Stim­me so ge­heim­nis­voll dämpf­te.

»Nun ja«, flüs­ter­te Fräu­lein Bork, »sie, die Grä­fin Dora­li­ce, Dora­li­ce Köh­ne-Jas­ky, die wohnt dort mit – nun ja, sa­gen wir mit ih­rem Man­ne.« Frau von Butt­lär ver­stand noch nicht ganz.

»Dora­li­ce Köh­ne, die Frau des Ge­sand­ten, das ist doch die, die mit dem Ma­ler – die wohnt hier, das ist ja aber schreck­lich, man kennt sich doch.«

Doch die Ge­ne­ra­lin är­ger­te sich: »Was ist da­bei Schreck­li­ches, man hat sich ge­kannt, man kennt sich nicht mehr. Der Strand ist breit ge­nug, um an­ein­an­der vor­über­zu­ge­hen, eine frem­de Frau Grill, nichts wei­ter. Ihr Ma­ler heißt ja­wohl Hans Grill.«

»Sind sie we­nigs­tens ver­hei­ra­tet?« klag­te Frau von Butt­lär.

»Ja, sie sa­gen, ich weiß es nicht«, mein­te die Ge­ne­ra­lin, »das ist auch gleich. Sie wird das Meer nicht un­rein ma­chen, wenn sie dar­in ba­det. Es ist kein Grund, lie­be Bel­la, ein Ge­sicht zu ma­chen, als sei­est du und dei­ne Kin­der nun ver­lo­ren.«

»Und er ist ein ganz ge­wöhn­li­cher Mensch«, jam­mer­te Frau von Butt­lär wei­ter.

»Ja«, sag­te Fräu­lein Bork, sie sprach noch im­mer lei­se, aber ihre Stim­me nahm einen zärt­li­chen, fei­er­li­chen Klang an, als re­zi­tie­re sie ein Ge­dicht: »es ist trau­rig und doch wie­der in sei­ner Art schön, wie der alte Graf das Ta­lent des ar­men Schul­meis­ter­soh­nes ent­deckt, er ihn aus­bil­den lässt, wie er ihn auf das Schloss be­ruft, da­mit er die jun­ge Grä­fin malt, ja und dort – müs­sen sie sich eben lie­ben, was kön­nen sie da­für. Aber sie wol­len nicht die Heim­lich­keit und den Be­trug. Sie tre­ten zu­sam­men vor den al­ten Gra­fen hin und sa­gen: Wir lie­ben uns, wir kön­nen nicht an­ders, gib uns frei, und er, der edle Greis …«

»Der alte Narr«, un­ter­brach sie die Ge­ne­ra­lin. »Wer sagt Ih­nen denn, dass es so ge­we­sen ist, wer ist denn da­bei ge­we­sen? Wahr­schein­lich sind nicht die bei­den zu dem Al­ten ge­kom­men, son­dern der Alte ist zu den bei­den her­ein­ge­kom­men, das sieht denn an­ders aus. Köh­ne war im­mer ein Narr. Wenn man drei­ßig Jah­re äl­ter als sei­ne Frau ist, lässt man sei­ne Frau nicht ma­len und spielt man nicht den Kunst­freund. Und die­se Dora­li­ce, ich habe ihre Mut­ter ge­kannt, eine dum­me Gans, die nichts zu tun hat­te im Le­ben, als Mi­grä­ne zu ha­ben und zu sa­gen: ›Mei­ne Dora­li­ce ist so ei­gen­tüm­lich!‹ Ja, ei­gen­tüm­lich ist sie ge­wor­den, gleich­viel, da ist nichts, um die Au­gen gen Him­mel zu schla­gen und zu sa­gen: Wie schön! Las­sen Sie die Grill Grill sein, lie­be Mal­wi­ne, wenn Sie sie mit Ihren Fan­tasi­en zur Hel­din des Stran­des ma­chen, ver­dre­hen Sie den Kin­dern den Kopf. Er­nes­ti­ne läuft oh­ne­hin alle Au­gen­bli­cke zum Stran­de hin­un­ter, um die fort­ge­lau­fe­ne Grä­fin zu se­hen, das ver­bit­te ich mir. Sei­en Sie so gut und hal­ten Sie mit Ih­rer Poe­sie an sich.«

»Schreck­lich, schreck­lich«, seufz­te Frau von Butt­lär. Fräu­lein Bork aber schi­en das Schel­ten der Ge­ne­ra­lin nicht zu hö­ren, ver­träumt schau­te sie in die Däm­me­rung hin­ein, sah, wie die Däm­me­rung sich sach­te auf­hell­te, der Mond war auf­ge­gan­gen, Sil­ber misch­te sich in das Dun­kel der Wel­len und der Strand lag hell be­leuch­tet da.

»Da sind sie!« schrie Fräu­lein Bork auf.

Er­schro­cken fuh­ren alle her­um. Am Ran­de der Düne zeich­ne­ten sich ge­gen den hel­len Him­mel deut­lich die Fi­gu­ren ei­nes großen Man­nes und ei­ner Frau ganz nahe bei­ein­an­der ab. »Dort ste­hen sie je­den Abend«, flüs­ter­te Fräu­lein Bork ge­heim­nis­voll.

Frau von Butt­lär starr­te angst­voll zu dem Paa­re auf der Düne hin­über, dann rief sie er­regt: »Kin­der, ihr seid noch da, warum geht ihr nicht schla­fen? Ihr seid müde, nein, nein, geht, gute Nacht«, und be­ru­hig­te sich erst, als die Kin­der fort wa­ren. Da sah sie sich noch ein­mal das Paar an da drü­ben, das jetzt eng an­ein­an­der ge­schmiegt den Strand ent­lang ging, seufz­te tief und sag­te kum­mer­voll:

»Das ist al­ler­dings un­er­war­tet, un­er­war­tet fa­tal. Wenn ich mich auf et­was freue, kommt im­mer so et­was da­zwi­schen. Schon der Kin­der we­gen ist es mir un­an­ge­nehm.«