Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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4

»In unsern Kreisen wird man noch eher den Diebstahl der Schmuckstücke verzeihen als diese gemeinen Verleumdungen«, sagte Lady Widdicombe ernst.

Diana mußte über diese Worte lachen.

»Daran sieht man wieder einmal, wie inkonsequent und unmoralisch die Gesellschaft im Grunde ist«, entgegnete sie leichthin. Sie stütze den Kopf auf die Hand und schaute auf das Parkett, wo zahlreiche Paare tanzten.

Die Tanzabende von Lady Widdicombe während der Kricketwoche waren bekannt und beliebt, und wer zu den oberen Zehntausend gehörte, war dort zu finden. Eine lange Reihe von Autos hielt dann vor dem großen Parktor.

»Ich habe eben mit Mrs. Crewe-Sanders gesprochen«, erklärte Diana, während sie die tanzenden Paare weiter beobachtete. »Sie ist der Meinung, daß niemand in Schloß Morply eindringen kann, der nicht mit der Lage der Räume genau vertraut ist.«

»Sie hat natürlich den größten Verlust erlitten«, meinte Lady Widdicombe.

Wieder lachte Diana.

»Die arme Frau steckt sich aber auch all ihren Schmuck an. Ich wundere mich nur, daß sie den Verlust überhaupt gemerkt hat. Sonderbar ist nur, daß ausgerechnet ihr die Nadel gestohlen wurde, da doch so viele andere Gäste im Haus waren, die ebenfalls eine Menge Schmuck besaßen. – Hallo, Barbara«, erwiderte sie den Gruß einer jungen Dame, die die Galerie entlangkam. »Tanzen Sie denn nicht?«

Barbara sah in ihrem cremefarbenen Abendkleid noch schöner aus als sonst. Mit strahlenden Augen blickte sie Diana an. Plötzlich trat ein fragender Ausdruck in ihr Gesicht.

»Nanu – haben Sie keine Angst, Ihren kostbaren Schmuck zu tragen?« fragte sie, ohne auf Dianas Worte einzugehen, und deutete auf die glänzende Brillantnadel, die Diana an ihrem weißseidenen Kleid trug.

»Wie Sie sehen – nein. Ich glaube nicht, daß der berüchtigte Dieb hierherkommen wird.«

»Wollten Sie mich sprechen?« wandte sich Lady Widdicombe an Barbara.

»Ja, ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich mein Zimmer gewechselt habe.«

»Ach, das ist aber sehr freundlich von Ihnen«,.erwiderte die Dame des Hauses dankbar. »Macht es Ihnen auch wirklich nichts aus?«

»Nicht im mindesten«, antwortete Barbara lachend.

»Eine der vielen Kusinen meines Mannes ist nämlich krank geworden«, erklärte Lady Widdicombe, »und Barbara war so liebenswürdig, mir sofort anzubieten, daß sie das Zimmer mit ihr tauschen würde.« Sie sah Barbara bewundernd nach, als das Mädchen weiterging. »Übrigens hat Barbara mir gesagt«, fuhr sie dann fort, »daß dieser anonyme Briefschreiber einem ihrer Verwandten etwas Abscheuliches über sie geschrieben hat.«

»Sie scheint sich aber nicht viel daraus zu machen«, meinte Diana kühl.

»Die Geschichte mit den Verleumdungen ist wirklich zu schlimm!« rief Lady Widdicombe aus, die sich nicht so leicht damit abfand.

Auch unten in der weiträumigen Bibliothek, die an diesem Abend als Rauchzimmer für die Herren diente, sprach man über den Juwelendiebstahl auf Schloß Morply und über die anonymen Briefe des ›aufrichtigen Freundes‹.

Der Hausherr stand im Kreis seiner Gäste am Kamin. Er war groß und stattlich, und trotz eines chronischen Magenleidens hatte er viel Sinn für Humor. Aber auch er verurteilte das verantwortungslose Tun des anonymen Briefschreibers, der bereits drei Familientragödien auf dem Gewissen hatte – man sprach sogar schon von einer vierten, die sich auf einem benachbarten Schloß anbahnte.

Lord Widdicombe konnte sehr interessant erzählen, und als sich das Gespräch den Juwelendiebstählen zuwandte, kam er auf Erfahrungen zu sprechen, die er in Indien gesammelt hatte.

»Meiner Meinung nach hat sich dieser Einbrecher deswegen auf Brillantnadeln spezialisiert, weil man sie verhältnismäßig leicht zu Geld machen kann. Als ich seinerzeit Gouverneur von Bombay war, kam man einer Bande auf die Spur, die einen umfangreichen Diamantendiebstahl geplant hatte. Wäre er ihr gelungen, so hätte die englische Regierung dadurch in eine verteufelte Lage kommen können. – Haben Sie schon einmal von dem Diamanten der Göttin Kali gehört? – Ich glaube nicht«, fuhr er lächelnd fort. »In Indien ist das ein sehr bekannter Stein. Er ist nicht besonders groß, und sein Wert wird noch nicht einmal auf tausend Pfund geschätzt, aber der Stein ist so berühmt, daß man ihn nicht für eine Million Pfund kaufen könnte. In einer Beziehung ist er auch wirklich einzig in seiner Art, denn auf einer seiner Flächen ist ein ganzer Vers der heiligen Schriften eingraviert. Nur die Inder mit ihrer unendlichen Geduld sind zu derartigen Dingen fähig. Sie können sich vorstellen, daß die Buchstaben winzig klein sind und daß man schon ein starkes Vergrößerungsglas nehmen muß, um sie überhaupt lesen zu können. Die Inder glauben nun, daß diese Worte nicht von Menschen eingraviert, sondern durch das Wunder einer Gottheit entstanden sind.

Es waren früher schon Versuche gemacht worden, den Stein zu stehlen, und schließlich hatte sich die englische Regierung darum gekümmert, denn man wußte wohl, daß es Unruhen geben würde, wenn diese Kostbarkeit abhanden käme. Die Regierung nahm den Diamanten daher in Verwahrung. Bei einem bestimmten heiligen Fest wird er öffentlich ausgestellt – übrigens findet es gerade in diesem Monat wieder statt. Selbstverständlich wurde dieser einzigartige Stein mit der größten Sorgfalt gehütet. Trotzdem gelang es einer Bande indischer Diebe, in das Gewölbe einzubrechen, wo der Stein aufbewahrt wurde, und ihn zu rauben. Das geschah zwei Wochen vor dem großen Fest, und alle Regierungsbeamten waren entsetzt über den Diebstahl. Zum Glück konnten wir uns mit den Räubern in Verbindung setzen, aber wir mußten immerhin hunderttausend Pfund Lösegeld zahlen.«

»Dazu mußten Sie wohl überall bekanntmachen, daß der Stein gestohlen worden war?«

»Um Himmels willen, das wäre ausgeschlossen gewesen«, erwiderte der Lord, entsetzt über eine derartige Zumutung. »Was meinen Sie, was das Volk getan hätte, wenn es erfahren hätte, daß der heilige Stein Räubern in die Hände gefallen ist? – Nein, wir haben die Sache so geheim wie möglich gehalten. Es durfte kein Wort darüber gesagt werden, denn solche Nachrichten verbreiten sich in Indien mit Windeseile.«

Inzwischen war Barbara May in die Bibliothek gekommen. Nun trat sie hinter einen jungen Mann und berührte ihn mit der Hand an der Schulter.

Danton erschrak und drehte sich schnell um.

»Es tut mir sehr leid«, entschuldigte er sich, »aber ich hörte gerade eine interessante Geschichte.«

Er führte sie in den Ballsaal, und ein paar Augenblicke' später tanzten sie.

5

»Mr. Danton, ich hab viel über Sie nachgedacht«, sagte Barbara May, als die Kapelle eine Pause machte.

Sie trat mit Jack auf die Terrasse hinaus.

»Es tut mir leid, daß ich die Ursache so angestrengten Nachdenkens war.«

»Ich habe mir überlegt, welchen Beruf Sie haben könnten. Alle Leute wissen, daß Sie irgend etwas Geheimnisvolles tun. – Nun, ich habe es herausbekommen.«

»Na, da bin ich aber sehr gespannt«, erwiderte er kühl und ließ sich neben ihr nieder. »Welchen Beruf habe ich also?«

»Sie sind Kriminalbeamter.«

Er sah sie so bestürzt an, daß sie laut lachen mußte.

»Sehe ich denn tatsächlich so aus, als ob ich zur Polizei gehörte?«

»Nein, Sie machen nicht den Eindruck eines gewöhnlichen Polizisten, aber in den letzten Jahren sind doch viele tüchtige höhere Offiziere bei Scotland Yard eingetreten.«

»Wenn ich wirklich Kriminalbeamter wäre«, sagte er, um Zeit zu gewinnen, »dann hätte ich mich aber sehr schlecht bewährt.«

»Aber Sie sind doch von der Polizei – habe ich denn nicht recht?« fragte sie beharrlich.

»Eigentlich sollte ich mich darüber ärgern, daß man es herausgebracht hat, aber Ihnen kann ich ja doch nicht böse sein, Miss May.«

»Die Frage ist nur«, erwiderte sie und hob die Augenbrauen, wobei sie ihn prüfend ansah, »wollen Sie den anonymen Briefschreiber zur Strecke bringen, oder sind Sie hinter dem Juwelendieb her?«

»Meinen Sie, Scotland Yard würde etwas in der Sache der anonymen Briefe unternehmen, ohne daß ordnungsgemäß Anzeige erstattet worden wäre?«

»Sie haben recht. Dann sind Sie also hinter dem Juwelendieb her, der kürzlich auch Schloß Morply beehrte?«

»Das kann ich nicht behaupten.«

»Ich wünschte eher, daß Sie den anonymen Briefschreiber suchten. Wer mag diese Frau nur sein?«

»Sie sind also überzeugt, daß es sich um eine Frau handelt?«

»Was bleibt einem denn anderes übrig?« Barbara May raffte die weichen Falten ihres Abendkleides zusammen und trat an die Balustrade. Ohne Jack Danton anzusehen, fuhr sie fort: »So gehässig kann nur eine Frau sein. Die Briefe sind ja von einer ausgesuchten Gemeinheit. Sie wissen doch, daß die Flatterleys sich schon getrennt haben? Tom Fowler hat die Scheidungsklage gegen seine Frau eingereicht, und Mrs. Slee ist jetzt nach Übersee gegangen. Ihre Muter grämt sich darüber zu Tode.«

Er nickte ernst.

»Diese Art von Verbrechen ist entsetzlich. Ich kann schließlich einem Dieb verzeihen, aber solche Menschen kann ich nicht verstehen.«

*

Als Barbara May an dem Abend auf ihr Zimmer ging, sah sie, daß Jack in ein Gespräch mit Lord Widdicombe vertieft war, und sie lächelte vor sich hin.

»Was belustigt Sie denn so sehr, Barbara?« fragte Diana, die hinter ihr die Treppe hinaufging.

»Ach, ich dachte nur an Verschiedenes«, entgegnete Barbara May ausweichend.

»Sie haben es gut, daß Sie noch lachen können. Mich langweilt so ein Tanzabend furchtbar.«

Barbara wandte sich um und sah ihr voll ins Gesicht.

»Warum kommen Sie dann überhaupt zu solchen Veranstaltungen?«

 

Diana zuckte die Schultern. »Man muß doch irgend etwas tun, um die Zeit totzuschlagen.«

»Aber warum arbeiten Sie denn nicht?«

Diana starrte Barbara an. Wie hätte sie, die Erbin eines der größten Vermögen in England, arbeiten können? Das mußte Barbara doch berücksichtigen!

Hätte Lady Widdicombe die Mädchen in diesem Augenblick auf der Treppe gesehen, so hätte sie festgestellt, daß die Abneigung der beiden auf Gegenseitigkeit beruhte.

»Was meinen Sie denn mit ›arbeiten‹?« erwiderte Diana von oben herab. »Soll ich etwa als Säuglingsschwester tätig sein oder Stenotypistin im Außenministerium werden oder etwas Ähnliches unternehmen?«

»Ja. – Ich habe so etwas getan«, entgegnete Barbara. »Das ist eine gute Ablenkung. Wenn man tagsüber nichts tut, kann man nur nachts nicht schlafen.«

»Aber Barbara!« Diana lachte gezwungen. »Ich habe das Gefühl, daß Sie das eigentlich nichts angeht. Sie betonen anscheinend gerne Ihre Tüchtigkeit.«

»Lassen Sie ruhig meine Tüchtigkeit aus dem Spiel«, antwortete Barbara kühl und ging in ihr Zimmer.

Selbst wenn Jack Danton diese Szene belauscht hätte, wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, daß Barbara sich dieses Gespräch vorher genau überlegt hatte. Sie hatte extra auf Diana gewartet und war kurz vor ihr die Treppe hinaufgegangen. Sie wollte sie ärgern, um sich nachher bei ihr entschuldigen zu können.

Während sich Diana von ihrer Kammerzofe beim Auskleiden helfen ließ, klopfte es an die Tür des Schlafzimmers, und Barbara kam herein.

»Verzeihen Sie, Diana, ich war vorhin gereizt; ich wollte Sie nicht kränken«, begann sie liebenswürdig.

»Ach, das hat weiter nichts zu sagen«, entgegnete Diana und lächelte. »Es war ja schließlich auch meine Schuld. Wenn man so lange aufbleiben muß, wird man leicht müde und überempfindlich.«

»Was haben Sie aber für ein hübsches Zimmer!« rief Barbara begeistert. »Und dann diese prachtvollen Bürsten!« Sie bewunderte die Toilettengegenstände, die auf der Glasplatte des Frisiertisches lagen. »Nur die Decke ist etwas niedrig«, fuhr sie fort.

»Ich schlafe immer bei offenem Fenster, also macht mir das weiter nichts aus«, erwiderte Diana, der es sonderbar vorkam, daß Barbara sich für so nebensächliche Dinge interessierte.

»Was, Sie schlafen bei offenem Fenster, obwohl in letzter Zeit so viele Diebstähle verübt wurden?«

»Aber Sie glauben doch selbst nicht, daß hier die geringste Gefahr besteht.«

Barbara trat ans Fenster und schaute hinaus.

»Der Sims ist allerdings so schmal, daß kaum ein Mann darauf entlangklettern könnte. Und das Fenster liegt auch reichlich zehn Meter über dem Garten.«

Sie sagte Diana gute Nacht und wollte das Zimmer verlassen. Aber an der Tür drehte sie sich noch einmal um.

»Würden Sie gern noch eine Tasse Schokolade trinken?« fragte sie unvermittelt. Sie wußte, daß Diana Schokolade über alles liebte. »Ich koche gerade welche in meinem Zimmer – ich habe einen elektrischen Kocher bei mir.«

Diana hatte sie zuerst erstaunt angesehen, als sie aber nichts Außergewöhnliches an diesem Vorschlag feststellen konnte, nahm sie gerne an.

»In drei Minuten ist sie fertig«, versicherte Barbara. »Aber haben Sie mir auch wirklich verziehen?«

»Wenn ich die Sache nicht schon vorher vergessen hätte, würde ich Ihnen noch dazu vor Dankbarkeit um den Hals fallen.« Diana wandte sich an ihre Zofe. »Eileen, Sie werden dann gleich die Schokolade für mich aus Miss Mays Zimmer holen.«

Das warme Getränk schmeckte ausgezeichnet. Diana saß in ihrem Bett, als sie es zu sich nahm. Sie war Barbara wirklich dankbar, soweit das bei ihrem Charakter möglich war. Als sie fertig getrunken hatte, reichte sie sie der Zofe.

»Sie können jetzt gehen, Eileen. Ich mache das Licht später selber aus und schließe ab. Gute Nacht. Ich glaube, ich werde gut schlafen.«

*

Auch Barbara May hoffte, daß Diana tief und fest schlafen würde. Sie verkorkte die kleine Flasche, die noch halb mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war, und steckte sie in ein Geheimfach ihres Koffers. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Mehrmals ging sie im Zimmer auf und ab, trat schließlich ans Fenster und öffnete es. Ihr Zimmer befand sich im selben Stockwerk wie der Raum, in dem Diana schlief, und war von ihm nur durch ein leeres Zimmer getrennt. Sie zog die Vorhänge zu und entkleidete sich. Aus dem Schrank nahm sie ein Paar Reithosen und zog sie an, ebenso ein Paar dicke, wollene Strümpfe. Ein Sportjackett aus grobem Tweed vervollständigte ihre eigenartige Verkleidung. Als sie fertig war, drehte sie das Licht aus, legte sich aufs Sofa und wartete.

Von der Kirchturmuhr schlug es zwei. Nun erhob sie sich leise und zog geräuschlos die Vorhänge zurück. Vorsichtig stieg sie aus dem Fenster und stand nun auf dem äußeren vorspringenden Sims, der kaum dreißig Zentimeter breit war. Aber sie hatte gute Nerven und tastete sich ruhig und sicher auf dem schmalen Vorsprung entlang.

Ein Fehltritt – und sie mußte abstürzen, ein Schwanken – und sie würde zerschmettert dort unten liegen. Aber sie zögerte nicht eine Sekunde. Bald darauf hatte sie Dianas Fenster erreicht und kletterte ins Zimmer.

Diana schlief tief und ruhig, trotzdem wartete Barbara und lauschte. Doch Diana atmete tief und gleichmäßig und rührte sich auch nicht, als Barbara ihr die Hand leise auf die Schulter legte. Das Schlafmittel in der Schokolade hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Barbara hätte auch ohne Gefahr das Licht andrehen können. Aber dadurch hätte sie vielleicht die Aufmerksamkeit anderer Leute auf sich gezogen, die zufällig den Gang entlangkamen und den Lichtschein im Innern des Zimmers bemerkten.

Sie nahm also eine Taschenlampe und einen kleinen Schlüsselbund aus der Tasche. Natürlich hatte sie sich gut gemerkt, wo Dianas Schmuckkasten stand.

Schon beim dritten Versuch gelang es ihr, die Stahlkassette zu öffnen. Sie nahm die Brillantnadel heraus, die Diana noch kurz zuvor auf dem Ball getragen hatte.

Aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie suchte noch weiter und fand schließlich auch das Gewünschte. Als sie fertig war, zögerte sie noch einen Augenblick. Behutsam schloß sie die Tür auf und warf einen Blick auf den Gang. Nur am hinteren Ende brannte ein schwaches Licht.

Dürfte sie es wagen? Lord Widdicombe hatte einen Nachtwächter im Haus, aber sie hörte, daß sich dieser unten in der Halle räusperte.

Sie schloß Dianas Tür hinter sich und ging mit schnellen Schritten den Gang entlang, bis sie zu ihrem eigenen Zimmer kam. Aber als sie gerade die Hand auf den Griff legen wollte, hörte sie unten auf der mit Teppich belegten Treppe leise Schritte. Rasch drückte sie die Klinke herunter, erschrak aber heftig, denn sie hatte die Tür abgeschlossen, bevor sie aus dem Fenster gestiegen war. Wie hatte sie nur einen so schweren Fehler machen können! Jetzt blieb ihr nur noch ein Ausweg – sie mußte in das leere Zimmer flüchten. Hoffentlich war die Tür nicht verschlossen! Sie huschte darauf zu, obwohl diese Tür der Treppe näher lag.

Erleichtert atmete sie auf, als die Klinke nachgab – es war aber auch höchste Zeit. Als sie noch einen Blick den Gang hinunterwarf, sah sie den Kopf eines Mannes. Er kam die Treppe herauf. Jetzt hatte er den vorletzten Absatz erreicht. Sie fuhr zusammen: Es war niemand anders als Jack Danton.

Leise schloß sie die Tür und schlich zu dem Fenster, das glücklicherweise offenstand. Sie war reichlich nervös. Das merkte sie, als sie jetzt den gefährlichen Weg über das Sims zurücklegte. Jedoch erreichte sie ihr Fenster ohne Unfall und kletterte erleichtert ins Zimmer.

Aus ihrem Koffer holte sie eine viereckige schwarze Kassette und legte sie auf den Tisch. Dann trug sie noch verschiedene andere Gegenstände herbei. Die Kassette besaß eine Schnur, an deren Ende sich ein Stecker befand. Sie verband ihn mit der Lichtleitung, schaltete ein und arbeitete zwei Stunden angestrengt. Als der Himmel im Osten langsam blasser wurde, kletterte Barbara wieder aus dem Fenster. Entschlossen tastete sie sich zu Dianas Fenster und stieg wieder ein.

Fünf Minuten später kehrte sie in ihr Zimmer zurück, schloß ihre verschiedenen Gerätschaften weg und packte die Brillantnadel in einen kleinen Pappkarton, den sie unter ihr Kissen legte.

6

Barbara war eine der ersten, die am nächsten Morgen erschienen. Trotz der anstrengenden Nacht sah sie wohl und ausgeruht aus; das hellgrüne Kleid, das sie trug, vertiefte sehr vorteilhaft das leichte Braun ihrer Haut.

Jack hatte bereits einen Spaziergang im Park gemacht und kam eben zurück. Die beiden waren die einzigen Gäste, die zu so früher Stunde aufgestanden waren.

»Guten Morgen, Miss May! Sie sind ja schon auf«, begrüßte er sie. »Es kann ein Vorteil, aber auch ein Nachteil sein, wenn man früh aufsteht. Der Käfer, der schon früh am Baum entlangkriecht, wird vom hungrigen Vogel geschnappt. Hätte er länger geschlafen, so wäre er mit dem Leben davongekommen.«

Sie gingen bis ans Ende des Parkes und genossen die herrliche Aussicht über die Wiesen, die sich bis zum Fluß hinzogen, und über die dunklen Eichenwälder, die die sanftgeschwungenen Höhenzüge bedeckten.

»Ist es nicht wunderbar hier?« rief Barbara.

»Ich fürchte, ich muß zur Post gehen.«

»Nun, ich würde Sie gerne begleiten. Warten Sie nur, bis ich meinen Hut geholt habe.«

Zusammen gingen sie den Fahrweg entlang, kamen an das Parktor und schlenderten dann die ruhige Dorfstraße hinunter. Jack trug das Päckchen, das er fortschicken wollte.

Wahrscheinlich ein Bericht an seinen Vorgesetzten, dachte Barbara.

Als sie später wieder auf der Straße standen, machte Barbara plötzlich halt.

»Eben fällt mir ein, daß ich noch Briefmarken haben muß«, sagte sie und drehte sich um. »Nein, Sie brauchen nicht mitzukommen, ich bin im Augenblick wieder da.«

Sie ging zurück ins Postamt und zog hastig einen Doppelbrief aus der Tasche ihres Kleides.

»Ein Eilbrief«, sagte sie. »Ich habe ihn bereits gewogen und richtig frankiert.«

Der Beamte betrachtete die Adresse, dann warf er ihn in den Postsack.

»Ich habe es mir doch anders überlegt«, erklärte Barbara, als sie wieder bei Jack war. »Ich fürchtete, Sie würden lang warten müssen, denn der Beamte ist sehr umständlich. Bis der die Mappe mit den Marken herausgeholt hat, vergeht eine kleine Ewigkeit. Und da wir noch nicht gefrühstückt haben, wollen wir schnell zum Schloß zurückgehen.«

»Wann fahren Sie wieder nach London?« fragte er nach einer Weile.

»Ich denke, heute nachmittag. Ich wäre schon heute morgen abgereist, aber es würde doch zu verdächtig aussehen, wenn ich jetzt in aller Eile das Schloß verließe. Es könnte zum Beispiel in der vergangenen Nacht ein Einbrecher im Haus gewesen sein ... Das kann man natürlich erst feststellen, wenn all diese faulen Leute aufgestanden sind und einen Blick in ihre Schmuckschatullen geworfen haben.«

Er lächelte. »Ich glaube nicht, daß in der letzten Nacht ein Einbrecher im Haus war«, erklärte er vergnügt.

Als sie ins Frühstückszimmer traten, fanden sie dort Lord Widdicombe und seine Frau vor, die bereits aufgestanden waren. Kurz darauf erschienen auch noch drei andere Gäste.

»Was macht denn Diana?« fragte der Lord und nahm sich von dem Rührei.

»Wir werden sie wohl kaum vor zwölf Uhr zu Gesicht bekommen«, meinte Lady Widdicombe. »Du weißt doch, daß sie gern lange schläft.«

»Ich wünschte nur, daß sie ein wenig munterer wäre«, seufzte der Lord. Er konnte das junge Mädchen nicht recht leiden, obwohl sie seine Nichte und er ihr Vormund war.

Diana wachte auch tatsächlich erst um ein Uhr auf. Sie fühlte sich außerordentlich wohl und stellte fest, daß sie selten so ruhig und tief geschlafen hatte.

Ich muß doch Barbara bitten, mir das Rezept für die Schokolade zu geben, dachte sie, als sie ihren Morgentee trank.

»Ist Post gekommen, Eileen?« fragte sie ihre Zofe, die gerade das Bad vorbereitete. Das Mädchen brachte ihr mehrere Briefe, und Diana sah sie rasch durch.

Eine halbe Stunde später war sie angezogen. Als Schmuck wollte sie eine Perlenkette und einen Ring tragen. Sie schloß die Stahlkassette auf, um beides herauszunehmen. Aber sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sie hineinblickte.

»Eileen, kommen Sie schnell!« rief sie. »Wo ist meine Brillantnadel?«

»Sie haben sie gestern abend hineingelegt – ich habe es selbst gesehen.«

 

»Täuschen Sie sich auch nicht?«

»Nein, bestimmt nicht«, sagte die Zofe aufgeregt.

Diana sah schnell den Inhalt der Kassette durch. Außer der Nadel fehlte nichts, obwohl ein Smaragdring darin lag, der allein ein Vermögen wert war. Nur die Brillantnadel war gestohlen worden.

Diana klingelte, aber dann fiel ihr ein, daß sie bereits angekleidet war. Sie stürzte die Treppe hinunter und traf Lord Widdicombe in der Eingangshalle.

»Onkel Willie«, rief sie ihm zu, »jemand hat meine Brillantnadel gestohlen!«

»Verdammt«, stieß er hervor und winkte Danton heran, der sich eifrig mit Barbara May unterhielt.

Der Inspektor kam sofort und erkundigte sich, was es gäbe.

»Diana vermißt ihre Brillantnadel«, erklärte der Lord leise. »Bitte sprechen Sie mit ihr, und durchsuchen Sie unauffällig alle Räume.«

Aber Jack hatte keinen Erfolg. So sehr er sich auch bemühte, die Brillantnadel war und blieb verschwunden. Äußerst beunruhigt kam er in die Bibliothek, um Lord Widdicombe das Ergebnis seiner Nachforschungen mitzuteilen. »Ich kann die Geschichte nicht verstehen«, sagte er. »Miss Wold äußerte mir gegenüber, daß sie abends immer die Tür ihres Zimmers abschließt und den Schlüssel an der Innenseite steckenläßt. Heute morgen war aber die Tür nicht verschlossen.«

»Wäre es möglich, daß sie mit Gewalt von außen geöffnet wurde?«

»Das habe ich auch schon vermutet, aber es sind keinerlei Spuren zu erkennen.«

»Zum Teufel, wie kann denn das nur geschehen sein?« rief der Lord verärgert. »Hat denn Diana nichts gehört? Man sollte doch annehmen, daß sie aufwacht, wenn jemand im Zimmer ist.«

»Sie hat nicht das mindeste gemerkt. Übrigens wäre es auch möglich, daß einer der Gäste, der auf demselben Flur schläft, auf dem Sims an der Mauer entlanggegangen ist.«

»Das ist nicht anzunehmen – dazu gehörte wirklich außergewöhnlicher Mut. Der Dieb mußte geradezu die Nerven eines Seiltänzers haben.«

»Nun, der Mann, der dieses Schmuckstück gestohlen hat, besitzt sicher eiserne Nerven«, erwiderte Jack. »Rufen Sie Ihre Gäste zusammen und erklären Sie ihnen, was vorgefallen ist. Es ist schließlich möglich, daß jemand von dem mitgebrachten Personal die Nadel entwendet und in dem Zimmer seiner Herrschaft versteckt hat. Unter diesen Umständen wird man nichts dagegen haben, wenn die Gästezimmer durchsucht werden.«

»Das ist ein guter Gedanke.« Der Lord nickte erleichtert und befolgte Dantons Vorschlag. Auch die Gäste hatten nichts dagegen einzuwenden.

Nach außen hin hatte es den Anschein, als ob Lord Widdicombe die Untersuchung vornähme, aber in Wirklichkeit war es Jack, der sich dazu erboten hatte. Man fand jedoch nichts, und alle hatten Mitleid mit Diana.

Sie empfand es als wohltuend, so im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, tat aber so, als ob sie der Diebstahl wenig kümmere.

»Der Verlust der Nadel ist weiter nicht gefährlich«, meinte sie gleichgültig, »denn sie ist versichert. Es war allerdings ein schönes Stück, und zuerst war ich begreiflicherweise aufgeregt. Ich hatte es erst vor einem Monat bei Streetley gekauft.«

»Das ist aber merkwürdig«, bemerkte ihr Onkel stirnrunzelnd.

Seine Frau sah ihn erstaunt an.

»Wie meinst du denn das?«

»Nun, Mrs. Crewe-Sanders, der ebenfalls eine Brillantnadel gestohlen wurde, hatte sie doch auch erst vor einem Monat in demselben Geschäft erstanden.«

»Aber daran ist doch nichts Besonderes«, warf einer der Gäste ein.

Die Gesellschaft saß am Nachmittag im großen Wohnzimmer zusammen, und man unterhielt sich natürlich über den neuen Diebstahl.

»Streetley ist das größte und modernste Juweliergeschäft, das wir in London haben. Viele Damen kaufen dort mit Vorliebe ihren Schmuck.«

»Es ist mir nur unangenehm«, erklärte Diana, »daß dieser Einbrecher in mein Zimmer eingedrungen ist, während ich schlief.«

»Ja, ich wundere mich auch, daß er das gewagt hat«, erwiderte der Lord ironisch, aber dann fuhr er ernst fort: »Es tut mir entsetzlich leid, daß das geschehen ist. Ich hoffte, die Kricketwoche würde vorübergehen, ohne daß wir auf diese Art belästigt würden.«