Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Rosa schau­te ihn an, wie man ein wid­ri­ges In­sekt be­ob­ach­tet, fürch­tend, dass es sich auf einen wirft. Als er aber wim­mernd nie­der­knie­te, da ward sie von ih­rer Furcht über­wäl­tigt, sie wich zur Sei­te und woll­te flie­hen, er je­doch hielt sie an den Fü­ßen fest, sie mit sei­nen lan­gen Ar­men um­schlin­gend, kroch er an ihr em­por, das gel­be Ge­sicht mit den her­vor­tre­ten­den gel­ben Au­gen kam dem ih­ren ganz nah, die hei­ßen, dün­nen Lip­pen so­gen sich an ih­rer Wan­ge fest. Mit ver­zwei­fel­ter An­stren­gung stieß Rosa ge­gen den Kör­per, der sich an sie he­randräng­te, und er tau­mel­te. »Hil­fe! Um Got­tes wil­len!« schrie sie – und wie­der preß­ten die zit­tern­den dür­ren Glie­der sie an sich. Schrit­te wur­den hör­bar. »Hil­fe!« schrie Rosa noch ein­mal.

»Ver­fluch­te Ka­nail­le!« sag­te je­mand ne­ben ihr, und Lurch, der sich an Ro­sas Rö­cke an­zu­klam­mern ver­such­te, ward ge­packt. »Nun Brü­der­chen, komm nur«, sag­te die­sel­be Stim­me, und Lurch flog auf die an­de­re Sei­te des We­ges hin­über, um dort laut­los nie­der­zu­fal­len. Vor Rosa stand Her­weg und lach­te über das gan­ze Ge­sicht. »Dem Kerl wol­len wir sol­che Spä­ße ver­sal­zen. Wie der flog«, mein­te er.

»Ich dan­ke Ih­nen«, sag­te Rosa.

»Wie Sie blass sind, Rosa.«

»Ich will heim­ge­hen. Ich fürch­te mich.«

»Der Kerl wird Ih­nen nichts mehr tun. Wie kam er über­haupt zu Ih­nen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ge­ben Sie mir Ihren Arm. Ich füh­re Sie nach Hau­se.«

»Nein – nein! Ich gehe al­lein«, und Rosa be­gann ei­lig vor­wärts­zu­ge­hen. Her­weg je­doch folg­te ihr, und als Rosa lief, lief er auch und rief: »So war­ten Sie doch, Schätz­chen.« Er hol­te sie auch ein, hielt sie an ih­rem Man­tel fest und lach­te.

»O Gott – o Gott!« stöhn­te Rosa und wand­te Her­weg ein so ver­zwei­felt angst­vol­les Ge­sicht zu, dass er be­stürzt ward. »Aber Rosa«, sag­te er, »ich tue Ih­nen ja nichts. Ken­nen Sie mich denn nicht mehr?«

»Ach las­sen Sie mich ge­hen«, fleh­te Rosa.

»Ge­wiss, gu­ten Abend«, ver­setz­te Her­weg und grüß­te ver­le­gen. Er ver­stand nicht, was dem Mäd­chen war; hat­te er ihm denn auch ein Leid zu­ge­fügt? Ver­drieß­lich und ent­täuscht ging er sei­ner Wege.

»Kind, wo bist du ge­we­sen?« rief Ag­nes, die in der Kü­che saß, Rosa ent­ge­gen, als die­se nach Hau­se kam. »Der Va­ter ging dich su­chen.« Rosa er­wi­der­te nichts. Sie stell­te sich bloß in den hel­len Schein des Herd­feu­ers. Ein je­der muss­te es ja auf ih­rem Ge­sich­te le­sen, was sie er­lebt hat­te. »Gro­ßer Gott, was ist denn ge­sche­hen?« rief Ag­nes.

»Ach Ag­nes!« Mehr ver­moch­te Rosa nicht her­vor­zu­brin­gen. Sie knie­te vor ih­rer al­ten Pfle­ge­rin nie­der, ver­barg ih­ren Kopf in de­ren Schoß und wein­te und schluchz­te ganz aus vol­lem Her­zen. Ag­nes frag­te nicht wei­ter, sie hielt den blon­den Kopf auf ih­ren Kni­en und strich mit der Hand sanft über das Haar. Als Herr Herz heim­kam, tausch­te er mit Ag­nes nur stum­me Bli­cke und Win­ke aus, leg­te Holz auf das Feu­er, trank Tee, saß da und dreh­te kum­mer­voll einen Dau­men um den an­dern, und zu­wei­len, auf den Fuß­spit­zen an Rosa her­an­tre­tend, ließ er eine Wei­le sei­ne Hand ne­ben Ag­nes’ Hand auf dem Haup­te sei­nes Kin­des ru­hen.

Wort­los sa­ßen sie fast die gan­ze Nacht hin­durch auf und wach­ten über Ro­sas Schmerz.

Viertes Kapitel

Lurch blieb noch eine Wei­le dort un­ten am Wege lie­gen – ein dunkles, re­gungs­lo­ses Pa­ket. End­lich be­leb­te der schar­fe Wind sei­ne Le­bens­geis­ter; er fror und rich­te­te sich auf. Das Ge­hen woll­te nicht so­gleich ge­lin­gen, das rech­te Bein schmerz­te. Lie­be­voll be­tas­te­te Lurch sei­ne Glie­der, um zu un­ter­su­chen, wie groß der an­ge­rich­te­te Scha­den sei. Er muss­te nicht be­deu­tend sein, denn Lurch wand­te sein Ge­sicht ernst dem Mon­de zu und sprach laut vor sich hin: »Lurch ist heil«, dann mach­te er sich müh­sam auf den Heim­weg.

Nach dem hef­ti­gen Lei­den­schafts­sturm, der ihn be­wegt hat­te, fühl­te er sich be­ru­higt und er­nüch­tert. Er sprach wohl halb­laut mit sich selbst, aber in sei­ner sanf­ten, be­schei­de­nen Wei­se, als ver­kehr­te er mit ei­nem Kun­den im Ge­schäft. Da­bei rei­nig­te er pein­lich und ge­nau sei­nen Über­rock. »Das ging nicht. Nein! Das ging gar nicht. Wie soll­te es auch? Ich hät­te es nicht glau­ben sol­len. Nun ist’s aus. Na­tür­lich, was kann denn jetzt noch kom­men? Na­tür­lich.«

Lurch wohn­te an dem Kir­chen­platz in ei­nem ho­hen, schma­len Hau­se. Vier Trep­pen hoch hat­te er für sich und sei­ne Mut­ter zwei Zim­mer und eine Kü­che ge­mie­tet, und die­se wa­ren der Schau­platz sei­ner zar­ten, kind­li­chen Sorg­falt. Er lieb­te sei­ne Mut­ter, er ent­sann sich kaum ei­ner Zeit, da er nicht für die alte Frau zu sor­gen ge­habt hät­te. Ihr eine ru­hi­ge Exis­tenz si­chern war stets die Haupt­auf­ga­be sei­nes Le­bens ge­we­sen. Erst als er zu glau­ben be­gann, sei­ne Lie­be zu Rosa sei nicht ganz hoff­nungs­los, erst da dach­te er an die Mög­lich­keit, sich von sei­ner Mut­ter zu tren­nen. Wenn Rosa es ver­lang­te, muss­te es ge­sche­hen, na­tür­lich, aber es wür­de doch hart für die alte Frau sein!

Mit schwe­ren Schrit­ten stieg Lurch die fins­te­ren Trep­pen zu sei­ner Woh­nung hin­auf. Das ers­te Zim­mer war leer. Ein Licht­schein vom Nach­bar­fens­ter fiel in das zwei­te Zim­mer auf das Bett der al­ten Frau, und Lurch sah, wie je­den Abend, wenn er heim­kam, die große wei­ße Hau­be schon auf dem Kopf­kis­sen lie­gen. Sonst pfleg­te er wohl noch eine Wei­le auf dem Bett der al­ten Frau zu sit­zen und zu plau­dern. Er lieb­te es, wenn sei­ne Mut­ter ihre wel­ken Hän­de auf sein Knie leg­te und ihn mit mat­ter, schläf­ri­ger Stim­me über die klei­nen Er­eig­nis­se des Ta­ges aus­frag­te. »Wie hoch war die Ta­ges­lo­sung im Ge­schäft? Wen hast du auf der Stra­ße ge­se­hen?« Und die stets wie­der­keh­ren­de Fra­ge der letz­ten Zeit war ge­we­sen: »Hast du Rosa Herz ge­se­hen?« Wenn end­lich der Schlaf die alte Frau über­mann­te, stand Con­rad Lurch auf, steck­te im Ne­ben­zim­mer die Lam­pe an, ver­zehr­te flüch­tig – auf ei­ner Ti­sche­cke – sein Nacht­mahl und ver­tief­te sich in einen Ro­man. Die­se stil­len Nacht­stun­den, in de­nen die re­gel­mä­ßi­gen Atem­zü­ge der al­ten Frau und der Ton der Kir­chen­uhr al­lein die en­gen Räu­me be­leb­ten, die­se Stun­den wa­ren die er­eig­nis­reichs­ten in Lurchs ar­mem Le­ben. Den Kopf in die Hän­de ge­stützt, saß er oft gan­ze Näch­te über ei­nem Ro­man auf. Recht süße Er­zäh­lun­gen, in de­nen die Leu­te sich heiß lieb­ten, in de­nen sie wein­ten, große, edle Ge­füh­le aus­spra­chen, wa­ren ihm die liebs­ten. Trä­nen muss­ten ihm wäh­rend des Le­sens in den Au­gen bren­nen und die Hän­de kalt und kraft­los vor Er­re­gung wer­den. Erst wenn ihn die Au­gen schmerz­ten, leg­te er das Buch fort und be­gab sich zur Ruhe, mit den Ge­dan­ken noch in der schö­nen, er­eig­nis­rei­chen Welt des Ro­mans wei­lend. Und – wenn er so sin­nend im Bet­te wach­lag, das Ge­le­se­ne im­mer wie­der durch­le­bend, dann misch­te sich un­ter die Per­so­nen der Er­zäh­lung ein jun­ger Mann, von dem das Buch nichts wuss­te. Die­ser jun­ge Mann hat­te lan­ge Ge­sprä­che mit der Hel­din – be­zau­ber­te sie durch sei­nen Edel­mut. Es war eine Art Lurch – kein Zwei­fel! Und den­noch von Lan­ins dün­nem Kom­mis sehr ver­schie­den.

Heu­te ging Lurch nicht zu sei­ner Mut­ter hin­über, son­dern stell­te sich im ers­ten Zim­mer an das Fens­ter und starr­te auf den fins­tern Kir­chen­platz hin­ab.

»Con­ni – bist du’s?« frag­te die Mut­ter.

»Ja – Mut­ter!« er­wi­der­te er.

»Hast du die Lam­pe an­ge­steckt?«

»Noch nicht.«

»Im Ofen­rohr steht die Sup­pe.«

»Ja, Mut­ter, ich weiß es.«

»Gehst du heu­te zu Stei­ning? Heu­te ist Sams­tag.«

»Vi­el­leicht. Ja – ich – ich den­ke wohl.«

»Un­ter­hal­te dich gut, mein Kind.«

»Ja – Mut­ter. Gute Nacht!«

Die alte Frau wun­der­te sich dar­über, dass Con­ni nicht zu ihr ans Bett kam. »Er hat wohl Eile fort­zu­kom­men«, dach­te sie sich und schwieg. Er aber blick­te noch im­mer in die Nacht hin­aus.

Der Tod? Lurch hat­te bis­her nur des­halb zu­wei­len an ihn ge­dacht, weil die Mut­ter auf ihn war­te­te. An sei­nen ei­ge­nen Tod hat­te er nie ge­dacht. Nun – plötz­lich – kam die­ser Ge­dan­ke – wie et­was Na­tür­li­ches, wie der not­wen­di­ge Ab­schluss ei­ner Exis­tenz, mit der Rosa sich nicht ver­bin­den woll­te… Je glück­lich ge­we­sen zu sein, ent­sann sich Lurch nicht. Vi­el­leicht sams­tags, wenn er be­trun­ken war? Doch, mein Gott, auch dann!… Sonst im­mer nur ge­drück­tes, freud­lo­ses Hin­krie­chen über das all­täg­li­che Tag­werk – – bis die Lie­be kam und sich in die­sem lee­ren Da­sein breit­mach­te, es gänz­lich auf­sog. Zur Qual aber wur­de sie, als sie greif­ba­re Ge­stalt an­nahm, als die Hoff­nung aus ihr ein un­wi­der­steh­li­ches Be­geh­ren mach­te, das an Con­rad Lurch nag­te, ihn pei­nig­te, wie Zahn­weh. Jetzt, da Rosa für im­mer ver­lo­ren war, muss­te das Ende kom­men. Nicht?

Lei­se ging er an den Schrank sei­ner Mut­ter und tas­te­te, bis er das Schub­fach fand, in dem die An­den­ken an den Va­ter la­gen. Pfei­fen­köp­fe, Fe­der­hal­ter, ein Geld­beu­tel, ein Ra­sier­mes­ser – ja, das war’s! Lurch steck­te das Mes­ser in die Ta­sche sei­nes Über­rockes. Nun hät­te er ge­hen kön­nen, den­noch setz­te er sich auf einen Stuhl. Vi­el­leicht brauch­te es nicht zu sein. Sein Blick fiel auf den Kopf sei­ner Mut­ter, der re­gungs­los in den Kis­sen lag. Ja – die alte Frau, der wird es na­he­ge­hen. Wer wird mor­gen den Kaf­fee ma­chen? Je nun, sie wird die Magd von ge­gen­über ru­fen. Aber zu­recht­stel­len woll­te er ihr al­les. Er hol­te die Kaf­fee­kan­ne, die Spi­ri­tus­lam­pe, das Geld für den Bä­cker, da­ne­ben leg­te er den Schlüs­sel sei­nes Schreib­ti­sches. Dort konn­te sie noch ein we­nig Geld fin­den, das reich­te wohl hin, bis die alte Frau sich an die Stadt um Ver­sor­gung wen­den wür­de. Er trat an das Bett der Mut­ter und küss­te be­hut­sam die Spit­ze der Nacht­hau­be. – Jetzt muss­te er wirk­lich ge­hen, es war spät. Sach­te stieg er die Trep­pe hin­ab.

 

Drau­ßen weh­te es ihm kalt ent­ge­gen. Er war müde, schläf­rig, zer­schla­gen, dar­um eil­te er, um end­lich Ruhe zu ha­ben. Da war die Kon­di­to­rei! Hin­ter zu­ge­zo­ge­nen Vor­hän­gen tob­te der Gers­ten­saft-Strauß. Aber Silt, Ap­fel­baum – sie alle er­schie­nen Lurch wie fer­ne, ver­bli­che­ne Ge­stal­ten, die er vor lan­ger Zeit ge­kannt hat­te, Bür­ger der farb­lo­sen Welt, in der auch er leb­te vor dem Kuss im Tröd­ler­hau­se. Das, was er jetzt vor­hat­te, war, sei­ner Mei­nung nach, ganz an­ders vor­nehm als die Wit­ze des Gers­ten­saft-Prä­si­den­ten.

Vor Ro­sas Fens­ter blieb Lurch ste­hen. Es war dun­kel, aber die schwar­zen Glas­ta­feln hauch­ten auf ihn wie­der das schwü­le, hilflo­se Ver­lan­gen nie­der. Wü­tend nag­te er an sei­ner Un­ter­lip­pe und drück­te die Knö­chel sei­ner Hän­de an­ein­an­der. Als er end­lich wei­ter­ging, schluchz­te er – die Hän­de in den Rock­ta­schen, das Ge­sicht jam­mer­voll ver­zo­gen. Er eil­te im­mer mehr, er lief fast den Fluss ent­lang, durch ent­le­ge­ne, enge Gas­sen, bis er an ein nied­ri­ges, un­rein­li­ches Haus ge­lang­te. Aus den mit Kalk ge­trüb­ten Fens­ter­schei­ben schi­en ihm ein mat­tes, mil­chi­ges Licht ent­ge­gen, und über der Türe zeig­te ein Trans­pa­rent in ro­ten Buch­sta­ben das Wort »Bad«.

Im Flur qualm­te eine Pe­tro­le­um­lam­pe, auf ei­ner Bank saß eine alte Frau und schlief, den Kopf auf die Brust ge­senkt. Sie war nur mit ei­nem Hem­de und ei­nem kur­z­en Rock be­klei­det, die dür­ren Arme, die Bei­ne und Füße wa­ren nackt. Lurch muss­te meh­re­re Male sein »Wis­sen Sie! – Hö­ren Sie« wie­der­ho­len, eh die Frau er­wach­te. End­lich fuhr sie auf – und ohne Lurch an­zu­se­hen, er­griff sie die Lam­pe und rann­te – tap tap – mit ih­ren nack­ten Fü­ßen über die Flie­sen; da Lurch aber ver­le­gen ste­hen­blieb, wand­te sie sich um und ver­setz­te knar­rend: »Ge­hen Sie ins War­te­zim­mer, ers­te Türe links.«

Im War­te­zim­mer sa­ßen zwei Män­ner in Hemds­är­meln vor vie­len Bier­fla­schen. Schläf­rig und faul stütz­ten sie sich auf den Tisch, zu schlaff, um nach den ge­füllt vor ih­nen ste­hen­den Glä­sern zu grei­fen.

Lurch setz­te sich in eine fins­te­re Ecke, knöpf­te sei­nen Über­rock auf, nahm den Hut ab, leg­te die Hän­de flach auf die Knieschei­ben und war­te­te ge­dul­dig. Er war wie­der ru­hig ge­wor­den, und wäh­rend er da­saß, be­seel­te ihn nur ein fes­tes Wol­len – ohne Ge­dan­ken. Ei­ner der Män­ner raff­te sich auf, schlug klat­schend mit der Hand auf den Tisch und lall­te: »Und wenn die Ju­lie mor­gen nicht Aus­gang hat – dann rei­ße ich ihr den Kopf ab – ja.«

Be­deu­tungs­los und nichts­sa­gend klang Lurch das Wort »mor­gen« in die Ohren, wie ir­gend­ei­ne Re­dens­art, die un­ser Nach­bar im Coupé sei­nen Be­kann­ten zu­ruft. »Grü­ßen Sie auch den Karl!« – Was ist uns Karl? Was war Lurch mor­gen? Eben­so we­nig wie die Ju­lie.

Die Ba­de­frau kam und führ­te Lurch auf sei­ne Num­mer, ein en­ges Ka­bi­nett, in dem sich eine Wan­ne aus Weiß­blech, ein Tisch, eine Ker­ze in ei­nem Mes­sing­leuch­ter, ein Stuhl und ein Spie­gel be­fan­den. »Dan­ke«, sag­te Lurch und schloss die Türe.

Ohne zu säu­men, ent­klei­de­te er sich. Je­des Klei­dungs­stück, das er ab­leg­te, klopf­te er mit der Hand aus, fal­te­te es zu­sam­men und leg­te es auf die Fens­ter­bank. Als er da­mit zu Ende war, schärf­te er das Ra­sier­mes­ser an den Zie­gel­stei­nen des Bo­dens und stieg dann be­hut­sam in das Was­ser. Die Wär­me tat ihm wohl; er streck­te sei­ne Glie­der und rieb sie sanft mit der Hand. Eine be­hag­li­che Träg­heit kam über ihn; schläf­rig sah er die Flam­me der Ker­ze an, die im­mer krau­se­re Strah­len be­kam. Sei­ne Ge­dan­ken schweif­ten un­klar und ver­wor­ren in die Fer­ne, ka­men je­doch stets auf den­sel­ben Punkt zu­rück; »nun kommt der Tod. Gleich muss er da sein – er kommt – kommt –, das ist er – ah –«. Das Was­ser plät­scher­te. Lurch sah auf. Ne­ben ihm lag das Mes­ser. Er be­sann sich. Wie? Das war das Ster­ben also noch nicht ge­we­sen? Den gan­zen Weg hat­te er noch zu ma­chen. In der un­ge­stü­men Wut, mit der Schlaf­trun­ke­ne al­les fort­zu­sto­ßen pfle­gen, was ih­ren Schlaf stört, er­griff Lurch das Mes­ser und be­gann, ge­gen sei­nen dür­ren, blei­chen Leib zu wü­ten.

Im Flur drau­ßen hat­te sich die Ba­de­frau wie­der auf die Bank ge­setzt und schlief. Im War­te­zim­mer schlie­fen die zwei Män­ner vor ih­ren Bier­fla­schen, und durch die of­fe­ne Hau­stü­re schau­te die kal­te Rein­heit der Mond­nacht in den qual­mi­gen Raum.

Fünftes Kapitel

Ge­gen Mor­gen erst hat­te Ag­nes Rosa zu Bett ge­bracht, und ein tiefer Schlaf war über das arme Kind ge­kom­men, aus dem sie erst spät am Vor­mit­tag er­wach­te.

Ag­nes, die auf die­sen Au­gen­blick ge­spannt ge­war­tet hat­te, ging so­fort zu ihr und schlug vor, Rosa sol­le zu Bett blei­ben, Tee trin­ken, ein Ei es­sen, sich warm zu­de­cken. Rosa wies al­les zu­rück, lä­chel­te und ant­wor­te­te mit kla­rer, ru­hi­ger Stim­me, sie wol­le sich an­klei­den und dann Tee trin­ken. Ag­nes möge nur so gut sein, im Wohn­zim­mer ein Feu­er an­zu­ma­chen, denn Rosa fror.

»Ja, ja«, er­wi­der­te Ag­nes un­si­cher. »Ich mein­te nur, es wäre bes­ser, du bliebst lie­gen. Wenn ich krank bin oder mir sonst nicht recht ist, mein ich, im Bett, da ist’s am si­chers­ten; da kommt mir nicht so leicht et­was nah, das mich krän­ken oder mir scha­den könn­te. Aber wie du willst.«

Es war, als habe Rosa wäh­rend des lan­gen, traum­lo­sen Schla­fes alle ihre Er­fah­run­gen zu­sam­men­ge­rech­net, denn die Sum­me stand ihr heu­te mit über­ra­schen­der Deut­lich­keit vor Au­gen. Kei­ne Un­klar­heit, kei­ne Hoff­nung mehr, die ge­stalt- und ziel­los im Her­zen schläft. Heu­te sag­te sich Rosa: »Ich muss fort.« Vi­el­leicht hat­te die Schank noch die be­wuss­te Stel­le zu ver­ge­ben. Der Va­ter soll­te so­bald als mög­lich mit ihr dar­über spre­chen. Mit selb­stän­di­ger Will­kür hat­te Rosa ihr Le­ben ver­dor­ben, nun be­griff sie, dass sie selbst ihm wie­der ir­gend­ei­ne er­träg­li­che Ge­stalt zu ge­ben ver­su­chen muss­te. Ein fes­tes Ziel, ein greif­ba­rer Zweck, das war das ein­zi­ge, was sie jetzt er­sehn­te. Als sie ih­rem Va­ter ihre erns­te Stirn zum Mor­gen­kus­se bot, sag­te sie: »Papa, setz dich her zu mir und hör mir, bit­te, zu. Wir wol­len sehr ver­nünf­tig spre­chen.«

»Ge­wiss, Kind«, er­wi­der­te Herr Herz und füg­te hin­zu, weil er glaub­te, ein Scherz er­leich­te­re jede Si­tua­ti­on: »Und was für ein stren­ges Schul­meis­ter­ge­sicht du machst!«

»Oh, la­che nicht, Papa! Ich habe al­len Grund, ernst zu sein«, mein­te Rosa, und wäh­rend sie ih­ren Tee trank, er­klär­te sie: »Ich woll­te dich bit­ten, zu Fräu­lein Schank hin­über­zu­ge­hen – recht bald – mor­gen schon, um sie zu fra­gen, ob jene – Bon­nen­stel­le, von der sie sprach, noch frei ist. Ich bin be­reit, gleich ab­zu­rei­sen, wenn es nö­tig ist.«

»Wa­rum denn?« frag­te Herr Herz schnell. »Ist ges­tern et­was pas­siert?«

»Nein. Oder doch. Klappe­kahl teil­te mir ei­ni­ges – über Am­bro­si­us Tel­le­r­at mit, das reg­te mich auf – und hat wohl auch zu mei­nem Ent­schluss bei­ge­tra­gen.«

Wäh­rend sie sprach, tauch­te sie Brot­schnit­te in den Tee und aß und trank mit Heiß­hun­ger. – Herr Herz blick­te Ag­nes scheu an. Hat­te die­se viel­leicht all das auch vor­aus­ge­se­hen? Klein­laut ver­setz­te er dann: »Wa­rum willst du denn fort, lie­bes Kind?«

»Wir ha­ben das schon be­spro­chen«, er­wi­der­te Rosa, ernst auf­bli­ckend, »und am Ende geht die Stel­le ver­lo­ren.«

»So ganz al­lein willst du mich las­sen?« Der alte Bal­let­tän­zer ver­lor sei­ne Fas­sung. Das frem­de, ge­setz­te We­sen sei­nes Kin­des schnür­te ihm das Herz zu­sam­men. Rosa aber rück­te nahe zu ihm her­an, leg­te ihre Hand mit ei­ner müt­ter­lich über­le­ge­nen Be­we­gung an sei­ne Wan­ge und trös­te­te ihn. »Du darfst nicht so be­trübt sein und mir das Herz schwer ma­chen. Wir wol­len uns zu­sam­men­neh­men. Nicht wahr?« In ih­ren Wor­ten lag wie­der das Lie­be­vol­le, Ka­me­rad­schaft­li­che, das er an sei­ner Rosa ge­wohnt war. »Du weißt es ja, dass ich fort muss. Wenn ich viel Geld ver­dient habe – dann kom­me ich zu­rück, und wir füh­ren ein hüb­sches Le­ben, wir drei Al­ten, denn dann bin ich auch schon alt.«

Herr Herz lä­chel­te, die Au­gen vol­ler Trä­nen: »Wer weiß, mein Kind, ob du mich dann noch fin­dest.«

»Doch!« er­wi­der­te Rosa lei­se. »Da, wo man hof­fen darf, muss man hof­fen, nicht wahr? Wenn wir den­ken müss­ten, dass al­les im Le­ben schlimm aus­geht, dass nichts so kommt, wie wir es wün­schen, nein, das wäre zu hart! Du, Ag­nes und ich wer­den sehr lus­ti­ge Leu­te sein.«

Ag­nes stand an der Türe, sie wand­te je­doch Va­ter und Toch­ter den Rücken zu, sie moch­te ihr Ge­sicht nicht se­hen las­sen. –

»Du gehst also mor­gen zu Fräu­lein Schank«, schloss Rosa und lehn­te sich frös­telnd in die So­fae­cke zu­rück. »Jetzt wol­len wir bei­sam­men sein ganz wie frü­her. Komm, Ag­nes – setz dich her – und du, Papa, er­zähl et­was.«

Herr Herz wisch­te sich ge­trös­tet die Trä­nen aus den Au­gen. Ge­müt­lich­keit ver­göt­ter­te er. Wä­ren die Leu­te nur ge­müt­lich, vie­les im Le­ben wäre leich­ter zu er­tra­gen – mein­te er. Er be­gann von Sal­ly und Tod­dels zu er­zäh­len, wie sie sich im La­den ge­küsst hat­ten, wie sie Arm in Arm auf der Stra­ße ein­her­stol­zier­ten und mit­ein­an­der dis­pu­tier­ten; Sal­ly fand ih­ren Bräu­ti­gam nicht »gläu­big« ge­nug und woll­te ihn be­keh­ren. – Rosa hör­te schwei­gend zu und lach­te zu­wei­len – sanft und matt, wie im Schlaf. Ag­nes, die Bril­le mit den großen run­den Glä­sern auf der Nase, saß vor dem Feu­er und strick­te. »Nun«, be­merk­te sie zu Herrn Herz’ Be­richt, »wenn die den Tod­dels hei­ra­ten kann, hät­te sie eben­so­gut den Lurch neh­men kön­nen, da ist kein Un­ter­schied.«

»Lurch!« rief der Bal­let­tän­zer. »Weißt du das denn nicht? Der ist heu­te mor­gen un­ten am Fluss in der ver­ru­fe­nen Ba­de­stu­be tot auf­ge­fun­den wor­den. Ja, ja, in der Wan­ne hat er ge­ses­sen und hat sich mit ei­nem Ra­sier­mes­ser die Puls­ader ge­öff­net. Es ist toll! Die alte Lurch ist schlimm dar­an! Und – warum er’s ge­tan, weiß kein Mensch.«

»Um Got­tes wil­len! Sehn Sie doch das Kind an!« schrie Ag­nes auf.

Rosa hat­te sich vor­ge­beugt und starr­te ih­ren Va­ter an, das Ge­sicht weiß wie ein Tuch. »Rosa – ist dir schlecht?« frag­te Herr Herz.

»Ja«, sag­te sie, sank zu­rück und schloss die Au­gen. »Sehr schlecht!«

Das Ge­fühl des Ekels und der Furcht, wie sie es ges­tern un­ten am Fluss emp­fun­den hat­te, er­schüt­ter­te sie wie­der. Klam­mer­te sich doch al­les, was nied­rig, grau­sam, furcht­bar war, an ihr Le­ben. Ja, auch die­se blu­ti­ge Tat in der schmut­zi­gen Ba­de­stu­be ge­hör­te zu ihr. Sie sah Lurchs gel­bes Ge­sicht von Blut be­fleckt – sie hör­te wie­der den hei­se­ren, ge­quäl­ten Ton sei­ner Stim­me: »Die Lie­be zu Ih­nen frisst an mir.« Pfui! Al­les, al­les ver­schwor sich, um sie zu be­fle­cken! Sie ging un­ter in den trü­ben, un­rei­nen Flu­ten – und nir­gends Ret­tung. Sie fuhr auf. »Geht nicht fort«, rief sie und griff angst­voll nach dem Arm ih­res Va­ters.

»Nein, Kind, wir sind da. Be­ru­hi­ge dich. Komm, leg dich zur Ruh.« Rosa ließ sich fort­füh­ren, wie­der­hol­te nur im­mer: »Geht nicht fort.«

Ein hef­ti­ges Fie­ber er­griff sie über Nacht. Dr. Hol­te kam und schüt­tel­te be­denk­lich den Kopf, als er je­doch nach ei­ni­ger Zeit wie­der vor­sprach, fand er das Fie­ber ge­sun­ken; die Pa­ti­en­tin schlief ru­hig. »Es ist vor­über«, sag­te er. »Gro­ße Mat­tig­keit wird ein­tre­ten, und dann sind wir fer­tig. Eine präch­ti­ge Na­tur, Ihre Toch­ter – bes­ter Herz; kräf­tig, wis­sen Sie. Emp­feh­le mich.«

Dr. Hol­te hat­te recht. Bald saß Rosa wie­der im Ses­sel und nahm Ag­nes’ Pfle­ge und Sorg­falt wil­lig wie ein Kind ent­ge­gen. Eine große Krank­heit, dach­te sie, wäre ihr lie­ber ge­we­sen, eine je­ner Krank­hei­ten, von de­nen sie ge­le­sen, die jede Erin­ne­rung an die Ver­gan­gen­heit zer­stö­ren und den Men­schen wie ein rei­nes, un­be­schrie­be­nes Blatt dem Le­ben wie­der über­ge­ben. Ja, wer wie­der ganz von neu­em an­fan­gen könn­te!

 

Täg­lich frag­te Rosa ih­ren Va­ter: »Bist du bei der Schank ge­we­sen?« – »Nein«, ant­wor­te­te die­ser und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Mein al­ter Kopf be­hält auch nichts mehr. Aber, so große Eile wird’s wohl nicht ha­ben.«

»Doch – Papa«, mein­te Rosa mit dem her­ben, ge­reiz­ten Stimm­ton, den sie in letz­ter Zeit an­nahm.

Sehr schwer ent­schloss sich Herr Herz zu die­sem Gang; ei­nes Mor­gens aber mach­te er sich doch auf den Weg. Fräu­lein Schank emp­fing ih­ren al­ten Freund äu­ßerst kühl und streng. Sie mein­te: Da­mals, als noch Zeit war, woll­te man nicht. Jetzt wüss­te sie nicht, ob die be­tref­fen­de Stel­le noch frei sei. Hät­te man da­mals auf sie ge­hört, so wäre man­ches bes­ser ge­wor­den. »Üb­ri­gens«, sag­te sie, »wis­sen Sie’s ja, dass ich be­reit bin zu hel­fen, wenn ich kann; schon um Ih­rer ver­ewig­ten Schwes­ter wil­len, der, dem Him­mel sei Dank, man­che her­be Er­fah­rung er­spart ge­blie­ben ist. Ich wer­de also schrei­ben – mich er­kun­di­gen. Vor zwei Wo­chen ist na­tür­lich an kein Re­sul­tat zu den­ken.« Sie reich­te dem Bal­let­tän­zer zum Ab­schied ihre kal­ten, spit­zen Fin­ger und wie­der­hol­te: »Wenn ich nüt­zen kann, ste­he ich zu Diens­ten, um Ih­rer Schwes­ter wil­len.«

Die­se hal­be Stun­de vor dem mit­lei­dig sau­ren Ge­sich­te der Schul­vor­ste­he­rin war Herrn Herz pein­lich ge­nug ge­we­sen, mit dem Er­geb­nis der Un­ter­re­dung je­doch war er zu­frie­den. Vor zwei Wo­chen brauch­te von Ro­sas Abrei­se nicht die Rede zu sein. Sehr er­leich­tert eil­te er heim. Rosa fand er nicht im Wohn­zim­mer. Er frag­te Ag­nes, die aus Ro­sas Zim­mer kam und die Türe hin­ter sich schloss: »Schläft das Kind noch?«

»Ja«, er­wi­der­te Ag­nes ein­fach – und mach­te sich dar­an, den Staub von der Kom­mo­de zu wi­schen.

»Sie schläft noch?« wie­der­hol­te Herr Herz er­staunt. »Ist sie denn krank?«

»Ja – sie ist krank.« Ag­nes ar­bei­te­te, ohne auf­zu­bli­cken, em­sig fort.

»Da will ich doch nach­se­hen –« Er warf sei­nen Hut fort und eil­te zur Türe. Ag­nes hielt ihn je­doch mit ei­nem kur­z­en »Ge­hen Sie bes­ser nicht« zu­rück. Herr Herz blieb ste­hen, pro­tes­tier­te: »Wa­rum nicht?« Was wa­ren das für neue Ein­rich­tun­gen. Er muss­te Rosa be­rich­ten, was die Schank ge­sagt hat­te; aber wäh­rend er so vor sich hin­zank­te, ward ihm un­be­hag­lich zu­mut. Ag­nes sah so fei­er­lich aus – wisch­te eif­rig und un­nah­bar den Staub von der Kom­mo­de – und mach­te ihr erns­tes Ge­sicht, zog den Mund aus­ein­an­der, so dass an den Mund­win­keln große Fal­ten ent­stan­den; eine Mie­ne, die sie nur dann auf­setz­te, wenn sie Kopf­weh hat­te oder wenn et­was vor­ge­fal­len war.

»Was ist denn ge­sche­hen?« frag­te Herr Herz plötz­lich.

»We­gen der Rei­se«, ver­setz­te Ag­nes, »brau­chen Sie der Rosa nichts zu sa­gen. Jetzt kann sie nicht rei­sen.«

»Nicht?« Herr Herz stand mit­ten im Zim­mer und mach­te ein sehr ver­wirr­tes Ge­sicht.

»Nein«, fuhr Ag­nes fort, has­tig die Plat­te der Kom­mo­de rei­bend: »Wir ha­ben ge­dacht, sie soll nach Ti­glau – – für ei­ni­ge Zeit – – zu mei­ner Schwes­ter. Wenn auch nicht gleich – –« Sie bog den Kopf zur Sei­te, um zu se­hen, ob die Po­li­tur nicht einen Fle­cken be­hielt.

»Nach Ti­glau, sagst du?« Herr Herz ver­stand nicht, was vor­ging. »So? – Du meinst der Land­luft we­gen – was?« Ag­nes zuck­te die Ach­seln und ord­ne­te die Bän­de der il­lus­trier­ten Zeit­schrift. »Was? – So sprich doch –« wie­der­hol­te Herr Herz lei­se und drin­gend. Da wand­te sich Ag­nes ihm zu und sag­te lang­sam: »Nach Ti­glau – muss sie; zu mei­ner Schwes­ter – Böhk.«

»Zu dei­ner Schwes­ter Böhk«, sprach er ihr sin­nend nach. – »Nach Ti­glau – ja – ja –« Und als er auf­schau­te, be­geg­ne­te er den fest auf ihn ge­rich­te­ten Bli­cken sei­ner al­ten Die­ne­rin. Sie sa­hen sich schwei­gend an. Herr Herz er­rö­te­te, um gleich wie­der ganz bleich zu wer­den. Ag­nes wand­te sich ih­rer Ar­beit zu. Sie wuss­te es: jetzt hat­te er ver­stan­den.

Der Bal­let­tän­zer stand noch eine Wei­le re­gungs­los mit­ten im Zim­mer, dann ging er mit zit­tern­den Bei­nen zum Schrank, um sei­nen Hut ein­zu­schlie­ßen, wie er es stets tat. »Also nach Ti­glau! So – so«, mur­mel­te er, »je nun! – Das geht –« me­cha­nisch, in gleich­gül­ti­gem Ton hin­ge­wor­fe­ne Wor­te, die er selbst nicht hör­te. Er setz­te sich, schlug die Bei­ne über­ein­an­der, steck­te die Hän­de un­ter das Knie.

Als Ag­nes das Zim­mer ver­las­sen woll­te, schau­te sie sich nach ih­rem Herrn um und fand, dass er selt­sam ver­fal­len und grau da­saß. »Sie soll­ten ein we­nig an die Luft ge­hen«, warf sie hin. »An die Luft«, ant­wor­te­te er. »Ja, das kann nichts scha­den.« Ag­nes half ihm den Über­rock an­zie­hen, reich­te ihm den Hut, wäh­rend er im­mer halb­laut wie­der­hol­te: »Ja, das kann nichts scha­den!«

Im Stadt­gar­ten kam ihm der Dok­tor ent­ge­gen und rief ihn an: »Hal­lo – Herz! Was lau­fen Sie denn da her­um!« – »Ich ma­che mir Be­we­gung«, ant­wor­te­te Herr Herz. Ja, er mach­te sich sehr hef­tig Be­we­gung! Den Hut im Na­cken, den Über­rock of­fen, ging er mit Fie­ber­hast die Kies­we­ge auf und ab. Die grei­sen Au­gen­brau­en zuck­ten, und er sprach eif­rig mit sich selbst: »Nein, das habe ich nicht er­war­tet – das nicht! Ich mein­te, das Schlimms­te sei vor­über, nun kommt so et­was! Jahr um Jahr hat man ge­ar­bei­tet, um dem Kin­de eine Zu­kunft zu ver­schaf­fen – und al­les um­sonst!«

Die Schan­de, das Elend, die er als Ko­mö­di­ant hin­un­ter­ge­würgt hat­te, sie ka­men, wie eine böse Krank­heit, bei sei­nem Kin­de wie­der zum Vor­schein. Rosa muss­te es bü­ßen, dass er – Herz – nicht von je­her ein or­dent­li­cher Bür­ger ge­we­sen war. – Zu­wei­len blieb er ste­hen, stemm­te einen Arm in die Sei­te – ver­such­te sich wie­der zu den leicht­fer­ti­gen Bal­let­tän­zer­an­schau­un­gen zu über­re­den: Was ist da­bei? Kann­te denn je­mand all die Ge­schich­ten, die Zer­li­ne aus­ge­führt hat­te? Ach, was die Leu­te nicht se­hen…! Und den­noch – den­noch – es war schreck­lich! Was soll­te er Rosa sa­gen. Er zürn­te ihr und war es doch so un­ge­wohnt, ihr zu zür­nen.

Da­heim aber schmolz al­ler Zorn im über­großen Mit­leid da­hin vor der blas­sen Ge­stalt sei­ner Toch­ter. Rosa schau­te ih­rem Va­ter mit großen, angst­vol­len Au­gen ent­ge­gen und war­te­te, was er sa­gen wür­de. – Er je­doch ver­moch­te nichts zu sa­gen; beim ers­ten Wort wä­ren die Trä­nen ge­kom­men. Er küss­te Rosa auf den Schei­tel – strei­chel­te sanft ih­ren Arm.

»Ar­mer Papa«, sag­te Rosa, ohne die Lieb­ko­sun­gen zu er­wi­dern, in­dem sie ru­hig sit­zen­blieb, die Hän­de im Schoß ge­fal­tet.

»Lass es gut sein«, ver­setz­te Herr Herz mit be­ben­der Stim­me.

»Habt ihr schon ge­ges­sen?«

»Nein, Ag­nes war­tet.«

Für die Fa­mi­lie Herz kam jetzt eine Zeit trü­ben, sel­ten un­ter­bro­che­nen Schwei­gens. Selbst Ag­nes fand nichts mehr zu sa­gen – von Ti­glau durf­te nicht ge­spro­chen wer­den. In den Zim­mern, die von der Ok­t­ober­son­ne mit nüch­ter­ner Klar­heit er­füllt wur­den, gin­gen die drei be­küm­mer­ten Men­schen still und in sich ge­kehrt ne­ben­ein­an­der her, und über einen je­den von ih­nen kam oft ein tie­fes Sin­nen, das ihn auf den Fleck, auf dem er stand, die Hand an der Ar­beit, die er eben ver­rich­te­te, fest­bann­te.

Rosa emp­fand an­fangs nur un­nenn­ba­res Stau­nen, das war nicht mög­lich! An so et­was hat­te sie nie ge­dacht. Es war zu un­ge­heu­er­lich und er­reg­te in ihr eine un­kla­re, un­gläu­bi­ge Furcht. Zwar, in den Ro­ma­nen, von de­nen Fräu­lein Schank sag­te, dass sie Gift für je­des jun­ge Mäd­chen sei­en, da pfleg­te wohl ein ar­mes, blei­ches Weib mit ei­nem Kin­de vor dem vor­neh­men jun­gen Mann zu er­schei­nen, der ge­ra­de mit sei­ner Braut spa­zie­ren­geht. Also – so et­was war’s, was ihr be­geg­ne­te. Ein großes Un­glück, na­tür­lich! Sie stand aber in ih­rer kin­di­schen Un­be­hol­fen­heit da­vor und ver­such­te es sich da­durch klarzu­ma­chen, dass sie an die heim­lich ge­le­se­nen Ro­ma­ne dach­te.