Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen

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Doch kann ich es vor mir selbst nicht verbergen, dass unmittelbar nach dem Ereignis mit den Rubintropfen im Zustand meiner Frau eine schnelle Wendung zum Schlimmeren eintrat, so dass ihre Dienerschaft sie in der dritten darauf folgenden Nacht für das Grab vorbereitete und ich in der vierten Nacht allein bei ihrem verhüllten Leichnam saß, allein in dem bizarren Gemach, das sie als meine Braut betreten hatte. Wilde Visionen, opiumgeboren, flirrten wie Schatten vor meinen Augen. Mit unstetem Blick starrte ich auf die Sarkophage in den Ecken des Gemachs, auf die wechselvollen Figuren der Wandbehänge und auf das Züngeln der bunten Flammen in der Weihrauchschale über mir. Dann fiel mein Blick, als ich mir die Ereignisse der vergangenen Nacht ins Bewusstsein zurückrief, auf die Stelle unter dem Lichtkreis der Weihrauchschale, wo ich die vage Andeutung des Schattens gesehen hatte. Der Schatten jedoch war verschwunden; ich atmete befreit auf, und mein Blick schweifte hinüber zur bleichen und starren Gestalt auf dem Bett. Da stürmten tausend Erinnerungen an Ligeia auf mich ein – und dann überfiel mein Herz mit der ungestümen Gewalt einer Flut das ganze unaussprechliche Weh, mit dem ich sie als verhüllten Leichnam gesehen hatte. Die Nacht schwand dahin, und voll bitterer Gedanken an die eine, die einzige, die über alles Geliebte verweilte ich und starrte versunken auf die sterbliche Hülle Rowenas.

Es mag um Mitternacht gewesen sein, vielleicht auch früher oder später, denn ich hatte den Sinn für die Zeit verloren, als ein sanftes, leises, doch deutlich vernehmbares Schluchzen mich aus meinen Träumen auffahren ließ. Ich fühlte, dass es von dem Ebenholzbett her kam – dem Lager des Todes. Ich lauschte, gepeinigt von abergläubischem Entsetzen – doch das Schluchzen wiederholte sich nicht. Ich marterte meine Augen, um irgendeine Bewegung des Leichnams zu entdecken – doch nicht die geringste Bewegung war zu sehen. Dennoch konnte ich mich nicht getäuscht haben. Ich hatte den Laut ja gehört, wie schwach er auch immer gewesen war, und meine Seele war zu neuem Leben erwacht. Entschlossen und standhaft richtete ich meine ganze Aufmerksamkeit auf den toten Körper. Viele Minuten vergingen, ehe irgendetwas geschah, was das Geheimnis hätte erhellen können. Endlich wurde klar, dass ein leichter, sehr schwacher und kaum wahrnehmbarer Anflug von Farbe die Wangen wie auch die feinen, tiefliegenden Äderchen der Augenlider belebte. Eine Art unsäglicher Horror und Entsetzen, wofür die Sprache der Menschen keinen zureichenden Ausdruck kennt, ließ meinen Herzschlag anhalten und meine Glieder so, wie ich saß, versteinern. Doch endlich bewirkte mein Pflichtgefühl, dass ich meine Fassung zurückgewann. Ich durfte nicht länger daran zweifeln, dass wir in unserem Tun voreilig gewesen waren – dass Rowena noch lebte. Die Notwendigkeit verlangte, dass auf der Stelle etwas geschehe; doch der Turm lag gänzlich abseits von denjenigen Räumen der Abtei, welche die Bediensteten beherbergten – keiner von ihnen war in Rufweite –; ich hatte keine Möglichkeit, sie zur Hilfe herbeizurufen, ohne das Zimmer für lange Minuten zu verlassen – gerade dies aber konnte ich nicht wagen. So rang ich also allein in meinem Bemühen darum, den unentschlossen schwebenden Geist in den Körper zurückzurufen. Binnen kurzem wurde jedoch klar, dass ein Rückfall eingetreten war; die Farbe wich wieder aus den Augenlidern und den Wangen und hinterließ eine Blässe, die kälter war als Marmor; die Lippen welkten noch mehr dahin und kniffen sich in einem grässlichen Ausdruck des Todes zusammen; eine widerwärtige Feuchte und Kälte überzog rapide den ganzen Körper; und sofort darauf hatte sich auch die übliche Leichenstarre wieder eingestellt. Ich fiel schaudernd zurück auf die Ottomane, von der ich so alarmiert aufgeschreckt war, und überließ mich wieder den leidenschaftlichen Wachträumen von Ligeia.

So war eine Stunde verronnen, als ich (konnte es überhaupt sein?) zum zweiten Male gewisser vager Laute, die aus der Richtung des Bettes kamen, gewärtig wurde. Ich lauschte in höchstem Entsetzen. Der Laut wiederholte sich – es war ein Seufzen. Ich stürzte hin zu der Toten und sah – sah in aller Deutlichkeit – ein Zittern auf den Lippen. Einen Moment später entspannten sie sich und enthüllten eine blendende Reihe von Perlenzähnen. Ungläubiges Staunen kämpfte jetzt in meiner Brust mit einer tiefen, ehrfürchtigen Scheu, die mich bisher allein beherrscht hatte. Ich fühlte, dass ich in Dunkelheit versank und dass mein Denken abirrte; und nur dank einer gewaltigen Anstrengung gelang es mir, mich aufzuraffen und der Aufgabe zu stellen, welche die Pflicht mir einmal mehr gebot. Ein schwaches Glühen überzog nun die Stirn, die Wangen und den Hals; eine spürbare Wärme durchdrang den ganzen Körper; sogar ein leichtes Pulsieren des Herzens war bemerkbar. Rowena lebte, und mit verstärktem Eifer widmete ich mich der Aufgabe der Wiedererweckung. Ich rieb und benetzte ihre Schläfen und Hände und wandte jeden Kunstgriff an, den Erfahrung und eine nicht geringe medizinische Belesenheit mir nahezulegen vermochten. Doch vergebens. Plötzlich wich die Farbe wieder, der Puls verstummte, die Lippen nahmen erneut den Ausdruck des Todes an, und einen Augenblick später zeigte der ganze Körper wieder die eisige Kälte, die aschgraue Färbung, die tiefe Starre, die eingesunkenen Umrisse und all jene ekelhaften Eigenschaften dessen, der schon für viele Tage sein Grab gefunden hatte.

Und wieder versank ich in Visionen von Ligeia – und wiederum (was Wunder, dass mich schaudert, da ich dies niederschreibe?), wiederum drang vom Ebenholzbett her ein leises Schluchzen an mein Ohr. Aber warum soll ich die unsagbaren Schrecken jener Nacht auf das genaueste wiedergeben? Warum bei der Enthüllung verweilen, wie Mal um Mal bis in die graue Morgendämmerung hinein dieses scheußliche Drama der Wiederbelebung seine Erneuerung fand; wie jeder schreckliche Rückfall nur ein grausameres und offenbar immer hoffnungsloseres Verfallen an den Tod war; wie jede Agonie den Anblick eines Kampfes mit einem unsichtbaren Feind bot; und wie jeder Kampf eine ich weiß nicht wie zu beschreibende wilde Veränderung in der Erscheinung des Leichnams zur Folge hatte? Man möge mich zum Schlussakt eilen lassen.

Der größte Teil der furchtbaren Nacht war vergangen, und sie, die schon tot gewesen, regte sich erneut – und jetzt nachdrücklicher als bisher, obgleich sie aus einem Zustand des Verfalls erwachte, der in seiner völligen Hoffnungslosigkeit erschreckender als alles Vorherige erschien. Ich hatte schon lange aufgehört, zu kämpfen oder mich zu bewegen, und saß erstarrt auf der Ottomane, ein hilfloses Opfer im Wirbel heftigster Emotionen, deren am wenigsten schreckliche, am wenigsten verzehrende vielleicht noch maßlose Furcht war. Der Leichnam, ich wiederhole es, regte sich, und jetzt lebhafter als zuvor. Das Farbenspiel des Lebens überflutete mit ungewöhnlicher Macht das Antlitz – die Glieder entkrampften sich – und wären nicht die Augenlider noch immer schwer zusammengepresst gewesen und hätten nicht die Binden und Tücher des Grabes der Gestalt ihre Leichenerscheinung verliehen, ich hätte mir vorgaukeln können, dass Rowena in der Tat die Fesseln des Todes gänzlich abgestreift habe. Aber selbst wenn sich dieser Gedanke nicht einmal jetzt vollständig bei mir durchsetzte, so war doch kein Raum mehr für Zweifel, als dieses Etwas im Leichentuch sich vom Bett erhob und wankend, mit unsicherem Schritt, mit geschlossenen Augen und nach der Art eines Schlafwandlers kühn und unübersehbar in die Mitte des Zimmers vordrang.

Ich zitterte nicht – ich rührte mich nicht –, denn ein Wirbel unfassbarer Vorstellungen, die sich mit dem Auftreten, der Statur und dem Verhalten der Gestalt verknüpften, bestürmte mein Denken und hatte mich in Stein verwandelt. Ich rührte mich nicht – starrte nur die Erscheinung an. Es herrschte eine wahnwitzige Verwirrung in meinen Gedanken – ein unkontrollierbarer Tumult. Konnte es denn wahrhaft und wirklich die lebende Rowena sein, die vor mir stand? Konnte es in der Tat überhaupt Rowena sein – die blonde, blauäugige Lady Rowena Trevanion von Tremaine? Warum, warum bloß sollte ich daran zweifeln? Die Binde war fest um ihren Mund geschlungen – doch warum sollte es nicht der Mund der atmenden Lady von Tremaine sein? Und die Wangen – sie erblühten rosig wie im Mittag ihres Lebens – ja, sie mochten wirklich die schönen Wangen der lebenden Lady von Tremaine sein. Und das Kinn mit den Grübchen wie ehedem – war es nicht ganz das ihre? Aber war sie denn größer geworden seit dem Beginn ihrer Krankheit? Welch unaussprechlicher Wahn ergriff mich bei diesem Gedanken? Ein Sprung, und ich war bei ihr! Sie zuckte vor meiner Berührung zurück und ließ die geisterhaften Leichentücher gelöst von ihrem Haupt gleiten, die es umschlossen hatten, und es ergossen sich in die brausende Atmosphäre des Gemachs überquellende Massen von langem, aufgelöstem Haar: es war schwärzer als die Rabenfittiche der Mitternacht! Und jetzt öffneten sich langsam die Augen der Gestalt, die vor mir stand. »Hier nun endlich«, schrie ich laut auf, »kann ich niemals, niemals irren – dies sind die großen und schwarzen und wilden Augen – meiner verlorenen Geliebten – der Lady – der LADY LIGEIA!«

1838 Übersetzung von Manfred Pütz

In der Klemme45

Welcher Zufall, werte Dame, hat Sie derart beraubt?

Comus 46

Es war ein ruhiger und stiller Nachmittag, als ich in der trefflichen Stadt Edina umherschlenderte. Der Trubel und Tumult in den Straßen waren fürchterlich. Männer redeten. Frauen kreischten. Kinder glucksten. Schweine grunzten. Karren, die ratterten. Bullen, die brüllten. Kühe, die muhten. Pferde, die wieherten, Katzen, die miauten. Hunde, die tanzten. Tanzten! Konnte es denn möglich sein? Tanzten! Weh mir, dachte ich, die Tage meines Tanzens sind vorüber! So ist es immer. Welche Unmenge düsterer Erinnerungen wird mitunter geweckt in einem Geist der Genialität und phantasievollen Betrachtung, besonders der Genialität, die verurteilt ist zu der immerwährenden und ewigen und fortbestehenden und, wie man sagen könnte, der – fortgesetzten – ja, der fortgesetzten und fortdauernden, bitteren, zermürbenden, störenden und, wenn mir der Ausdruck erlaubt sei, der sehr störenden Einflussnahme der heiteren und göttlichen und himmlischen und erhebenden und erbaulichen und läuternden Wirkung dessen, was zu Recht bezeichnet werden kann als das beneidenswerteste, das wahrlich beneidenswerteste – nein! das wohltuend schönste, das köstlich zarteste und gleichsam das hübscheste (wenn ich einen so gewagten Ausdruck benutzen darf) Ding (vergib mir, lieber Leser!) der Welt – aber meine Gefühle gehen immer mit mir durch. In solch einem Geist, ich wiederhole, welche Unmenge von Erinnerungen wird da von einer Belanglosigkeit wachgerufen! Die Hunde tanzten! Ich – ich konnte nicht! Sie wedelten – ich weinte. Sie machten Luftsprünge – ich schluchzte laut. Ergreifende Umstände! die dem klassisch gebildeten Leser jenen vorzüglichen Passus in Bezug auf die Tauglichkeit der Dinge ins Gedächtnis rufen muss, der am Anfang des dritten Bandes jenes bewundernswerten und ehrwürdigen chinesischen Romans Jo-Go-Slow47 zu finden ist.

 

Auf meinem einsamen Spaziergang durch die Stadt hatte ich zwei schlichte, jedoch getreue Gefährten. Diana, mein Pudel! süßestes aller Geschöpfe! Sie hatte ein dickes Haarbüschel über ihrem einen Auge und ein blaues Band elegant um den Hals geschlungen. Diana war nicht mehr als fünf Zoll hoch, doch ihr Kopf war ein wenig größer als ihr Körper, und ihr außerordentlich knapp abgeschnittener Schwanz verlieh dem interessanten Tier einen Hauch verletzter Unschuld, was sie bei jedermann beliebt machte.

Und Pompey, mein Neger48! – süßer Pompey! wie sollte ich dich jemals vergessen? Ich hatte mich bei Pompey eingehakt. Er war drei Fuß groß (ich bin gern eigen) und etwa siebzig oder vielleicht achtzig Jahre alt. Er hatte O-Beine und war sehr stämmig. Sein Mund sollte nicht klein genannt werden, noch seine Ohren kurz. Seine Zähne jedoch waren gleich Perlen, und seine großen, vollen Augen waren blendend weiß. Die Natur hatte ihn mit keinem Hals bedacht und hatte seine Knöchel (wie üblich bei dieser Rasse) in die Mitte des oberen Teils der Füße platziert. Er war mit rührender Einfachheit gekleidet. Seine einzigen Kleidungsstücke waren eine Halsbinde von neun Zoll Höhe und ein fast neuer, graubrauner, wollener Überrock, der ehemals in den Diensten des großen, stattlichen und berühmten Dr. Moneypenny gestanden hatte. Es war ein guter Überrock. Er war gut geschnitten. Er war gut gemacht. Der Überrock war fast neu. Pompey hielt ihn mit beiden Händen hoch, um ihn vom Schmutz fernzuhalten.

Da waren drei Personen mit von der Partie, und ihrer zwei sind schon Thema der Beschreibung gewesen. Da war eine dritte – diese Person war ich selbst. Ich bin die Signora Psyche Zenobia. Ich bin nicht Suky Snobbs.49 Meine Erscheinung ist Achtung gebietend. Bei der denkwürdigen Gelegenheit, von der ich spreche, trug ich ein karmesinrotes Satinkleid mit einer himmelblauen arabischen Mantille. Und das Kleid war mit grünen Agraffen besetzt und hatte sieben anmutige Volants orangefarbener Aurikeln. So war ich denn die Dritte im Bunde. Da war der Pudel. Da war Pompey. Da war ich selbst. Wir waren drei. Also heißt es, dass es ursprünglich nur drei Furien gab – Melty, Nimmy und Hetty – das Sinnen, die Erinnerung und das Geigenspiel.

Auf den Arm des galanten Pompey gestützt und in gebührendem Abstand von Diana gefolgt, schritt ich weiter eine der dichtbevölkerten Straßen des nun verlassenen Edina entlang. Auf einmal bot sich unserem Blick eine Kirche – eine gotische Kathedrale – gewaltig, würdevoll und mit einem hohen Turm, der in den Himmel aufragte. Von welchem Wahnsinn war ich nun besessen? Warum eilte ich meinem Verhängnis entgegen? Ich war von dem unkontrollierbaren Verlangen ergriffen, die schwindelnde Höhe zu erklimmen und von dort die unermessliche Weite der Stadt zu überblicken. Das Portal der Kathedrale stand einladend offen. Die Vorsehung siegte. Ich betrat den verhängnisvollen Bogengang. Wo blieb mein Schutzengel? – falls es solche Engel wirklich gibt. Falls! Quälender Einsilber! Welch eine Welt der Rätsel und Bedeutung und Zweifel und Ungewissheit ist in deinen fünf Buchstaben enthalten! Ich betrat den verhängnisvollen Bogengang! Ich trat ein, und ohne meine orangefarbenen Aurikeln zu verletzen, durchschritt ich das Portal und fand mich in der Vorhalle wieder. Also heißt es, floss der mächtige Fluss Alfred unversehrt und unbenetzt unter dem Meer hindurch.

Ich dachte, das Treppenhaus nähme nie ein Ende. Rund! Ja, sie gingen rund herum und hinauf, und herum und hinauf und herum und hinauf, bis ich mir nicht helfen konnte zu argwöhnen, mit dem scharfsinnigen Pompey, auf dessen stützenden Arm ich mich mit allem Vertrauen jugendlicher Zuneigung lehnte – ich konnte mir nicht helfen zu argwöhnen, dass das obere Ende der sich spiralförmig windenden Leiter versehentlich, oder vielleicht absichtlich, entfernt worden war. Ich hielt inne, um Atem zu schöpfen; und währenddessen ereignete sich etwas von zu gewichtiger Natur – aus moralischer und auch metaphysischer Sicht –, um ohne Bemerkung übergangen werden zu können. Es schien mir – fürwahr, ich war mir des Tatbestandes ziemlich sicher – ich konnte mich nicht täuschen – nein! ich hatte die Bewegungen meiner Diana einige Augenblicke lang aufmerksam und besorgt beobachtet – ich sage, dass ich mich nicht täuschen konnte – Diana witterte eine Ratte! Unverzüglich lenkte ich Pompeys Aufmerksamkeit auf das Thema, und er – er stimmte mir zu. Vernunftmäßig blieb nun kein Raum für Zweifel. Die Ratte war gewittert worden – von Diana. Himmel! Werde ich jemals die heftige Erregung dieses Augenblicks vergessen? Die Ratte! – sie war da – das heißt, sie war irgendwo da. Diana witterte die Ratte. Ich – ich konnte nicht! Also heißt es, dass die preußische Isis für manch einen süß und sehr stark duftet, während sie für andere völlig geruchlos ist.

Das Treppenhaus war überwunden, und es lagen nur noch drei oder vier weitere Aufwärtsstufen zwischen uns und der Spitze. Wir stiegen weiter, und nun blieb nur noch eine Stufe. Eine Stufe! Eine kleine, kleine Stufe! Von einer solch kleinen Stufe in dem gewaltigen Treppenhaus menschlichen Lebens, welch unermessliche Summe menschlichen Glücks oder Unglücks hängt davon ab! Ich dachte an mich selbst, dann an Pompey und dann an das geheimnisvolle und unerklärliche Geschick, das uns umgab. Ich dachte an Pompey! – ach, ich dachte an Liebe! Ich dachte an die vielen falschen Stufen, die ich betreten hatte und wieder betreten könnte. Ich beschloss vorsichtiger zu sein, zurückhaltender. Ich trennte mich von Pompeys Arm, überwand ohne seine Hilfe die eine übrig gebliebene Stufe und erreichte die Glockenstube. Unmittelbar danach folgte mir mein Pudel. Pompey allein blieb zurück. Ich stand am Kopf des Treppenhauses und ermutigte ihn hinaufzusteigen. Er streckte mir seine Hand entgegen und wurde dadurch unglücklicherweise genötigt, den festen Halt seines Überrocks aufzugeben. Werden die Götter ihre Verfolgung nie einstellen? Der Überrock fällt, und mit einem seiner Füße trat Pompey auf den langen und nachschleppenden Schoße des Überrocks. Er stolperte und fiel. Diese Folge war unvermeidlich. Er fiel vorwärts und schlug mir mit seinem verfluchten Kopf voll an die – an die Brust, stürzte mich mitsamt ihm selbst auf den harten, schmutzigen und abscheulichen Boden der Turmstube. Aber meine Vergeltung kam sicher, jäh und restlos. Ihn wütend mit beiden Händen bei der Wolle packend, riss ich eine große Menge schwarzen, gekräuselten und lockigen Zeugs aus und warf es von mir, mit allen Zeichen der Verachtung. Es fiel zwischen die Seile des Glockenstuhls und blieb dort. Pompey erhob sich und sagte kein Wort. Aber er betrachtete mich mitleidig mit seinen großen Augen und – seufzte. Bei Gott – dieser Seufzer! Er sank in mein Herz. Und das Haar – die Wolle! Hätte ich diese Wolle erreichen können, ich hätte sie in meinen Tränen gebadet als Zeugnis des Bedauerns. Aber ach! sie war nun weit außerhalb meiner Reichweite. Wie sie so zwischen dem Tauwerk der Glocke flatterte, wähnte ich sie lebendig. Ich wähnte sie auf dem Kopf stehend vor Missfallen. Also heißt es, trägt die happydandy Flos Aeris von Java50 eine wunderschöne Blüte, die weiterlebt, wenn sie mit den Wurzeln aus der Erde gezogen wird. Die Einheimischen hängen sie an einer Schnur von der Decke und genießen ihren Duft jahrelang.

Unser Streit war nun beigelegt, und wir sahen uns in dem Raum nach einer Öffnung um, durch welche man die Stadt Edina überblicken konnte. Fenster gab es keine. Das einzige Licht, das Einlass fand in die düstere Kammer, kam aus einer quadratischen Öffnung von ungefähr einem Fuß Durchmesser, etwa sieben Fuß hoch über dem Boden. Was jedoch kann die Kraft eines wahren Genies nicht zustande bringen? Ich beschloss, zu diesem Loch hinaufzuklettern. Eine große Menge von Zahnrädern, Zahnstangen und anderen kabbalistisch anmutenden Geräts stand gegenüber dem Loch, nahe daran. Zwischen den Rädern und der Wand, in der sich das Loch befand, war kaum genug Platz für meinen Körper – ich brannte jedoch darauf hochzusteigen und war entschlossen, nicht locker zu lassen. Ich rief Pompey an meine Seite.

»Siehst du diese Öffnung, Pompey? Ich wünsche hindurchzuschauen. Du wirst hier stehen, gerade unter dem Loch – so. Jetzt strecke eine deiner Hände aus und lass mich daraufsteigen – so. Jetzt die andere Hand, Pompey, und mit ihrer Hilfestellung werde ich auf deine Schultern gelangen.«

Er tat alles, was ich wünschte, und oben angelangt, fand ich heraus, dass ich Kopf und Hals mit Leichtigkeit durch die Öffnung stecken konnte. Der Ausblick war herrlich. Nichts könnte großartiger sein. Ich hielt lediglich einen Augenblick im Schauen inne, um Diana zu bitten, sich zu benehmen, und Pompey zu versichern, dass ich behutsam sein und mich auf seinen Schultern so leicht wie möglich machen wolle. Ich sagte ihm, ich wolle zarte Rücksicht auf seine Gefühle nehmen, ossi zart que beefsteak. Nachdem ich meinem treuen Freund diese Gerechtigkeit hatte widerfahren lassen, gab ich mich selbst mit großem Vergnügen und Entzücken dem Genuss der Aussicht hin, die sich so einnehmend vor meinen Augen ausbreitete.

Ich werde mich jedoch einer detaillierten Schilderung enthalten. Ich werde die Stadt Edinburgh nicht beschreiben. Jeder ist einmal in der Stadt Edinburgh gewesen – in dem klassischen Edina. Ich werde mich auf die bedeutungsvollen Einzelheiten meines eigenen beklagenswerten Abenteuers beschränken. Nachdem ich meine Neugierde in Bezug auf die Erstreckung, Situierung und allgemeine Erscheinung der Stadt einigermaßen befriedigt hatte, hatte ich Muße, die Kirche, in welcher ich war, und die zierliche Bauart des Turmes zu betrachten. Ich bemerkte, dass die Öffnung, durch die ich meinen Kopf gestreckt hatte, ein Loch im Zifferblatt einer gigantischen Uhr war und von der Straße wie ein großes Schlüsselloch ausgesehen haben muss, wie wir es von den Zifferblättern französischer Taschenuhren kennen. Zweifellos bestand der wahre Zweck darin, es dem Arm eines Bediensteten zu gestatten, die Zeiger der Uhr, wenn nötig, von innen nachzustellen, ich bemerkte auch mit Erstaunen die ungeheure Größe dieser Zeiger, deren längster nicht weniger als zehn Fuß in der Länge gemessen haben kann und, wo am breitesten, acht oder neun Zoll in der Breite. Sie waren anscheinend von massivem Stahl, und ihre Kanten sahen scharf aus. Nachdem ich diese und einige andere Eigenschaften wahrgenommen hatte, wandte ich meine Augen wieder dem prachtvollen Ausblick darunter zu und versank bald in Betrachtung.

Daraus wurde ich nach einigen Minuten von der Stimme Pompeys aufgerüttelt, der behauptete, er könne es nicht länger aushalten, und mich darum ersuchte, freundlicherweise herunterzukommen. Das war unsinnig, und ich legte ihm dies in einer Rede von etlicher Länge dar. Er antwortete, aber mit offensichtlichem Missverständnis meiner Gedanken zu diesem Thema. Demzufolge ärgerte ich mich und versicherte ihm geradeheraus, dass er ein Narr sei, dass er sich als ignoramus e-clench-eye51 bloßgestellt habe, dass seine Vorstellungen nichts als insommary Bovis52 seien und seine Worte wenig besser als an ennemywerrybor’em53. Dies schien ihm zu genügen, und ich nahm meine Betrachtungen wieder auf.

 

Es mag etwa eine halbe Stunde nach diesem Wortwechsel gewesen sein, als mich, tief versunken in das himmlische Schauspiel unter mir, etwas sehr Kaltes, das mit sanftem Druck auf meinen Nacken drückte, überraschte. Es ist wohl überflüssig zu bemerken, dass ich einen unbeschreiblichen Schrecken bekam. Ich wusste, dass Pompey unter meinen Füßen war und dass Diana gemäß meinen ausdrücklichen Anweisungen auf ihren Hinterbeinen in der entferntesten Ecke des Raumes saß. Was konnte es sein? O weh! ich entdeckte es nur zu bald. Meinen Kopf behutsam nach einer Seite drehend, fand ich zu meinem äußersten Schrecken, dass sich der große, schimmernde, krummsäbelartige Minutenzeiger der Uhr im Laufe seiner stündlichen Umdrehung auf meinen Hals gesenkt hatte. Da war, das wusste ich, keine Sekunde zu verlieren. Ich schnellte sofort zurück, aber es war zu spät. Es bestand keinerlei Aussicht, meinen Kopf durch den Schlund dieser grässlichen Falle zu zwingen, in welcher ich so gänzlich gefangen war und die enger und enger wurde mit einer zu schrecklichen Geschwindigkeit, um sich einen Begriff davon zu machen. Die Pein dieses Augenblicks ist unvorstellbar. Ich warf meine Hände hoch und bemühte mich mit all meiner Kraft, das gewaltige Eisen nach oben zu drücken. Ich hätte ebenso gut versuchen können, die Kathedrale selbst zu heben. Tiefer, tiefer, tiefer kam es, näher und noch näher. Ich schrie zu Pompey um Hilfe; aber er sagte, ich hätte seine Gefühle verletzt, als ich ihn »ein ignorantes altes Schielauge« genannt hatte. Ich brüllte nach Diana, aber sie sagte nur »wau-wau-wau«, und dass ich ihr befohlen hätte, »sich unter keinen Umständen aus der Ecke zu rühren«. Also hatte ich von meinen Genossen keine Erleichterung zu erwarten.

Inzwischen hatte die gewaltige und abscheuliche Sense der Zeit (denn nun hatte ich das buchstäbliche Gewicht dieses klassischen Ausdrucks erfahren) ihren Lauf weder unterbrochen, noch war es wahrscheinlich, dass sie es tun würde. Tiefer und immer noch tiefer kam sie. Sie hatte ihre scharfe Kante schon einen ganzen Zoll tief in mein Fleisch gegraben, und meine Empfindungen wurden undeutlich und verworren. Einmal wähnte ich mich selbst in Philadelphia mit dem stattlichen Dr. Moneypenny, ein andermal in dem rückwärtigen Salon des Herrn Blackwood, wo ich seine unschätzbaren Anweisungen erhielt. Und dann wiederum überkam mich die süße Erinnerung an bessere und frühere Zeiten, da die Welt nicht nur Wüste und Pompey nicht ganz und gar grausam gewesen war.

Das Ticken des Uhrwerks amüsierte mich. Amüsierte mich, sage ich, denn meine Empfindungen grenzten nun an vollkommene Glückseligkeit, und die nichtigsten Umstände spendeten mir Vergnügen. Das ewige Tick-tack, Tick-tack, Tick-tack der Uhr war die wohlklingendste Musik in meinen Ohren und erinnerte mich gelegentlich sogar an die reizenden, gesalbten Ansprachen Dr. Ollapods.54 Dann waren da die großen Zahlen auf dem Zifferblatt – wie intelligent, wie intellektuell sie alle aussahen! Und jetzt schickten sie sich an, die Mazurka zu tanzen, und ich glaube, es war die Ziffer V, deren Aufführung am meisten zu meiner Zufriedenheit ausfiel. Sie war offenbar eine gebildete Dame. Keine Prahlliese, und überhaupt nichts Unfeines in ihren Bewegungen. Um ihren Scheitelpunkt wirbelnd, vollführte sie die Pirouette bewundernswert. Ich unternahm einen Versuch, ihr einen Stuhl zu reichen; denn ich sah, dass sie ermüdet schien von der Anstrengung, und erst da wurde ich mir meiner beklagenswerten Lage gänzlich bewusst. In der Tat beklagenswert! Der Zeiger hatte sich zwei Zoll tief in meinen Hals gegraben. Ein Gefühl heftigsten Schmerzes überkam mich. Ich betete, sterben zu dürfen, und in der Qual des Augenblicks konnte ich nicht umhin, jene erlesenen Verse des Dichters Miguel de Cervantes zu wiederholen:

Vanny Buren, tan escondida

Query no te senty venny

Pork and pleasure, delly morry

Nommy, torny, darry, widdy!

Aber nun bot sich ein neues Grauen, und eines, das fürwahr ausreicht, die stärksten Nerven erbeben zu lassen. Unter dem grausamen Druck des Uhrwerks traten meine Augen gänzlich aus ihren Höhlen. Während ich noch überlegte, wie ich nur irgend ohne sie auskommen sollte, purzelte eines tatsächlich aus meinem Kopf, rollte die steile Seite des Spitzturmes hinunter und blieb in der Regenrinne liegen, die entlang der Dachtraufe des Hauptschiffes verlief. Der Verlust des Auges war nicht so schlimm wie der unverschämte Ausdruck von Unabhängigkeit und Verachtung, mit dem es mich, nachdem es heraus war, ansah. Da lag es in der Rinne, gerade unter meiner Nase, und die Mienen, die es annahm, hätte man lächerlich nennen können, wären sie nicht ekelhaft gewesen. So ein Blinken und Blinzeln hatte es nie zuvor gegeben. Dieses Betragen seitens meines Auges in der Rinne war nicht nur wegen seiner offensichtlichen Unverschämtheit und schändlichen Undankbarkeit störend, sondern war auch ausgenommen lästig wegen der Sympathie, die immer zwischen zwei Augen des gleichen Kopfes besteht, egal, wie weit voneinander entfernt sie sind. Ich wurde gewissermaßen gezwungen zu blinken und zu blinzeln, ob ich wollte oder nicht, in genauem Einklang mit dem schurkischen Ding, das gerade unter meiner Nase lag. Es wurde mir jedoch durch das Herausfallen des anderen Auges bald Erleichterung verschafft. Im Fallen schlug es dieselbe Richtung ein (möglicherweise ein abgekartetes Spiel) wie sein Kollege. Beide rollten zusammen aus der Rinne, und, ehrlich gesagt, war ich sehr froh, sie loszuwerden.

Der Zeiger war jetzt viereinhalb Zoll tief in meinem Hals, und es blieb nur noch ein kleines bisschen Haut zu durchtrennen. Meine Empfindungen waren jene vollkommener Glückseligkeit; denn ich fühlte, dass ich spätestens in ein paar Minuten aus meiner unerquicklichen Lage erlöst werden sollte. Und in dieser Erwartung wurde ich ganz und gar nicht enttäuscht. Um genau fünfundzwanzig Minuten nach fünf am Nachmittag war der riesige Minutenzeiger genügend weit in seiner schrecklichen Umdrehung fortgeschritten, um das kleine Überbleibsel meines Halses zu zerteilen. Es tat mir nicht leid, den Kopf, der mich in solch eine Klemme gebracht hatte, sich schließlich endgültig von meinem Körper trennen zu sehen. Erst kugelte er an der Seite des Spitzturmes hinunter, blieb dann ein paar Sekunden in der Rinne liegen, um schließlich mit einem Sturz seinen Weg zur Mitte der Straße einzuschlagen.

Ich will offen zugeben, dass meine Gefühle nun von einzigartiger – nein, von rätselhaftester, erstaunlichster und unverständlichster Art waren. Meine Sinne waren hier und dort in ein und demselben Augenblick. Einmal stellte ich mir mit meinem Kopf vor, dass ich, der Kopf, die echte Signora Psyche Zenobia war, ein andermal war ich überzeugt davon, dass ich selbst, der Körper, die wahre Identität besaß. Um meine Gedanken zu diesem Thema zu klären, tastete ich in meiner Tasche nach meiner Schnupftabakdose, wurde mir aber, als ich sie ergriffen hatte und bestrebt war, mir eine Prise ihres wohltuenden Inhalts in gewöhnlicher Weise zuzuführen, sofort meines eigenartigen Gebrechens bewusst und warf die Dose sogleich hinunter zu meinem Kopf. Mit großer Genugtuung nahm er eine Prise und schenkte mir als Entgegnung ein anerkennendes Lächeln. Kurz darauf hielt er mir eine Rede, die ich ohne Ohren nur undeutlich vernehmen konnte. Ich schnappte jedoch genug auf, um zu wissen, dass mein Wunsch, unter solchen Umständen am Leben zu bleiben, ihn erstaunte. In den abschließenden Sätzen zitierte er das berühmte Wort des Ariost