Rosa schaute ihn an, wie man ein widriges Insekt beobachtet, fürchtend, dass es sich auf einen wirft. Als er aber wimmernd niederkniete, da ward sie von ihrer Furcht überwältigt, sie wich zur Seite und wollte fliehen, er jedoch hielt sie an den Füßen fest, sie mit seinen langen Armen umschlingend, kroch er an ihr empor, das gelbe Gesicht mit den hervortretenden gelben Augen kam dem ihren ganz nah, die heißen, dünnen Lippen sogen sich an ihrer Wange fest. Mit verzweifelter Anstrengung stieß Rosa gegen den Körper, der sich an sie herandrängte, und er taumelte. »Hilfe! Um Gottes willen!« schrie sie – und wieder preßten die zitternden dürren Glieder sie an sich. Schritte wurden hörbar. »Hilfe!« schrie Rosa noch einmal.
»Verfluchte Kanaille!« sagte jemand neben ihr, und Lurch, der sich an Rosas Röcke anzuklammern versuchte, ward gepackt. »Nun Brüderchen, komm nur«, sagte dieselbe Stimme, und Lurch flog auf die andere Seite des Weges hinüber, um dort lautlos niederzufallen. Vor Rosa stand Herweg und lachte über das ganze Gesicht. »Dem Kerl wollen wir solche Späße versalzen. Wie der flog«, meinte er.
»Ich danke Ihnen«, sagte Rosa.
»Wie Sie blass sind, Rosa.«
»Ich will heimgehen. Ich fürchte mich.«
»Der Kerl wird Ihnen nichts mehr tun. Wie kam er überhaupt zu Ihnen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Geben Sie mir Ihren Arm. Ich führe Sie nach Hause.«
»Nein – nein! Ich gehe allein«, und Rosa begann eilig vorwärtszugehen. Herweg jedoch folgte ihr, und als Rosa lief, lief er auch und rief: »So warten Sie doch, Schätzchen.« Er holte sie auch ein, hielt sie an ihrem Mantel fest und lachte.
»O Gott – o Gott!« stöhnte Rosa und wandte Herweg ein so verzweifelt angstvolles Gesicht zu, dass er bestürzt ward. »Aber Rosa«, sagte er, »ich tue Ihnen ja nichts. Kennen Sie mich denn nicht mehr?«
»Ach lassen Sie mich gehen«, flehte Rosa.
»Gewiss, guten Abend«, versetzte Herweg und grüßte verlegen. Er verstand nicht, was dem Mädchen war; hatte er ihm denn auch ein Leid zugefügt? Verdrießlich und enttäuscht ging er seiner Wege.
»Kind, wo bist du gewesen?« rief Agnes, die in der Küche saß, Rosa entgegen, als diese nach Hause kam. »Der Vater ging dich suchen.« Rosa erwiderte nichts. Sie stellte sich bloß in den hellen Schein des Herdfeuers. Ein jeder musste es ja auf ihrem Gesichte lesen, was sie erlebt hatte. »Großer Gott, was ist denn geschehen?« rief Agnes.
»Ach Agnes!« Mehr vermochte Rosa nicht hervorzubringen. Sie kniete vor ihrer alten Pflegerin nieder, verbarg ihren Kopf in deren Schoß und weinte und schluchzte ganz aus vollem Herzen. Agnes fragte nicht weiter, sie hielt den blonden Kopf auf ihren Knien und strich mit der Hand sanft über das Haar. Als Herr Herz heimkam, tauschte er mit Agnes nur stumme Blicke und Winke aus, legte Holz auf das Feuer, trank Tee, saß da und drehte kummervoll einen Daumen um den andern, und zuweilen, auf den Fußspitzen an Rosa herantretend, ließ er eine Weile seine Hand neben Agnes’ Hand auf dem Haupte seines Kindes ruhen.
Wortlos saßen sie fast die ganze Nacht hindurch auf und wachten über Rosas Schmerz.
Lurch blieb noch eine Weile dort unten am Wege liegen – ein dunkles, regungsloses Paket. Endlich belebte der scharfe Wind seine Lebensgeister; er fror und richtete sich auf. Das Gehen wollte nicht sogleich gelingen, das rechte Bein schmerzte. Liebevoll betastete Lurch seine Glieder, um zu untersuchen, wie groß der angerichtete Schaden sei. Er musste nicht bedeutend sein, denn Lurch wandte sein Gesicht ernst dem Monde zu und sprach laut vor sich hin: »Lurch ist heil«, dann machte er sich mühsam auf den Heimweg.
Nach dem heftigen Leidenschaftssturm, der ihn bewegt hatte, fühlte er sich beruhigt und ernüchtert. Er sprach wohl halblaut mit sich selbst, aber in seiner sanften, bescheidenen Weise, als verkehrte er mit einem Kunden im Geschäft. Dabei reinigte er peinlich und genau seinen Überrock. »Das ging nicht. Nein! Das ging gar nicht. Wie sollte es auch? Ich hätte es nicht glauben sollen. Nun ist’s aus. Natürlich, was kann denn jetzt noch kommen? Natürlich.«
Lurch wohnte an dem Kirchenplatz in einem hohen, schmalen Hause. Vier Treppen hoch hatte er für sich und seine Mutter zwei Zimmer und eine Küche gemietet, und diese waren der Schauplatz seiner zarten, kindlichen Sorgfalt. Er liebte seine Mutter, er entsann sich kaum einer Zeit, da er nicht für die alte Frau zu sorgen gehabt hätte. Ihr eine ruhige Existenz sichern war stets die Hauptaufgabe seines Lebens gewesen. Erst als er zu glauben begann, seine Liebe zu Rosa sei nicht ganz hoffnungslos, erst da dachte er an die Möglichkeit, sich von seiner Mutter zu trennen. Wenn Rosa es verlangte, musste es geschehen, natürlich, aber es würde doch hart für die alte Frau sein!
Mit schweren Schritten stieg Lurch die finsteren Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Das erste Zimmer war leer. Ein Lichtschein vom Nachbarfenster fiel in das zweite Zimmer auf das Bett der alten Frau, und Lurch sah, wie jeden Abend, wenn er heimkam, die große weiße Haube schon auf dem Kopfkissen liegen. Sonst pflegte er wohl noch eine Weile auf dem Bett der alten Frau zu sitzen und zu plaudern. Er liebte es, wenn seine Mutter ihre welken Hände auf sein Knie legte und ihn mit matter, schläfriger Stimme über die kleinen Ereignisse des Tages ausfragte. »Wie hoch war die Tageslosung im Geschäft? Wen hast du auf der Straße gesehen?« Und die stets wiederkehrende Frage der letzten Zeit war gewesen: »Hast du Rosa Herz gesehen?« Wenn endlich der Schlaf die alte Frau übermannte, stand Conrad Lurch auf, steckte im Nebenzimmer die Lampe an, verzehrte flüchtig – auf einer Tischecke – sein Nachtmahl und vertiefte sich in einen Roman. Diese stillen Nachtstunden, in denen die regelmäßigen Atemzüge der alten Frau und der Ton der Kirchenuhr allein die engen Räume belebten, diese Stunden waren die ereignisreichsten in Lurchs armem Leben. Den Kopf in die Hände gestützt, saß er oft ganze Nächte über einem Roman auf. Recht süße Erzählungen, in denen die Leute sich heiß liebten, in denen sie weinten, große, edle Gefühle aussprachen, waren ihm die liebsten. Tränen mussten ihm während des Lesens in den Augen brennen und die Hände kalt und kraftlos vor Erregung werden. Erst wenn ihn die Augen schmerzten, legte er das Buch fort und begab sich zur Ruhe, mit den Gedanken noch in der schönen, ereignisreichen Welt des Romans weilend. Und – wenn er so sinnend im Bette wachlag, das Gelesene immer wieder durchlebend, dann mischte sich unter die Personen der Erzählung ein junger Mann, von dem das Buch nichts wusste. Dieser junge Mann hatte lange Gespräche mit der Heldin – bezauberte sie durch seinen Edelmut. Es war eine Art Lurch – kein Zweifel! Und dennoch von Lanins dünnem Kommis sehr verschieden.
Heute ging Lurch nicht zu seiner Mutter hinüber, sondern stellte sich im ersten Zimmer an das Fenster und starrte auf den finstern Kirchenplatz hinab.
»Conni – bist du’s?« fragte die Mutter.
»Ja – Mutter!« erwiderte er.
»Hast du die Lampe angesteckt?«
»Noch nicht.«
»Im Ofenrohr steht die Suppe.«
»Ja, Mutter, ich weiß es.«
»Gehst du heute zu Steining? Heute ist Samstag.«
»Vielleicht. Ja – ich – ich denke wohl.«
»Unterhalte dich gut, mein Kind.«
»Ja – Mutter. Gute Nacht!«
Die alte Frau wunderte sich darüber, dass Conni nicht zu ihr ans Bett kam. »Er hat wohl Eile fortzukommen«, dachte sie sich und schwieg. Er aber blickte noch immer in die Nacht hinaus.
Der Tod? Lurch hatte bisher nur deshalb zuweilen an ihn gedacht, weil die Mutter auf ihn wartete. An seinen eigenen Tod hatte er nie gedacht. Nun – plötzlich – kam dieser Gedanke – wie etwas Natürliches, wie der notwendige Abschluss einer Existenz, mit der Rosa sich nicht verbinden wollte… Je glücklich gewesen zu sein, entsann sich Lurch nicht. Vielleicht samstags, wenn er betrunken war? Doch, mein Gott, auch dann!… Sonst immer nur gedrücktes, freudloses Hinkriechen über das alltägliche Tagwerk – – bis die Liebe kam und sich in diesem leeren Dasein breitmachte, es gänzlich aufsog. Zur Qual aber wurde sie, als sie greifbare Gestalt annahm, als die Hoffnung aus ihr ein unwiderstehliches Begehren machte, das an Conrad Lurch nagte, ihn peinigte, wie Zahnweh. Jetzt, da Rosa für immer verloren war, musste das Ende kommen. Nicht?
Leise ging er an den Schrank seiner Mutter und tastete, bis er das Schubfach fand, in dem die Andenken an den Vater lagen. Pfeifenköpfe, Federhalter, ein Geldbeutel, ein Rasiermesser – ja, das war’s! Lurch steckte das Messer in die Tasche seines Überrockes. Nun hätte er gehen können, dennoch setzte er sich auf einen Stuhl. Vielleicht brauchte es nicht zu sein. Sein Blick fiel auf den Kopf seiner Mutter, der regungslos in den Kissen lag. Ja – die alte Frau, der wird es nahegehen. Wer wird morgen den Kaffee machen? Je nun, sie wird die Magd von gegenüber rufen. Aber zurechtstellen wollte er ihr alles. Er holte die Kaffeekanne, die Spirituslampe, das Geld für den Bäcker, daneben legte er den Schlüssel seines Schreibtisches. Dort konnte sie noch ein wenig Geld finden, das reichte wohl hin, bis die alte Frau sich an die Stadt um Versorgung wenden würde. Er trat an das Bett der Mutter und küsste behutsam die Spitze der Nachthaube. – Jetzt musste er wirklich gehen, es war spät. Sachte stieg er die Treppe hinab.
Draußen wehte es ihm kalt entgegen. Er war müde, schläfrig, zerschlagen, darum eilte er, um endlich Ruhe zu haben. Da war die Konditorei! Hinter zugezogenen Vorhängen tobte der Gerstensaft-Strauß. Aber Silt, Apfelbaum – sie alle erschienen Lurch wie ferne, verblichene Gestalten, die er vor langer Zeit gekannt hatte, Bürger der farblosen Welt, in der auch er lebte vor dem Kuss im Trödlerhause. Das, was er jetzt vorhatte, war, seiner Meinung nach, ganz anders vornehm als die Witze des Gerstensaft-Präsidenten.
Vor Rosas Fenster blieb Lurch stehen. Es war dunkel, aber die schwarzen Glastafeln hauchten auf ihn wieder das schwüle, hilflose Verlangen nieder. Wütend nagte er an seiner Unterlippe und drückte die Knöchel seiner Hände aneinander. Als er endlich weiterging, schluchzte er – die Hände in den Rocktaschen, das Gesicht jammervoll verzogen. Er eilte immer mehr, er lief fast den Fluss entlang, durch entlegene, enge Gassen, bis er an ein niedriges, unreinliches Haus gelangte. Aus den mit Kalk getrübten Fensterscheiben schien ihm ein mattes, milchiges Licht entgegen, und über der Türe zeigte ein Transparent in roten Buchstaben das Wort »Bad«.
Im Flur qualmte eine Petroleumlampe, auf einer Bank saß eine alte Frau und schlief, den Kopf auf die Brust gesenkt. Sie war nur mit einem Hemde und einem kurzen Rock bekleidet, die dürren Arme, die Beine und Füße waren nackt. Lurch musste mehrere Male sein »Wissen Sie! – Hören Sie« wiederholen, eh die Frau erwachte. Endlich fuhr sie auf – und ohne Lurch anzusehen, ergriff sie die Lampe und rannte – tap tap – mit ihren nackten Füßen über die Fliesen; da Lurch aber verlegen stehenblieb, wandte sie sich um und versetzte knarrend: »Gehen Sie ins Wartezimmer, erste Türe links.«
Im Wartezimmer saßen zwei Männer in Hemdsärmeln vor vielen Bierflaschen. Schläfrig und faul stützten sie sich auf den Tisch, zu schlaff, um nach den gefüllt vor ihnen stehenden Gläsern zu greifen.
Lurch setzte sich in eine finstere Ecke, knöpfte seinen Überrock auf, nahm den Hut ab, legte die Hände flach auf die Kniescheiben und wartete geduldig. Er war wieder ruhig geworden, und während er dasaß, beseelte ihn nur ein festes Wollen – ohne Gedanken. Einer der Männer raffte sich auf, schlug klatschend mit der Hand auf den Tisch und lallte: »Und wenn die Julie morgen nicht Ausgang hat – dann reiße ich ihr den Kopf ab – ja.«
Bedeutungslos und nichtssagend klang Lurch das Wort »morgen« in die Ohren, wie irgendeine Redensart, die unser Nachbar im Coupé seinen Bekannten zuruft. »Grüßen Sie auch den Karl!« – Was ist uns Karl? Was war Lurch morgen? Ebenso wenig wie die Julie.
Die Badefrau kam und führte Lurch auf seine Nummer, ein enges Kabinett, in dem sich eine Wanne aus Weißblech, ein Tisch, eine Kerze in einem Messingleuchter, ein Stuhl und ein Spiegel befanden. »Danke«, sagte Lurch und schloss die Türe.
Ohne zu säumen, entkleidete er sich. Jedes Kleidungsstück, das er ablegte, klopfte er mit der Hand aus, faltete es zusammen und legte es auf die Fensterbank. Als er damit zu Ende war, schärfte er das Rasiermesser an den Ziegelsteinen des Bodens und stieg dann behutsam in das Wasser. Die Wärme tat ihm wohl; er streckte seine Glieder und rieb sie sanft mit der Hand. Eine behagliche Trägheit kam über ihn; schläfrig sah er die Flamme der Kerze an, die immer krausere Strahlen bekam. Seine Gedanken schweiften unklar und verworren in die Ferne, kamen jedoch stets auf denselben Punkt zurück; »nun kommt der Tod. Gleich muss er da sein – er kommt – kommt –, das ist er – ah –«. Das Wasser plätscherte. Lurch sah auf. Neben ihm lag das Messer. Er besann sich. Wie? Das war das Sterben also noch nicht gewesen? Den ganzen Weg hatte er noch zu machen. In der ungestümen Wut, mit der Schlaftrunkene alles fortzustoßen pflegen, was ihren Schlaf stört, ergriff Lurch das Messer und begann, gegen seinen dürren, bleichen Leib zu wüten.
Im Flur draußen hatte sich die Badefrau wieder auf die Bank gesetzt und schlief. Im Wartezimmer schliefen die zwei Männer vor ihren Bierflaschen, und durch die offene Haustüre schaute die kalte Reinheit der Mondnacht in den qualmigen Raum.
Gegen Morgen erst hatte Agnes Rosa zu Bett gebracht, und ein tiefer Schlaf war über das arme Kind gekommen, aus dem sie erst spät am Vormittag erwachte.
Agnes, die auf diesen Augenblick gespannt gewartet hatte, ging sofort zu ihr und schlug vor, Rosa solle zu Bett bleiben, Tee trinken, ein Ei essen, sich warm zudecken. Rosa wies alles zurück, lächelte und antwortete mit klarer, ruhiger Stimme, sie wolle sich ankleiden und dann Tee trinken. Agnes möge nur so gut sein, im Wohnzimmer ein Feuer anzumachen, denn Rosa fror.
»Ja, ja«, erwiderte Agnes unsicher. »Ich meinte nur, es wäre besser, du bliebst liegen. Wenn ich krank bin oder mir sonst nicht recht ist, mein ich, im Bett, da ist’s am sichersten; da kommt mir nicht so leicht etwas nah, das mich kränken oder mir schaden könnte. Aber wie du willst.«
Es war, als habe Rosa während des langen, traumlosen Schlafes alle ihre Erfahrungen zusammengerechnet, denn die Summe stand ihr heute mit überraschender Deutlichkeit vor Augen. Keine Unklarheit, keine Hoffnung mehr, die gestalt- und ziellos im Herzen schläft. Heute sagte sich Rosa: »Ich muss fort.« Vielleicht hatte die Schank noch die bewusste Stelle zu vergeben. Der Vater sollte sobald als möglich mit ihr darüber sprechen. Mit selbständiger Willkür hatte Rosa ihr Leben verdorben, nun begriff sie, dass sie selbst ihm wieder irgendeine erträgliche Gestalt zu geben versuchen musste. Ein festes Ziel, ein greifbarer Zweck, das war das einzige, was sie jetzt ersehnte. Als sie ihrem Vater ihre ernste Stirn zum Morgenkusse bot, sagte sie: »Papa, setz dich her zu mir und hör mir, bitte, zu. Wir wollen sehr vernünftig sprechen.«
»Gewiss, Kind«, erwiderte Herr Herz und fügte hinzu, weil er glaubte, ein Scherz erleichtere jede Situation: »Und was für ein strenges Schulmeistergesicht du machst!«
»Oh, lache nicht, Papa! Ich habe allen Grund, ernst zu sein«, meinte Rosa, und während sie ihren Tee trank, erklärte sie: »Ich wollte dich bitten, zu Fräulein Schank hinüberzugehen – recht bald – morgen schon, um sie zu fragen, ob jene – Bonnenstelle, von der sie sprach, noch frei ist. Ich bin bereit, gleich abzureisen, wenn es nötig ist.«
»Warum denn?« fragte Herr Herz schnell. »Ist gestern etwas passiert?«
»Nein. Oder doch. Klappekahl teilte mir einiges – über Ambrosius Tellerat mit, das regte mich auf – und hat wohl auch zu meinem Entschluss beigetragen.«
Während sie sprach, tauchte sie Brotschnitte in den Tee und aß und trank mit Heißhunger. – Herr Herz blickte Agnes scheu an. Hatte diese vielleicht all das auch vorausgesehen? Kleinlaut versetzte er dann: »Warum willst du denn fort, liebes Kind?«
»Wir haben das schon besprochen«, erwiderte Rosa, ernst aufblickend, »und am Ende geht die Stelle verloren.«
»So ganz allein willst du mich lassen?« Der alte Ballettänzer verlor seine Fassung. Das fremde, gesetzte Wesen seines Kindes schnürte ihm das Herz zusammen. Rosa aber rückte nahe zu ihm heran, legte ihre Hand mit einer mütterlich überlegenen Bewegung an seine Wange und tröstete ihn. »Du darfst nicht so betrübt sein und mir das Herz schwer machen. Wir wollen uns zusammennehmen. Nicht wahr?« In ihren Worten lag wieder das Liebevolle, Kameradschaftliche, das er an seiner Rosa gewohnt war. »Du weißt es ja, dass ich fort muss. Wenn ich viel Geld verdient habe – dann komme ich zurück, und wir führen ein hübsches Leben, wir drei Alten, denn dann bin ich auch schon alt.«
Herr Herz lächelte, die Augen voller Tränen: »Wer weiß, mein Kind, ob du mich dann noch findest.«
»Doch!« erwiderte Rosa leise. »Da, wo man hoffen darf, muss man hoffen, nicht wahr? Wenn wir denken müssten, dass alles im Leben schlimm ausgeht, dass nichts so kommt, wie wir es wünschen, nein, das wäre zu hart! Du, Agnes und ich werden sehr lustige Leute sein.«
Agnes stand an der Türe, sie wandte jedoch Vater und Tochter den Rücken zu, sie mochte ihr Gesicht nicht sehen lassen. –
»Du gehst also morgen zu Fräulein Schank«, schloss Rosa und lehnte sich fröstelnd in die Sofaecke zurück. »Jetzt wollen wir beisammen sein ganz wie früher. Komm, Agnes – setz dich her – und du, Papa, erzähl etwas.«
Herr Herz wischte sich getröstet die Tränen aus den Augen. Gemütlichkeit vergötterte er. Wären die Leute nur gemütlich, vieles im Leben wäre leichter zu ertragen – meinte er. Er begann von Sally und Toddels zu erzählen, wie sie sich im Laden geküsst hatten, wie sie Arm in Arm auf der Straße einherstolzierten und miteinander disputierten; Sally fand ihren Bräutigam nicht »gläubig« genug und wollte ihn bekehren. – Rosa hörte schweigend zu und lachte zuweilen – sanft und matt, wie im Schlaf. Agnes, die Brille mit den großen runden Gläsern auf der Nase, saß vor dem Feuer und strickte. »Nun«, bemerkte sie zu Herrn Herz’ Bericht, »wenn die den Toddels heiraten kann, hätte sie ebensogut den Lurch nehmen können, da ist kein Unterschied.«
»Lurch!« rief der Ballettänzer. »Weißt du das denn nicht? Der ist heute morgen unten am Fluss in der verrufenen Badestube tot aufgefunden worden. Ja, ja, in der Wanne hat er gesessen und hat sich mit einem Rasiermesser die Pulsader geöffnet. Es ist toll! Die alte Lurch ist schlimm daran! Und – warum er’s getan, weiß kein Mensch.«
»Um Gottes willen! Sehn Sie doch das Kind an!« schrie Agnes auf.
Rosa hatte sich vorgebeugt und starrte ihren Vater an, das Gesicht weiß wie ein Tuch. »Rosa – ist dir schlecht?« fragte Herr Herz.
»Ja«, sagte sie, sank zurück und schloss die Augen. »Sehr schlecht!«
Das Gefühl des Ekels und der Furcht, wie sie es gestern unten am Fluss empfunden hatte, erschütterte sie wieder. Klammerte sich doch alles, was niedrig, grausam, furchtbar war, an ihr Leben. Ja, auch diese blutige Tat in der schmutzigen Badestube gehörte zu ihr. Sie sah Lurchs gelbes Gesicht von Blut befleckt – sie hörte wieder den heiseren, gequälten Ton seiner Stimme: »Die Liebe zu Ihnen frisst an mir.« Pfui! Alles, alles verschwor sich, um sie zu beflecken! Sie ging unter in den trüben, unreinen Fluten – und nirgends Rettung. Sie fuhr auf. »Geht nicht fort«, rief sie und griff angstvoll nach dem Arm ihres Vaters.
»Nein, Kind, wir sind da. Beruhige dich. Komm, leg dich zur Ruh.« Rosa ließ sich fortführen, wiederholte nur immer: »Geht nicht fort.«
Ein heftiges Fieber ergriff sie über Nacht. Dr. Holte kam und schüttelte bedenklich den Kopf, als er jedoch nach einiger Zeit wieder vorsprach, fand er das Fieber gesunken; die Patientin schlief ruhig. »Es ist vorüber«, sagte er. »Große Mattigkeit wird eintreten, und dann sind wir fertig. Eine prächtige Natur, Ihre Tochter – bester Herz; kräftig, wissen Sie. Empfehle mich.«
Dr. Holte hatte recht. Bald saß Rosa wieder im Sessel und nahm Agnes’ Pflege und Sorgfalt willig wie ein Kind entgegen. Eine große Krankheit, dachte sie, wäre ihr lieber gewesen, eine jener Krankheiten, von denen sie gelesen, die jede Erinnerung an die Vergangenheit zerstören und den Menschen wie ein reines, unbeschriebenes Blatt dem Leben wieder übergeben. Ja, wer wieder ganz von neuem anfangen könnte!
Täglich fragte Rosa ihren Vater: »Bist du bei der Schank gewesen?« – »Nein«, antwortete dieser und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Mein alter Kopf behält auch nichts mehr. Aber, so große Eile wird’s wohl nicht haben.«
»Doch – Papa«, meinte Rosa mit dem herben, gereizten Stimmton, den sie in letzter Zeit annahm.
Sehr schwer entschloss sich Herr Herz zu diesem Gang; eines Morgens aber machte er sich doch auf den Weg. Fräulein Schank empfing ihren alten Freund äußerst kühl und streng. Sie meinte: Damals, als noch Zeit war, wollte man nicht. Jetzt wüsste sie nicht, ob die betreffende Stelle noch frei sei. Hätte man damals auf sie gehört, so wäre manches besser geworden. »Übrigens«, sagte sie, »wissen Sie’s ja, dass ich bereit bin zu helfen, wenn ich kann; schon um Ihrer verewigten Schwester willen, der, dem Himmel sei Dank, manche herbe Erfahrung erspart geblieben ist. Ich werde also schreiben – mich erkundigen. Vor zwei Wochen ist natürlich an kein Resultat zu denken.« Sie reichte dem Ballettänzer zum Abschied ihre kalten, spitzen Finger und wiederholte: »Wenn ich nützen kann, stehe ich zu Diensten, um Ihrer Schwester willen.«
Diese halbe Stunde vor dem mitleidig sauren Gesichte der Schulvorsteherin war Herrn Herz peinlich genug gewesen, mit dem Ergebnis der Unterredung jedoch war er zufrieden. Vor zwei Wochen brauchte von Rosas Abreise nicht die Rede zu sein. Sehr erleichtert eilte er heim. Rosa fand er nicht im Wohnzimmer. Er fragte Agnes, die aus Rosas Zimmer kam und die Türe hinter sich schloss: »Schläft das Kind noch?«
»Ja«, erwiderte Agnes einfach – und machte sich daran, den Staub von der Kommode zu wischen.
»Sie schläft noch?« wiederholte Herr Herz erstaunt. »Ist sie denn krank?«
»Ja – sie ist krank.« Agnes arbeitete, ohne aufzublicken, emsig fort.
»Da will ich doch nachsehen –« Er warf seinen Hut fort und eilte zur Türe. Agnes hielt ihn jedoch mit einem kurzen »Gehen Sie besser nicht« zurück. Herr Herz blieb stehen, protestierte: »Warum nicht?« Was waren das für neue Einrichtungen. Er musste Rosa berichten, was die Schank gesagt hatte; aber während er so vor sich hinzankte, ward ihm unbehaglich zumut. Agnes sah so feierlich aus – wischte eifrig und unnahbar den Staub von der Kommode – und machte ihr ernstes Gesicht, zog den Mund auseinander, so dass an den Mundwinkeln große Falten entstanden; eine Miene, die sie nur dann aufsetzte, wenn sie Kopfweh hatte oder wenn etwas vorgefallen war.
»Was ist denn geschehen?« fragte Herr Herz plötzlich.
»Wegen der Reise«, versetzte Agnes, »brauchen Sie der Rosa nichts zu sagen. Jetzt kann sie nicht reisen.«
»Nicht?« Herr Herz stand mitten im Zimmer und machte ein sehr verwirrtes Gesicht.
»Nein«, fuhr Agnes fort, hastig die Platte der Kommode reibend: »Wir haben gedacht, sie soll nach Tiglau – – für einige Zeit – – zu meiner Schwester. Wenn auch nicht gleich – –« Sie bog den Kopf zur Seite, um zu sehen, ob die Politur nicht einen Flecken behielt.
»Nach Tiglau, sagst du?« Herr Herz verstand nicht, was vorging. »So? – Du meinst der Landluft wegen – was?« Agnes zuckte die Achseln und ordnete die Bände der illustrierten Zeitschrift. »Was? – So sprich doch –« wiederholte Herr Herz leise und dringend. Da wandte sich Agnes ihm zu und sagte langsam: »Nach Tiglau – muss sie; zu meiner Schwester – Böhk.«
»Zu deiner Schwester Böhk«, sprach er ihr sinnend nach. – »Nach Tiglau – ja – ja –« Und als er aufschaute, begegnete er den fest auf ihn gerichteten Blicken seiner alten Dienerin. Sie sahen sich schweigend an. Herr Herz errötete, um gleich wieder ganz bleich zu werden. Agnes wandte sich ihrer Arbeit zu. Sie wusste es: jetzt hatte er verstanden.
Der Ballettänzer stand noch eine Weile regungslos mitten im Zimmer, dann ging er mit zitternden Beinen zum Schrank, um seinen Hut einzuschließen, wie er es stets tat. »Also nach Tiglau! So – so«, murmelte er, »je nun! – Das geht –« mechanisch, in gleichgültigem Ton hingeworfene Worte, die er selbst nicht hörte. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander, steckte die Hände unter das Knie.
Als Agnes das Zimmer verlassen wollte, schaute sie sich nach ihrem Herrn um und fand, dass er seltsam verfallen und grau dasaß. »Sie sollten ein wenig an die Luft gehen«, warf sie hin. »An die Luft«, antwortete er. »Ja, das kann nichts schaden.« Agnes half ihm den Überrock anziehen, reichte ihm den Hut, während er immer halblaut wiederholte: »Ja, das kann nichts schaden!«
Im Stadtgarten kam ihm der Doktor entgegen und rief ihn an: »Hallo – Herz! Was laufen Sie denn da herum!« – »Ich mache mir Bewegung«, antwortete Herr Herz. Ja, er machte sich sehr heftig Bewegung! Den Hut im Nacken, den Überrock offen, ging er mit Fieberhast die Kieswege auf und ab. Die greisen Augenbrauen zuckten, und er sprach eifrig mit sich selbst: »Nein, das habe ich nicht erwartet – das nicht! Ich meinte, das Schlimmste sei vorüber, nun kommt so etwas! Jahr um Jahr hat man gearbeitet, um dem Kinde eine Zukunft zu verschaffen – und alles umsonst!«
Die Schande, das Elend, die er als Komödiant hinuntergewürgt hatte, sie kamen, wie eine böse Krankheit, bei seinem Kinde wieder zum Vorschein. Rosa musste es büßen, dass er – Herz – nicht von jeher ein ordentlicher Bürger gewesen war. – Zuweilen blieb er stehen, stemmte einen Arm in die Seite – versuchte sich wieder zu den leichtfertigen Ballettänzeranschauungen zu überreden: Was ist dabei? Kannte denn jemand all die Geschichten, die Zerline ausgeführt hatte? Ach, was die Leute nicht sehen…! Und dennoch – dennoch – es war schrecklich! Was sollte er Rosa sagen. Er zürnte ihr und war es doch so ungewohnt, ihr zu zürnen.
Daheim aber schmolz aller Zorn im übergroßen Mitleid dahin vor der blassen Gestalt seiner Tochter. Rosa schaute ihrem Vater mit großen, angstvollen Augen entgegen und wartete, was er sagen würde. – Er jedoch vermochte nichts zu sagen; beim ersten Wort wären die Tränen gekommen. Er küsste Rosa auf den Scheitel – streichelte sanft ihren Arm.
»Armer Papa«, sagte Rosa, ohne die Liebkosungen zu erwidern, indem sie ruhig sitzenblieb, die Hände im Schoß gefaltet.
»Lass es gut sein«, versetzte Herr Herz mit bebender Stimme.
»Habt ihr schon gegessen?«
»Nein, Agnes wartet.«
Für die Familie Herz kam jetzt eine Zeit trüben, selten unterbrochenen Schweigens. Selbst Agnes fand nichts mehr zu sagen – von Tiglau durfte nicht gesprochen werden. In den Zimmern, die von der Oktobersonne mit nüchterner Klarheit erfüllt wurden, gingen die drei bekümmerten Menschen still und in sich gekehrt nebeneinander her, und über einen jeden von ihnen kam oft ein tiefes Sinnen, das ihn auf den Fleck, auf dem er stand, die Hand an der Arbeit, die er eben verrichtete, festbannte.
Rosa empfand anfangs nur unnennbares Staunen, das war nicht möglich! An so etwas hatte sie nie gedacht. Es war zu ungeheuerlich und erregte in ihr eine unklare, ungläubige Furcht. Zwar, in den Romanen, von denen Fräulein Schank sagte, dass sie Gift für jedes junge Mädchen seien, da pflegte wohl ein armes, bleiches Weib mit einem Kinde vor dem vornehmen jungen Mann zu erscheinen, der gerade mit seiner Braut spazierengeht. Also – so etwas war’s, was ihr begegnete. Ein großes Unglück, natürlich! Sie stand aber in ihrer kindischen Unbeholfenheit davor und versuchte es sich dadurch klarzumachen, dass sie an die heimlich gelesenen Romane dachte.