Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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In dem Röh­richt fest­ge­fah­ren, fast ganz von ihm über­deckt, hielt der Kahn; er konn­te nicht wei­ter. Rosa ju­bel­te. Hier war es schön! Nichts als ni­cken­de grü­ne Spit­zen und ein heim­li­ches Flüs­tern. Hin­ter dem schwar­zen Streif des fer­nen Wal­des stieg der Mond auf – über­groß, und dich­te Wol­ken­stri­che leg­ten sich ho­ri­zon­tal über den Him­mel, schmal und rot, wie Mes­ser­sti­che. Vor die­sem ge­walt­sa­men Auf­leuch­ten wur­den die Ster­ne matt und flim­mer­ten ängst­lich.

»Ganz präch­tig!« be­merk­te Am­bro­si­us. »Hier kann man in des Wor­tes ver­we­gens­ter Be­deu­tung sa­gen: groß­ar­tig.«

Schön war es, und den­noch mach­te es das Herz schwer. Rosa lehn­te ih­ren Kopf an Am­bro­si­us’ Schul­ter und blick­te stumm den fort­flat­tern­den En­ten nach. Als Am­bro­si­us sich räus­per­te, um eine Rede zu hal­ten, leg­te sie ihm die Hand auf den Mund. Schwei­gen woll­te sie; da­sit­zen und zu­se­hen, wie der Mond lang­sam den Him­mel hin­auf­stieg, wie die Nacht sich über das Land brei­te­te, wie die Spit­zen des Rohrs dun­kel und re­gungs­los wur­den; lau­schen woll­te sie den Tö­nen rings­um, dem Gur­geln des Was­sers, dem schläf­ri­gen Sings­ang des Erd­kreb­ses, lau­schen und nichts den­ken. Jen­seits die­ser stil­len, ver­träum­ten Welt lag et­was Har­tes, Schmerz­haf­tes, an das Rosa nicht den­ken moch­te. Im­mer hät­te sie so da­sit­zen mö­gen, zu­ge­deckt von grü­nen Hal­men, ein­ge­schlä­fert vom halb­lau­ten Spre­chen der Som­mer­nacht.

Am­bro­si­us hat­te den Arm um die Schul­tern sei­ner Ge­lieb­ten ge­legt. Der Mond, die schö­ne Nacht be­geis­ter­ten ihn und mach­ten ihn zärt­lich; der star­ke Duft der Was­ser­pflan­zen, die grü­ne Däm­me­rung, in die das Schilf den Kahn hüll­te wie grü­ne Vor­hän­ge ein Ehe­bett, das heim­li­che Rau­schen, das wie heim­li­ches Küs­sen, wie ab­ge­ris­se­ne Lau­te ei­nes lüs­ter­nen Ge­heim­nis­ses klang. All die­ses stieg ihm zu Kopf, er­hitz­te sein Blut. Mit hei­ßen Lip­pen und zit­tern­den Hän­den tas­te­te er an dem Mäd­chen hin. Rosa wehr­te ihn ru­hig ab. »Still!« sag­te sie. »Sieh, Amby, du musst das nicht tun. Sie sol­len nicht recht be­hal­ten. Wenn du wüss­test, wie trau­rig ich bin, wie sehr ich mich vor mor­gen, vor Lan­ins, vor al­lem fürch­te, du wür­dest nicht sol­che Dumm­hei­ten ma­chen. Weißt du, wir müs­sen fort, ganz fort­ge­hen, dann tue ich al­les, was du willst. Aber zu­erst fort; wir bei­de ganz al­lein. Du hei­ra­test mich schnell, und wir ge­hen in eine große Stadt, wo du Dich­ter wer­den kannst. Nicht wahr?«

»Ja«, er­wi­der­te Am­bro­si­us ein we­nig be­trof­fen.

»Mor­gen schon kommst du zu uns und sprichst mit Papa«, fuhr Rosa eif­rig fort. Die­ses Mäd­chen­hirn, mit sei­ner Vir­tuo­si­tät im Träu­men und Plä­ne­schmie­den, hat­te sich be­reits al­les zu­recht­ge­legt. Lan­ins soll­ten se­hen, dass sie nicht tief un­ter Am­bro­si­us stand; ge­ach­tet, reich und glück­lich woll­te sie sein.

Am­bro­si­us nahm die­se Er­öff­nun­gen mit Un­be­ha­gen ent­ge­gen. Es ging ihm durch den Sinn, dass er die­se Sa­che an­ders auf­ge­fasst habe, als Rosa sie zu neh­men schi­en. Er sah Schwie­rig­kei­ten, Streit, al­ler­hand Wi­der­wär­tig­kei­ten dar­aus ent­ste­hen. Aber das schö­ne Mäd­chen an sei­ner Sei­te er­reg­te zu sehr sei­ne Sin­ne, er fühl­te sich wie im Rausch, und wie im Rausch er­schi­en ihm je­des Hin­der­nis klein und je­des Un­ter­neh­men aus­führ­bar. Um Rosa zu be­sit­zen, konn­te er al­les tun, das war sein ein­zi­ger kla­rer Ge­dan­ke. »Ja – wenn du denkst«, sag­te er lei­se. Er hät­te zu al­lem ja ge­sagt.

»Wir wol­len uns sehr – sehr lieb­ha­ben«, ver­setz­te Rosa fei­er­lich. Am­bro­si­us tat ihr leid; wie be­trübt er da­saß, mit sei­nen ro­ten Wan­gen und hei­ßen Hän­den.

»Du darfst nicht trau­rig sein«, trös­te­te sie ihn und küss­te müt­ter­lich sei­ne Stir­ne, dann mahn­te sie zur Heim­fahrt.

Müh­sam muss­te der Kahn sich aus dem Ge­strüpp hin­aus­ar­bei­ten. Wie har­te, kal­te Fin­ger schlug das Schilf an Ro­sas Ge­sicht und ba­de­te es in Tau. Im Fah­ren pflück­te sie Was­ser­ro­sen, die schwer von Trop­fen wa­ren, und wenn Rosa ihre Hand in das Was­ser tauch­te, mit­ten in die Pflan­zen­de­cke hin­ein, er­schrak sie, denn die schlüpf­ri­gen Wur­zeln wa­ren weich und lau wie Men­schen­hän­de.

Mit großem Kraft­auf­wand muss­te Am­bro­si­us ge­gen den Strom ru­dern, und er ver­rich­te­te sei­ne Ar­beit schwei­gend und in­grim­mig. Plötz­lich schau­te er auf und sag­te: »Du meinst also, wir sol­len fort?«

»O ja, weit fort!«

»Gut.«

Rosa lä­chel­te; ge­wiss, sie woll­te noch sehr glück­lich wer­den.

Fünfzehntes Kapitel

Die Mor­gen­son­ne brann­te un­er­bitt­lich auf das un­re­gel­mä­ßi­ge Pflas­ter der Schul­stra­ße nie­der, auf die grau­en Lat­ten der Zäu­ne, auf die kläg­lich be­stäub­ten Baum­zwei­ge, die aus den Gär­ten auf die Stra­ße nie­der­zu­lan­gen wag­ten. So ein­sam, so drückend schwül wie heu­te war die­se Stra­ße Rosa noch nie er­schie­nen. Müde die Schul­ta­sche hin und her schwen­kend, ging Rosa auf das Schul­ge­bäu­de zu. Es war ein schwe­rer Gang! Die­ses rote Haus mit den grü­nen Fens­ter­lä­den, den her­ab­ge­las­se­nen Vor­hän­gen, den tin­te­be­fleck­ten Pa­pier­fet­zen, die sich auf den Trep­pen­stu­fen her­um­trie­ben, es er­füll­te sie mit Wi­der­wil­len und Ban­gen. Wann war es? Wie lan­ge war sie nicht dort ge­we­sen? Sie rech­ne­te nach. Un­mög­lich! Nur drei Tage? Es schi­en ihr eine Ewig­keit zu sein. In die­sen drei Ta­gen war aus der aus­ge­las­sens­ten Schank­schen Schü­le­rin ein sehr erns­tes Mäd­chen ge­wor­den, das die wun­der­lichs­ten Plä­ne und ein schwe­res Herz mit sich her­um­trug.

An der Trep­pe zö­ger­te Rosa. Eine klei­ne rote Hand schob den Vor­hang zu­rück, zwei brau­ne Au­gen schau­ten her­aus, ver­schwan­den wie­der, und gleich dar­auf reg­ten sich alle Vor­hän­ge, und hin­ter al­len späh­ten neu­gie­ri­ge Mäd­chen­au­gen her­vor. »Wa­rum tun sie so ängst­lich?« frag­te sich Rosa, »soll­te Fräu­lein Schank schon da sein?« – Sie trat in das Schul­zim­mer. Die Mäd­chen stan­den in Grup­pen an den Fens­tern oder sa­ßen auf den Bän­ken und Ti­schen bei­ein­an­der. Rosa sah es den Stel­lun­gen und Mie­nen so­fort an, dass et­was In­ter­essan­tes vor­ge­fal­len war. So pfleg­te es in der Schul­stu­be aus­zu­se­hen, wenn ir­gend­ein Er­eig­nis die Mäd­chen­köp­fe er­hitz­te. Jetzt herrsch­te tie­fe Stil­le, alle Au­gen rich­te­ten sich auf Rosa, und in die­sen neu­gie­ri­gen, halb­be­fan­ge­nen Bli­cken lag et­was Feind­se­li­ges, das Rosa kalt bis in die Fin­ger­spit­zen drang. Sie mach­te ihr leicht­sin­ni­ges Ge­sicht und rief leicht­hin und mun­ter ein »gu­ten Mor­gen« in das Ge­mach hin­ein. Lei­se und so ne­ben­her be­kam sie hier und da ein »Mor­gen«, »Grüß dich« zur Ant­wort. Die Mäd­chen grif­fen nach ih­ren Bü­chern, spra­chen über gleich­gül­ti­ge Din­ge, als wäre nichts pas­siert, aber der ge­zwun­ge­ne, ru­hi­ge Ton, die ver­ständ­nis­vol­len Bli­cke lie­ßen es wohl er­ken­nen, dass hier ein ge­wich­ti­ges Ge­heim­nis in der Luft schweb­te, von dem jetzt nicht ge­spro­chen wer­den konn­te.

Rosa setz­te sich auf ih­ren Platz und be­gann ihre Auf­ga­be zu über­ler­nen, sie wen­de­te da­bei einen fa­na­ti­schen Fleiß an. In­dem sie sich die Re­geln der fran­zö­si­schen Syn­tax ein­präg­te, hoff­te sie ihre Um­ge­bung und die gan­ze är­ger­li­che Le­bens­la­ge zu ver­ges­sen.

Fräu­lein Schank ließ lan­ge auf sich war­ten. Die Schü­le­rin­nen ga­ben sich schon der lei­sen Hoff­nung hin, eine Krank­heit oder ein Fa­mi­li­e­n­un­glück ih­rer Leh­re­rin wür­de den fran­zö­si­schen Un­ter­richt heu­te aus­fal­len las­sen. »Nein, es ist der Leh­rer­kon­fe­renz we­gen, und die kann noch lan­ge dau­ern.«

War das nicht Sal­lys Stim­me? Rosa blick­te auf. Rich­tig! Sal­ly saß auf Fräu­lein Schanks Stuhl vor dem Pul­te, die Wan­ge auf die Hand ge­stützt, und schau­te gü­tig auf ihre Ka­me­ra­din­nen her­ab, die sie eif­rig um­ring­ten. Als sie Ro­sas Blick be­geg­ne­te, lä­chel­te sie ver­ächt­lich und wand­te den Kopf os­ten­ta­tiv ab. Eine der Schü­le­rin­nen flüs­ter­te Sal­ly ki­chernd et­was zu, sie schüt­tel­te aber den Kopf und sag­te streng: »Las­sen wir das jetzt.«

Das Wort »Leh­rer­kon­fe­renz« hat­te Rosa er­schreckt. Es klang wie ein Un­glück, das ihr droh­te, und sie glaub­te auf Sal­lys Ge­sicht schon die Scha­den­freu­de zu le­sen. Mit ei­nem lau­ten, zor­ni­gen »Klapp« schlug sie ihre Gram­ma­tik zu, er­hob sich, stell­te sich an das Fens­ter, und die Arme über der Brust ge­kreuzt, schau­te sie Sal­ly böse an. Al­ler­hand Plä­ne gin­gen ihr durch den Kopf; sie woll­te sich an die­sen herz­lo­sen Mäd­chen rä­chen, woll­te ih­nen im­po­nie­ren; sie be­schloss, eine große, pa­the­ti­sche Rede zu hal­ten, Sal­ly töd­lich zu be­lei­di­gen – und dann schwieg sie doch.

»Un­glaub­li­che Keck­heit«, wand­te sich Sal­ly an ihre Nach­ba­rin, »aber tut so, als wäre sie gar nicht da.«

Rosa hör­te die­se Wor­te ganz deut­lich und er­wi­der­te mit be­ben­der Stim­me:

»Ich glau­be es schon, dir wäre es recht, wenn ich nicht auf der Welt wäre; wenn es über­haupt kein Mäd­chen gäbe, das nicht auf bei­den Au­gen schielt.«

»Das ist zu arg!« rief Sal­ly und schlug mit der Hand auf das Pult; wei­ter konn­te sie nicht spre­chen. Die­se Be­lei­di­gung war so gif­tig und bit­ter­bö­se, dass sie weit über die ge­wöhn­li­chen Zän­ke­rei­en der Schul­stu­be hin­aus­ging. »Die ab­scheu­li­che Per­son!« stöhn­te Sal­ly und be­gann zu wei­nen. Rosa aber woll­te nun ih­rer gan­zen Ent­rüs­tung Luft ma­chen. Die heiß in ihr auf­stei­gen­de Wut be­rei­te­te ihr eine Art Lust. »Lasst euch nur von Sal­ly ge­gen mich auf­het­zen«, fuhr sie fort, »ich ma­che mir nichts dar­aus; für mich exis­tiert ihr schon lan­ge nicht mehr. Geht, tanzt nach Sal­lys Pfei­fe! Ich brau­che euch nicht. Mei­ne Wege füh­ren in ein an­de­res Reich.« Scheu blick­ten die Mäd­chen von der selt­sam ver­än­der­ten Rosa auf die wei­nen­de Sal­ly. Sie fürch­te­ten sich vor die­sem rück­sichts­lo­sen Wei­ber­hass, der sich plötz­lich in die fried­li­che Schul­stu­be ein­ge­schli­chen hat­te. Rosa woll­te noch mehr sa­gen. Der Zorn mach­te sie schön und be­redt, das fühl­te sie, aber Fräu­lein Schank er­schi­en. Die Schü­le­rin­nen setz­ten sich auf die Bän­ke. Sal­ly sah lei­dend und er­ge­ben aus; zu­wei­len preß­te sie die Hand auf das Herz, als lit­te sie dort un­end­lich. Als Fräu­lein Schank je­doch ih­ren elen­den Zu­stand nicht be­merk­te, er­hob sie sich und bat, die Schu­le ver­las­sen zu dür­fen. »Ge­hen Sie«, sag­te Fräu­lein Schank tro­cken. Sal­ly raff­te ihre Bü­cher zu­sam­men und ver­ließ das Ge­mach. Auf dem Weg zur Türe stütz­te sie sich mit zit­tern­den Hän­den auf den Schul­tisch, um nicht zu­sam­men­zu­sin­ken, und das Öff­nen der Türe mach­te ihr Schwie­rig­kei­ten, denn sie muss­te mit bei­den Hän­den ihr Herz hal­ten.

 

Der Un­ter­richt nahm sei­nen re­gel­rech­ten Ver­lauf. Fräu­lein Schank war ernst, aber un­ge­wöhn­lich mil­de. Von Rosa ward heu­te nichts ver­langt. Den Kopf tief auf ihr Buch her­ab­ge­beugt, saß sie da und ver­sank in ein un­kla­res, wir­res Träu­men, und wenn ir­gend et­was sie aus ih­rem Hin­brü­ten auf­stör­te, dann sah sie das alt­be­kann­te Schul­zim­mer selt­sam an, und als der Un­ter­richt zu Ende war, merk­te Rosa es nicht und blieb sit­zen; erst als ihr Name ge­nannt ward, blick­te sie auf. »Komm!« sag­te Fräu­lein Schank fei­er­lich, aber nicht böse. Rosa ge­horch­te. Drau­ßen vor der Türe des Schul­zim­mers sag­te Fräu­lein Schank mil­de: »Geh! Nimm dei­ne Bü­cher. Dir ist heu­te nicht wohl. Geh nach Hau­se. Am Nach­mit­tage kom­me ich zu euch. Be­hü­te dich Gott!« Mit ih­rer dür­ren Hand fuhr sie leicht über Ro­sas Haar. »Geh, mein Kind!« In dem al­len lag et­was kum­mer­voll Zärt­li­ches, das Rosa die Trä­nen in die Au­gen trieb. Rosa kehr­te in die Schul­stu­be zu­rück, pack­te ru­hig ihre Bü­cher zu­sam­men, warf ih­ren Ka­me­ra­din­nen einen hoch­mü­ti­gen Blick zu und ver­ließ die Schu­le; drau­ßen aber ging es ihr, sie wuss­te es selbst nicht wie, durch den Kopf:

»Es ist wohl das letz­te Mal, dass du drin ge­we­sen bist?« Das rühr­te sie. Ge­fühl­voll leg­te sie die fla­che Hand auf die alte gel­be Türe, als wäre die­se die Wan­ge ei­nes gu­ten Freun­des.

Auf der Stra­ße frag­te sich Rosa: Was nun? Nach Hau­se woll­te sie nicht. In der en­gen Stu­be wür­de sie nicht Ruhe fin­den, das wuss­te sie, und dann soll­te Ag­nes nicht wis­sen, dass Rosa wie­der die Schu­le ver­säum­te. Die alte Frau hat­te sich in der letz­ten Zeit eine wun­der­lich vor­wurfs­vol­le Art, Rosa an­zu­schau­en, an­ge­wöhnt. Rosa ent­schied sich für den Stadt­gar­ten; dort woll­te sie ihre Lage über­den­ken. Sie zog die Au­gen­brau­en zu­sam­men, rich­te­te sich stramm auf, wie je­mand, der den Ent­schluss fasst, an eine schwe­re Ar­beit zu ge­hen.

Was gab es denn? Am­bro­si­us lieb­te sie, und sie lieb­te Am­bro­si­us; da­ge­gen ließ sich doch nichts ein­wen­den. Ein Mäd­chen ist doch dazu da, da­mit es einen Mann be­kommt, das weiß je­des Kind. Wa­rum aber schick­te Fräu­lein Schank Rosa fort? Ja – nun! Ein ver­lob­tes Mäd­chen passt nicht mehr in die Schu­le. Rosa konn­te es ganz recht sein, dass es mit dem ewi­gen Ler­nen sein Ende nahm. Das große Gou­ver­nan­tenex­amen brauch­te sie ja jetzt nicht mehr zu ma­chen, da sie Am­bro­si­us hei­ra­te­te. Die­se Hei­rat lös­te alle Schwie­rig­kei­ten leicht und schön und soll­te Rosa für alle De­mü­ti­gun­gen reich­lich ent­schä­di­gen. Sal­ly und ihr Ge­fol­ge soll­ten Au­gen ma­chen! Rosa sah es schon, wie der Hoch­zeits­zug sich über den Markt­platz be­weg­te – sah sich selbst im wei­ßen At­las­klei­de vor dem Al­tar ste­hen. Ein sehr schö­nes Kleid! Ganz ein­fa­cher Schnitt, vor­ne ein we­nig kurz, da­mit die wei­ßen At­las­schu­he ge­se­hen wer­den kön­nen. Als ein­zi­ge Ver­zie­rung ein Ta­b­lier von Brüs­se­ler Spit­zen. Sehr we­nig Schmuck; nur eine Dia­man­tri­vie­re – »Nichts wei­ter«, sag­te Rosa vor sich hin. Ne­ben ihr ihr Va­ter, froh und ro­sig, Fräu­lein Schank, die Schar der wei­ßen Braut­jung­fern. Sal­ly war nicht dar­un­ter; nein, sie war über­haupt gar nicht ge­la­den, son­dern saß in ih­rem Werk­tags­klei­de auf ei­nem fer­nen Kir­chen­stuhl und schau­te nei­disch zu.

Rosa hat­te sich in die Lau­be ge­setzt und die Au­gen ge­schlos­sen, um sich un­ge­stör­ter ih­ren Vi­sio­nen hin­ge­ben zu kön­nen, die­se Vi­sio­nen wur­den zu Träu­men, Rosa schlief ein.

Sie er­wach­te vom lei­sen Knir­schen des San­des, als sie sich aber er­schro­cken um­schau­te, sah sie nie­man­den. »Es wa­ren aber doch Schrit­te«, sag­te sie sich. »Je­mand muss hier ge­we­sen sein.« Rich­tig! Ne­ben ihr auf der Bank lag ein zu­sam­men­ge­fal­te­tes Pa­pier, das die Auf­schrift »An Fräu­lein R. H.« trug. Has­tig griff Rosa da­nach und öff­ne­te es. Der Bo­gen war mit schö­nen deut­li­chen Schrift­zü­gen be­deckt, als Un­ter­schrift war zu le­sen: »Con­rad Lurch«. Der Brief lau­te­te:

»Geehr­tes Fräu­lein R. Herz! Ich be­läs­ti­ge Sie mit die­sen Zei­len nur, da­mit Sie er­fah­ren: 1. was hin­ter Ihrem Rücken – und zu Ihrem Nach­teil – viel­leicht – über Sie ge­spro­chen wird. 2. dass Sie in mir den er­ge­bens­ten Die­ner ha­ben, der stets al­les für Sie zu tun be­reit sein wird. Was also Punkt 1 be­trifft, so wis­sen Sie, Fräu­lein Rosa, dass man bei Lan­ins mit dem Schlie­ßen der Tü­ren nicht eben pe­dan­tisch ist und dass man im La­den je­des Wort hört, das im großen Zim­mer ge­spro­chen wird, wenn die Türe nur an­ge­lehnt ist. Heu­te hat­te der Prin­zi­pal mit Herrn von Tel­le­r­at eine Un­ter­re­dung, die Sie, Fräu­lein Rosa, be­traf. Es wur­de in ei­ner Wei­se über Sie ge­spro­chen, die mei­nem Her­zen weht­at. All die­ses Un­pas­sen­de und Ver­let­zen­de wer­de ich Ih­nen nicht wie­der­ho­len. Wozu auch? Nur fol­gen­des wird für Sie wich­tig sein. Dass es mit al­lem, was ich ge­hört habe, auch ernst­ge­meint war, glau­be ich nicht. Sie, Fräu­lein Rosa, wer­den ja selbst am bes­ten wis­sen, was Sie da­von zu den­ken ha­ben. Nach­dem also der Prin­zi­pal sich über Sie in an­stö­ßi­ger Wei­se ge­äu­ßert hat­te, frag­te er den Herrn T.: ›Willst du sie denn hei­ra­ten?‹ ›Ich weiß das noch nicht‹, sag­te be­sag­ter Herr. ›Ich muss dich dar­auf auf­merk­sam ma­chen‹, sag­te der Prin­zi­pal, ›dass ich dei­ne El­tern von dem Ge­sche­he­nen ver­stän­digt habe. Dei­ne El­tern wer­den eine sol­che skan­da­lö­se Ver­bin­dung nie zu­ge­ben.‹ – ›Wie­so – skan­da­lös?‹ frag­te Herr v. T. (mit vol­lem Recht, mei­ner An­sicht nach). ›S­kan­da­lös‹, sag­te der Prin­zi­pal, ›weil die­ses Mäd­chen, an und für sich kei­ne pas­sen­de Par­tie für einen Tel­le­r­at, sich un­ver­ant­wort­lich kom­pro­mit­tiert hat. Die gan­ze Ge­sell­schaft sagt sich von ei­nem jun­gen Mäd­chen los, das durch sei­ne fre­chen Un­ziem­lich­kei­ten (ein sehr ge­mei­ner Aus­druck!) jede Ach­tung ver­scherzt hat. Und solch eine Per­son (sic!) willst du hei­ra­ten?‹ – ›Ich sage nicht, dass ich sie hei­ra­ten wer­de‹, mein­te Herr v. T. ›Du wirst sie also nicht hei­ra­ten‹, sag­te der Prin­zi­pal. – ›Nein‹, ant­wor­te­te Herr v. T. ›Du gibst mir dein Wort dar­auf?‹ sag­te der Prin­zi­pal. ›Da­mit ihr das Mäd­chen nicht län­ger quält, gebe ich dir mein Wor­t‹, sag­te Herr v. T. ›Gut!‹ sag­te der Prin­zi­pal. ›Du ver­sprichst mir, das Mäd­chen nicht wie­der­zu­se­hen.‹ ›Das habe ich nicht ge­sag­t‹, mein­te Herr v. T. (mit Recht). ›Nun‹, sag­te der Prin­zi­pal. ›Du kehrst oh­ne­hin mor­gen oder über­mor­gen zu dei­nen El­tern zu­rück.‹ Da­mit hat­te das Ge­spräch sein Ende er­reicht, denn Fräu­lein Sal­ly kam mit ih­ren Ge­schich­ten da­zwi­schen. Sie, bei Ih­rer Ge­scheit­heit, wer­den ge­wiss wis­sen, was da­von zu hal­ten ist. Ich aber hielt es für mei­ne Pf­licht, obi­ges Ih­nen mit­zu­tei­len. Kann ich Ih­nen von Nut­zen sein, Fräu­lein Rosa, und hier kom­me ich auf Punkt 2 zu spre­chen, so bit­te ich nach Ge­fal­len über mich zu ver­fü­gen, denn mit nie wan­ken­der Ach­tung und (wenn es er­laubt ist) mit Lie­be blei­be ich Ihr treues­ter Die­ner.

Con­rad Lurch, zwei­ter Kom­mis bei La­nin und –«

Lang­sam fal­te­te Rosa das Blatt wie­der zu­sam­men. Wie? Am­bro­si­us gab das Ver­spre­chen, sie nicht hei­ra­ten zu wol­len? Am­bro­si­us soll­te fort? Das war un­mög­lich; sie ver­stand von al­le­dem kein Wort. »Un­sinn!« sag­te sie laut vor sich hin, zer­knit­ter­te ener­gisch den Brief und steck­te ihn in die Ta­sche.

Un­sinn war es viel­leicht, aber als Rosa zu Hau­se beim Mit­tags­mahl saß und die be­kann­ten Ge­schich­ten ih­res Va­ters an­hör­te, da woll­te ihr die­ser Un­sinn doch nicht aus dem Kopf, denn wenn sie auch al­les Un­wahr­schein­li­che und Lä­cher­li­che von Lurchs Be­richt in Rech­nung zog, es blieb im­mer noch ein bit­te­rer Rest quä­len­der Sor­ge üb­rig.

Nach der Mahl­zeit zog sich Rosa auf ihr Zim­mer zu­rück, setz­te sich auf einen Ses­sel, fal­te­te die Hän­de im Schoß und war­te­te. Fräu­lein Schank soll­te ja kom­men, um dem Va­ter al­les zu sa­gen, und was wur­de dann aus dem schläf­ri­gen Frie­den der Herz­schen Woh­nung? Vi­el­leicht wäre es bes­ser, den Va­ter auf al­les vor­zu­be­rei­ten? Rosa aber fand dazu nicht den Mut. Sie woll­te lie­ber war­ten. Gar so schlimm konn­te es ja nicht kom­men.

Um vier Uhr gab die Tür­glo­cke einen kur­z­en, har­ten Laut von sich. Das war Fräu­lein Schanks ener­gi­sche Art zu schel­len. Ag­nes schurr­te her­an, die Au­ßen­tü­re, die Ag­nes im­mer zu ölen ver­gaß, knarr­te. »Gu­ten Abend, Fräu­lein!« sag­te Ag­nes.

»Grüß Sie Gott«, ant­wor­te­te Fräu­lein Schanks fes­te, me­tal­li­ge Stim­me. »Ist der Herr zu Hau­se?«

»Ja, er schläft drin­nen im Wohn­zim­mer.«

Jetzt ward die Türe des Wohn­zim­mers ge­öff­net.

»Stö­re ich?« frag­te Fräu­lein Schank.

Herr Herz schi­en eben aus dem Schla­fe auf­ge­fah­ren zu sein, denn sei­ne Stim­me war noch hei­ser. »Ach, lie­be Schank, Sie stö­ren nie. Ich schla­fe jetzt im­mer so lan­ge und bin froh, wenn je­mand mich weckt. Die­se Schlaf­sucht kommt, den­ke ich, mit dem zu­neh­men­den Al­ter.«

Er woll­te sich noch wei­ter über sei­nen Zu­stand aus­las­sen, aber Fräu­lein Schank un­ter­brach ihn: »Ist Rosa zu Hau­se?«

»Ja; sie schläft, den­ke ich. Sie sah mir heu­te nicht ganz ge­sund aus.«

An der zag­haf­ten Art, in der der Va­ter sprach, er­kann­te Rosa, dass Fräu­lein Schank ihr un­heil­ver­kün­den­des Ge­sicht auf­ge­setzt hat­te. Üb­ri­gens woll­te sie ih­ren Va­ter nicht Lü­gen stra­fen; sie warf sich auf ihr Bett und stell­te sich schla­fend.

Im Ne­ben­zim­mer wur­den Ses­sel ge­rückt, dann be­gann Fräu­lein Schank zu spre­chen, aber so lei­se, dass Rosa sie nicht ver­ste­hen konn­te. Herr Herz schwieg, nur zu­wei­len ließ er ein lei­ses Hus­ten hö­ren. »Ge­ben wir uns kei­nen Il­lu­sio­nen hin«, das war der ein­zi­ge Satz, der bis zu Rosa drang, und er ge­nüg­te, um Rosa ge­gen Fräu­lein Schank auf­zu­brin­gen. »Ah, die Alte hält die Hei­rat mit Am­bro­si­us für eine Il­lu­si­on! Na­tür­lich, was weiß die­se alte, auf dem Ka­the­der ver­trock­ne­te Frau von Lie­be? Sie soll da einen Leh­rer Stre­ber ge­habt ha­ben, mit dem sie ver­lobt war, er ließ sie aber sit­zen und reis­te ab. Und das ist auch schon so lan­ge her – und kann denn bei ei­nem Leh­rer Stre­ber über­haupt von Lie­be die Rede sein? Lä­cher­lich!«

»Sie spre­chen also mit Rosa?« sag­te Herr Herz jetzt lei­se.

»Ja, ich will we­nigs­tens zu ihr hin­ein­schau­en«, ent­geg­ne­te Fräu­lein Schank und öff­ne­te die Türe zu Ro­sas Zim­mer. Rosa schloss die Au­gen und reg­te sich nicht. »Sie schläft«, flüs­ter­te Fräu­lein Schank; »sol­len wir sie we­cken?«

»Nein, las­sen Sie sie schla­fen«, fleh­te Herr Herz; »sie er­fährt es ja oh­ne­hin früh ge­nug.«

»Gut, ich kom­me mor­gen wie­der«, mein­te Fräu­lein Schank. »Auf Wie­der­se­hen, lie­ber Herz! Sie ver­zei­hen, dass ich die Über­brin­ge­rin so schlech­ter Nach­rich­ten bin; ich hielt es aber für mei­ne Pf­licht.«

»Im Ge­gen­teil, ich bin Ih­nen dank­bar, lie­be Schank«, ant­wor­te­te Herr Herz. »Ver­las­sen Sie das Kind nicht; ich un­be­hol­fe­ner Al­ter, was kann ich tun?«

»Der lie­be Gott wird schon al­les zum Gu­ten wen­den«, trös­te­te Fräu­lein Schank. Dann kam Ag­nes wie­der mit ih­rem »Gu­ten Abend, Fräu­lein!«, die Au­ßen­tü­re knarr­te, und es ward still, ganz still.

Abend­li­che Schat­ten zo­gen in die Woh­nung des Bal­let­tän­zers ein – es wur­de fins­ter. Rosa lag noch im­mer auf ih­rem Bett und starr­te in die Dun­kel­heit hin­ein.

 

Im Wohn­zim­mer saß der alte Mann, fal­te­te sei­ne Hän­de über den spit­zen Kni­en und wein­te; und drau­ßen, in der Kü­che, lehn­te Ag­nes Stock­mai­er am Fens­ter und blick­te trau­rig auf den lee­ren Hof hin­ab.

Spät abends erst ent­schloss sich Rosa, zu ih­rem Va­ter hin­über­zu­ge­hen. Im Wohn­zim­mer war es so fins­ter, dass Rosa un­si­cher um­her­tapp­te.

»Kind, bist du’s?« frag­te Herr Herz lei­se und hei­ser.

»Ja, Papa.«

»Gehst du fort?«

»Nein.«

»Ah, ich glaub­te, du suchst dei­nen Hut. Es ist auch bes­ser so; ich habe oh­ne­hin mit dir zu spre­chen.«

»Soll Ag­nes die Lam­pe brin­gen?«

»Nein. Wozu? Komm setz dich her.« Rosa drück­te sich in eine So­fae­cke, preß­te die Arme ge­gen die Brust und war be­reit.

»Du sitzt schon, mein Kind; nicht wahr?« be­gann Herr Herz. »Was woll­te ich dir doch sa­gen? Ja – so! Die Schank war hier.« Er hielt inne, da Rosa aber schwieg, fuhr er müh­sam und ein we­nig un­zu­sam­men­hän­gend zu spre­chen fort. »Sie hat mir da al­ler­hand er­zählt – – Din­ge, die mir ganz, ganz fremd wa­ren, und die mich – ei­ni­ger­ma­ßen – al­te­riert ha­ben. So sagt sie un­ter an­de­rem, die gan­ze Stadt spricht von – von – wie sie sagt – von heim­li­chen Zu­sam­men­künf­ten zwi­schen dir und dem jun­gen Tel­le­r­at. – Du hast mir nichts da­von ge­sagt, lie­bes Kind. An der gan­zen Ge­schich­te ist viel­leicht nichts dar­an?«

»Doch«, sag­te Rosa, und ihre Stim­me nahm eine er­zwun­ge­ne Fes­tig­keit und Ruhe an. »Ich kom­me mit Am­bro­si­us Tel­le­r­at zu­sam­men, weil ich mit ihm ver­lobt bin.« Tie­fe Stil­le folg­te die­ser Er­klä­rung; nur die alte Wand­uhr ließ ihr asth­ma­ti­sches Tik­tak ver­neh­men.

»Da­von habe ich nichts ge­wusst«, er­griff Herr Herz end­lich klein­laut wie­der das Wort.

»Ich woll­te es dir heu­te sa­gen«, ant­wor­te­te Rosa, und nun – den Kopf auf die So­fa­leh­ne zu­rück­ge­wor­fen, die Füße von sich ge­streckt – be­gann sie, dem gan­zen Un­wil­len, al­lem Är­ger, all der Angst, die sie den gan­zen Tag über mit sich her­um­ge­tra­gen hat­te, in der un­lo­gi­schen, über­spru­deln­den Wei­se weib­li­cher Be­red­sam­keit Luft zu ma­chen. Na­tür­lich! Der Va­ter hat­te es sich auch von der Schank ein­re­den las­sen, dass sie mit Am­bro­si­us weiß Gott was für Sa­chen trieb, dass sie ein schlech­tes, leicht­sin­ni­ges Mäd­chen sei. Wenn alle auch übel von ihr dach­ten, so hat­te sie doch we­nigs­tens ge­hofft, von ih­rem Va­ter ver­stan­den zu wer­den. Hun­der­te von Mäd­chen ver­lob­ten sich je­des Jahr, nur sie – Rosa – durf­te es nicht; bei ihr war es ein Ver­bre­chen. Und warum? Weil Sal­ly Am­bro­si­us hei­ra­ten woll­te. Aber wel­ches Recht hat­te Sal­ly auf Am­bro­si­us? Hat­te sie ihn viel­leicht ge­pach­tet? Konn­te sie ihn zwin­gen, ein wi­der­li­ches schie­len­des Mäd­chen zu lie­ben? Nein! Am­bro­si­us lieb­te Rosa – und Rosa lieb­te Am­bro­si­us, das war doch ein­fach ge­nug. Oder war es viel­leicht et­was so Un­ge­heu­er­li­ches, dass je­mand Rosa Herz hei­ra­ten woll­te? Gleich­viel! Ge­sche­hen wür­de es doch. Als Rosa auf den Hö­he­punkt ih­rer Rede ge­langt war, brach sie in Trä­nen aus, schluchz­te laut und ei­gen­sin­nig, wie ein un­ge­zo­ge­nes Kind.

»Rosa – Kind, wei­ne nicht!« ver­such­te Herr Herz sie zu be­ru­hi­gen. »Ich sage ja nichts! Ich be­rich­te dir nur, was die Schank mir er­zählt hat. Aber du ge­rätst gleich in Feu­er – und nun die­ses Wei­nen! Was hab ich denn ge­sagt? Ich habe es nicht ge­wusst, dass ihr mit­ein­an­der ver­lobt seid. Wenn das so ist, wie du sagst, wer­de ich mich dar­über freu­en.«

»Du glaubst doch nicht an die Hei­rat!« warf Rosa ein und wein­te fort.

»O ja! Wa­rum nicht! Wir wer­den ja se­hen! Nur müs­sen die­se An­ge­le­gen­hei­ten be­spro­chen und be­dacht wer­den. Mit dem un­ver­stän­di­gen Wei­nen rich­ten wir nichts aus. Wei­ne nicht, sei ver­nünf­tig! Wenn man hei­ra­ten will, muss man ge­scheit sein. Komm!«

Rosa rich­te­te sich auf. »Was sagt denn ei­gent­lich die alte Schank?« frag­te sie.

»So ge­fällst du mir!« Herr Herz ver­such­te es, sei­ner Stim­me einen mun­te­ren Klang zu ge­ben. »Nun – sie er­zählt, heu­te mor­gen ist La­nin bei ihr ge­we­sen, um ihr mit­zu­tei­len, man habe dich und den jun­gen Tel­le­r­at zu­sam­men ge­se­hen – beim Tröd­ler, glau­be ich – und dann noch beim al­ten Rau­te. Al­ler­hand böse Din­ge spricht man in der Stadt von euch. Kurz: La­nin ver­langt, die Schank soll dich aus der Schu­le aus­schlie­ßen, sonst nimmt er sei­ne Toch­ter fort, und vie­le an­de­re tun es auch.«

»Die Schank hat es ihm na­tür­lich zu­ge­sagt«, schal­te­te Rosa bit­ter ein. »Oh, sie kann un­be­sorgt sein! Ich gehe oh­ne­hin nicht mehr zu ihr.«

»Erei­fre dich nicht, Kind! Wir woll­ten die Sa­che ja ru­hig be­spre­chen. Der Schank ge­hen die­se Ge­schich­ten sehr nah; sie liebt dich wie ihr Kind. Aber was kann sie tun? Sie hat mit La­nin auch über die mög­li­che Hei­rat ge­spro­chen. Nun er – hat sich un­güns­tig dar­über aus­ge­spro­chen, hat nichts da­von wis­sen wol­len und hat – wie die Schank sagt – be­haup­tet, der jun­ge Mann habe ihm – La­nin – ver­spro­chen, dich nicht zu hei­ra­ten.«

»Das ist nicht wahr!«

Herr Herz hat­te den letz­ten Teil sei­nes Be­rich­tes un­si­cher und lei­se vor­ge­bracht, jetzt fuhr er has­tig fort, um die böse Sa­che schnell ab­zu­ma­chen: »Hör mich nur bis zu Ende. Ich hof­fe auch, es wird nicht so sein, wie die Schank es dar­stellt. La­nin hat fer­ner ge­sagt, sein Nef­fe rei­se mor­gen oder über­mor­gen ab, und da­mit – so meint La­nin näm­lich – soll die Af­fä­re ih­ren Ab­schluss fin­den. War­te, un­ter­brich mich nicht. Die Schank sagt nun, du sei­est nicht ganz vor­sich­tig ge­we­sen, und dar­in hat sie recht, du bist ge­wiss nicht vor­sich­tig ge­we­sen«, wie­der­hol­te Herr Herz mit ei­nem An­flug vä­ter­li­cher Stren­ge. »Sie meint also, du sollst fort – für ei­ni­ge Zeit we­nigs­tens. Hier in der Stadt wer­den die Leu­te dir Unan­nehm­lich­kei­ten be­rei­ten. Sie hat er­fah­ren, dass ein jun­ges Mäd­chen als Bon­ne für eine rus­si­sche Kauf­manns­fa­mi­lie ge­sucht wird. Da hat die Schank gleich an dich ge­dacht.« Dem ar­men al­ten Mann kos­te­te es Mühe, sei­ne Be­we­gung zu ver­ber­gen, und ob­gleich ihm die Trä­nen über die Wan­gen lie­fen, füg­te er doch mun­ter hin­zu: »Was meinst du, Kind? Rei­sen. – Die Welt se­hen?«

»Ich – eine Bon­ne!« fuhr Rosa auf. »So et­was kann sich auch nur die­se Alte aus­den­ken.«

»Wa­rum? Eine Bon­ne ist doch nichts Schlech­tes. Oder nen­ne es Gou­ver­nan­te, Ge­sell­schaf­te­rin – wie du willst.«

»Ich dan­ke schön.«

Herr Herz war in Verzweif­lung. Der kur­z­en, mit tiefer Stim­me ge­spro­che­nen Ant­wort hör­te er es wohl an, wie sehr er sei­ne Toch­ter ver­letzt hat­te. Nun soll­te er sie noch zu die­sem Plan über­re­den, der ihm selbst fast das Herz brach. Was konn­te er tun? Ro­sas Leicht­sinn, all das Schlim­me, was die Leu­te ihr nach­sa­gen und an­tun wür­den, be­rei­te­te ihm arge Pein. Gera­de weil er sich den größ­ten Teil sei­nes Le­bens in ei­ner Welt be­wegt hat­te, in der es mit der weib­li­chen Tu­gend so we­nig ge­nau ge­nom­men wur­de, ge­ra­de des­halb er­füll­ten ihn die stren­gen Grund­sät­ze der so­lid bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft mit um so grö­ße­rer Ach­tung, je­ner Ge­sell­schaft, in die auf­ge­nom­men wor­den zu sein der Tri­umph sei­nes Le­bens war. Nun woll­te die­se be­wun­der­te Ge­sell­schaft sei­ne Rosa ver­sto­ßen. Sein Kind soll­te die­ser Ge­sell­schaft un­wür­dig sein. Hat­te Rosa sich nicht ganz an die Re­geln der Sitt­sam­keit ge­hal­ten, wie ein gu­tes Bür­ger­mäd­chen es muss, fiel nicht der größ­te Teil der Schuld auf ihn zu­rück? Der alte Bal­let­tän­zer, des­sen höchs­tes Ide­al es war, ein ta­del­lo­ser Spieß­bür­ger zu sein, glaub­te zu se­hen, wie in Rosa et­was von sei­ner un­ge­ord­ne­ten Ver­gan­gen­heit er­wach­te, und er sag­te sich: »Wird die­ses Kind kein bra­ves, ge­ach­te­tes Bür­ger­mäd­chen wie Sal­ly La­nin und Er­nes­ti­ne Klappe­kahl, so bist du dar­an schuld, denn du ver­moch­test ihr kei­nen bra­ven, ge­ach­te­ten Bür­ger zum Va­ter zu ge­ben.« Aber wie al­len schwa­chen Ge­mü­tern mit re­ger Ein­bil­dungs­kraft ge­lang es Herrn Herz, bald über die­se trau­ri­gen Ge­dan­ken hin­weg­zu­kom­men. Wa­rum soll­te Am­bro­si­us Rosa nicht hei­ra­ten? Ein ver­nünf­ti­ger Grund war da­ge­gen nicht vor­zu­brin­gen. Und kam die Hei­rat zu­stan­de, dann war ja al­les in bes­ter Ord­nung. »Üb­ri­gens«, wand­te er sich an sei­ne Toch­ter, »dür­fen wir die Köp­fe nicht hän­gen las­sen. Ich gehe mor­gen zu La­nin, spre­che mit ihm – mit dem jun­gen Mann auch. Hof­fent­lich klärt sich al­les güns­tig auf, und dann brau­chen wir die Rus­sen der Schank nicht mehr. Der Ge­dan­ke ei­ner Tren­nung von dir woll­te mir oh­ne­hin nicht in den Kopf. Also mun­ter – mun­ter! Ag­nes – die Lam­pe!« Er lach­te – er freu­te sich jetzt so­gar, dass Rosa Aus­sicht hat­te, eine gute Par­tie zu ma­chen.