Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen

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Il pover hommy che non sera corty

And have a combat tenty erry morty

und verglich mich auf diese Weise mit dem Helden, der, da er in der Hitze des Gefechts nicht bemerkte, dass er tot war, fortfuhr, die Schlacht mit unauslöschlicher Tapferkeit zu schlagen. Es gab nun nichts, was mich daran gehindert hätte, von meiner Erhöhung herabzusteigen, und so tat ich es. Was genau Pompey so besonders seltsam an meiner Erscheinung fand, war ich bislang nie in der Lage herauszufinden. Der Kerl öffnete seinen Mund von einem Ohr zum andern und schloss beide Augen so fest, als wollte er versuchen, Nüsse zwischen den Lidern zu knacken. Schließlich warf er seinen Überrock von sich, machte einen Satz nach dem Treppenhaus und verschwand. Ich schleuderte dem Schurken diese heftigen Worte des Demosthenes nach:

Andrew O’Phlegethon, du beeilst dich wahrlich zu fliehen!

und wandte mich dann dem Liebling meines Herzens zu, der einäugigen, der zottelhaarigen Diana. Ach, welch entsetzlicher Anblick bot sich meinen Augen! War das eine Ratte, die ich in ihrem Loch sich verstecken sah? Sind dies die abgenagten Knochen des kleinen Engels, der von dem Ungeheuer grausam verschlungen worden ist? Ihr Götter! Und was muss ich da gewahren – ist das die dahingeschiedene Seele, der Schatten, der Geist meines geliebten Hündchens, die ich mit solch schwermütigem Liebreiz in der Ecke sitzen sehe? Horch! denn sie spricht, und, beim Himmel, es ist in dem Deutsch Schillers:

Unt stubby duk, so stubby dun

Duk she! duk she!

Ach! und sind nicht ihre Worte nur zu wahr?

Und sterb’ ich doch, so sterb’ ich denn

Durch sie – durch sie!

Süßes Geschöpf! Auch sie hat sich für mich geopfert. Hundlos, negerlos, kopflos, was bleibt der unglücklichen Signora Psyche Zenobia nun? Ach – nichts! Ich bin am Ende.

1838 Übersetzung von Erika Engelmann

Der Untergang des Hauses Usher

Son cœur est un luth suspendu;

Sitôt qu’on le touche il résonne.

Sein Herz ist eine schwebende Laute;

Berühre sie, und sie ertönt.

DE BÉRANGER55

Einen ganzen trüben, dunklen und stillen Herbsttag lang, als die Wolken drückend tief am Himmel hingen, war ich ganz für mich durch einen seltsam öden Landstrich geritten und befand mich in Sicht des düsteren Stammsitzes der Usher, als die Abendschatten länger wurden. Ich weiß nicht, wie es kam – aber beim ersten Blick auf das Gebäude überkam ein Gefühl unerträglicher Schwermut meinen Sinn. Ich sage unerträglich, denn dieses Gefühl wurde nicht durch den mindesten angenehmen, weil dann poetischen Schimmer gemildert, mit dem das Gemüt noch die unfreundlichsten Natureindrücke der Verlassenheit oder des Schauerlichen in sich aufzunehmen pflegt. Ich betrachtete die Szene vor mir – das Haus selbst mit dem anspruchslosen landschaftlichen Hintergrund einer Domäne – die kahlen Mauern – die leeren Fenster, die hohlen Augen glichen – ein paar dichte Schilfgruppen – einige wenige weißliche, abgestorbene Baumstämme – mit tiefster seelischer Bedrücktheit, die ich mit keiner anderen besser vergleichen kann, die es auf Erden gibt, als mit der des Nach-Traums eines Opiumsüchtigen – mit dem bitteren Sprung zurück ins Leben des Alltags – dem furchtbaren Zerreißen des Vorhangs. Eiseskälte, Widerwille, Beklommenheit krochen in mein Herz, meinen Sinn verdunkelte eine durch nichts abzuschwächende Düsterkeit, die kein Ansporn der Phantasie zu etwas Erhebenderem emporquälen konnte. Was war es – ich hielt an, um nachzudenken –, das mich beim Betrachten des Hauses Usher so entnervte? Es war ein ganz und gar unlösbares Rätsel; auch konnte ich nicht mit den schattenhaften Vorstellungen fertig werden, die auf mich eindrangen, während ich grübelte. Ich war gezwungen, einen unbefriedigenden Schluss zu ziehen: während es zweifellos ein Zusammentreffen von an sich ganz gewöhnlichen Naturdingen gibt, denen die Macht innewohnt, uns auf diese Weise zu beeindrucken, dringt unsere Analyse dieser Macht nicht so tief, dass wir darüber begründete Betrachtungen anstellen könnten. Es wäre durchaus möglich, sagte ich mir, dass ein verschiedenartiger Aufbau der Besonderheiten des Bildes, der Einzelheiten der Szenerie genügt hätten, den traurigen Eindruck einzuschränken oder ihn vielleicht sogar aufzuheben. Ich handelte nach dieser Idee, lenkte das Pferd an den Steilrand eines schwärzlichen, unheimlichen Teichs, der sich mit ungetrübter Oberfläche vor dem Haus breitete, und schaute – aber nur mit noch lebhafterem Schauder – auf die darin wiedergegebenen umgekehrten Bilder des grauen Schilfs, der geisterhaften Stämme und der leeren Höhlen der Fenster.

Trotzdem fasste ich den Vorsatz, in diesem Haus der Düsterkeit für einige Wochen Aufenthalt zu nehmen. Sein Besitzer, Roderick Usher, war in meiner Knabenzeit einer meiner munteren Spielkameraden gewesen, aber seit unserem letzten Zusammentreffen waren viele Jahre vergangen. In einem entfernten Landesteil hatte mich vor kurzem ein Brief erreicht – ein ungestüm dringlicher Brief von ihm, der keine andere Antwort als persönliches Erscheinen zuließ. Die Handschrift zeugte von nervöser Aufgeregtheit. Der Schreiber sprach von akuter körperlicher Krankheit – von geistigen Störungen, die ihn bedrückten – und von dem ernstlichen Verlangen, mich, seinen besten und wirklich einzigen Freund, wiederzusehen; es sei seine Absicht, mit Hilfe meines freundlichen Wesens einen Versuch zu unternehmen, eine gewisse Erleichterung seines krankhaften Zustandes zu erreichen. Es war die besondere Art, in der er dies und manches andere sagte, ein offenbares Herzensbedürfnis, das in seiner Bitte schwang – was mir gar keine Gelegenheit gab, noch zu zögern; so entsprach ich unverzüglich seiner Aufforderung, auch wenn ich sie trotz allem für etwas seltsam hielt.

Obwohl wir als Knaben eng verbunden gewesen waren, wusste ich doch eigentlich wenig von meinem Freund. Seine Zurückhaltung war immer etwas übertrieben gewesen und entsprach seiner Veranlagung. Ich wusste aber, dass seine sehr alte Familie von jeher für besondere Feinfühligkeit im Wesen bekannt war, die sich im Lauf der Zeiten in vielen Werken hoher Kunst manifestiert und sich neuestens auch in wiederholten großzügigen und doch unaufdringlichen Akten von Wohltätigkeit gezeigt hatte. Auch hatten sich die Usher leidenschaftlich der Musik gewidmet, wobei ihnen vielleicht knifflige theoretische Dinge wichtiger waren als die allgemein anerkannten und leicht zu erfassenden Schönheiten dieser Kunst. Ich hatte auch von der bemerkenswerten Tatsache erfahren, dass der zu allen Zeiten hochgeschätzte Stamm der Usher nie eine lebensfähige Seitenlinie hervorgebracht habe; mit anderen Worten, alle Mitglieder der Familie stammten mit wenigen und nur kurz dauernden Ausnahmen direkt voneinander ab. Dieser Mangel an Nebenlinien, überlegte ich, während ich die unberührte Erhaltung des Landsitzes neben die der Familie allgemein zugeschriebene Eigenart stellte und über den möglichen Einfluss nachdachte, den ersteres im Lauf der Jahrhunderte auf den Familiencharakter ausgeübt hatte – dieser Mangel und der daraus folgende unentwegte Übergang des Erbes zusammen mit dem Namen vom Vater auf den Sohn hatten wahrscheinlich dazu geführt, dass beides, die ursprüngliche Bezeichnung für das Anwesen und der eigentliche Familienname, im Bewusstsein der Leute in den altmodischen Begriff von zweierlei Bedeutung, ›Haus Usher‹ verschmolzen war, den sie für die Familie und das Herrenhaus verwendeten.

Ich habe bereits gesagt, dass das ganze Ergebnis meines etwas kindischen Experiments – einen Blick in den Teich zu tun – darin bestand, den ersten seltsamen Gesamteindruck zu vertiefen. Das Bewusstwerden der Zunahme meines Aberglaubens – warum sollte ich es nicht so bezeichnen? – diente zweifellos dazu, ihn noch schneller anwachsen zu lassen. Dies ist, wie ich seit langem weiß, das paradoxe Gesetz aller Gefühle, denen Furcht zugrunde liegt. Wohl deswegen entstand in mir, als ich vom Bild des Hauses im Wasser den Blick wieder zu ihm hob, eine merkwürdige Vorstellung – eine Vorstellung, die so lächerlich ist, dass ich sie nur erwähne, um die Macht der Eindrücke darzutun, die mich beschwerten. Ich hatte meiner Phantasie so viel freien Lauf gelassen, dass ich tatsächlich glaubte, um das ganze Haus und den Besitz überhaupt hänge eine auch der unmittelbaren Umgebung eigene, ganz besondere Atmosphäre – eine Atmosphäre, die mit der natürlichen nichts zu tun hatte, sondern aus den morschen Bäumen, den grauen Mauern und dem stillen Teich aufstieg – ein giftiger, geheimnisvoller Dunst, trüb, träg, bleifarben und eigentlich nur zu ahnen.

Ich schüttelte diese Vorstellung ab, die nur traumhaft sein konnte, und betrachtete das wahre Aussehen des Hauses genauer. Das Hauptmerkmal schien mir sein außerordentlich hohes Alter zu sein, denn die Zeiten hatten es gründlich verfärbt. Kleinpilze bedeckten die ganze Front und hingen in feinen, spinnwebartigen Strängen von den Dachrinnen. Dies alles war aber weit entfernt von irgendwelchem besonderen Verfall. An keiner Stelle war das Mauerwerk zusammengebrochen, und zwischen seinem soliden Zusammenhang und der krümeligen Beschaffenheit der einzelnen Steine bestand ein aufregender Widerspruch. Dies erinnerte mich an altes Holzwerk, das in irgendeinem vergessenen Gewölbe in langen Jahren modert und in breiten Flächen erhalten bleibt, weil kein Hauch frischer Luft es anrührt. Außer diesen Hinweisen auf ausgedehnte Verwitterung gab das Mauergefüge aber wenig Anzeichen von mangelnder Stabilität. Vielleicht hätte das Auge eines kritischen Beobachters einen kaum wahrnehmbaren Riss entdeckt, der vom Dach über die Vorderfront seinen Weg die ganze Mauer hinunter in einer Zickzacklinie machte, bis er sich in dem dunklen Wasser des Teichs verlor.

 

Nachdem ich diese Dinge beobachtet hatte, ritt ich über einen kurzen Weg vors Haus. Ein bereitstehender Stallknecht nahm mir das Pferd ab, ich betrat durch den gotischen Türbogen die Halle. Ein leise auftretender Diener führte mich von da schweigend durch eine Menge dunkler, verwinkelter Gänge zum Arbeitszimmer seines Herrn. Manches, was ich auf diesem Weg traf, trug dazu bei – wieso, weiß ich nicht –, die unbestimmten Gefühle zu verstärken, von denen ich bereits gesprochen habe. Die Dinge ringsumher, Deckenschnitzereien, dunkle Wandgobelins, ebenholzschwarze Fußböden und phantastische Rüstungstrophäen, die rasselten, als ich vorbeiging, waren mir seit meiner Kindheit so ähnlich bekannt; ich zögerte noch, mir zuzugeben, wie vertraut mir Derartiges war, weil ich mich wunderte, wie eigenartig die Vorstellungen waren, die ganz gewöhnliche Gegenstände in mir aufsteigen ließen. Auf einer der Treppen lernte ich den Hausarzt der Familie kennen. Sein Gesicht, fand ich, trage einen aus Schlauheit und Verlegenheit gemischten Ausdruck. Er sprach mich mit einer gewissen nervösen Unruhe an und ging weiter. Der Diener öffnete eine Tür und meldete mich seinem Herrn.

Das Zimmer, in dem ich mich befand, war sehr groß und hoch. Schmale Spitzbogen stellten die Fenster dar und lagen so weit über dem dunklen Eichenholzfußboden, dass man vom Zimmer aus nicht hinaufreichen konnte. Schwache Strahlen rötlichen Lichts fanden den Weg durch die vergitterten Scheiben und erhellten wenigstens die größeren Gegenstände im Raum hinreichend deutlich, aber das Auge bemühte sich vergeblich, in die entfernteren Winkel des Zimmers oder in die Vertiefungen der gewölbten, geschnitzten Decke vorzudringen. Dunkle Draperien hingen an den Wänden. Die Einrichtung war verschwenderisch und ungemütlich, antik und abgenützt. Viele Bücher und Musikinstrumente lagen im Zimmer verstreut, belebten das Bild aber nicht. Ich spürte, dass ich eine von Kummer geschwängerte Luft einatmete. Etwas wie ernste, tiefe und hoffnungslose Düsterheit hing über allem, durchdrang alles.

Bei meinem Eintreten erhob sich Usher von einem Sofa, auf dem er ausgestreckt gelegen hatte, und begrüßte mich mit lebhafter Wärme, die, wie ich zuerst dachte, viel von der übertriebenen Herzlichkeit – der gezwungenen Bemühung des blasierten Mannes von Welt – an sich habe. Ein Blick in sein Gesicht überzeugte mich aber von seiner vollkommenen Aufrichtigkeit. Wir setzten uns, und als er einige Augenblicke nichts sagte, betrachtete ich ihn mir einem Gefühl, bei dem sich Mitleid und Scheu die Waage hielten. In so verhältnismäßig kurzer Zeit hat sich noch kein Mensch so furchtbar verändert wie Roderick Usher! Nur mit Mühe kam ich so weit, das glanzlose Wesen vor mir mit dem Kameraden der frühen Knabenzeit in Übereinstimmung zu bringen. Allerdings hatte die Art seines Gesichts von jeher etwas Bemerkenswertes gehabt: die Leichenblässe der Haut, große, feuchte, unvergleichlich leuchtende Augen, etwas schmale und blutleere, aber ungemein schön geschwungene Lippen, eine nach jüdischer Form dezent gebogene Nase, jedoch mit bei Juden selten vorkommenden breiten Nüstern, das feingebildete Kinn, das keinen Vorsprung hatte und von Mangel an Charakterfestigkeit sprach, das spinnwebartig weiche, feine Haar. Diese Einzelheiten ergaben zusammen mit der ungewöhnlich breiten Stirnfläche bis zu den Schläfen ein Gesicht, das man nicht leicht vergaß. Nun war durch die bloße stärkere Ausprägung des vorherrschenden Charakters dieser Züge und in dem Ausdruck, den sie sonst vermittelt hatten, eine so große Veränderung vor sich gegangen, dass ich zweifelte, mit wem ich sprach. Die nun geisterhafte Blässe der Haut und vor allem der wundersame Glanz der Augen überraschten und erschreckten mich sogar. Das seidenweiche Haar hatte er ungehindert wachsen lassen, und da es wie ein natürliches, gazeartiges Gespinst das Gesicht eher umflutete als umgab, konnte ich das arabeskenhafte Gebilde nur mit Mühe mit der Vorstellung des schlicht Menschlichen in Einklang bringen.

An der Art, wie mein Freund sich gab, fiel mir sofort etwas Widersprüchliches – Zerfahrenes – auf; ich fand bald heraus, dass es sich aus dem ständigen schwachen und vergeblichen Bemühen herleitete, ein immerwährendes Zucken – eine außergewöhnliche nervöse Erregung – zu unterdrücken. Auf etwas dieser Art war ich gefasst gewesen, nicht weniger durch seinen Brief als in Erinnerung an gewisse knabenhafte Eigenheiten und durch Schlüsse, die ich von seiner besonderen körperlichen Bildung und seinem Temperament ableitete. Sein Gehabe war abwechselnd lebhaft und trotzig. Seine Stimme wechselte rasch von zittriger Unentschlossenheit (wenn die Lebensgeister in unsicherer Schwebe waren) zu jener Art energischer Knappheit – jener abrupten, gewichtigen und hohlklingenden Sprechweise – zu jenen bleiernen, ausbalancierten und sorgfältig modulierten gutturalen Äußerungen, die man bei dem unheilbaren Trinker oder dem süchtigen Opiumraucher in der Zeit der intensivsten Erregung beobachten kann.

Solcherart sprach er über den Zweck meines Besuchs, von seinem dringenden Wunsch, mich wiederzusehen, und von dem Trost, den er sich von mir erhoffe. Mit einer gewissen Ausführlichkeit ging er darauf ein, was seine Vorstellung von der Natur seiner Krankheit sei. Er leide, sagte er, an einem konstitutionellen und der Familie eigenen Übel und verzweifle längst, ein Heilmittel dagegen zu finden – es sei, fügte er sofort hinzu, ein rein nervöser Reizzustand, der zweifellos bald vorübergehen werde und sich in einer Unzahl unnatürlicher Empfindungen äußere. Er schilderte mir einige näher, die mich sehr interessierten und bestürzten, wenn auch vielleicht die Benennung dafür und die ganze Art seiner Erzählung viel zu dieser Wirkung beitrugen. Er litt heftig unter einer krankhaften Überschärfe der Sinne; nur die fadeste Nahrung war ihm verträglich; er konnte nur Kleidung aus bestimmten Stoffen tragen; die Düfte aller Blumen bedrückten ihn; seine Augen wurden sogar von einem schwachen Licht gequält, und es gab nur ganz besondere Klänge, die von Saiteninstrumenten ausgehen mussten, die ihm keinen Abscheu verursachten.

Ich fand heraus, dass er der Sklave einer anormalen Art von Furcht war. »Ich werde zugrunde gehen«, sagte er, »ich muss an dieser jammervollen Krankheit zugrunde gehen. So, so und auf keine andere Weise werde ich umkommen. Ich fürchte mich vor künftigen Ereignissen, aber nicht sie selbst, sondern ihre Folgen. Mich schaudert bei dem bloßen Gedanken vor jedem, auch dem alltäglichsten Vorfall, der diese unerträgliche Verwirrung der Seele noch verschlimmern könnte. Vor einer Gefahr schrecke ich nicht zurück, außer ihre einzige Wirkung ist – maßlose Angst. In meinem entnervten, jämmerlichen Zustand, ich fühle es, wird früher oder später die Zeit kommen, da ich im Kampf mit dem Hirngespinst FURCHT Verstand und Leben verliere.«

Nach und nach bildete ich mir aus abgerissenen, mehrsinnigen Andeutungen ein Bild eines anderen sonderbaren Zugs seines Geisteszustands. Gewisse abergläubische Einbildungen über das Haus, das er bewohnte und das er seit vielen Jahren nicht zu verlassen gewagt hatte, hätten ihn in ihren Bann gezogen; er sprach aber über diesen von ihm angenommenen übermächtigen Einfluss in so unbestimmten Ausdrücken, dass ich sie hier nicht wiedergeben kann. Es sei ein Einfluss, den gewisse Eigentümlichkeiten der Form und der Substanz seines Familiensitzes in langer Leidenszeit über seinen Geist gewonnen hätten: ein Einfluss, den das Materielle der grauen Mauern, Türmchen und des dunklen Teichs, auf den dies alles hinunterblicke, auf seine geistige Existenz zerrüttend ausübe.

Er räumte aber ein, wenn auch zögernd, dass viel von dem eigenartigen Trübsinn, der ihn bedrückte, auch auf einen natürlicheren und weitaus handgreiflicheren Ursprung zurückzuführen sei – auf die ernstliche und lang andauernde Erkrankung – auf das offenbar nahe bevorstehende Ende – einer zärtlich geliebten Schwester – seiner einzigen Gefährtin durch viele Jahre – seiner letzten Verwandten auf Erden. »Ihr Hinscheiden«, sagte er mit einer Bitterkeit, die ich nie vergessen werde, »würde mich, einen hoffnungslosen und schwachen Menschen, als den Letzten des alten Stamms der Usher zurücklassen.« Während er sprach, ging Lady Madeline (so hieß sie) im entfernten Hintergrund durch das Zimmer und verschwand, ohne mich bemerkt zu haben. Ich betrachtete sie mit Staunen und nicht ohne Grauen – ein Gefühl, über das ich mir jedoch keine Rechenschaft ablegen konnte. Eine Art Erstarrung überkam mich, als meine Augen ihren sich entfernenden Schritten folgten. Als sich schließlich eine Tür hinter ihr schloss, suchte mein Blick unwillkürlich und neugierig die Züge ihres Bruders – aber er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben. Ich sah nur, dass die abgemagerten Finger noch blasser als bisher waren und leidenschaftliche Tränen zwischen ihnen hindurchtropften.

Die Krankheit von Lady Madeline hatte die Kunst der Ärzte lange Zeit genarrt. Chronische Apathie, allmähliches Dahinschwinden des Körpers, häufige, wenn auch vorübergehende Anfälle von teilweise epileptischer Art, so lautete die ungewöhnliche Diagnose. Bisher hatte sie der Macht der Krankheit tapfer widerstanden und war nicht bettlägerig geworden, aber gegen Abend des Tages meiner Ankunft im Hause erlag sie (wie mir ihr Bruder nachts in unbeschreiblicher Aufregung sagte) der niederwerfenden Macht ihrer Gegnerin. Und ich musste erfahren, dass der erste Blick, den ich auf sie getan hatte, wahrscheinlich auch der letzte gewesen war – und ich sie wenigstens als Lebende nicht mehr sehen würde.

Mehrere Tage lang wurde ihr Name weder von Usher noch von mir genannt; während dieser Zeit machte ich ernstliche Anstrengungen, die Melancholie meines Freunds zu lindern. Wir malten und lasen zusammen, oder ich hörte wie im Traum seinen wilden Improvisationen auf der ausdrucksvollen Gitarre zu. Je mehr und tiefer ich so bei unserer Intimität in die Hintergründe seines Geists vordringen konnte, umso bitterer war die Erkenntnis der Nutzlosigkeit aller Versuche, ein Gemüt aufzuheitern, von dem in einer nicht endenden Ausstrahlung Düsternis wie eine angeborene Eigenschaft auf die gesamte geistige und physische Welt überging.

Für immer werde ich die Erinnerung an die vielen feierlich stillen Stunden mit mir tragen, die ich mit dem Herrn des Hauses Usher zubrachte. Der Versuch jedoch wäre vergeblich, eine Vorstellung von der Art der Studien und Beschäftigungen vermitteln zu wollen, in die er mich einführte oder die er anregte. Eine überspitzte und reichlich krankhafte Subjektivität rückte alles in ein seltsames Licht. Seine langen, improvisierten Lieder der Klage werden immer in meinen Ohren klingen. Unter anderem liegt mir eine sonderbare Umkehrung und Ausweitung der wilden Melodie von Webers56 »Letzte Gedanken« schmerzlich im Gedächtnis. Von den Gemälden, über denen seine schillernde Phantasie brütete und die von Pinselstrich zu Pinselstrich unfassbarer wurden, wobei es mich umso mehr schauderte, weil ich nicht wusste, weswegen – von diesen Gemälden (so lebhaft ich sie vor mir sehe) mehr ableiten zu wollen als das bisschen, was in den Möglichkeiten des geschriebenen Wortes liegt, wäre nutzloses Bemühen. Durch äußerste Einfachheit, durch die sozusagen nackte Klarheit der Zeichnung fesselte er die Aufmerksamkeit des Betrachters und jagte ihm gleichzeitig Schauder ein. Wenn je ein sterblicher Mensch einen Gedanken malen konnte, dann Roderick Usher. Für mich wenigstens entströmte – in den Umständen, in denen ich mich befand – den reinen Abstraktionen, die dieser Schwermütige auf die Leinwand zu bannen vermochte, etwas intensiv, fast unerträglich Ehrfurchtgebietendes, das nicht entfernt mit dem zu vergleichen war, was ich je bei der Betrachtung der glühenden, aber doch wohl zu konkreten Träumereien Fuselis57 empfunden habe.

Eine der phantasmagorischen Schöpfungen meines Freundes, die nicht so streng abstrakt war, mag, wenn auch in schwachen Worten, hier abgeschattet werden. Auf einer kleinen Leinwand war das Innere eines unendlich langen rechtwinkligen Gewölbes oder Tunnels dargestellt, dessen niedere, glatte weiße Wände ohne Unterbrechung und ohne etwas darauf Gemaltes dahinliefen. Gewisse Einzelheiten des Bildes waren dazu angetan, den Eindruck zu vermitteln, dass diese Aushöhlung tief unter der Erdoberfläche liege. In keinem Teil dieser weiten Ausdehnung war etwas wie ein Auslass zu entdecken, noch fand sich eine Fackel oder eine sonstige künstliche Helligkeitsquelle, und doch war der Raum von intensivem Licht durchflutet, das das Ganze in einen geisterhaften und unangemessenen Glanz tauchte.

Ich habe bereits über die krankhafte Beschaffenheit der Gehörnerven Ushers gesprochen, die dem Leidenden jegliche Musik bis auf gewisse Saitenklänge unerträglich machte. Die enge Grenze, innerhalb derer er sich auf die Gitarre beschränkte, war es wohl, die die Phantastik seiner Darbietungen entstehen ließ, aber die glutvolle Beschwingtheit seiner Impromptus war dem nicht zuzuschreiben. Seine Stegreifkompositionen müssen in der Tonsetzung wie im Text dieser wilden Phantasien (denn er begleitete seinen Vortrag nicht selten mit frei erfundenen gereimten Versen) das Ergebnis jener starken geistigen Sammlung und Konzentration gewesen sein und sind es noch, die, wie schon angedeutet, nur in besonderen Augenblicken höchster künstlerischer Schöpferkraft zu beobachten sind. Der Wortlaut einer dieser Rhapsodien ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich war vielleicht umso stärker davon beeindruckt, während er sie darbot, weil ich in der unterschwelligen oder mystischen Strömung des eigentlichen Sinns zum ersten Mal wahrzunehmen glaubte, dass Usher sich des schwankenden Throns seines hochragenden Verstands voll bewusst war. Die Verse mit der Überschrift »Spuk im Palast« lauten ungefähr, wenn nicht genau, so:

 

1

In der Täler grünster Welle,

Guter Geister liebster Rast,

Hob sein Haupt in Himmelshelle

Einst ein strahlender Palast.

Seraph schattete mit schlanken

Schwingen nie ein stolzer Haus,

Und der König der Gedanken

War der Herr des stolzen Baus.

2

Und in goldenem Entfalten

Flogen Banner, kühn gehisst,

(Dies, es war in jener alten

Zeit, die längst erstorben ist.)

Sanfte Morgenlüfte neckten

Tändelnd sich vor Tau und Tag

Und beflügelten und weckten

Duft, der um die Wälle lag.

3

Wandrer, der von stillen Steigen

In erhellte Fenster schaute,

Sah der Geister gleitend Reigen

Bei Musik und Lied der Laute,

Die in freundlichem Umfangen

Schwebten um den Porphyrstein;

Und des Herrschers Blicke drangen

Glückhaft durch die lichten Reihn.

4

Perlen und Rubine glühten

An des Schlosses hohem Tor.

Draus wie Duft von schweren Blüten

Strömte leiser Stimmen Chor,

Stimmen, deren frohe Töne

Nur ein einzig Wünschen kennen:

Schönres Echo sein dem schönen

Geiste, den sie ihren Herrscher nennen.

5

Doch der dunkle Fürst der Sorgen.

Jäh stürzt er des Herrschers Macht.

(Klag, mein Herz! Kein neuer Morgen

Dem Verzweifelten mehr lacht.)

Um sein Reich, das ruhmeshehre,

Blüten einst und Glück geweiht,

Raunet düster die Erinnerungsmäre

Lange schon begrabner Zeit.

6

Wandrer, die aus jenem Tale

Roterglühende Fenster sehn,

Schauen Geister, seltsam düstre, fahle,

In wüstem Missakkord sich drehn.

Wildes, scheußliches Gedränge

Stürzet aus dem Tor, des lichter Glanz verdarb,

Gell Gelächter tönt statt holder Klänge –

Allen Lächelns Süße starb.

Ich erinnere mich gut, dass einige Anregungen aus der Ballade uns zu einer Gedankenkette führten, bei der eine Ansicht Ushers offenbar wurde, die ich nicht so sehr wegen ihrer Neuheit (denn andere mögen auch so gedacht haben)58 als wegen der Hartnäckigkeit erwähne, mit der er sie aufrechterhielt. Bei dieser Meinung ging es generell um das Empfindungsvermögen alles Pflanzlichen. In seiner verwirrten Phantasie hatte diese Idee aber einen kühneren Charakter angenommen, und sie griff bei ihm sogar, waren gewisse Bedingungen gegeben, ins Gebiet des Anorganischen über. Es fehlen mir die Worte, die volle Reichweite dieser Idee oder die ernsthafte Hingabe an seine Überzeugung darzulegen. Sein Glaube hing (worauf ich schon angespielt habe) mit den grauen Quadern des Hauses seiner Vorfahren zusammen. Die Bedingungen für ein Seelenleben der Materie seien, wie er sich einbildete, hier in der Art der Schichtung der Steine und in der Ordnung ihrer Zusammenfügung voll erfüllt – überdies auch durch die zahllosen Pilze, die sie überwuchert hatten, und durch die toten Bäume, die davorstanden, vor allem aber durch die unendlich lange Dauer des Nebeneinanders all dieser Dinge, die sich noch dazu im Wasser des Teichs verdoppelten. Der Beweis dafür – Beweis der Beseeltheit –, sagte er, sei (und da erschrak ich heftig über das Folgende) die allmähliche, aber doch sichere Verdichtung einer eigenen Atmosphäre über dem Wasser und den Mauern. Das Ergebnis, fügte er hinzu, sei in der stillen und doch hartnäckigen, schrecklichen Einwirkung erkennbar, die seit Jahrhunderten das Schicksal seiner Familie bestimmt und nun auch ihn zu dem gemacht habe, den ich vor mir sähe – der er sei. Eine solche Anschauung bedarf keines Kommentars, und ich will auch keinen geben.

Unsere Bücher – die Bücher meine ich, die seit Jahren einen kleinen Teil der geistigen Existenz des Kranken gebildet hatten – lagen, wie man vermuten kann, in der Linie des Phantastischen. Wir vertieften uns in Werke wie Vert-vert und Chartreuse von Gresset, den Belphegor Machiavellis, Swedenborgs Himmel und Hölle, in Nicholas Klims unterirdische Reise von Holberg, die Chiromantien von Robert Fludd, Jean d’Indaginé und De la Chambre, Tiecks Reise ins Blaue und den Sonnenstaat von Campanella.59 Eines seiner Lieblingsbücher war eine kleine Oktavausgabe des Directorium Inquisitorum des Dominikaners Eymeric de Gironne,60 und es gab bei Pomponius Mela61 über altafrikanische Satyrn und Buschgeister Stellen, über denen Usher stundenlang träumend sitzen konnte. Sein größtes Entzücken aber fand er in der Lektüre eines außerordentlich seltenen und merkwürdigen Gotisch-Quartbandes, einer von Hand geschriebenen Chronik einer vergessenen Kirche: Vigiliae Mortuorum secundum Chorum Ecclesiae Maguntinae.62

Unwillkürlich musste ich an die darin beschriebenen sonderbaren Riten und deren Einfluss auf den Melancholiker denken, als er mir eines Nachts ohne jegliche Vorbereitung erklärte, Lady Madeline sei nicht mehr und er beabsichtige, die Tote für vierzehn Tage (vor der endgültigen Beisetzung) in einem der zahlreichen Gewölbe innerhalb der Hauptmauern des Gebäudes aufzubahren. Über den realen Grund dieses immerhin sonderbaren Vorhabens zu disputieren, fühlte ich mich nicht befugt. Der Bruder war (wie er mir sagte) angesichts der ungewöhnlichen Art der Krankheit der Verstorbenen zu diesem Entschluss gekommen, außerdem aber auch wegen gewisser zudringlicher und neugieriger Fragen ihrer Ärzte; ferner sei die Familiengruft ziemlich abgelegen und ungeschützt. Ich will nicht leugnen, dass ich, wenn ich mir den unheimlichen Gesichtsausdruck der Person auf der Treppe am Tag meiner Ankunft ins Gedächtnis zurückrief, keine Lust hatte, eine Regelung zu kritisieren, die in meinen Augen schlimmstenfalls nichts als eine harmlose und keineswegs außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahme war.

Auf seine Bitte hin half ich Usher bei der Durchführung der vorläufigen Beisetzung. Nachdem wir die Tote in den Sarg gelegt hatten, trugen wir ihn zu seiner Ruhestätte. Das Gewölbe, in dem wir ihn unterbrachten (es war so lange Zeit nicht gelüftet worden, dass in der erstickenden Luft unsere Fackeln halb verlöschten und uns wenig erkennen ließen), war klein und feucht; es gab keine Möglichkeit, Licht hereinzulassen, da es in großer Tiefe lag, und zwar unter dem Teil des Gebäudes, in dem ich mein Schlafzimmer hatte. Offenbar war es in fernen Feudalzeiten zu schlimmsten Zwecken als Verlies, später als Aufbewahrungsort für Pulver oder andere leicht brennbare Stoffe verwendet worden, weil ein Teil des Bodens und das ganze Innere des langen Bogengangs, durch den wir eingetreten waren, sorgfältig mit Kupferblech verkleidet waren. Die massive Eisentür war ähnlich geschützt. Ihr ungeheueres Gewicht verursachte bei jeder Bewegung ein ungewöhnlich scharfes Knirschen in den Angeln.