»Warum nicht?« fuhr Toddels fort, leidenschaftlich in Sallys Halskragen hineinsprechend. »Eine Heirat aus Neigung war immer mein Traum. Was – Fräulein Sally?«
»Ich glaube eben an die Liebe«, sagte Sally fest. Sie hatte es sich längst vorgenommen, im großen Moment ihres Lebens diesen Satz recht häufig anzubringen. Toddels fasste ihn als Ermutigung auf, er berührte mit dem Mittelfinger zart Sallys Hals und hauchte: »Mein holdes Weibchen.«
»Noch nicht!« wandte Sally schelmisch ein. Sie lehnte ihr erhitztes Gesicht an die Brust des Geliebten und blickte ernst zu den Wollenstoffen auf.
»Ha – ha? Noch nicht!« lachte Toddels gepresst, denn Sally drückte ihm mit ihrem Kopf einen Hemdknopf tief ins Fleisch. »Allerdings! Aber bald. Nicht wahr, mein – mein?«
»Sprechen Sie mit meinem Papa«, die feuchten Blicke aufwärts gerichtet, den Kopf fest an Toddels’ Hemdknopf gedrückt, sprach Sally diese Worte langsam und feierlich. Ach, wie hatte sie sich gesehnt, sie sprechen zu dürfen.
»Ja, Fräulein Sally«, meinte Toddels zögernd. »Ich fürchte nur, Herr Lanin wird böse werden. Er ist zuweilen ein wenig kurz mit mir. Vielleicht könnten Sie…«
»Wir werden alle Hindernisse überwinden. Ich glaube, wie gesagt, an die Liebe.«
»Gewiss – gewiss! Ich auch, mein Herzchen. Gut also! Du wirst es deiner Mutter sagen. Wir bleiben uns jedenfalls treu. Schön – abgemacht.« Und nun empfingen Sallys dünne, jungfräuliche Lippen den ersten Liebeskuss, einen sehr lauten Kuss, der süß nach Rosenpomade duftete. »Lebe wohl, meine Braut«, sagte Toddels. »Die Leute gehen schon in den Stadtgarten. Heute ist dort zum letzten Mal im Jahre Musik«, mit diesen Worten schlüpfte er hinter den Ladentisch.
Sally stand mit klopfendem Herzen da und konnte sich nicht entschließen, ihre erste Liebesstunde für geschlossen zu erklären. Sie glaubte noch etwas Schönes, Tiefempfundenes sagen zu müssen, es fiel ihr jedoch nur immer wieder ein, dass sie an die Liebe glaube. Das mochte sie nicht mehr wiederholen,
Toddels hatte unterdessen ein Stück des grünen Bandes abgeschnitten und reichte es seiner Geliebten. »Das Band, das uns verbindet«, fügte er hinzu.
»Und kostet?« fragte Sally lächelnd.
»Einen Kuss«, erwiderte der Kommis mit gespitzten Lippen. Da ward Sally wieder der kleine, neckische Brausewind.
»Setzen Sie den auf die Rechnung«, rief sie und lief mit ganz kleinen Schritten zur Türe.
»Behalte nur das Band, ich zahl es schon«, meinte Toddels. »Grün ist ja die Farbe der Hoffnung.«
»Da haben Sie recht«, erwiderte Sally ernst. Sie fand dieses Abschiedswort wirklich tief. Dann noch eine Kusshand – und sie war fort.
Die Scharen, die zum Stadtgarten strömten, belebten die Straßen. Die scharfe Luft machte alle Mädchenwangen rot und beschleunigte die Schritte. In den geöffneten Ladentüren lehnten Kommis, damit auch etwas von dem heiteren Leben draußen zu ihnen in den dumpfen Ladenraum dringe. Die Fleischerburschen – dort an der Ecke – wickelten ihre nackten Arme in die blutigen Schürzen, pfiffen und stießen sich mit den Schultern.
Sally ging schnell und leichtfüßig dahin. Sie brauchte niemanden mehr zu beneiden und fühlte sich gehoben und glücklich. Hatte sie nicht Liebe und Poesie gesucht? Nun – sie war zu Paltow ins Geschäft gegangen und hatte sie sich geholt. Befriedigt wie nach einem gelungenen Einkauf, wollte sie jetzt ein wenig Musik genießen.
Die lustig plaudernden Spaziergänger nahmen alle ihren Weg über den Marktplatz, am Laninschen Hause vorüber zum Stadtgarten, und alle sprachen von Rosa Herz. Die Schankschen Schülerinnen flüsterten miteinander über den Fall, die Augen verwundert aufgerissen, heimlich kichernd. Die furchtbare Liebes- und Entführungsgeschichte gehörte ja ihnen, hatte sich fast in der Schulstube abgespielt. Die Herren vom Gerstensaft-Strauß stellten sich mitten auf den Marktplatz – die Hände in den Hosentaschen, die Zigaretten im Mundwinkel – und scherzten über den Vorgang. Der Tellerat war ihr Bekannter, ein fixer Kerl, der Tellerat! Sie lachten mit aufgeblasenen Backen und wandten sich nach den Vorübergehenden um, stolz auf ihre eigene Munterkeit.
Frau Lanin stand vor ihrer Haustüre und sprach mit der Gewürzkrämerin von nebenan, einer kleinen hageren Frau mit rotgeränderten Augen, die immer Trauer und nie einen Halskragen trug. Nur durch die halbgeöffnete Türe verkehrte Frau Lanin mit der Witwe Tanke, denn diese gehörte nicht zur guten Gesellschaft. Sie wusste aber alles, was vorging, und besaß eine so klare, unumwundene Art, sich auszudrücken, einem jeden jedes zuzutrauen, dass Frau Lanin oft solch ein Plauderstündchen an der Haustüre veranlasste. Heute konnte Frau Tanke genaue Nachrichten über die jüngsten Ereignisse geben. Sie hatte den Juden, Ida, die Jüdin ausgefragt. Sie wusste, dass die Trödlerwohnung für Rosa geschmückt worden war, wusste, wann Rosa zu kommen, wann sie zu gehen pflegte.
Klappekahl und Dr. Holte unterhielten sich auch über Rosa, während sie langsam nebeneinander hergingen. Der Doktor hatte alles vorhergesehen, alles, »vermittelst einer physischen Diagnose – verstehen Sie«. Klappekahl hatte hundert ähnliche Fälle erlebt – in der Großstadt natürlich. »Aber sie sieht brillant aus, die Rosette«, wiederholte er immer wieder und leckte sich die Lippen.
Wenn die Leute an der Herzschen Wohnung vorübergingen, blieben sie einen Augenblick stehen, schauten zu dem geöffneten Fenster des zweiten Stockes empor – und dort oben, zwischen den weißen Vorhängen, zwischen den Geraniumstauden, schimmerte es wie das Stück eines blonden Zopfes hervor. Einer zeigte es dem anderen. »Das ist sie.« – »Sie irren, das ist nur der Widerschein der Sonne.« – »Nein doch! Ich seh es zu genau. Es bewegt sich ja. Sie ist es, wenn ich’s Ihnen sage.«
Sally aber konnte jetzt zu dem blonden Gegenstande zwischen den Geraniumblättern mit ungemischter Verachtung hinaufblicken.
Die Leute auf der Straße sahen ganz recht – Rosas Zöpfe waren es, die zwischen den Vorhängen hervorschimmerten. Sie selbst saß am Fenster, den Rücken an die Fensterbank gelehnt, die Füße einen über den anderen gelehnt und von sich gestreckt. So hatte sie den ganzen Tag über dagesessen, mit klaren, weit offenen Augen auf die gegenüberliegende Wand blickend, die Lippen sehr rot in dem weißen Gesicht.
»Willst du nicht essen?« fragte Agnes. »Iss etwas, Kind«, sagte Herr Herz. »Nein – ich danke«, erwiderte Rosa sanft. Sie wollte bleiben, wo sie war. Das Leben würde nun wieder seinen gewohnten Gang gehen – möglich! Sie mochte jedoch nichts dazu tun. In die Vergangenheit zurückzuschauen wagte sie nicht – in der Zukunft lag nichts, was des Ansehens wert war – so war Rosa denn auf den Augenblick angewiesen, auf jene Augenblicke, die ihr die Wanduhr mit dem brummigen Ticktack leer und gleichförmig einzählte. Sie fühlte sich müde – zu müde selbst, um sehr unglücklich sein zu können.
In der letztvergangenen Nacht, ja – da hatte sie es erfahren, was es heißt, recht von Herzen elend sein! – Furchtbar war es, wie ihr Vater in der Nacht vor ihr stand, bleich, mit emporgezogenen Augenbrauen, das Gesicht seltsam starr. Er beugte sich zu Rosa herab und leuchtete ihr in das Gesicht: »Sie schläft nicht«, sagte er zu Agnes, die todesbleich hinter ihm stand, als wäre sie eben aus einem bösen Traume aufgefahren.
»Wir werden sie entkleiden müssen«, meinte Agnes. Ihre Stimme und auch die des Vaters hatten einen gezwungenen, ruhigen Klang. Sie sprachen nicht leise, es war, als sprächen sie von jemandem, der sie nicht mehr hören konnte. – Sie richteten Rosa auf, entkleideten sie – ohne eine Frage, ohne ein Wort, das ihr galt; und doch waren ihre Augen geöffnet, und sie hörte alles. Sie ward ins Bett gelegt – warm zugedeckt. Der Vater und Agnes riefen sich über sie hinweg kurze Anordnungen zu. »Noch eine Decke.« – »Zieh ihr die Decke über die Schultern.« Es war, als sargten sie eine Tote ein. Bevor sie das Zimmer verließen, legte der Vater seine Hand sanft auf Rosas Kopf, und sie spürte es durch das Haar hindurch, wie kalt diese Hand war und wie sie zitterte. – Dann ward es still und dunkel, nur durch die halb angelehnte Türe fiel ein schmaler Lichtstreif in das Zimmer. Dort, nebenan, saßen sie wohl auf und wachten.
Anfangs lag Rosa ruhig da; sie war müde, sie fror, sie glaubte schlafen zu können – und mit Behagen streckte sie die Glieder. Kaum jedoch schloss sie die Augen, als die Ereignisse des Tages, die Stunden und Lebenslagen wirr ineinanderflossen. Es war ihr, als läge sie wieder auf ihrem Bett, um die Stunde der Flucht zu erwarten; erschrocken fuhr sie auf, um sich nicht zu verspäten, und wenn sie sich – in der Stille und Finsternis ringsum – entsann, dass ja alles aus war, dann ward sie von verzweifeltem Schmerz geschüttelt. Die Augen heiß von Tränen, fiel sie in die Kissen zurück. Sie stöhnte, wie von körperlichem Schmerz gequält. Mit den Füßen zerstampfte sie das Bettuch. Nein, sie konnte es nicht ertragen! Ihre Kissen mit den Armen zerdrückend, warf sie sich hin und her. Es war wie ein Kampf mit dem großen Leid, welches ihr das Herz abdrückte, ein Ringen, das sie zuweilen innehalten ließ, Hände und Füße von sich gestreckt – die Lippen geöffnet – stark atmend.
Plötzlich stieg in ihr der Gedanke auf, wenn alles dies nur Traum wäre; wenn sie aufwachte und neben Ambrosius im Postwagen säße. Wenn alles, alles durch ein Wunder anders, besser würde und sie den schrecklichen Montag nicht zu erwarten brauchte. »Lass es – lass es geschehen«, betete sie und richtete sich auf, um umherzutasten – ob das Wunder nicht vollzogen sei. Nein – nein! Alles blieb beim alten! Bitter enttäuscht stützte Rosa die Stirn an die Wand. – Aber – wenigstens musste eine große Krankheit kommen, vielleicht konnte sie sterben. Ihre Stirn brannte, ihr Herz pochte zum Zerspringen, die Glieder waren schwer wie Blei und wurden von heftigem Frost geschüttelt. Das war die Krankheit – ohne Zweifel! Es wäre zu lächerlich, demütigend und traurig, morgen aufzustehen, sich anzukleiden, als wäre nichts vorgefallen. Die Krankheit konnte über so manches hinweghelfen. Nun lag Rosa da und wartete. Zuweilen fasste sie ihr Handgelenk, um sich zu überzeugen, ob das Fieber schon da sei.
Sie warf die Decke von sich, sie mochte sich nicht schützen; sie fror – gut – um so besser!
Die Nachtstunden verrannen. Zwischen den Vorhängen hindurch drang ein staubgraues Dämmern in das Zimmer, ein trüb-nüchternes Licht, das schwere Traurigkeit um sich verbreitete.
Da war er also, dieser Tag, den Rosa fürchtete; fahl – grau – trostlos leer in seiner harten, gleichmäßigen Dämmerung kroch er herauf. Große Müdigkeit ergriff Rosa. Sie versteckte ihr Gesicht in den Kissen, um den Tag nicht zu sehen, und schlief ein.
Als Rosa spät am Vormittag erwachte, spürte sie wohl Mattigkeit und Schwere in den Gliedern; sonst war sie jedoch gesund. Es war kein Grund vorhanden, nicht aufzustehen und sich anzukleiden. Auch die große Krankheit hatte das arme Kind im Stich gelassen.
Herr Herz und Agnes zeigten Rosa sanfte, liebevolle Gesichter und bemühten sich, ganz wie gewöhnlich mit ihr zu verkehren. Agnes nahm sogar den scherzend frischen Ton an, der ihr bei besonders guter Laune eigen war. Die bleichen, überwachten Gesichter aber zeugten gegen alle Ruhe und Heiterkeit.
Herr Herz ging unablässig mit kleinen Schritten im Zimmer auf und ab. Zuweilen blieb er vor seiner Tochter stehen und fragte munter: »Nun, Kind, wie geht es?« – »Gut, Papa«, erwiderte Rosa. Dann schwiegen beide wieder. Was hätte Herr Herz sagen können, ohne sein Kind zu verletzen, ohne eine Wunde zu berühren? Er begnügte sich also damit, Rosa verstohlen zu beobachten, einen Walzer zu pfeifen und mit auswärts gebogenen Füßen auf dem grünen Laufteppich hin und her zu gehen. Der arme Mann hatte nach langer Zeit wieder jenes hilflose Gefühl, das ihn früher, während seines Theaterlebens, oft so tiefelend gemacht hatte – wenn kein Geld im Hause war – kein Engagement in Aussicht; wenn alle Viertelstunde ein Gläubiger an der Türe schellte und seine Frau zornig und voller Verachtung vor ihm in der Sofaecke kauerte und ihm Vorwürfe machte, über das Hundeleben, das er ihr bereitete, wenn sie ihm sagte, es täte ihr leid, die Anträge des vornehmen Herrn, der sie gestern besucht hatte, nicht angenommen zu haben. In solchen Augenblicken sagte er sich wohl, er sei von der Vorsehung ausersehen, nur Schande und Pein hinunterwürgen zu müssen. Aber damals stellte sich immer wieder der Leichtsinn ein, der ihm zurief: »Es hat sich bisher immer ein Ausweg gefunden, er wird sich auch jetzt finden lassen.« Der göttliche Leichtsinn, der alles – gut oder schlecht – wieder in das rechte Geleise brachte! – Heute jedoch blieb dieser tröstende Leichtsinn aus. Herr Herz war alt geworden und hatte sich entwöhnt, allen möglichen Widerwärtigkeiten in das Gesicht zu sehen.
Während er in seinem Wohnzimmer mit der solid-bürgerlichen Einrichtung, den freundlichen Sonnenschein auf den Wänden, den gut gebohnerten Fußboden auf und ab schritt, stieg in ihm plötzlich die Erinnerung an all die wirren, hässlichen Ereignisse auf, an die er sonst nie dachte, die weit hinter ihm zu liegen und abgetan zu sein schienen. Nun plötzlich waren sie wieder da, nun zogen sie in diese Räume ein, die Fräulein Ina ganz mit dem Weihrauch bürgerlicher Ehrbarkeit erfüllt hatte. Szenen betrogener Liebe, verführter Mädchen sind ein notwendiges Zubehör eines ärmlichen Komödiantenlebens und passen in das Leben eines geachteten Mannes, der Mitglied des Bürgerklub ist, ebensowenig hinein wie Betteln um Vorschuss und Ausreißen vor Gläubigern. Wie hatte er sich gefreut, die stillen, klaren Höhen einer ehrbaren Existenz erklommen zu haben. Er hatte gehofft, Rosa eine Zukunft in der guten Gesellschaft bereiten, sie vor dem unreinlichen Elend seiner Vergangenheit bewahren zu können. Nun war es nichts damit. Wieder erschien der leichtsinnige junge Herr mit schön gescheitelten Haaren und den unverschämten Manieren, um das Herzsche Familienglück zu stören.
Als die arme Zerline noch lebte, war dieser reiche, gutgekleidete, verliebte Herr der Fluch des Ballettänzers gewesen und hatte seine Ehe zu einer Hölle von Eifersucht und Kränkungen gemacht. Zerline lachte zwar darüber; er hatte sich jedoch nie in diese dummen Geschichten finden können. Der Schustermeister Herz hatte seinem Sohn einige schwerfällige Grundsätze mit auf den Weg gegeben, die diesem beständige Pein bereiteten in einer Welt, in der niemand solche Grundsätze gelten lassen wollte. Seiner Frau hatte Herr Herz längst alles verziehen, und er pflegte an sie mit sanfter Rührung zurückzudenken. »Deine Mutter«, sagte er oft zu Rosa, »war sehr schön, sehr munter und tanzte göttlich.« Es ergriff ihn, dass so muntere, göttlich tanzende Füßchen so früh unter die Erde kommen mussten. Heute aber, im Angesicht seines bleichen, schweigsamen Kindes, gedachte der alte Ballettänzer mit verbissener Wut der schönen Zerline. Trug sie nicht die Schuld, dass Rosa nicht war wie andere Mädchen? Rosa hatte nicht nur die blanken Augen und das plötzlich strahlende Lächeln von ihrer Mutter geerbt; es floss in Rosas Adern auch zuviel von dem heißen Blut der lustigen Tänzerin.
Herr Herz ging in die Küche hinaus. Er musste mit Agnes sprechen. Er setzte sich auf einen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf die Knie und drehte sinnend einen Daumen um den andern. »Sie ißt nichts – sie spricht nichts –« sagte er leise, damit Rosa es nicht höre.
»Daran ist nicht viel!« meinte Agnes. »Man muss ihr Zeit lassen. Weil alles anders gekommen ist, als sie erwartet hat, so muss sie sich daran gewöhnen.«
»Ja, was sollen wir aber tun?«
»Warten wird wohl das beste sein.«
Herr Herz sah zur Decke auf. »Ich habe schon daran gedacht, den Klappekahl um Rat zu fragen; der schien mir…« Er brach ab und dachte nach.
Agnes stäubte den Tisch mit lauten, harten Schlägen des Staubbesens ab; plötzlich warf sie das Kinn empor und sagte scharf: »Was brauchen wir fremde Leute – und noch dazu den kribbeligen Apotheker? Was kann der raten? Die Leute mögen tun, was sie wollen; wir brauchen sie nicht. Wir werden nicht zu ihnen gehen, uns Kränkungen holen. Wir drei werden schon miteinander auskommen, mein ich. Kommt ein Schuft zu einem Mädchen und sagt: ›Ich will dich heiraten‹, so glaubt ihm das Mädchen. Wir Frauenzimmer glauben so was immer; wir sind so gemacht. Nun – und wenn er das Mädchen nicht heiratet – weil er eben ein Schuft ist – so geschieht’s dem Mädchen natürlich sehr hart, aber das geht vorüber; man muss abwarten können. Meine Schwester, die Hebamme in Tiglau, hat andere Mädchengeschichten mitangesehen. Sie sagt auch, es geht vorüber; nur Zeit ist nötig, wie bei jeder Krankheit.«
Herr Herz hörte aufmerksam zu. Es war vielleicht doch das rechte, sich in seine vier Wände einzuschließen wie in eine Festung. Was konnten die Leute ihnen anhaben? Agnes schien sich über den Fall ganz klar zu sein und sprach, als sei sie ihrer Sache gewiss. Gut, sie sollte recht behalten.
»Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig«, meinte er, erhob sich und ging in das Wohnzimmer zurück. Das Gespräch mit Agnes hatte ihn ein wenig beruhigt. Er setzte sich auf seinen Sorgenstuhl, vielleicht konnte er schlafen.
Rosa saß noch immer am Fenster – sehr elend, aber verhältnismäßig ruhig. Die stillen, kummervollen Stunden, die seit heute morgen verflossen waren, gehörten doch nicht zu dem nichtssagend einförmigen Leben, das Rosa mit Angst kommen sah – »das Leben ganz wie früher« –, es lag über ihnen eine gewisse Feierlichkeit. Dieser Montag war kein gewöhnlicher Werktag, denn er brachte dem armen Kinde die Neuheit eines großen Schmerzes.
Nun kamen die Abendstunden – das rote Flackern auf den Wänden. Rosa kannte das nur zu gut, sie wusste ganz genau, welchen Weg diese Lichter nahmen, dass sie zuerst auf der Kommode und den Bänden der illustrierten Zeitschrift entbrannten, dann auf der Wand, endlich dort in der Ecke blasser wurden und der Dämmerung Platz machten, die, wie ein feiner Aschenregen, auf die Gegenstände niederrann. Oh, sie kannte das, und es tat ihr weh, beengte sie. Dieses sachte Dunkeln erschien ihr wie der Anfang des Zurücksinkens in ihr freudloses Dasein. Es war ihr, als würde sie fest in ein farbloses Netz verstrickt, sie hätte mit Händen und Füßen stoßen, sich sträuben mögen. Das zornige, ungeduldige Verlangen nach Schönem und Freudigem ergriff sie wieder heiß. Sie erhob sich, fasste ihre Hände krampfhaft fest hinter dem Rücken zusammen, ging leise im Zimmer auf und ab und schluchzte – und wiederholte immer wieder die eintönige Klage: »Es kann – es kann nicht aus sein.« Je finsterer es ward, um so hilfloser, einsamer stand sie ihrem Jammer gegenüber. »Es kann nicht aus sein!« Sie hasste dieses finstere Wohnzimmer, sie ging zu Agnes in die Küche, vielleicht beruhigte sie das.
Auf dem Herd brannte das Feuer. Agnes saß davor und reinigte Erdäpfel. Sie wandte nur ein wenig den Kopf, als Rosa eintrat, und schabte ruhig fort. Rosa setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und schaute ins Feuer. Endlich versetzte Agnes: »Da ist noch ein Messer, Kind. Wenn du näherkommen willst, kannst du mir bei den Erdäpfeln helfen. Nicht?«
»Ja – Agnes.«
»Gut, so komm! Sieh, die Schale kratzt du so ab, diese schwarzen Augen müssen herausgeschnitten werden.«
»Ja, ja, ich verstehe!«
Eine angenehme, beruhigende Beschäftigung war es, so mit der Messerklinge über das harte, kühle Fleisch der Erdäpfel hinzufahren.
»Gut sind diese Erdäpfel nicht – weiß es Gott! Und teuer noch dazu«, berichtete Agnes. »Aber heute habe ich auf dem Markte schon fast Streit gehabt, weil ich noch immer herunterhandeln wollte. Gott, sie ist auch zu grob – die Frau Kaute.«
»So!« Rosa blickte auf. »Was sagte sie denn?«
»Die! Was kann die anderes als Grobheiten sagen!« Agnes übertrieb ihren Zorn gegen die Kaute, um Rosa Vergnügen zu machen. »Sie sagt: ›So billig können Sie nur Erdäpfel haben, die so vertrocknet sind wie Sie.‹ So was!«
Rosa lachte. »Was sagtest du darauf?«
»Ich sagte nichts, ich ging fort.«
»Wo kommt denn die Kaute her?«
»Sie wohnt dort – jenseits des Flusses – auf dem Lande. Dort haben sie ja nichts anderes als Erdäpfel.«
»Und jeden Morgen kommt sie in die Stadt?«
»Freilich! Mit ihrem Wagen, ihrem Pferde, ihren Erdäpfeln und ihrem Jungen kommt sie jeden Morgen um vier Uhr in die Stadt und setzt sich auf den Marktplatz.«
»Um vier Uhr?«
»Gewiss! Was glaubst denn du? Ich bin auch so gefahren, als ich jung war – zu Hause, nicht weit von Tiglau. Jeden Morgen, wenn es draußen noch ganz schwarz war, habe ich hinaus müssen in den Ort, ich und der Bruder. Wir hatten einen Wagen, ein altes Pferd und eine Laterne.«
»Das muss hart gewesen sein!«
»Leicht war’s nicht! Aber wir schliefen im Wagen. Das Pferd fand den Weg schon allein, nur die Laterne musste brennen, sonst blieb es stehen. Ja, und einmal«, Agnes stemmte den Griff ihres Messers auf ihr Knie und blickte Rosa lustig an, »einmal, da haben wir’s gut gemacht. Ich schlief, und der Hans schlief, die Laterne war erloschen und das Pferd stehengeblieben. Nun – und so schliefen wir und standen wir auf der Landstraße, bis die Sonne aufging. Da weckte mich der Hans. ›Resi!‹ sagte er. ›Um Himmels willen! Die Sonne kommt schon herauf‹ Das war ein Schreck!«
»Schalt dein Vater?«
»Wir sagten’s ihm nicht.«
Rosa hatte aufgehört zu arbeiten. Bilder gelber Ebenen tauchten vor ihr auf – graue, kühle Morgendämmerung; in der Ferne ein Kirchturm und Häuser; ein schläfriges Pferd, struppig und nass vom Morgentau; eine trübe brennende Laterne, die unter dem Wagen baumelt. Ja, sie sah das ganz deutlich vor sich und dachte: »Es muss behaglich sein, so im Halbschlummer über freies, stilles Land zu fahren. Der Morgenwind streift eilig über den Schläfer hinweg, die Erdäpfel duften nach feuchter Erde – und die Welt, ein friedlicher Traum, dämmert in den Schlaf hinein – ohne Gedanken, ohne Qual; eine große, sorglose Ruhe.« Rosa schloss halb die Augen; es war ihr, als spürte sie die Bewegung des Wagens.
»So!« meinte Agnes und wischte das Messer an ihrer Schürze ab. »Nun gehe ich ans Kochen.«
»Und wenn ihr nach Hause kamt, was aßt ihr dann?« fragte Rosa.
»Was gerade da war. Erdäpfel – Hering; manches Mal hatte die Mutter Speck für meine Erdäpfel aufgehoben, aber das war selten.«
»Aßt du das gern?«
»Freilich! Ich schnitt ein Loch in jeden Erdapfel und legte den Speck hinein. Sehr gut war das!«
»So? Ich würde das heute gern essen.«
»Das gerade?« – »Ja.« – »Nun, das kann man bald haben.«
Während Agnes in der Küche ab und zu ging, dachte Rosa an Agnes’ Erzählung. Wie ein Ausweg war’s, den sie gefunden – ein friedliches Feld, auf dem ihr nichts begegnen konnte, das wie ein Vorwurf aussah.
Herr Herz kam auch in die Küche. »Ah! Ihr seid hier beisammen!« sagte er ein wenig erstaunt. »Ja, hier ist’s besser«, meinte Rosa und lächelte ihren Vater matt an. »Hm!« dachte Herr Herz, »diese Agnes versteht den Fall zu behandeln. Nun lacht das Kind schon.« – »Schön – schön«, sagte er und rückte einen Stuhl vor das Feuer.
»Bist du einmal in Tiglau gewesen, Papa?« fragte Rosa.
»In Tiglau? Ja – mir ist so.« Herr Herz dachte ernstlich nach, besorgt, dieser so unerwartet sich einfindende, unverfängliche Gesprächsstoff könnte an seiner Unwissenheit scheitern. »Warte! Vor sehr langer Zeit bin ich dort durchgefahren. Ich glaube, es war ein verteufelt unscheinbares Nest. Wir wollten dort etwas essen, aber ein Gasthaus war nicht aufzutreiben.«
»Sie hätten nur fragen sollen. Jedes Kind in Tiglau zeigt Ihnen den ›Roten Hirsch‹ – dort bekommt man genug zu essen«, versetzte Agnes gereizt. Herr Herz rieb sich verwirrt die Waden. Er begriff nicht recht, warum Rosa ihn nach Tiglau fragte und warum Agnes diesen Marktflecken, an den sonst niemand dachte, so streng in Schutz nahm. »Das ist möglich«, sagte er schnell, weil er fürchtete, Rosa verletzt zu haben. »Es ist lange her, dass ich dort war – wie gesagt.«
»Agnes hat mir von Tiglau erzählt«, erklärte Rosa. »Du weißt, sie ist aus jener Gegend.«
»Richtig!« Herr Herz entsann sich jetzt. Seine Schwester Ina hatte davon gesprochen. »Eine Schwester von dir lebt dort, nicht wahr? Die Frau Böhk. Sie schrieb mir nach dem Tode des Fräuleins.«
»Freilich«, bestätigte Agnes, »das selige Fräulein hat meine Schwester noch unverheiratet gekannt.«
»So, so! Und wie geht es der Frau Böhk? Hat sie viel zu tun?«
»Zu tun gibt es genug. Sie ist die einzige Hebamme der Gegend.«
»Hat sie selbst auch Kinder?« Herr Herz war entschlossen, dieses Thema nicht fallen zu lassen. Agnes musste erzählen: Frau Böhk hatte einen Sohn, dann hatte sie noch zwei Waisen – Töchter jenes Hans, mit dem Agnes zu Markte gefahren war – zu sich genommen. Gute Mädchen, ein wenig wild.
Auf Rosas Wunsch wurde das Nachtmahl in der Küche eingenommen, und während sie ihre Erdäpfel mit Speck aß, drängte sie Agnes, von Tiglau zu erzählen. Agnes hatte bisher nie von ihrem Geburtsort, von ihrer Jugend, von ihren Verwandten gesprochen, heute aber wollten Rosa und ihr Vater von nichts anderem hören, alles mussten sie wissen. So erfuhren sie denn, dass Frau Böhk früher hübsch gewesen, jetzt aber zu stark geworden sei, dass sie Herrn Böhk zum Leidwesen ihrer Familie geheiratet hatte, denn er war klein, dünn, schwächlich, schwarz wie ein Jude – zwar ein gelernter Uhrmacher, aber voll toller Ideen, an ordentliche Arbeit nicht heranzukriegen.
Als das Nachtmahl beendet war, schien das Eheleben der Böhks erschöpft zu sein, und während Agnes das Geschirr wusch, ging sie zum Hebammenexamen ihrer Schwester über. Die arme Frau hatte ein dickes Buch mit Bildern, die einem wehtaten, wenn man sie anschaute, durchstudieren müssen. Endlich, als die häuslichen Geschäfte abgetan waren und man ruhig um das Herdfeuer saß, kam Frau Böhks Hebammentätigkeit an die Reihe. Geschichten von den Leiden armer Mütter, von der Kraft und Geschicklichkeit der Frau Böhk – und seltsam war es, wie sorglos Agnes heute von Dingen sprach, die sie sonst vor Rosa nie nannte, »weil sie eben nicht für Kinder sind«.
Es war spät geworden, als die drei noch immer in der Küche saßen, eng aneinandergedrängt im warmen Raume, über den das unruhige Licht des Herdfeuers hinflatterte.
Wie die Hausgenossen sich eng aneinanderdrängen, wenn nebenan – im dunklen Zimmer – ein Toter liegt, So saßen Rosa, ihr Vater und Agnes beisammen, und keiner hatte Lust, in die anderen Zimmer hinüberzugehen, es war, als suchten sie in der Küche Schutz vor etwas, das sie dort – im Wohnzimmer – anfallen könnte.
Rosa blickte jedesmal ängstlich auf, wenn Agnes gähnte. Sie fürchtete, Agnes würde schlafen gehen, und die lange, qualvolle Nacht würde beginnen. Es war schon Mitternacht vorüber, als Herr Herz den Vorschlag machte, sich zur Ruhe zu begeben. Agnes ging bereitwillig darauf ein, ja, sie freute sich sichtlich darüber; Rosa aber schien es, als stießen ihr Vater und Agnes sie gleichgültig in das Dunkel einer einsamen, peinvollen Wanderung hinaus – nur weil sie ein wenig schläfrig waren. Sie fand das herzlos und ging – schwer seufzend – in ihre Kammer, um sich wieder mit ihrem wirren, unklaren Schmerz auseinanderzusetzen.