John Flack

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2. Kapitel

George Ravini war kein häßlicher Mann. Seiner eigenen Meinung nach, die natürlich voreingenommen war, war er mit seinem kurzgelockten, braunen Haar, seinen schönen napoleonischen Gesichtszügen, seiner schlanken Gestalt und guten Haltung außerordentlich anziehend. Und wenn zu seinen natürlichen Vorzügen noch der beste Anzug, den Savile Row liefern konnte, der fleckenloseste aller grauen Hüte, der Malakka-Stockdegen, auf dem eine seiner weißbehandschuhten Hände wie auf dem Griff eines Rapiers ruhte, die glänzendsten aller Lackschuhe und die feinsten grauen Seidensocken hinzukamen, dann war das Bild prächtig eingerahmt und verschönert. Aber der schönste Schmuck von allem waren George Ravinis Glücksringe. Er war abergläubisch und hatte eine große Vorliebe für Amulette. Den kleinen Finger seiner rechten Hand schmückten drei goldene Ringe, und jeder Ring trug drei große Diamanten. Ravinis Glücksringe waren in Saffron Hill sprichwörtlich geworden.

Gewöhnlich trug er das halb amüsierte, halb gelangweilte Lächeln eines Mannes zur Schau, für den das Leben keine Geheimnisse mehr barg, und dem es auch nichts Neues mehr bringen konnte. Und dies Lächeln war auch zum Teil gerechtfertigt, denn George wußte so ziemlich alles, was in London vorging, oder was sich möglicherweise ereignen konnte. In einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung in Saffron Hill hatte er das Licht der Welt erblickt, hatte den engen Horizont, der seine Kindheit umgab, erweitert und sich herausgearbeitet. Aus dem Arme-Leute-Kind, das sein Lager mit dem dressierten Affen seines Vaters teilen mußte, war ein eleganter Kavalier geworden, Inhaber einer vornehmen Wohnung in Half Moon Street, nicht nur Inhaber der Wohnung, sondern auch Besitzer des Blocks, in dem diese sich befand. Sein Guthaben in der Continentalbank war sehr zufriedenstellend; er besaß Hypotheken, die ihm mehr, als er nötig hatte, einbrachten; ein noch größeres Einkommen gewährten ihm die beiden Nachtklubs und Spielhäuser, die unter seiner Leitung standen, ganz abgesehen von den Nebenverdiensten, die ihm von einem Dutzend der verschiedensten Quellen zuflossen. Ravinis Wort war Gesetz von Leyton bis Clerkenwell, seinen Befehlen wurde im Fitzroy Square unbedingt Folge geleistet, und kein andrer Bandenführer in London hätte sich erlauben dürfen, sein Haupt ohne Georges Einwilligung zu erheben. Er würde Gefahr laufen, eines Tages schön bandagiert im »Saal der Unglücksfälle« im Middlesex-Hospital aufzuwachen.

Er wartete geduldig in der großen Halle des Waterloo Bahnhofes, sah von Zeit zu Zeit nach seiner goldenen Armbanduhr und betrachtete mit wohlwollenden und gönnerhaften Blicken den Strom des Lebens, der durch die Bahnhofssperren flutete.

Die Bahnuhr zeigte auf ein Viertel nach sechs; er blickte noch einmal auf seine Uhr und musterte dann die Menge, die von dem Bahnsteig 7 herabkam. Nach einigen Minuten Suchens sah er das junge Mädchen, rückte an seiner Krawatte, setzte seinen Hut ein wenig schief und schlenderte ihr langsam entgegen.

Margaret war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um an den eleganten, jungen Mann zu denken, der schon so oft versucht hatte, – und zwar unter dem alten Vorwand, »sie müßten sich früher schon mal getroffen haben« – mit ihr in ein Gespräch zu kommen. In der Aufregung über ihren Besuch in Larmes Keep hatte sie tatsächlich die Existenz dieses zudringlichen Anbeters oder die Möglichkeit, daß dieser bei ihrer Rückkehr von ihrer Reise auf sie warten könne, völlig vergessen.

Ravini blieb stehen und wartete, bis sie herankam, wobei er ihr beifällig entgegenlächelte. Er liebte schlanke Mädchen von ihrer Art: Mädel, die sich ziemlich einfach kleideten, schöne Strümpfe und unauffällige kleine Hüte trugen. Er lüftete seinen Hut; die Glückssteine blitzten wunderbar.

»Oh!« sagte Margaret Belman und blieb ebenfalls stehen.

»Guten Abend, Miß Belman,« sagte George und ließ lächelnd seine weißen Zähne sehen. »Glücklicher Zufall, Ihnen wieder zu begegnen.«

Als sie an ihm vorbeiging, fiel er in gleichen Schritt mit ihr.

»Ich wünschte, ich hätte mein Auto hier; ich hätte Sie nach Hause fahren können,« begann er zu plaudern. »Ich habe einen neuen zwanziger Rolls – wirklich ein netter, kleiner Wagen. Ich brauche ihn nur wenig – ziehe es vor, von der Half Moon Street zu laufen.«

»Gehen Sie jetzt nach der Half Moon Street?« fragte sie schnell.

Aber George war ein Mann von Erfahrung.

»Ihr Weg ist auch der meine.«

Sie blieb stehen.

»Wie heißen Sie?« fragte sie.

»Smith – Anderton Smith,« antwortete er ohne Zögern. »Warum wollen Sie das wissen?«

»Ich möchte es dem nächsten Schutzmann erzählen, dem wir begegnen,« sagte sie, und Mr. Ravini, dem solche Drohungen nicht unbekannt waren, lächelte.

»Machen Sie sich nicht lächerlich, kleines Mädel,« sagte er. »Ich tue nichts Böses, und Sie wollen doch Ihren Namen auch nicht in den Zeitungen sehen. Außerdem würde ich einfach sagen, Sie hätten mich aufgefordert, mitzukommen, und wir wären alte, gute Freunde.«

Sie sah ihn fest an.

»Ich werde vielleicht sehr bald einen Freund treffen, der sich nur sehr schwer davon überzeugen lassen wird,« sagte sie. »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe.«

George aber erklärte, daß er das Vergnügen ihrer Gegenwart vorzöge.

»Was für eine törichte, junge Dame Sie doch sind!« begann er. »Ich erweise Ihnen doch weiter nichts, als die gewöhnlichen Aufmerksamkeiten – –«

Eine Hand packte seinen Arm und drehte ihn langsam herum – und das am hellichten Tage auf dem Waterloo Bahnhof, vor den Augen von mindestens zweien seiner Kumpane. Mr. Ravinis Augen blitzten drohend.

Und doch schien sein Angreifer ein höchst harmloser Mann zu sein. Er war schlank und sah ziemlich melancholisch in die Welt. Er trug einen Gehrock, der fest über der Brust zugeknöpft war, und einen hohen, harten Filzhut mit flachem Deckel. Auf seiner etwas starken Nase saß – ein wenig schief – ein einfacher Stahlklemmer. Ein Paar strohfarbener Koteletten zierten seine Wangen, und an seinem Arm hing ein lose zusammengerollter Regenschirm. Diesen Einzelheiten schenkte aber George keine besondere Aufmerksamkeit, er kannte sie zur Genüge, denn Mr. I. G. Reeder, Detektiv der Staatsanwaltschaft, war ihm sehr gut bekannt ... die Kampflust verschwand aus seinen Augen.

»Aaaach, Mr. Reeder!« sagte er mit einer Herzlichkeit, die beinahe aufrichtig klang. »Das ist aber eine angenehme Überraschung. Darf ich Ihnen Miß Belman vorstellen – wir wollten gerade zusammen nach –«

»Aber doch nicht nach dem Flotsam Club zum Tee?« murmelte Mr. Reeder mit schmerzlichem Tonfall, »Und auch nicht nach Harrabys Restaurant? Sagen Sie bloß das nicht, Georgio! Du liebe Güte! Das hätte aber interessant werden können!«

Er strahlte den finster blickenden Italiener an.

»Im Flotsam Club hätten Sie der jungen Dame zeigen können, wo Ihre Freunde erst vorgestern den jungen Lord Fallon um dreitausend Pfund erleichtert haben – wie man mir erzählt hat. Und bei Harraby hätten Sie ihr das interessante, kleine Zimmer zeigen können, wo die Polizei immer durch eine Hintertür hineinkommen kann, wenn Sie es für vorteilhaft halten, einen Ihrer Freunde zu verraten. Sie hat wirklich was versäumt!« George Ravinis Lächeln stand mit seiner plötzlichen Blässe nicht im Einklang.

»Hören Sie mal. Mr. Reeder –«

»Tut mir leid, Georgio« Mr. Reeder schüttelte traurig seinen Kopf. »Meine Zeit ist kostbar. Ich kann Ihnen gerade noch eine Minute opfern, um Ihnen mitzuteilen, daß Miß Belman eine ganz besonders gute Freundin von mir ist. Sollte sich ihr Erlebnis von heute wiederholen – wer weiß, was da alles passieren könnte; wie Ihnen bekannt sein dürfte, bin ich ein boshafter Mensch.« Er sah den Italiener nachdenklich an. »Ich möchte wissen, ob es wirklich Bosheit ist, die mich hindert, Ihnen eine sehr interessante Enthüllung zu machen, die mir auf der Zunge liegt. Das menschliche Gemüt ist ein eigenartiges und kompliziertes Ding, Mr. Ravini. Na ja, ich muß weiter. Grüßen Sie Ihre Zunftgenossen, und wenn Sie merken, daß einer der Herren von Scotland Yard Ihnen nachgeht, seien Sie ihm nicht weiter böse. Er tut ja nur seine Pflicht. Und vergessen Sie nicht meine – na ja – Warnung betreffs dieser jungen Dame.«

»Ich habe nichts zu dieser Dame gesagt, was ein Herr nicht sagen dürfte.«

Mr. Reeder schielte Ravini an.

»Sollten Sie das getan haben, können Sie darauf rechnen, daß Sie mich heute Abend wiedersehen – und dann werde ich wohl nicht allein kommen. In dem Fall,« – sein Ton wurde ganz vertraulich – »würde ich genug kräftige Leute mitbringen, die Ihnen die Schlüssel zu Ihrem Schließfach im Fetter Lane Stahlkammer-Depot abnehmen werden.«

Mehr sagte er nicht, aber Ravini taumelte bei dieser Drohung. Ehe er sich wieder gefaßt hatte, waren Mr. I. G. Reeder und sein Schützling in der Menge verschwunden.

3. Kapitel

»Ein interessanter Mann,« sagte Mr. Reeder, als ihr Wagen über die Westminster Brücke fuhr. »Er ist wirklich der interessanteste Mensch, den ich im Augenblick kenne. Das Schicksal wollte es, daß ich in dieser Weise auf ihn stoßen mußte. Ich möchte aber, er würde keine Diamantringe tragen.«

Er sah seine Begleiterin verstohlen an.

»Nun, hat Ihnen ... hm ... das Haus gefallen?«

»Es ist wunderschön dort,« sagte sie ohne große Begeisterung, »aber es ist ziemlich weit weg von London.«

Er sah auf einmal niedergeschlagen aus.

»Haben Sie die Stellung nicht angenommen?« fragte er besorgt.

Sie wandte sich halb zu ihm und sah ihn fest an.

 

»Mr. Reeder, ich glaube wirklich, Sie sehen mich lieber gehen als kommen!«

Zu ihrer Überraschung bekam Mr. Reeder einen ganz roten Kopf.

»Wie ... hm ... natürlich möchte ich das ... nicht, meine ich selbstverständlich. Aber es scheint doch eine sehr gute Stellung zu sein, auch wenn es nur vorübergehend sein sollte.« Er blinzelte sie an. »Ich werde Sie vermissen, wirklich, ich werde Sie sehr vermissen, Miß – hm – Margaret. Wir sind so gute« – er verschluckte etwas – »Freunde geworden, aber das ... eine gewisse Angelegenheit bedrückt mich – ich meine, ich bin ziemlich beunruhigt.«

Er sah von einem Fenster nach dem anderen, als ob er einen Lauscher auf dem Trittbrett des Wagens vermutete, und sagte dann mit gedämpfter Stimme:

»Ich habe niemals mit Ihnen, meine liebe ... hm ... Miß Margaret, über die unangenehmen Einzelheiten meines Berufes gesprochen; da gibt es nun, oder vielmehr, da gab es mal einen Herrn mit Namen Flack – F-l-a-c-k,« buchstabierte er. »Erinnern Sie sich nicht?« fragte er eindringlich, und als sie den Kopf schüttelte: »Ich hoffte, Sie würden sich des Namens erinnern. Man liest ja so viel über solche Sachen in der Zeitung. Aber vor fünf Jahren waren Sie ja noch ein Kind –«

»Sehr schmeichelhaft,« lächelte sie, »aber vor fünf Jahren war ich schon eine erwachsene junge Dame von achtzehn Jahren.«

»Tatsächlich?« fragte Mr. Reeder leise. »Das wundert mich aber! Nun ... Mr. Flack war eine jener Personen, von denen man so häufig in den Sensationsromanen liest, deren Verfasser die Möglichkeiten und Tatsachen des menschlichen Lebens wenig berücksichtigen. Ein Meister des Verbrechens, der Gründer einer ... hm ... Gesellschaft, oder, wie der gewöhnliche Mann sagen würde, einer Verbrecherbande.«

Er seufzte und schloß die Augen. Einen Augenblick dachte sie, daß er für den gottlosen Sünder betete.

»Ein glänzender Verbrecher – es ist schrecklich, es einzugestehen, aber ich habe wirklich eine widerwillige Bewunderung für ihn. Sie sehen, ich bin selbst ein wenig verbrecherisch veranlagt, wie ich Ihnen ja schon oft gesagt habe. Aber er war wahnsinnig.«

»Alle Verbrecher sind wahnsinnig; Sie haben mir das ja so oft erklärt,« sagte sie etwas schroff, denn es gefiel ihr gar nicht, daß die Unterhaltung von ihren eigenen Angelegenheiten abschweifte.

»Aber er war wirklich wahnsinnig,« sagte Mr. Reeder sehr ernst und tippte bezeichnend an seine Stirn. »Gerade sein Wahnsinn war seine Rettung. Er führte die tollsten Dinge aus, aber mit der Schlauheit des Wahnsinnigen. Er schoß mit kaltem Blute zwei Polizisten nieder – mitten am Tage in einer der belebtesten Straßen der City und entkam. Wir haben ihn schließlich gefaßt ... natürlich. Solche Leute werden bei uns immer gefaßt. Ich ... hm ... half dabei. Aus dem Grunde dachte ich an unseren Freund Georgio; denn es war Mr. Ravini, der ihn an uns für zweitausend Pfund verriet. Ich vermittelte das Geschäft, Mr. Ravini ist ja selbst ein Verbrecher und ...«

Sie starrte ihn mit offenem Munde an.

»Der Italiener? Das ist doch nicht möglich!«

Mr. Reeder nickte.

»Mr. Ravini stand mit der Bande von Flack in Verbindung und erfuhr zufällig, wo der alte John Flack sich aufhielt. Wir faßten den alten John, während er schlief ...« Mr. Reeder seufzte wieder. »Er äußerte sich sehr bitter über mich. Leute, die verhaftet werden, übertreiben sehr häufig die Fehler der ... hm ... derjenigen, die sie verhaften.«

»Ist er vor Gericht gekommen?« fragte sie.

»Er kam wegen Mordes vor Gericht,« sagte Mr. Reeder. »Aber natürlich ... er war ja wahnsinnig. Schuldig, aber geistesgestört lautete das Urteil, und er wurde nach dem Irrengefängnis von Broadmoor geschickt.«

Er suchte gedankenlos in seinen Taschen, brachte ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten hervor, nahm eine heraus und bat um die Erlaubnis, rauchen zu dürfen. Sie betrachtete den Glimmstengel, der traurig von seiner Unterlippe herabhing. Seine Augen starrten düster durch das Fenster auf das Grün des Parks, durch den sie fuhren, und er schien gänzlich in die Betrachtung der Natur versunken zu sein.

»Was hat aber das alles mit mir, mit meiner neuen Stellung zu tun?«

Mr. Reeder wandte sich ihr zu.

»Mr. Flack war ein sehr rachsüchtiger Mensch,« sagte er. »Ein wirklich ausgezeichneter Mann – es tut mir leid, das zugeben zu müssen. Und nun hat er begreiflicherweise etwas gegen mich ... und wie er nun einmal ist, wird er sehr bald herausgefunden haben, daß ich ... hm ..., daß ... hm ... Sie mir ziemlich nahe stehen, Miß – Margaret.«

Jetzt ging ihr ein Licht auf, ihre ganze Haltung ihm gegenüber änderte sich, und sie packte seinen Arm.

»Jetzt verstehe ich – Sie wollen mich aus London weghaben, falls sich irgend etwas ereignet. Aber was kann sich denn ereignen? Er ist doch in Broadmoor, nicht wahr?«

Mr. Reeder kratzte sich am Kinn und betrachtete interessiert das Droschkendach.

»Vor einer Woche ist er dort ausgebrochen. Ich glaube, er wird in diesem Augenblick in London sein.«

Margaret Belman rang nach Atem.

»Dieser Italiener ... Ravini meine ich ... weiß er das?«

»Er weiß es noch nicht,« sagte Mr. Reeder vorsichtig, »aber ich glaube, er wird es sehr bald erfahren – ja, er wird es bald erfahren.«

Eine Woche später – Margaret Belman war voll böser Ahnungen abgereist, um ihre neue Stellung anzutreten – – waren Reeders sämtliche Zweifel betreffs John Flacks Aufenthalt verschwunden.

***

Zwischen Margaret Belman und Mr. Reeder war eine leichte Verstimmung entstanden, und zwar beim Lunch am Tage ihrer Abreise von London. Im Scherz fing es an – obwohl Mr. Reeder nichts weniger als zum scherzen aufgelegt war, – und zwar mit einem kleinen Vorschlag, den sie machte. Mr. Reeder widersprach. Woher sie jemals den Mut nahm, ihm zu sagen, daß er altmodisch wäre, wußte Margaret nicht – aber sie tat es.

»Natürlich könnten Sie sich Ihren Bart abnehmen lassen,« sagte sie spöttisch, »Sie würden zehn Jahre jünger aussehen.«

»Ich glaube nicht, meine liebe ... Miß ... hm ... Margaret, daß ich zehn Jahre jünger aussehen würde,« sagte Mr. Reeder.

Eine gewisse Spannung war geblieben, und sie fuhr in etwas unbehaglicher Stimmung nach Siltbury. Trotzdem sprach ihr Herz mehr für ihn, als sie sich klar machte, daß sein Wunsch, sie von London fortzubekommen, nur von der Sorge um ihre eigene Sicherheit diktiert worden war. Erst als sie sich ihrem Bestimmungsorte näherte, kam es ihr zum Bewußtsein, daß auch er sich in großer Gefahr befand. Sie mußte ihm gleich schreiben und ihm erzählen, wie leid ihr der Zwischenfall tat. Sie überlegte, wer diese Flacks wohl sein könnten, der Name war ihr bekannt, obwohl sie in der Zeit, wo diese Bande von sich reden machte, wenig oder gar nicht darauf geachtet hatte.

Mr. Daver – er sah mehr als jemals einem Kobold ähnlich – hatte bei ihrer Ankunft eine kurze Unterredung mit ihr. Er brachte sie selbst nach ihrem Bureau und erklärte ihr kurz, was sie zu tun hatte. Das war weder schwer noch verwickelt, und mit Erleichterung sah sie, daß sie praktisch nicht das Geringste mit der Leitung von Larmes Keep zu tun hatte. Diese lag in den bewährten Händen von Mrs. Burton.

Das Hotelpersonal war in zwei kleinen Häuschen, ungefähr eine Viertelmeile vom Hause entfernt, untergebracht, und nur Mrs. Burton wohnte im Hauptgebäude.

»Da bleiben wir mehr unter uns,« sagte Mr. Daver, »Dienstboten sind eine scheußliche Plage. Sie geben mir doch Recht? ... Das dachte ich auch! ... Falls man sie in der Nacht braucht, kann man beide Häuser anrufen, und Grainger, der Portier, hat einen Schlüssel für das Außentor. Das ist doch eine ausgezeichnete Einrichtung, die sicher Ihren Beifall findet? ... Natürlich stimmen Sie mir bei.«

Die Unterhaltung mit Mr. Daver war ein wenig einseitig. Er beantwortete alle seine Fragen selbst.

Er wollte gerade das Bureau verlassen, als ihr sein großes Werk einfiel.

»Mr. Daver, wissen Sie vielleicht etwas über die Flacks?«

Er runzelte die Stirn.

»Flachs? ... Warten Sie mal; was meinen Sie mit Flachs?«

Sie buchstabierte den Namen.

»Ein Freund von mir erzählte mir neulich davon,« sagte sie. »Ich dachte, Ihnen würde der Name bekannt sein. Das ist eine Verbrecherbande ...«

»Flack! ... Aber sicher kenne ich den Namen! ... Du meine Güte, wie interessant! Sie sind also auch Kriminalogist? John Flack, George Flack, Augustus Flack ...« – er sprach rasend schnell, als er die Namen an seinen langen, vom Tabak gelb gefärbten Fingern abzählte. »John Flack ist im Irrengefängnis, seine beiden Brüder entwischten nach Argentinien. Schreckliche Kerle, schreckliche, ganz schreckliche Kerle! Was für eine wundervolle Organisation ist doch unsere Polizei. Und Scotland Yard erst! ... Einfach großartig! ... Sie stimmen mir doch bei? ... Aber zweifellos ... Flack!« Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich dachte, diese Gesellschaft mit ein paar kurzen Paragraphen abzutun, aber mein Material ist leider noch nicht vollständig. Kennen Sie sie denn?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, ich habe nicht den Vorzug.«

»Fürchterliche Geschöpfe,« fuhr Mr. Daver fort. »Erstaunliche Kreaturen! Wer ist denn Ihr Freund, Miß Belman?... Ich würde mich freuen, ihn kennenzulernen. Er könnte mir vielleicht mehr über diese Leute erzählen.«

Margaret hörte diese Worte mit Bestürzung an.

»O nein. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Sie ihn treffen werden,« sagte sie hastig, »und ich glaube auch nicht, daß er darüber sprechen würde, falls Sie ihm begegnen würden – es war vielleicht falsch von mir, ihn überhaupt zu erwähnen.«

Diese Unterhaltung mußte Mr. Daver sehr beschäftigt haben, denn am Abend, als sie ihr Bureau verließ, um nach ihrem Zimmer zu gehen – sie war sehr müde – klopfte er an ihre Tür, öffnete diese auf ihre Aufforderung hin und blieb auf der Schwelle stehen.

»Ich habe die Berichte über die Flacks noch einmal durchgelesen,« sagte er, »und es ist überraschend, wie wenig Material über sie vorhanden ist. Ich habe einen Zeitungsausschnitt mit dem Bericht, daß John Flack tot ist. Das war der Mann, der nach Broadmoor geschickt wurde. Ist er eigentlich tot?«

»Ich könnte es Ihnen wirklich nicht sagen,« sagte sie, nicht ganz der Wahrheit gemäß. »Er wurde mir gegenüber nur gelegentlich erwähnt.«

Mr. Daver kratzte sich am Kinn.

»Ich dachte, man hätte möglicherweise Ihnen ein paar Einzelheiten erzählt, die Ihnen ... als Laie ... sozusagen ...« er kicherte ... »unwichtig erschienen, die aber für mich –«

Er zögerte erwartungsvoll.

»Das ist alles, was ich weiß, Mr. Daver,« sagte Margaret.

Sie schlief fest in dieser Nacht; das entfernte Rauschen der Wogen, die den langen Strand der Siltbury Bucht heraufrollten, sang sie in traumlosen Schlummer.

Ihre Arbeit begann erst nach dem Frühstück, das sie in ihrem Bureau einnahm, und bestand hauptsächlich im Kontrollieren der Rechnungen. Anscheinend hatte aber Mrs. Burton bis jetzt diesen Teil der Verwaltung unter sich gehabt, so daß wahrscheinlich erst am Monatsende, wenn Schecks ausgestellt werden mußten, ihre Arbeit schwerer werden würde. Ihre Arbeitszeit war hauptsächlich mit Korrespondenz ausgefüllt. Einigen hundertvierzig Bewerberinnen um ihren Posten mußte geantwortet werden, hierzu kam noch eine Anzahl Briefe von Leuten, die in der Pension wohnen wollten. Alle diese Briefe mußten Mr. Daver vorgelegt werden, und es war auffallend, wie wählerisch Mr. Daver war. Hier ein Beispiel:

»Se. Ehrwürden John Quinten? Nein, nein. Wir haben schon einen Pastor im Hause. Das genügt. Schreiben Sie ihm, es täte uns sehr leid, aber es wäre alles besetzt. Mrs. Bragley möchte ihre Tochter hierher bringen? Auf keinen Fall! Ich will nicht durch Kindergeschrei gestört werden. Sie geben mir doch Recht? ... Ich sehe, Sie denken auch so. Wer ist diese Frau? ... ›Zur Nachkur hierher kommen?‹ Das heißt, sie ist krank ... Ich kann aus Larmes Keep kein Sanatorium machen. Sie können all den Leuten schreiben, daß bis nach Weihnachten alles besetzt ist. Nach Weihnachten können sie kommen – ich verreise dann.«

Die Abende gehörten ihr. Sie konnte, wenn sie wollte, nach Siltbury gehen, das mit Stolz zwei Kinos und eine Pierrot-Gesellschaft aufwies, und Mr. Daver stellte ihr das Hotelauto für diesen Zweck zur Verfügung. Sie zog es aber vor, durch das Gelände zu wandern. Das Besitztum war viel größer, als sie angenommen hatte. Auf der Südseite des Hauses dehnte es sich eine halbe Meile weit aus. Die Grenze nach Osten bildeten die Klippen, an denen entlang eine Mauer aus Feldsteinen in Brusthöhe aufgeführt war. Und das aus sehr gutem Grunde, denn die Klippen fielen hier senkrecht zweihundert Fuß auf die unterliegenden Felsen ab. An einer Stelle hatte ein kleiner Erdrutsch stattgefunden, hatte den Wall mit fortgerissen, und man hatte die Lücke durch einen provisorischen Holzzaun abgeschlossen. Der Versuch war gemacht worden, einen Neun-Loch-Golfplatz einzurichten, aber anscheinend war Mr. Daver dieser Sache überdrüssig geworden, denn das Gelände stand kniehoch unter wogendem Gras. An der Südwestecke des Hauses, ungefähr hundert Yards entfernt, befand sich ein dichtes Rhododendrongebüsch, und das durchforschte sie, als sie einem kleinen gewundenen Pfade folgte, der sie bis in die Mitte des Gehölzes führte. Ganz unerwartet kam sie auf einen alten Ziehbrunnen. Das Mauerwerk lag in Trümmern; der Brunnenschacht war mit Brettern zugedeckt. An dem vom Wetter mitgenommenen Schutzdach über der Winde hing eine kleine hölzerne Tafel – augenscheinlich als Aufklärung für die Besucher:

 

»Dieser Brunnen wurde von 935 bis 1794 benutzt. Er wurde von den gegenwärtigen Besitzern des Grundstücks im Mai 1914 aufgefüllt. Für diesen Zweck sind einhundertundfünfunddreißig Wagenladungen Sand und Steine gebraucht worden.«

Für Margaret war es ein angenehmer Zeitvertreib, an diesem alten Brunnen zu stehen, und sich die Hörigen und barfüßigen Bauern vorzustellen, die Jahrhunderte hindurch an der Stelle gestanden hatten, wo sie sich jetzt befand. Als sie aus dem Gebüsch heraustrat, stieß sie auf Olga Crewe, das Mädchen mit dem blassen Gesicht.

Margaret hatte weder mit dem Pastor noch mit dem Obersten gesprochen; sie hatte diese weder gemieden, noch diese sie. Olga Crewe hatte sie nicht mehr gesehen, und sie würde ihr auch jetzt aus dem Wege gegangen sein, wenn das junge Mädchen nicht zu ihr herübergekommen wäre.

»Sie sind die neue Sekretärin, nicht wahr?«

Ihre Stimme war sehr musikalisch, lockend. »Süßlich« war Margaretes erste Empfindung.

»Ja, ich bin Miß Belman.«

Das junge Mädchen nickte.

»Meinen Namen kennen Sie ja, wie ich annehme? Werden Sie es hier nicht schrecklich langweilig finden?«

»Ich glaube nicht,« lächelte Margaret. »Es ist ein wunderschönes Stückchen Erde.« Olga Crewes Augen überflogen die Landschaft mit kritischem Blick.

»Ja, das ist es sicher. Sehr schön ... Aber man wird im Laufe der Jahre auch der Schönheit überdrüssig.«

Margaret horchte erstaunt auf.

»Sind Sie schon so lange hier?«

»Eigentlich bin ich hier schon seit meiner Kinderzeit. Ich dachte, Joe hätte Ihnen das schon erzählt; er ist ein unverbesserlicher, alter Schwätzer.«

»Joe?« Sie stand vor einem Rätsel.

»Der Droschkenkutscher. Er sammelt alle Innigkeiten und verbreitet sie auch weiter.«

Sie blickte auf Larmes Keep und runzelte die Stirn.

»Wissen Sie, wie man früher dies Haus zu bezeichnen pflegte, Miß Belman? ... Das Haus der Tränen – Le Château des Larmes.«

»Warum?«

Olga Crewe zuckte ihre hübschen Schultern.

»Ich nehme an, so eine Art Überlieferung, die bis in die Tage des Baron Augernvert, der das Haus baute, zurückreicht. Die Einheimischen haben den eigentlichen Namen in Larmes Keep – das Verließ der Tränen – umgewandelt. Sie müßten sich mal die unterirdischen Gefängnisse ansehen.«

»Gibt es denn welche?« fragte Margaret überrascht.

»Wenn Sie die Verließe gesehen hätten, die schweren Ketten und die Ringe in den Mauern, die Spuren der bloßen Füße auf den abgewetzten Fliesen, dann könnten Sie erraten, wie der Name entstanden ist.«

Margaret starrte auf das Verließ zurück. Die Sonne versank hinter seinen Mauern, und dieser hohe, massive Steinhaufen, der sich scharf gegen das rote Licht der sinkenden Sonne abzeichnete, gewährte einen düsteren, unheilvollen Anblick.

»Direkt unheimlich,« sagte sie und schauderte. Olga Crewe lachte.

»Haben Sie schon die Klippen gesehen?« fragte sie, und führte sie den Weg zurück bis zu dem langen Brustwall. Dort standen sie eine Viertelstunde und blickten, die Arme auf die Brüstung gestützt, in die Dämmerung unter sich.

»Sie sollten sich gelegentlich jemand nehmen und sich um das Kliff herumrudern lassen. Es ist wie durchlöchert von Höhlen,« sagte sie. »Eine, direkt am Rande der See, geht bis unter das Verließ. Wenn die Flut außergewöhnlich hoch steigt, steht sie unter Wasser. Ich wundere mich eigentlich, daß Daver kein Buch darüber schreibt.«

In ihrer Stimme lag ein ganz feiner Ton von Hohn, der aber Margaret nicht entging.

»Da muß der Eingang sein,« sagte sie, und zeigte auf einen Wirbel im Wasser, der bis an das Kliff zu laufen schien.

Olga nickte.

»Bei Hochwasser würden Sie das nicht bemerken,« antwortete sie. Dann drehte sie sich plötzlich um und fragte, ob Margaret schon den Badeplatz gesehen hatte.

Dieser war ein langes Viereck, von hohen Buchsbaumhecken geschützt und gänzlich mit blauen Kacheln ausgelegt; eine verführerische Einladung zum Bade.

»Außer mir benutzt es niemand. Daver würde schon bei dem Gedanken hineinzuspringen, tot umfallen.«

Jedesmal, wenn sie Mr. Daver erwähnte, drückte ihr Ton kaum verhüllte Verachtung aus. Sie war aber auch nicht barmherziger, wenn sie die anderen Gaste erwähnte. Als sie sich dem Hause näherten, bemerkte Olga ganz unvermittelt:

»Wenn ich Sie wäre, würde ich Mr. Daver nicht zu viel erzählen. Überlassen Sie ihm das Reden.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Margaret gelassen; aber in diesem Augenblick ließ Olga sie ohne jedes weitere Wort stehen und ging auf den Oberst zu, der, eine Zigarre im Munde, ihnen entgegensah. Das Haus der Tränen!

Margaret dachte an diesen Namen, als sie sich am Abend entkleidete und trotz all ihrer Selbstbeherrschung überlief sie ein leiser Schauder.