Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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»Wa­rum nicht?« fuhr Tod­dels fort, lei­den­schaft­lich in Sal­lys Hals­kra­gen hin­ein­spre­chend. »Eine Hei­rat aus Nei­gung war im­mer mein Traum. Was – Fräu­lein Sal­ly?«

»Ich glau­be eben an die Lie­be«, sag­te Sal­ly fest. Sie hat­te es sich längst vor­ge­nom­men, im großen Mo­ment ih­res Le­bens die­sen Satz recht häu­fig an­zu­brin­gen. Tod­dels fass­te ihn als Er­mu­ti­gung auf, er be­rühr­te mit dem Mit­tel­fin­ger zart Sal­lys Hals und hauch­te: »Mein hol­des Weib­chen.«

»Noch nicht!« wand­te Sal­ly schel­misch ein. Sie lehn­te ihr er­hitz­tes Ge­sicht an die Brust des Ge­lieb­ten und blick­te ernst zu den Wol­len­stof­fen auf.

»Ha – ha? Noch nicht!« lach­te Tod­dels ge­presst, denn Sal­ly drück­te ihm mit ih­rem Kopf einen Hemd­knopf tief ins Fleisch. »Al­ler­dings! Aber bald. Nicht wahr, mein – mein?«

»Spre­chen Sie mit mei­nem Papa«, die feuch­ten Bli­cke auf­wärts ge­rich­tet, den Kopf fest an Tod­dels’ Hemd­knopf ge­drückt, sprach Sal­ly die­se Wor­te lang­sam und fei­er­lich. Ach, wie hat­te sie sich ge­sehnt, sie spre­chen zu dür­fen.

»Ja, Fräu­lein Sal­ly«, mein­te Tod­dels zö­gernd. »Ich fürch­te nur, Herr La­nin wird böse wer­den. Er ist zu­wei­len ein we­nig kurz mit mir. Vi­el­leicht könn­ten Sie…«

»Wir wer­den alle Hin­der­nis­se über­win­den. Ich glau­be, wie ge­sagt, an die Lie­be.«

»Ge­wiss – ge­wiss! Ich auch, mein Herz­chen. Gut also! Du wirst es dei­ner Mut­ter sa­gen. Wir blei­ben uns je­den­falls treu. Schön – ab­ge­macht.« Und nun emp­fin­gen Sal­lys dün­ne, jung­fräu­li­che Lip­pen den ers­ten Lie­bes­kuss, einen sehr lau­ten Kuss, der süß nach Ro­sen­po­ma­de duf­te­te. »Lebe wohl, mei­ne Braut«, sag­te Tod­dels. »Die Leu­te ge­hen schon in den Stadt­gar­ten. Heu­te ist dort zum letz­ten Mal im Jah­re Mu­sik«, mit die­sen Wor­ten schlüpf­te er hin­ter den La­den­tisch.

Sal­ly stand mit klop­fen­dem Her­zen da und konn­te sich nicht ent­schlie­ßen, ihre ers­te Lie­bes­stun­de für ge­schlos­sen zu er­klä­ren. Sie glaub­te noch et­was Schö­nes, Tief­emp­fun­de­nes sa­gen zu müs­sen, es fiel ihr je­doch nur im­mer wie­der ein, dass sie an die Lie­be glau­be. Das moch­te sie nicht mehr wie­der­ho­len,

Tod­dels hat­te un­ter­des­sen ein Stück des grü­nen Ban­des ab­ge­schnit­ten und reich­te es sei­ner Ge­lieb­ten. »Das Band, das uns ver­bin­det«, füg­te er hin­zu.

»Und kos­tet?« frag­te Sal­ly lä­chelnd.

»Ei­nen Kuss«, er­wi­der­te der Kom­mis mit ge­spitz­ten Lip­pen. Da ward Sal­ly wie­der der klei­ne, necki­sche Brau­se­wind.

»Set­zen Sie den auf die Rech­nung«, rief sie und lief mit ganz klei­nen Schrit­ten zur Türe.

»Be­hal­te nur das Band, ich zahl es schon«, mein­te Tod­dels. »Grün ist ja die Far­be der Hoff­nung.«

»Da ha­ben Sie recht«, er­wi­der­te Sal­ly ernst. Sie fand die­ses Ab­schieds­wort wirk­lich tief. Dann noch eine Kuss­hand – und sie war fort.

Die Scha­ren, die zum Stadt­gar­ten ström­ten, be­leb­ten die Stra­ßen. Die schar­fe Luft mach­te alle Mäd­chen­wan­gen rot und be­schleu­nig­te die Schrit­te. In den ge­öff­ne­ten La­den­tü­ren lehn­ten Kom­mis, da­mit auch et­was von dem hei­te­ren Le­ben drau­ßen zu ih­nen in den dump­fen La­den­raum drin­ge. Die Flei­scher­bur­schen – dort an der Ecke – wi­ckel­ten ihre nack­ten Arme in die blu­ti­gen Schür­zen, pfif­fen und stie­ßen sich mit den Schul­tern.

Sal­ly ging schnell und leicht­fü­ßig da­hin. Sie brauch­te nie­man­den mehr zu be­nei­den und fühl­te sich ge­ho­ben und glück­lich. Hat­te sie nicht Lie­be und Poe­sie ge­sucht? Nun – sie war zu Pal­tow ins Ge­schäft ge­gan­gen und hat­te sie sich ge­holt. Be­frie­digt wie nach ei­nem ge­lun­ge­nen Ein­kauf, woll­te sie jetzt ein we­nig Mu­sik ge­nie­ßen.

Die lus­tig plau­dern­den Spa­zier­gän­ger nah­men alle ih­ren Weg über den Markt­platz, am Lan­in­schen Hau­se vor­über zum Stadt­gar­ten, und alle spra­chen von Rosa Herz. Die Schank­schen Schü­le­rin­nen flüs­ter­ten mit­ein­an­der über den Fall, die Au­gen ver­wun­dert auf­ge­ris­sen, heim­lich ki­chernd. Die furcht­ba­re Lie­bes- und Ent­füh­rungs­ge­schich­te ge­hör­te ja ih­nen, hat­te sich fast in der Schul­stu­be ab­ge­spielt. Die Her­ren vom Gers­ten­saft-Strauß stell­ten sich mit­ten auf den Markt­platz – die Hän­de in den Ho­sen­ta­schen, die Zi­ga­ret­ten im Mund­win­kel – und scherz­ten über den Vor­gang. Der Tel­le­r­at war ihr Be­kann­ter, ein fi­xer Kerl, der Tel­le­r­at! Sie lach­ten mit auf­ge­bla­se­nen Ba­cken und wand­ten sich nach den Vor­über­ge­hen­den um, stolz auf ihre ei­ge­ne Mun­ter­keit.

Frau La­nin stand vor ih­rer Hau­stü­re und sprach mit der Ge­würz­krä­me­rin von ne­ben­an, ei­ner klei­nen ha­ge­ren Frau mit rot­ge­rän­der­ten Au­gen, die im­mer Trau­er und nie einen Hals­kra­gen trug. Nur durch die halb­ge­öff­ne­te Türe ver­kehr­te Frau La­nin mit der Wit­we Tan­ke, denn die­se ge­hör­te nicht zur gu­ten Ge­sell­schaft. Sie wuss­te aber al­les, was vor­ging, und be­saß eine so kla­re, un­um­wun­de­ne Art, sich aus­zu­drücken, ei­nem je­den je­des zu­zu­trau­en, dass Frau La­nin oft solch ein Plau­der­stünd­chen an der Hau­stü­re ver­an­lass­te. Heu­te konn­te Frau Tan­ke ge­naue Nach­rich­ten über die jüngs­ten Er­eig­nis­se ge­ben. Sie hat­te den Ju­den, Ida, die Jü­din aus­ge­fragt. Sie wuss­te, dass die Tröd­ler­woh­nung für Rosa ge­schmückt wor­den war, wuss­te, wann Rosa zu kom­men, wann sie zu ge­hen pfleg­te.

Klappe­kahl und Dr. Hol­te un­ter­hiel­ten sich auch über Rosa, wäh­rend sie lang­sam ne­ben­ein­an­der her­gin­gen. Der Dok­tor hat­te al­les vor­her­ge­se­hen, al­les, »ver­mit­telst ei­ner phy­si­schen Dia­gno­se – ver­ste­hen Sie«. Klappe­kahl hat­te hun­dert ähn­li­che Fäl­le er­lebt – in der Groß­stadt na­tür­lich. »Aber sie sieht bril­lant aus, die Ro­set­te«, wie­der­hol­te er im­mer wie­der und leck­te sich die Lip­pen.

Wenn die Leu­te an der Herz­schen Woh­nung vor­über­gin­gen, blie­ben sie einen Au­gen­blick ste­hen, schau­ten zu dem ge­öff­ne­ten Fens­ter des zwei­ten Stockes em­por – und dort oben, zwi­schen den wei­ßen Vor­hän­gen, zwi­schen den Gera­ni­um­stau­den, schim­mer­te es wie das Stück ei­nes blon­den Zop­fes her­vor. Ei­ner zeig­te es dem an­de­ren. »Das ist sie.« – »Sie ir­ren, das ist nur der Wi­der­schein der Son­ne.« – »Nein doch! Ich seh es zu ge­nau. Es be­wegt sich ja. Sie ist es, wenn ich’s Ih­nen sage.«

Sal­ly aber konn­te jetzt zu dem blon­den Ge­gen­stan­de zwi­schen den Gera­ni­um­blät­tern mit un­ge­misch­ter Ver­ach­tung hin­auf­bli­cken.

Zweites Kapitel

Die Leu­te auf der Stra­ße sa­hen ganz recht – Ro­sas Zöp­fe wa­ren es, die zwi­schen den Vor­hän­gen her­vor­schim­mer­ten. Sie selbst saß am Fens­ter, den Rücken an die Fens­ter­bank ge­lehnt, die Füße einen über den an­de­ren ge­lehnt und von sich ge­streckt. So hat­te sie den gan­zen Tag über da­ge­s­es­sen, mit kla­ren, weit of­fe­nen Au­gen auf die ge­gen­über­lie­gen­de Wand bli­ckend, die Lip­pen sehr rot in dem wei­ßen Ge­sicht.

»Willst du nicht es­sen?« frag­te Ag­nes. »Iss et­was, Kind«, sag­te Herr Herz. »Nein – ich dan­ke«, er­wi­der­te Rosa sanft. Sie woll­te blei­ben, wo sie war. Das Le­ben wür­de nun wie­der sei­nen ge­wohn­ten Gang ge­hen – mög­lich! Sie moch­te je­doch nichts dazu tun. In die Ver­gan­gen­heit zu­rück­zu­schau­en wag­te sie nicht – in der Zu­kunft lag nichts, was des An­se­hens wert war – so war Rosa denn auf den Au­gen­blick an­ge­wie­sen, auf jene Au­gen­bli­cke, die ihr die Wand­uhr mit dem brum­mi­gen Tick­tack leer und gleich­för­mig ein­zähl­te. Sie fühl­te sich müde – zu müde selbst, um sehr un­glück­lich sein zu kön­nen.

In der letzt­ver­gan­ge­nen Nacht, ja – da hat­te sie es er­fah­ren, was es heißt, recht von Her­zen elend sein! – Furcht­bar war es, wie ihr Va­ter in der Nacht vor ihr stand, bleich, mit em­por­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en, das Ge­sicht selt­sam starr. Er beug­te sich zu Rosa her­ab und leuch­te­te ihr in das Ge­sicht: »Sie schläft nicht«, sag­te er zu Ag­nes, die to­des­bleich hin­ter ihm stand, als wäre sie eben aus ei­nem bö­sen Trau­me auf­ge­fah­ren.

»Wir wer­den sie ent­klei­den müs­sen«, mein­te Ag­nes. Ihre Stim­me und auch die des Va­ters hat­ten einen ge­zwun­ge­nen, ru­hi­gen Klang. Sie spra­chen nicht lei­se, es war, als sprä­chen sie von je­man­dem, der sie nicht mehr hö­ren konn­te. – Sie rich­te­ten Rosa auf, ent­klei­de­ten sie – ohne eine Fra­ge, ohne ein Wort, das ihr galt; und doch wa­ren ihre Au­gen ge­öff­net, und sie hör­te al­les. Sie ward ins Bett ge­legt – warm zu­ge­deckt. Der Va­ter und Ag­nes rie­fen sich über sie hin­weg kur­ze An­ord­nun­gen zu. »Noch eine De­cke.« – »Zieh ihr die De­cke über die Schul­tern.« Es war, als sarg­ten sie eine Tote ein. Be­vor sie das Zim­mer ver­lie­ßen, leg­te der Va­ter sei­ne Hand sanft auf Ro­sas Kopf, und sie spür­te es durch das Haar hin­durch, wie kalt die­se Hand war und wie sie zit­ter­te. – Dann ward es still und dun­kel, nur durch die halb an­ge­lehn­te Türe fiel ein schma­ler Licht­streif in das Zim­mer. Dort, ne­ben­an, sa­ßen sie wohl auf und wach­ten.

An­fangs lag Rosa ru­hig da; sie war müde, sie fror, sie glaub­te schla­fen zu kön­nen – und mit Be­ha­gen streck­te sie die Glie­der. Kaum je­doch schloss sie die Au­gen, als die Er­eig­nis­se des Ta­ges, die Stun­den und Le­bens­la­gen wirr in­ein­an­der­flos­sen. Es war ihr, als läge sie wie­der auf ih­rem Bett, um die Stun­de der Flucht zu er­war­ten; er­schro­cken fuhr sie auf, um sich nicht zu ver­spä­ten, und wenn sie sich – in der Stil­le und Fins­ter­nis rings­um – ent­sann, dass ja al­les aus war, dann ward sie von ver­zwei­fel­tem Schmerz ge­schüt­telt. Die Au­gen heiß von Trä­nen, fiel sie in die Kis­sen zu­rück. Sie stöhn­te, wie von kör­per­li­chem Schmerz ge­quält. Mit den Fü­ßen zer­stampf­te sie das Bet­tuch. Nein, sie konn­te es nicht er­tra­gen! Ihre Kis­sen mit den Ar­men zer­drückend, warf sie sich hin und her. Es war wie ein Kampf mit dem großen Leid, wel­ches ihr das Herz ab­drück­te, ein Rin­gen, das sie zu­wei­len in­ne­hal­ten ließ, Hän­de und Füße von sich ge­streckt – die Lip­pen ge­öff­net – stark at­mend.

 

Plötz­lich stieg in ihr der Ge­dan­ke auf, wenn al­les dies nur Traum wäre; wenn sie auf­wach­te und ne­ben Am­bro­si­us im Post­wa­gen säße. Wenn al­les, al­les durch ein Wun­der an­ders, bes­ser wür­de und sie den schreck­li­chen Mon­tag nicht zu er­war­ten brauch­te. »Lass es – lass es ge­sche­hen«, be­te­te sie und rich­te­te sich auf, um um­her­zu­tas­ten – ob das Wun­der nicht voll­zo­gen sei. Nein – nein! Al­les blieb beim al­ten! Bit­ter ent­täuscht stütz­te Rosa die Stirn an die Wand. – Aber – we­nigs­tens muss­te eine große Krank­heit kom­men, viel­leicht konn­te sie ster­ben. Ihre Stirn brann­te, ihr Herz poch­te zum Zer­sprin­gen, die Glie­der wa­ren schwer wie Blei und wur­den von hef­ti­gem Frost ge­schüt­telt. Das war die Krank­heit – ohne Zwei­fel! Es wäre zu lä­cher­lich, de­mü­ti­gend und trau­rig, mor­gen auf­zu­ste­hen, sich an­zu­klei­den, als wäre nichts vor­ge­fal­len. Die Krank­heit konn­te über so man­ches hin­weg­hel­fen. Nun lag Rosa da und war­te­te. Zu­wei­len fass­te sie ihr Hand­ge­lenk, um sich zu über­zeu­gen, ob das Fie­ber schon da sei.

Sie warf die De­cke von sich, sie moch­te sich nicht schüt­zen; sie fror – gut – um so bes­ser!

Die Nacht­stun­den ver­ran­nen. Zwi­schen den Vor­hän­gen hin­durch drang ein staub­grau­es Däm­mern in das Zim­mer, ein trüb-nüch­ter­nes Licht, das schwe­re Trau­rig­keit um sich ver­brei­te­te.

Da war er also, die­ser Tag, den Rosa fürch­te­te; fahl – grau – trost­los leer in sei­ner har­ten, gleich­mä­ßi­gen Däm­me­rung kroch er her­auf. Gro­ße Mü­dig­keit er­griff Rosa. Sie ver­steck­te ihr Ge­sicht in den Kis­sen, um den Tag nicht zu se­hen, und schlief ein.

Als Rosa spät am Vor­mit­tag er­wach­te, spür­te sie wohl Mat­tig­keit und Schwe­re in den Glie­dern; sonst war sie je­doch ge­sund. Es war kein Grund vor­han­den, nicht auf­zu­ste­hen und sich an­zu­klei­den. Auch die große Krank­heit hat­te das arme Kind im Stich ge­las­sen.

Herr Herz und Ag­nes zeig­ten Rosa sanf­te, lie­be­vol­le Ge­sich­ter und be­müh­ten sich, ganz wie ge­wöhn­lich mit ihr zu ver­keh­ren. Ag­nes nahm so­gar den scher­zend fri­schen Ton an, der ihr bei be­son­ders gu­ter Lau­ne ei­gen war. Die blei­chen, über­wach­ten Ge­sich­ter aber zeug­ten ge­gen alle Ruhe und Hei­ter­keit.

Herr Herz ging un­abläs­sig mit klei­nen Schrit­ten im Zim­mer auf und ab. Zu­wei­len blieb er vor sei­ner Toch­ter ste­hen und frag­te mun­ter: »Nun, Kind, wie geht es?« – »Gut, Papa«, er­wi­der­te Rosa. Dann schwie­gen bei­de wie­der. Was hät­te Herr Herz sa­gen kön­nen, ohne sein Kind zu ver­let­zen, ohne eine Wun­de zu be­rüh­ren? Er be­gnüg­te sich also da­mit, Rosa ver­stoh­len zu be­ob­ach­ten, einen Wal­zer zu pfei­fen und mit aus­wärts ge­bo­ge­nen Fü­ßen auf dem grü­nen Lauf­tep­pich hin und her zu ge­hen. Der arme Mann hat­te nach lan­ger Zeit wie­der je­nes hilflo­se Ge­fühl, das ihn frü­her, wäh­rend sei­nes Thea­ter­le­bens, oft so tie­fe­l­end ge­macht hat­te – wenn kein Geld im Hau­se war – kein En­ga­ge­ment in Aus­sicht; wenn alle Vier­tel­stun­de ein Gläu­bi­ger an der Türe schell­te und sei­ne Frau zor­nig und vol­ler Ver­ach­tung vor ihm in der So­fae­cke kau­er­te und ihm Vor­wür­fe mach­te, über das Hun­de­le­ben, das er ihr be­rei­te­te, wenn sie ihm sag­te, es täte ihr leid, die An­trä­ge des vor­neh­men Herrn, der sie ges­tern be­sucht hat­te, nicht an­ge­nom­men zu ha­ben. In sol­chen Au­gen­bli­cken sag­te er sich wohl, er sei von der Vor­se­hung aus­er­se­hen, nur Schan­de und Pein hin­un­ter­wür­gen zu müs­sen. Aber da­mals stell­te sich im­mer wie­der der Leicht­sinn ein, der ihm zu­rief: »Es hat sich bis­her im­mer ein Aus­weg ge­fun­den, er wird sich auch jetzt fin­den las­sen.« Der gött­li­che Leicht­sinn, der al­les – gut oder schlecht – wie­der in das rech­te Ge­lei­se brach­te! – Heu­te je­doch blieb die­ser trös­ten­de Leicht­sinn aus. Herr Herz war alt ge­wor­den und hat­te sich ent­wöhnt, al­len mög­li­chen Wi­der­wär­tig­kei­ten in das Ge­sicht zu se­hen.

Wäh­rend er in sei­nem Wohn­zim­mer mit der so­lid-bür­ger­li­chen Ein­rich­tung, den freund­li­chen Son­nen­schein auf den Wän­den, den gut ge­boh­ner­ten Fuß­bo­den auf und ab schritt, stieg in ihm plötz­lich die Erin­ne­rung an all die wir­ren, häss­li­chen Er­eig­nis­se auf, an die er sonst nie dach­te, die weit hin­ter ihm zu lie­gen und ab­ge­tan zu sein schie­nen. Nun plötz­lich wa­ren sie wie­der da, nun zo­gen sie in die­se Räu­me ein, die Fräu­lein Ina ganz mit dem Weih­rauch bür­ger­li­cher Ehr­bar­keit er­füllt hat­te. Sze­nen be­tro­ge­ner Lie­be, ver­führ­ter Mäd­chen sind ein not­wen­di­ges Zu­be­hör ei­nes ärm­li­chen Ko­mö­di­an­ten­le­bens und pas­sen in das Le­ben ei­nes ge­ach­te­ten Man­nes, der Mit­glied des Bür­ger­klub ist, eben­so­we­nig hin­ein wie Bet­teln um Vor­schuss und Aus­rei­ßen vor Gläu­bi­gern. Wie hat­te er sich ge­freut, die stil­len, kla­ren Hö­hen ei­ner ehr­ba­ren Exis­tenz er­klom­men zu ha­ben. Er hat­te ge­hofft, Rosa eine Zu­kunft in der gu­ten Ge­sell­schaft be­rei­ten, sie vor dem un­rein­li­chen Elend sei­ner Ver­gan­gen­heit be­wah­ren zu kön­nen. Nun war es nichts da­mit. Wie­der er­schi­en der leicht­sin­ni­ge jun­ge Herr mit schön ge­schei­tel­ten Haa­ren und den un­ver­schäm­ten Ma­nie­ren, um das Herz­sche Fa­mi­li­en­glück zu stö­ren.

Als die arme Zer­li­ne noch leb­te, war die­ser rei­che, gut­ge­klei­de­te, ver­lieb­te Herr der Fluch des Bal­let­tän­zers ge­we­sen und hat­te sei­ne Ehe zu ei­ner Höl­le von Ei­fer­sucht und Krän­kun­gen ge­macht. Zer­li­ne lach­te zwar dar­über; er hat­te sich je­doch nie in die­se dum­men Ge­schich­ten fin­den kön­nen. Der Schus­ter­meis­ter Herz hat­te sei­nem Sohn ei­ni­ge schwer­fäl­li­ge Grund­sät­ze mit auf den Weg ge­ge­ben, die die­sem be­stän­di­ge Pein be­rei­te­ten in ei­ner Welt, in der nie­mand sol­che Grund­sät­ze gel­ten las­sen woll­te. Sei­ner Frau hat­te Herr Herz längst al­les ver­zie­hen, und er pfleg­te an sie mit sanf­ter Rüh­rung zu­rück­zu­den­ken. »Dei­ne Mut­ter«, sag­te er oft zu Rosa, »war sehr schön, sehr mun­ter und tanz­te gött­lich.« Es er­griff ihn, dass so mun­te­re, gött­lich tan­zen­de Füß­chen so früh un­ter die Erde kom­men muss­ten. Heu­te aber, im An­ge­sicht sei­nes blei­chen, schweig­sa­men Kin­des, ge­dach­te der alte Bal­let­tän­zer mit ver­bis­se­ner Wut der schö­nen Zer­li­ne. Trug sie nicht die Schuld, dass Rosa nicht war wie an­de­re Mäd­chen? Rosa hat­te nicht nur die blan­ken Au­gen und das plötz­lich strah­len­de Lä­cheln von ih­rer Mut­ter ge­erbt; es floss in Ro­sas Adern auch zu­viel von dem hei­ßen Blut der lus­ti­gen Tän­ze­rin.

Herr Herz ging in die Kü­che hin­aus. Er muss­te mit Ag­nes spre­chen. Er setz­te sich auf einen Stuhl, stütz­te die El­len­bo­gen auf die Knie und dreh­te sin­nend einen Dau­men um den an­dern. »Sie ißt nichts – sie spricht nichts –« sag­te er lei­se, da­mit Rosa es nicht höre.

»Da­ran ist nicht viel!« mein­te Ag­nes. »Man muss ihr Zeit las­sen. Weil al­les an­ders ge­kom­men ist, als sie er­war­tet hat, so muss sie sich dar­an ge­wöh­nen.«

»Ja, was sol­len wir aber tun?«

»War­ten wird wohl das bes­te sein.«

Herr Herz sah zur De­cke auf. »Ich habe schon dar­an ge­dacht, den Klappe­kahl um Rat zu fra­gen; der schi­en mir…« Er brach ab und dach­te nach.

Ag­nes stäub­te den Tisch mit lau­ten, har­ten Schlä­gen des Staub­be­sens ab; plötz­lich warf sie das Kinn em­por und sag­te scharf: »Was brau­chen wir frem­de Leu­te – und noch dazu den krib­be­li­gen Apo­the­ker? Was kann der ra­ten? Die Leu­te mö­gen tun, was sie wol­len; wir brau­chen sie nicht. Wir wer­den nicht zu ih­nen ge­hen, uns Krän­kun­gen ho­len. Wir drei wer­den schon mit­ein­an­der aus­kom­men, mein ich. Kommt ein Schuft zu ei­nem Mäd­chen und sagt: ›Ich will dich hei­ra­ten‹, so glaubt ihm das Mäd­chen. Wir Frau­en­zim­mer glau­ben so was im­mer; wir sind so ge­macht. Nun – und wenn er das Mäd­chen nicht hei­ra­tet – weil er eben ein Schuft ist – so ge­schieht’s dem Mäd­chen na­tür­lich sehr hart, aber das geht vor­über; man muss ab­war­ten kön­nen. Mei­ne Schwes­ter, die Heb­am­me in Ti­glau, hat an­de­re Mäd­chen­ge­schich­ten mit­an­ge­se­hen. Sie sagt auch, es geht vor­über; nur Zeit ist nö­tig, wie bei je­der Krank­heit.«

Herr Herz hör­te auf­merk­sam zu. Es war viel­leicht doch das rech­te, sich in sei­ne vier Wän­de ein­zu­schlie­ßen wie in eine Fes­tung. Was konn­ten die Leu­te ih­nen an­ha­ben? Ag­nes schi­en sich über den Fall ganz klar zu sein und sprach, als sei sie ih­rer Sa­che ge­wiss. Gut, sie soll­te recht be­hal­ten.

»Es bleibt uns wohl nichts an­de­res üb­rig«, mein­te er, er­hob sich und ging in das Wohn­zim­mer zu­rück. Das Ge­spräch mit Ag­nes hat­te ihn ein we­nig be­ru­higt. Er setz­te sich auf sei­nen Sor­gen­stuhl, viel­leicht konn­te er schla­fen.

Rosa saß noch im­mer am Fens­ter – sehr elend, aber ver­hält­nis­mä­ßig ru­hig. Die stil­len, kum­mer­vol­len Stun­den, die seit heu­te mor­gen ver­flos­sen wa­ren, ge­hör­ten doch nicht zu dem nichts­sa­gend ein­för­mi­gen Le­ben, das Rosa mit Angst kom­men sah – »das Le­ben ganz wie frü­her« –, es lag über ih­nen eine ge­wis­se Fei­er­lich­keit. Die­ser Mon­tag war kein ge­wöhn­li­cher Werk­tag, denn er brach­te dem ar­men Kin­de die Neu­heit ei­nes großen Schmer­zes.

Nun ka­men die Abend­stun­den – das rote Fla­ckern auf den Wän­den. Rosa kann­te das nur zu gut, sie wuss­te ganz ge­nau, wel­chen Weg die­se Lich­ter nah­men, dass sie zu­erst auf der Kom­mo­de und den Bän­den der il­lus­trier­ten Zeit­schrift ent­brann­ten, dann auf der Wand, end­lich dort in der Ecke blas­ser wur­den und der Däm­me­rung Platz mach­ten, die, wie ein fei­ner Aschen­re­gen, auf die Ge­gen­stän­de nie­der­rann. Oh, sie kann­te das, und es tat ihr weh, be­eng­te sie. Die­ses sach­te Dun­keln er­schi­en ihr wie der An­fang des Zu­rück­sin­kens in ihr freud­lo­ses Da­sein. Es war ihr, als wür­de sie fest in ein farb­lo­ses Netz ver­strickt, sie hät­te mit Hän­den und Fü­ßen sto­ßen, sich sträu­ben mö­gen. Das zor­ni­ge, un­ge­dul­di­ge Ver­lan­gen nach Schö­nem und Freu­di­gem er­griff sie wie­der heiß. Sie er­hob sich, fass­te ihre Hän­de krampf­haft fest hin­ter dem Rücken zu­sam­men, ging lei­se im Zim­mer auf und ab und schluchz­te – und wie­der­hol­te im­mer wie­der die ein­tö­ni­ge Kla­ge: »Es kann – es kann nicht aus sein.« Je fins­te­rer es ward, um so hilflo­ser, ein­sa­mer stand sie ih­rem Jam­mer ge­gen­über. »Es kann nicht aus sein!« Sie hass­te die­ses fins­te­re Wohn­zim­mer, sie ging zu Ag­nes in die Kü­che, viel­leicht be­ru­hig­te sie das.

Auf dem Herd brann­te das Feu­er. Ag­nes saß da­vor und rei­nig­te Er­däp­fel. Sie wand­te nur ein we­nig den Kopf, als Rosa ein­trat, und schab­te ru­hig fort. Rosa setz­te sich an den Kü­chen­tisch, stütz­te den Kopf in die Hän­de und schau­te ins Feu­er. End­lich ver­setz­te Ag­nes: »Da ist noch ein Mes­ser, Kind. Wenn du nä­her­kom­men willst, kannst du mir bei den Er­däp­feln hel­fen. Nicht?«

»Ja – Ag­nes.«

»Gut, so komm! Sieh, die Scha­le kratzt du so ab, die­se schwar­zen Au­gen müs­sen her­aus­ge­schnit­ten wer­den.«

»Ja, ja, ich ver­ste­he!«

Eine an­ge­neh­me, be­ru­hi­gen­de Be­schäf­ti­gung war es, so mit der Mes­ser­klin­ge über das har­te, küh­le Fleisch der Er­däp­fel hin­zu­fah­ren.

»Gut sind die­se Er­däp­fel nicht – weiß es Gott! Und teu­er noch dazu«, be­rich­te­te Ag­nes. »Aber heu­te habe ich auf dem Mark­te schon fast Streit ge­habt, weil ich noch im­mer her­un­ter­han­deln woll­te. Gott, sie ist auch zu grob – die Frau Kau­te.«

»So!« Rosa blick­te auf. »Was sag­te sie denn?«

»Die! Was kann die an­de­res als Grob­hei­ten sa­gen!« Ag­nes über­trieb ih­ren Zorn ge­gen die Kau­te, um Rosa Ver­gnü­gen zu ma­chen. »Sie sagt: ›So bil­lig kön­nen Sie nur Er­däp­fel ha­ben, die so ver­trock­net sind wie Sie.‹ So was!«

Rosa lach­te. »Was sag­test du dar­auf?«

»Ich sag­te nichts, ich ging fort.«

»Wo kommt denn die Kau­te her?«

»Sie wohnt dort – jen­seits des Flus­ses – auf dem Lan­de. Dort ha­ben sie ja nichts an­de­res als Er­däp­fel.«

»Und je­den Mor­gen kommt sie in die Stadt?«

»Frei­lich! Mit ih­rem Wa­gen, ih­rem Pfer­de, ih­ren Er­däp­feln und ih­rem Jun­gen kommt sie je­den Mor­gen um vier Uhr in die Stadt und setzt sich auf den Markt­platz.«

 

»Um vier Uhr?«

»Ge­wiss! Was glaubst denn du? Ich bin auch so ge­fah­ren, als ich jung war – zu Hau­se, nicht weit von Ti­glau. Je­den Mor­gen, wenn es drau­ßen noch ganz schwarz war, habe ich hin­aus müs­sen in den Ort, ich und der Bru­der. Wir hat­ten einen Wa­gen, ein al­tes Pferd und eine La­ter­ne.«

»Das muss hart ge­we­sen sein!«

»Leicht war’s nicht! Aber wir schlie­fen im Wa­gen. Das Pferd fand den Weg schon al­lein, nur die La­ter­ne muss­te bren­nen, sonst blieb es ste­hen. Ja, und ein­mal«, Ag­nes stemm­te den Griff ih­res Mes­sers auf ihr Knie und blick­te Rosa lus­tig an, »ein­mal, da ha­ben wir’s gut ge­macht. Ich schlief, und der Hans schlief, die La­ter­ne war er­lo­schen und das Pferd ste­hen­ge­blie­ben. Nun – und so schlie­fen wir und stan­den wir auf der Land­stra­ße, bis die Son­ne auf­ging. Da weck­te mich der Hans. ›Re­si!‹ sag­te er. ›Um Him­mels wil­len! Die Son­ne kommt schon her­auf‹ Das war ein Schreck!«

»Schalt dein Va­ter?«

»Wir sag­ten’s ihm nicht.«

Rosa hat­te auf­ge­hört zu ar­bei­ten. Bil­der gel­ber Ebe­nen tauch­ten vor ihr auf – graue, küh­le Mor­gen­däm­me­rung; in der Fer­ne ein Kirch­turm und Häu­ser; ein schläf­ri­ges Pferd, strup­pig und nass vom Mor­gen­tau; eine trü­be bren­nen­de La­ter­ne, die un­ter dem Wa­gen bau­melt. Ja, sie sah das ganz deut­lich vor sich und dach­te: »Es muss be­hag­lich sein, so im Halb­schlum­mer über frei­es, stil­les Land zu fah­ren. Der Mor­gen­wind streift ei­lig über den Schlä­fer hin­weg, die Er­däp­fel duf­ten nach feuch­ter Erde – und die Welt, ein fried­li­cher Traum, däm­mert in den Schlaf hin­ein – ohne Ge­dan­ken, ohne Qual; eine große, sorg­lo­se Ruhe.« Rosa schloss halb die Au­gen; es war ihr, als spür­te sie die Be­we­gung des Wa­gens.

»So!« mein­te Ag­nes und wisch­te das Mes­ser an ih­rer Schür­ze ab. »Nun gehe ich ans Ko­chen.«

»Und wenn ihr nach Hau­se kamt, was aßt ihr dann?« frag­te Rosa.

»Was ge­ra­de da war. Er­däp­fel – He­ring; man­ches Mal hat­te die Mut­ter Speck für mei­ne Er­däp­fel auf­ge­ho­ben, aber das war sel­ten.«

»Aßt du das gern?«

»Frei­lich! Ich schnitt ein Loch in je­den Erd­ap­fel und leg­te den Speck hin­ein. Sehr gut war das!«

»So? Ich wür­de das heu­te gern es­sen.«

»Das ge­ra­de?« – »Ja.« – »Nun, das kann man bald ha­ben.«

Wäh­rend Ag­nes in der Kü­che ab und zu ging, dach­te Rosa an Ag­nes’ Er­zäh­lung. Wie ein Aus­weg war’s, den sie ge­fun­den – ein fried­li­ches Feld, auf dem ihr nichts be­geg­nen konn­te, das wie ein Vor­wurf aus­sah.

Herr Herz kam auch in die Kü­che. »Ah! Ihr seid hier bei­sam­men!« sag­te er ein we­nig er­staunt. »Ja, hier ist’s bes­ser«, mein­te Rosa und lä­chel­te ih­ren Va­ter matt an. »Hm!« dach­te Herr Herz, »die­se Ag­nes ver­steht den Fall zu be­han­deln. Nun lacht das Kind schon.« – »Schön – schön«, sag­te er und rück­te einen Stuhl vor das Feu­er.

»Bist du ein­mal in Ti­glau ge­we­sen, Papa?« frag­te Rosa.

»In Ti­glau? Ja – mir ist so.« Herr Herz dach­te ernst­lich nach, be­sorgt, die­ser so un­er­war­tet sich ein­fin­den­de, un­ver­fäng­li­che Ge­sprächss­toff könn­te an sei­ner Un­wis­sen­heit schei­tern. »War­te! Vor sehr lan­ger Zeit bin ich dort durch­ge­fah­ren. Ich glau­be, es war ein ver­teu­felt un­schein­ba­res Nest. Wir woll­ten dort et­was es­sen, aber ein Gast­haus war nicht auf­zu­trei­ben.«

»Sie hät­ten nur fra­gen sol­len. Je­des Kind in Ti­glau zeigt Ih­nen den ›Ro­ten Hir­sch‹ – dort be­kommt man ge­nug zu es­sen«, ver­setz­te Ag­nes ge­reizt. Herr Herz rieb sich ver­wirrt die Wa­den. Er be­griff nicht recht, warum Rosa ihn nach Ti­glau frag­te und warum Ag­nes die­sen Markt­fle­cken, an den sonst nie­mand dach­te, so streng in Schutz nahm. »Das ist mög­lich«, sag­te er schnell, weil er fürch­te­te, Rosa ver­letzt zu ha­ben. »Es ist lan­ge her, dass ich dort war – wie ge­sagt.«

»Ag­nes hat mir von Ti­glau er­zählt«, er­klär­te Rosa. »Du weißt, sie ist aus je­ner Ge­gend.«

»Rich­tig!« Herr Herz ent­sann sich jetzt. Sei­ne Schwes­ter Ina hat­te da­von ge­spro­chen. »Eine Schwes­ter von dir lebt dort, nicht wahr? Die Frau Böhk. Sie schrieb mir nach dem Tode des Fräu­leins.«

»Frei­lich«, be­stä­tig­te Ag­nes, »das se­li­ge Fräu­lein hat mei­ne Schwes­ter noch un­ver­hei­ra­tet ge­kannt.«

»So, so! Und wie geht es der Frau Böhk? Hat sie viel zu tun?«

»Zu tun gibt es ge­nug. Sie ist die ein­zi­ge Heb­am­me der Ge­gend.«

»Hat sie selbst auch Kin­der?« Herr Herz war ent­schlos­sen, die­ses The­ma nicht fal­len zu las­sen. Ag­nes muss­te er­zäh­len: Frau Böhk hat­te einen Sohn, dann hat­te sie noch zwei Wai­sen – Töch­ter je­nes Hans, mit dem Ag­nes zu Mark­te ge­fah­ren war – zu sich ge­nom­men. Gute Mäd­chen, ein we­nig wild.

Auf Ro­sas Wunsch wur­de das Nacht­mahl in der Kü­che ein­ge­nom­men, und wäh­rend sie ihre Er­däp­fel mit Speck aß, dräng­te sie Ag­nes, von Ti­glau zu er­zäh­len. Ag­nes hat­te bis­her nie von ih­rem Ge­burts­ort, von ih­rer Ju­gend, von ih­ren Ver­wand­ten ge­spro­chen, heu­te aber woll­ten Rosa und ihr Va­ter von nichts an­de­rem hö­ren, al­les muss­ten sie wis­sen. So er­fuh­ren sie denn, dass Frau Böhk frü­her hübsch ge­we­sen, jetzt aber zu stark ge­wor­den sei, dass sie Herrn Böhk zum Leid­we­sen ih­rer Fa­mi­lie ge­hei­ra­tet hat­te, denn er war klein, dünn, schwäch­lich, schwarz wie ein Jude – zwar ein ge­lern­ter Uhr­ma­cher, aber voll tol­ler Ide­en, an or­dent­li­che Ar­beit nicht her­an­zu­krie­gen.

Als das Nacht­mahl be­en­det war, schi­en das Ehe­le­ben der Böhks er­schöpft zu sein, und wäh­rend Ag­nes das Ge­schirr wusch, ging sie zum Heb­am­menex­amen ih­rer Schwes­ter über. Die arme Frau hat­te ein dickes Buch mit Bil­dern, die ei­nem weht­a­ten, wenn man sie an­schau­te, durch­stu­die­ren müs­sen. End­lich, als die häus­li­chen Ge­schäf­te ab­ge­tan wa­ren und man ru­hig um das Herd­feu­er saß, kam Frau Böhks Heb­am­men­tä­tig­keit an die Rei­he. Ge­schich­ten von den Lei­den ar­mer Müt­ter, von der Kraft und Ge­schick­lich­keit der Frau Böhk – und selt­sam war es, wie sorg­los Ag­nes heu­te von Din­gen sprach, die sie sonst vor Rosa nie nann­te, »weil sie eben nicht für Kin­der sind«.

Es war spät ge­wor­den, als die drei noch im­mer in der Kü­che sa­ßen, eng an­ein­an­der­ge­drängt im war­men Rau­me, über den das un­ru­hi­ge Licht des Herd­feu­ers hin­flat­ter­te.

Wie die Haus­ge­nos­sen sich eng an­ein­an­der­drän­gen, wenn ne­ben­an – im dunklen Zim­mer – ein To­ter liegt, So sa­ßen Rosa, ihr Va­ter und Ag­nes bei­sam­men, und kei­ner hat­te Lust, in die an­de­ren Zim­mer hin­über­zu­ge­hen, es war, als such­ten sie in der Kü­che Schutz vor et­was, das sie dort – im Wohn­zim­mer – an­fal­len könn­te.

Rosa blick­te je­des­mal ängst­lich auf, wenn Ag­nes gähn­te. Sie fürch­te­te, Ag­nes wür­de schla­fen ge­hen, und die lan­ge, qual­vol­le Nacht wür­de be­gin­nen. Es war schon Mit­ter­nacht vor­über, als Herr Herz den Vor­schlag mach­te, sich zur Ruhe zu be­ge­ben. Ag­nes ging be­reit­wil­lig dar­auf ein, ja, sie freu­te sich sicht­lich dar­über; Rosa aber schi­en es, als stie­ßen ihr Va­ter und Ag­nes sie gleich­gül­tig in das Dun­kel ei­ner ein­sa­men, pein­vol­len Wan­de­rung hin­aus – nur weil sie ein we­nig schläf­rig wa­ren. Sie fand das herz­los und ging – schwer seuf­zend – in ihre Kam­mer, um sich wie­der mit ih­rem wir­ren, un­kla­ren Schmerz aus­ein­an­der­zu­set­zen.