Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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»Eins aber sage ich dir«, ver­setz­te Rosa, »mit der Schank spre­che ich mor­gen nicht.«

»Nein – nein«, er­wi­der­te Herr Herz. »Aber du darfst ihr nicht böse sein.«

Als Ag­nes die Lam­pe brach­te, zeig­te es sich, dass so­wohl Rosa wie auch ihr Va­ter ver­wein­te Au­gen hat­ten, bei­de sa­hen aber ru­hig, Herr Herz so­gar fröh­lich aus. Er trieb al­ler­hand Pos­sen, neck­te Rosa, spot­te­te über die Lan­ins; ja – die Sa­che hat­te in sei­nen Au­gen plötz­lich ein so güns­ti­ges An­se­hen ge­won­nen, dass er Rosa den gan­zen Abend über »die klei­ne Braut« nann­te. Und als sie nach dem Nacht­mahl mit­ein­an­der Pi­quet spiel­ten, wa­ren sie aus­ge­las­sen wie Kin­der, die ih­ren tol­len Ein­fäl­len die Zü­gel schie­ßen las­sen, weil die er­wach­se­nen Leu­te aus­ge­gan­gen sind. Nur Ag­nes ging bleich und mür­risch ab und zu. Je­des­mal wenn sie das Wohn­zim­mer be­trat, ward Herr Herz stil­ler und blin­zel­te Rosa mit den Wim­pern heim­lich zu; und ging Ag­nes wie­der hin­aus, dann flüs­ter­te er: »Wa­rum die nur heu­te so brum­mig ist?«

Sechzehntes Kapitel

Als der Bal­let­tän­zer am fol­gen­den Mor­gen vor dem Spie­gel stand und nach­denk­lich sein spär­li­ches Haar bürs­te­te, ver­spür­te er nichts mehr von der gu­ten Lau­ne des vo­ri­gen Abends. Seuf­zend hol­te er den schwar­zen Vi­si­ten­rock aus dem Kas­ten, zog ihn lang­sam und zö­gernd an; dann be­schäf­tig­te er sich noch eine hal­be Stun­de da­mit, sei­nen Hut zu rei­ni­gen, und trat end­lich, da es doch sein muss­te, den sau­ern Weg an. Dazu kam heu­te eine nie­der­schla­gen­de, un­be­hag­li­che Wit­te­rung. Der Him­mel war ganz mit gleich­mä­ßig hell­grau­en Wol­ken be­deckt, und in der Luft herrsch­te eine schwü­le Ruhe. Tage, die kei­nen or­dent­li­chen Son­nen­schein hat­ten, ver­stimm­ten Herrn Herz im­mer; nun noch un­ter die­sen Um­stän­den!

Er schell­te an der Lan­in­schen Hau­stü­re, und wäh­rend er drau­ßen war­te­te, zo­gen sich die grei­sen Haar­bü­schel über sei­nen Au­gen zu­sam­men, und sein ar­mes, sor­gen­vol­les Ge­sicht ward ganz rot. Das klei­ne Dienst­mäd­chen öff­ne­te end­lich. »Ist der Herr Bür­ger­meis­ter zu Hau­se?« frag­te Herr Herz.

»Ja­wohl, bit­te nur nä­her­zu­tre­ten.«

Das Dienst­mäd­chen ver­schwand und ließ den Bal­let­tän­zer im Sa­lon al­lein, in die­sem Sa­lon, der mit sei­nen Mö­beln in weiß­ka­li­kot Über­zü­gen, mit sei­nem blank­ge­boh­ner­ten Estrich, sei­nen erns­ten Fo­to­gra­fi­en, mit sei­ner gan­zen so­li­den Steif­heit dem al­ten Mann das Herz schwer­mach­te. Eine Türe öff­ne­te sich halb, und Frau Lan­ins Kopf, von der Nacht­hau­be be­deckt, zeig­te sich und ver­schwand wie­der. An ei­ner an­de­ren Türe mach­te sich Fräu­lein Sal­ly be­merk­bar durch das Rau­schen und Flat­tern wei­ßer Un­ter­rö­cke. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten kehr­te das Dienst­mäd­chen zu­rück und bat Herrn Herz, in die Stu­be des Herrn hin­über­zu­ge­hen.

Da saß der Herr in sei­ner Stu­be vor dem großen Schreib­tisch. Der ka­neel­brau­ne Schlaf­rock mit den kirsch­ro­ten Sam­me­tauf­schlä­gen war – der Hit­ze we­gen – of­fen und ließ die brei­te Brust des Chefs der Fir­ma La­nin se­hen. Das Ge­sicht war vom Schlaf noch bleich und ge­schwol­len, die Stim­me be­legt. »Ich habe die Ehre, lie­ber Herz. Ich weiß es schon, was Sie so früh zu mir führt.« In­dem Herr La­nin die­ses im Ton fei­er­li­chen Bei­leids dem Bal­let­tän­zer ent­ge­gen­rief, reich­te er ihm eine di­cke, lau­war­me Hand.

»Ja, ja; das ist’s«, er­wi­der­te Herr Herz.

»Gut! Set­zen Sie sich.«

Herr Herz setz­te sich auf Con­rad Lurchs Rohr­stühl­chen.

»Es ist schlimm«, be­gann Herr La­nin und schau­te mit sei­nen klei­nen, glanz­lo­sen Au­gen zum Fens­ter hin­aus. »Recht trau­rig! Was ge­den­ken Sie zu tun? Sie woll­ten mei­nen Rat ein­ho­len; ich ver­ste­he. Aber, da ist schwer ra­ten. Wie Fräu­lein Schank mir sagt, hat sich eine Stel­le für Ihre Toch­ter ge­fun­den, als Bon­ne, glau­be ich. Das wäre ja güns­tig.«

Bei Lan­ins Wor­ten be­griff Herr Herz erst Ro­sas Ent­rüs­tung, als er ihr den Vor­schlag ges­tern ge­macht hat­te, denn das Wort »Stel­le« klang im Mun­de des Bür­ger­meis­ters wie et­was sehr Ge­mei­nes – und nun noch »Bon­ne« – mit sei­nem knal­len­den B und dem wid­rig nach­schnur­ren­den Dop­pel-N. Herr Herz stütz­te die El­len­bo­gen auf die Knie, fal­te­te die Hän­de, schloss die Au­gen, wie er es zu tun lieb­te, wenn er ernst sein woll­te, und rück­te mit dem Vor­tra­ge her­aus, den er sich müh­sam heu­te mor­gen ein­ge­prägt hat­te.

Fräu­lein Schank hat­te auch ihm – Herz – ih­ren Plan mit­ge­teilt. Be­vor er aber in eine Tren­nung von sei­nem ein­zi­gen Kin­de wil­lig­te, be­vor er sich dazu ent­schloss, Rosa in wei­te Fer­ne und in eine un­si­che­re Zu­kunft hin­aus­zu­sen­den, woll­te er es ver­su­chen, der Sa­che eine an­de­re, glück­li­che­re und na­tür­li­che­re Wen­dung zu ge­ben, und des­halb hat­te er La­nin auf­ge­sucht. Herr Herz hielt einen Au­gen­blick inne, öff­ne­te die Au­gen und sah La­nin scheu an. Die­ser hör­te ru­hig zu. Er schi­en da­bei scharf zu den­ken, denn er zog die Au­gen­brau­en leicht zu­sam­men und kniff die Au­gen­li­der ein; sei­ne Lip­pen um­spiel­te ein fei­nes Lä­cheln, als hät­te er den Spre­cher be­reits bei ei­nem lo­gi­schen Feh­ler er­tappt. Herr Herz woll­te sich nicht ein­schüch­tern las­sen. Er schloss wie­der die Au­gen und sprach wei­ter, er kann­te die Schuld und die Un­vor­sich­tig­keit sei­ner Toch­ter wohl, trug er doch selbst einen Teil die­ser Schuld, denn sei­ne Er­zie­hungs­me­tho­de moch­te eine ver­fehl­te, sei­ne Wach­sam­keit eine man­gel­haf­te ge­we­sen sein. Mein Gott, wo soll­te er auch die rech­te Metho­de, jun­ge Mäd­chen zu er­zie­hen, her­ha­ben? Ja, wenn die Schwes­ter Ina noch leb­te, da wäre man­ches an­ders ge­kom­men! Trotz all­dem hat­te der jun­ge Mann doch auch eine Verant­wort­lich­keit auf sich ge­la­den, hat­te eine Schuld zu süh­nen. Ein jun­ger Mann von Geist und Welt hat­te ei­ner kaum sieb­zehn­jäh­ri­gen un­er­fah­re­nen Klein­städ­te­rin ge­gen­über im­mer leich­tes Spiel. Herr La­nin mach­te eine ab­weh­ren­de Hand­be­we­gung; er war of­fen­bar wie­der ei­nem lo­gi­schen Schnit­zer auf die Spur ge­kom­men.

»Ich weiß es«, fuhr Herz fort, »dass zwi­schen den bei­den Kin­dern wirk­li­che Nei­gung be­steht. Am­bro­si­us Tel­le­r­at hat die Ab­sicht, Rosa zu hei­ra­ten, klar und deut­lich aus­ge­spro­chen, und wie die Sa­chen lie­gen, kann und will ich ihm die Hand mei­ner Toch­ter nicht ver­wei­gern. Mit ei­ner Hei­rat aber wird die jetzt so trau­ri­ge An­ge­le­gen­heit, mei­ne ich, einen für alle se­gens­rei­chen Ab­schluss fin­den.« Herr Herz war mit sei­ner Rede zu Ende und blick­te jetzt zö­gernd auf.

La­nin saß noch im­mer ru­hig da und lä­chel­te. Er sah we­der ent­rüs­tet noch er­zürnt aus; er schau­te viel­mehr drein wie je­mand, der an ei­nem schwie­ri­gen Pro­blem ein rein sach­li­ches, geis­ti­ges In­ter­es­se nimmt. »In­dem Sie von der Hei­rat – spre­chen«, be­gann er lang­sam, wie­der am Bal­let­tän­zer vor­über zum Fens­ter hin­aus­ge­hend, »ha­ben Sie al­ler­dings das punc­tum sa­li­ens – wie der La­tei­ner sagt – der Sa­che ge­trof­fen. Nur scheint es mir, Sie fas­sen die­ses punc­tum an­ders als ich und da­her nicht ganz rich­tig – ganz kon­se­quent auf.« Er hielt inne und blin­zel­te mit den Au­gen­li­dern. »Nein, nicht ganz kon­se­quent«, wie­der­hol­te er nach reif­li­cher Über­le­gung. »Vom all­ge­mei­nen mo­ra­li­schen Stand­punkt mag solch eine – Süh­ne – wie Sie sa­gen – zu ver­tei­di­gen sein – vom all­ge­mein mo­ra­li­schen – bit­te! Die all­ge­mei­nen Moral­ge­set­ze er­lei­den aber durch un­se­re ge­sell­schaft­li­chen Ge­set­ze eine Mo­di­fi­ka­ti­on – eine Ver­än­de­rung. Das ist von je­her das Haupt­axi­om mei­ner, wenn ich so sa­gen darf, per­sön­li­chen Phi­lo­so­phie ge­we­sen. Nun, in der hö­he­ren bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft, die doch die ei­gent­li­che Wah­re­rin der Moral ist, gilt eine Ver­bin­dung zwi­schen ei­nem jun­gen Man­ne und ei­nem Mäd­chen, das die von der hö­he­ren bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ge­for­der­te Re­ser­ve die­sem jun­gen Man­ne ge­gen­über au­ßer acht ge­las­sen hat, für – un­mo­ra­lisch. Ja, lie­ber Herz, das ist ein Ge­setz, da kann man nichts ma­chen! Die Süh­ne aber, wel­che die Ge­sell­schaft dem jun­gen Man­ne und dem Mäd­chen auf­er­legt – ist – dass sie auf eine Ver­bin­dung mit­ein­an­der ver­zich­ten.«

Herr Herz sah sehr ver­blüfft drein, der Bür­ger­meis­ter aber lach­te. »Ja – ja! Auf den ers­ten Blick er­scheint das wi­der­sin­nig – pa­ra­dox, wie? Aber se­hen Sie nur nä­her zu, es ist das ein­zig Rich­ti­ge, das ein­zig Ver­nunft­ge­mä­ße.«

»Ich weiß doch nicht…« pro­tes­tier­te Herr Herz lei­se.

»Doch – doch«, un­ter­brach ihn Herr La­nin. »Ist sich auch nicht ein je­der die­ses Ge­set­zes klar be­wusst, dazu be­sitzt nicht ein je­der die ana­ly­ti­sche Übung, so fühlt es doch ein je­der. Ih­nen, lie­ber Herz, wür­de es nicht an­ders ge­hen, wä­ren Sie im be­stän­di­gen Kon­nex mit der hö­he­ren bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ge­blie­ben. Die­ses Ge­setz ist auch der Grund, warum mein Schwa­ger nie die­ser Ver­bin­dung sei­ne Zu­stim­mung ge­ben wür­de, wenn ihm auch nicht an­der­wei­ti­ge Plä­ne, die er mit Am­bro­si­us hat, im Wege ste­hen wür­den. Nie – nie!« Herr La­nin mach­te mit der Hand einen ver­ti­ka­len Schnitt durch die Luft. »Mein Nef­fe reist mor­gen ab, und da­mit ist für die­se un­an­ge­neh­me Ver­wi­cke­lung die ein­zig ver­nunft­ge­mä­ße, ich möch­te sa­gen – ide­al-ethi­sche Lö­sung ge­fun­den.« Herr La­nin mach­te einen Qu­er­schnitt durch die Luft, und da­mit schi­en die Sa­che wirk­lich voll­kom­men lo­gisch und – hoff­nungs­los er­le­digt zu sein.

Herr Herz er­hob sich. Lan­ins bun­te Re­dens­ar­ten ver­wirr­ten ihn. »Also – Herr Di­rek­tor – wenn Sie mei­nen…« Er war in so jäm­mer­li­cher Ver­fas­sung, dass er Di­rek­tor statt Bür­ger­meis­ter sag­te und dass es ihm vor­kam, als wäre er wie­der der arme Ko­mö­di­ant, dem der Di­rek­tor sein ma­ge­res Ho­no­rar vor­ent­hielt.

 

»Le­ben Sie wohl«, sag­te La­nin herz­lich. »Ich wün­sche Ih­nen und Ih­rer Toch­ter al­les Gute. Der all­mäch­ti­ge Wel­ten­ord­ner wird al­les zum bes­ten wen­den.«

Herr Herz trock­ne­te sich die Trä­nen aus den Au­gen. Der vä­ter­li­che Ab­schied des Bür­ger­meis­ters rühr­te ihn. »Oh, ich dan­ke – La­nin – ich dan­ke«, da­mit ging er hin­aus.

Im Sa­lon husch­ten wie­der Fräu­lein Sal­lys wei­ße Rö­cke um die Türflü­gel – wie­der zeig­te sich Frau Lan­ins großes, blei­ches Ge­sicht in der halb­ge­öff­ne­ten Schlaf­kam­mer­tü­re.

Herr Herz pil­ger­te nun zu Klappe­kahl. Der scharf­sin­ni­ge Apo­the­ker, der Welt­mann, wuss­te be­stimmt Rat.

Die Apo­the­ke war der­ma­ßen über­füllt, dass Klappe­kahl und Zap­per nicht wuss­ten, wo ih­nen der Kopf stand. »Ah Herz, das ist char­mant. Ich ste­he so­gleich zur Ver­fü­gung«, rief der Apo­the­ker. »Ge­hen Sie, bit­te, ins Wohn­zim­mer hin­über. Sie fin­den dort die Er­nes­ti­ne. Kon­ver­sie­ren Sie mit ihr ein we­nig. Ich muss die­se Leu­te ab­fer­ti­gen. Ich weiß nicht, was das ist, eine Rie­sen­ob­struk­ti­on hat sich auf die Stadt ge­wor­fen. Bit­ter­was­ser und Ri­zi­nus – sonst nichts! Jetzt – zur Zeit der Früch­te! Un­be­greif­lich!« Klappe­kahl flog da­von.

Herr Herz fand im Wohn­zim­mer al­ler­dings Er­nes­ti­ne; sie er­hob sich je­doch, als er ein­trat, grüß­te steif und ver­ließ das Zim­mer. Es dau­er­te eine ge­rau­me Wei­le, bis der Apo­the­ker Zeit fand, sich sei­nem Freun­de zu wid­men, und als er kam, war er atem­los und er­hitzt. »Es ist fa­bel­haft, wie es heu­te mor­gen hier zu­geht. Al­les schreit nach Ab­füh­run­gen. Es wäre in­ter­essant, die­ser Er­schei­nung auf den Grund zu kom­men.« – Als er die be­trüb­te Mie­ne sei­nes Gas­tes be­merk­te, ward er ru­hi­ger. »Ja so! Ich habe ge­hört. Ar­mer Freund!« Er drück­te Herrn Herz ge­fühl­voll die Hand. »Aber was tun! Man muss sich in al­les schi­cken.«

»Ich kom­me zu Ih­nen, lie­ber Klappe­kahl«, mein­te Herr Herz, »ich dach­te mir, Sie wer­den viel­leicht et­was wis­sen.«

»Ja – lie­ber Freund«, er­wi­der­te der Apo­the­ker und strich sin­nend mit der Hand über sein Kinn. »Ein schwie­ri­ger Fall! Nun – aber – aber – – das Schlimms­te ist doch noch nicht ge­sche­hen?«

»Wie, das Schlimms­te?«

»Ich mei­ne, nur klei­ne Un­vor­sich­tig­kei­ten lie­gen vor? Ach Gott! In ei­ner Groß­stadt hät­te das nichts auf sich, da lacht man über der­glei­chen; aber in un­se­rem Nes­te wird aus der Mücke ein Ele­fant. Ich – per­sön­lich – habe über sol­che Din­ge mei­ne selb­stän­di­ge, freie­re An­schau­ung; aber schließ­lich muss man sich dem Mi­lieu, in dem man lebt, fü­gen. Se­hen Sie, mei­ne ei­ge­ne Toch­ter weicht von mei­ner Auf­fas­sung ab. ›Dei­ne An­sicht ist eng, Er­nes­ti­ne‹, sag­te ich ihr ges­tern. Was wol­len Sie, das Mäd­chen steht eben auf dem Stand­punkt der Ge­sell­schaft, in der es lebt. Und nä­her be­se­hen – ist denn die gan­ze Af­fä­re ein so großes Un­glück? Ein hüb­sches, in­tel­li­gen­tes Mäd­chen wie Ro­set­te – haha – ich nenn sie im­mer Ro­set­te – das kommt über­all fort. Wie wäre es zum Bei­spiel mit dem Thea­ter? Ha­ben Sie dar­an schon ge­dacht?«

»Nein!« ent­geg­ne­te Herr Herz er­staunt. Da­ran hat­te er wirk­lich nicht ge­dacht – und jetzt mach­te die­ser Ge­dan­ke auf ihn nur einen pein­li­chen Ein­druck. Sein müh­sa­mes, ärm­li­ches Ko­mö­di­an­ten­le­ben schweb­te ihm vor, und es er­schi­en ihm wie ein Hin­ab­stei­gen, wie ein Ver­lust an Wür­de, wenn aus der so­li­den Schank­schen Schü­le­rin eine Thea­ter­prin­zes­sin wer­den soll­te.

»Das wäre doch so un­güns­tig nicht«, fuhr der Apo­the­ker fort und lä­chel­te schalk­haft. »Was wür­de Ro­set­te dazu sa­gen?«

»Sie! Mein Gott! Sie sagt, sie will ihn hei­ra­ten.«

Klappe­kahl ließ ein lei­ses Pfei­fen hö­ren und kratz­te sich mit dem klei­nen Fin­ger den Schei­tel. »Das ist et­was an­de­res. Aber – of­fen ge­sagt – wenn die El­tern des jun­gen Man­nes ihr Veto ein­le­gen, wenn er selbst nicht dar­an will, was kön­nen Sie tun? Zum Hei­ra­ten kann nie­mand ge­zwun­gen wer­den.«

»Er hat es ihr ver­spro­chen«, wand­te Herr Herz kläg­lich ein.

»Baba! So et­was tut man im Ju­gend­ei­fer. Wer von uns hat das nicht ge­tan? Hand aufs Herz! Sie – und ich – als wir jung wa­ren, in ei­ner Welt­stadt leb­ten, ha­ben wir da ge­glaubt, dass wir durch sol­che klei­ne Galan­te­ri­en ir­gend­wel­che Ver­bind­lich­keit über­neh­men? Nein – also! Sei­en wir ge­recht. Wie wol­len Sie nun den jun­gen Mann zwin­gen? Ein Duell? Ja, in ei­ner großen Stadt, da wäre auch das mög­lich; ich selbst wür­de mich Ih­nen ohne wei­te­res zum Se­kun­dan­ten an­bie­ten; ich weiß, wie sol­che Af­fä­ren aus­ge­tra­gen wer­den. Aber hier? Un­mög­lich!«

»Un­mög­lich!« wie­der­hol­te Herr Herz ton­los. »Sie mei­nen also auch, das Kind soll fort?«

»Es wird nicht an­ders ge­hen, mein ar­mer Freund.« Klappe­kahl reich­te dem Bal­let­tän­zer bei­de Hän­de. »Un­se­re Freund­schaft bleibt un­ge­trübt. Wir bei­de ha­ben ein Stück Welt ge­se­hen und wis­sen, was wir von den klein­städ­ti­schen Vor­ur­tei­len zu hal­ten ha­ben.« Zap­per un­ter­brach das Ge­spräch. »Herr Prin­zi­pal, es muss Gum­mi ara­bi­cum aus dem Ma­ga­zin ge­holt wer­den.«

»Mein Gott! Jetzt tritt die Re­ak­ti­on ein. Die Stadt ist wie be­hext. Ich muss fort. Sie ent­schul­di­gen. Kann ich Ih­nen sonst hel­fen – Sie wis­sen – mit dem größ­ten Ver­gnü­gen. Mor­gen gebe ich eine klei­ne Soirée, so et­was zer­streut. Ich rech­ne auf Sie. Nur äl­te­re Leu­te, Sie ver­ste­hen – sonst wäre es mir ein Ver­gnü­gen ge­we­sen, Ro­set­te bei mir zu se­hen. Grü­ßen Sie das lie­be Kind von mir. Ar­ri­ve­der­ci! Ich kom­me – ich kom­me!« Da­mit lief er fort.

Herr Herz war ein we­nig ge­trös­tet. Der Apo­the­ker hat­te we­nigs­tens nicht den über­le­ge­nen, jede Hoff­nung rau­ben­den Ton an­ge­nom­men.

Er be­ur­teil­te Rosa mil­der und hät­te sie zu sei­ner Soirée ein­ge­la­den, wäre es nicht eine Soirée für äl­te­re Leu­te. Ja – er hat­te hübsch und herz­lich ge­spro­chen, der Apo­the­ker! – Aber Rosa muss­te den­noch fort – sie, die ein­zi­ge Freu­de des al­ten Bal­let­tän­zers. Bei sei­nem Al­ter war es fast ge­wiss, dass er sei­ne Toch­ter dann nie wie­der­se­hen wür­de. Eine Tren­nung für im­mer! Und doch muss­te es sein. Sie sag­ten es ja alle, die klu­gen, um­sich­ti­gen Leu­te. Er selbst war hilf­los. Was wuss­te er von all die­sen Rück­sich­ten? Er ver­stand die gan­ze sitt­li­che Ent­rüs­tung nicht. Und doch heg­te er eine so tie­fe Ver­ach­tung sei­ner Ver­gan­gen­heit, dass er sei­ne An­sich­ten und An­schau­un­gen, die sich von je­ner Ver­gan­gen­heit doch nicht ganz los­ma­chen konn­ten, im vor­hin­ein für falsch und ge­mein hielt. Sein ei­ge­nes Ur­teil kas­sier­te er ohne zu zau­dern vor dem Ur­teil der ver­nünf­ti­gen, tu­gend­stol­zen Bür­ger, die nie um das täg­li­che Brot hat­ten tan­zen oder um einen lum­pi­gen Vor­schuss bei ei­nem lum­pi­gen Di­rek­tor hat­ten krie­chen müs­sen. Rosa muss­te fort, das war ge­wiss, und ne­ben dem Schmerz über die be­vor­ste­hen­de Tren­nung emp­fand Herr Herz auch leb­haf­te Furcht vor sei­ner Toch­ter. Wie soll­te er ihr sei­nen Ent­schluss mit­tei­len? Ab­ge­spannt, trau­rig, hung­rig und müde kehr­te er nach Hau­se zu­rück.

Rosa saß in der Fens­ter­ni­sche des Wohn­zim­mers und näh­te. Sie trug ihr blau­es Sonn­tags­kleid; die Haa­re hin­gen nicht wie sonst über den Rücken nie­der, son­dern wa­ren auf­ge­steckt und mit ei­nem blau­en Ban­de ge­schmückt, das Herr Herz noch nicht kann­te, und wie sie ru­hig auf ihre Ar­beit nie­der­ge­beugt da­saß, er­schi­en sie ih­rem Va­ter schö­ner und äl­ter als sonst. Das war nicht mehr Rosa, das Kind. Über die­ser blon­den Ge­stalt lag eine erns­te Jung­fräu­lich­keit, die den Bal­let­tän­zer über­rasch­te und ein­schüch­ter­te; er wag­te nicht so recht mit sei­nem Be­richt her­aus­zu­rück­en und ging un­s­tet im Zim­mer auf und ab. Rosa näh­te fort, als be­merk­te sie die Auf­re­gung ih­res Va­ters gar nicht. End­lich, als sie einen Fa­den über die Wachs­rol­le zog, blick­te sie mit ru­hi­gen, kla­ren Au­gen auf und frag­te: »Nun?«

Herr Herz blieb ste­hen, zuck­te die Ach­seln: »Es ist noch nichts aus­ge­macht. Das heißt, ich muss zu­se­hen…«

»Wen hast du ge­spro­chen?«

»Alle Welt, La­nin, Klappe­kahl. Mein Gott, wo bin ich nicht al­les ge­we­sen!«

»Was sag­ten sie?« – Herr Herz fand sei­ne Toch­ter zu ge­sam­melt, zu ru­hig, das ver­wirr­te ihn. »Ge­sagt ha­ben sie ge­nug. Aber – was! Schließ­lich ist es auch gleich­gül­tig, was sie ge­sagt ha­ben. Wir wer­den uns schon selbst hel­fen.«

»Reist Am­bro­si­us ab?«

»Ja – mor­gen; La­nin sagt das we­nigs­tens.«

»Und sie wol­len alle, ich soll nach Russ­land fort?«

»Ja – sie ha­ben alle da­von ge­spro­chen.« Die schma­len, tro­ckenen Lip­pen des al­ten Man­nes beb­ten. »Und, lie­bes Kind, was kann ich tun? Wenn die schlech­ten Leu­te dich hier quä­len, wenn sie dir das Le­ben un­mög­lich ma­chen – – nimm Ver­nunft an – Rosa – Kind.« Jetzt wein­te er. »Du musst viel­leicht doch fort.«

Still hör­te Rosa zu, nur ein we­nig blei­cher wur­de sie. Jetzt biss sie ener­gisch das Ende ei­nes Fa­dens ab, um ihn in die Na­del zu fä­deln, und sag­te lei­se: »Gut, ich wer­de ge­hen.« Dann näh­te sie.

Ver­blüfft schau­te Herr Herz sein Kind an. Was war denn pas­siert? Die blas­se, er­ge­be­ne Rosa ward ihm un­heim­lich; er ver­stand sie nicht mehr. Al­les gab sie auf und woll­te ge­hen?

Ag­nes Stock­mai­er kün­dig­te mit Gra­bes­s­tim­me an, die Sup­pe war­te. Rosa fal­te­te ihre Ar­beit zu­sam­men, glät­te­te sich mit den Hand­flä­chen das Haar und trat zu ih­rem Va­ter: »Komm«, sag­te sie und um­schlang ihn; »sei nicht be­trübt, es wird al­les gut wer­den.« Da­bei lä­chel­te sie ein so ver­stän­di­ges, tröst­li­ches Lä­cheln, dass es dem al­ten Bal­let­tän­zer warm ums Herz wur­de und er be­wun­dernd zu sei­ner Toch­ter sag­te: »Weißt du, Kind, wie du heu­te aus­schaust? Wie eine Ma­don­na.«