Splitter einer vergangenen Zukunft

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„Ich hätte nichts dagegen“, wiegelte Tritoria ab. „Aber ich denke, meine „große Schwester“ muss ihre Getreuen in Zaum halten.“

Ohne dies zu ahnen, hatte Sestor sich selbst dazu bestimmt, einer von verborgenen Mächten mühsam aufrechterhaltenen Ordnung den Todesstoß zu versetzen.

*

„Nachdem ich mich standhaft geweigert habe, den Palast von Lumbur-Seyth und die Residenz von Dirtos zu beziehen, sitze ich jetzt hier“, stöhnte Baron Schaddoch und breitete in einer hilflosen Geste die Arme aus. Mit dieser Gebärde wollte er dem Gast noch nachdrücklicher den Prunk und Pomp verdeutlichen, der ihn umgab. Die gewaltigen Ausmaße und der umlaufende Säulengang aus Marmor mit den goldverbrämten Applikationen allerorten ließen erahnen, dass diese Halle jahrzehntelang als Thronsaal der letzten Hochkönige von Sindra gedient hatte. Ganz offensichtlich spiegelte sich hier das Bestreben der Musenkönige von Doinat, ihre Vorfahren, die Kriegerkönige von Zitaxon, wenigstens in der Außendarstellung ihres Reichtums zu übertrumpfen.

Schaddoch, der letzte Spross des surdyrischen Königshauses, war nach der Ermordung seiner Familie durch die Obesier in den Untergrund abgetaucht und hatte sich als Freiheitskämpfer betätigt. Nicht nur um seine Herkunft zu verschleiern ließ er sich „Baron“ statt „Prinz“ nennen. Er liebte die Freiheit und hegte nie den Anspruch, sich dauerhaft als Herrscher zu betätigen. Dass er das Angebot Yxistradojns angenommen hatte und diesen als Statthalter dabei unterstützte, aus Doinat ein Zentrum der Wissenschaften und schönen Künste zu machen, war eigentlich eine Flucht gewesen. Nach der Befreiung Surdyriens hatte man ihn als größten Volkshelden aller Zeiten gefeiert und massiv bedrängt, in die Fußstapfen seiner Ahnen zu treten. Aber das wäre seinem bisherigen Lebenswandel und seinen Überzeugungen völlig zuwidergelaufen.

Schaddoch war ein Abenteurer, kein Regent. Zu seinem Leidwesen hatte er jedoch übersehen, dass er als Statthalter von Doinat zugleich den Hochkönig vertrat. So war er vom Regen in die Traufe gekommen.

„Wir könnten tauschen“, schlug er vor. „Ich gehe als Einsiedler nach Borthul, und Sie übernehmen diesen Stuhl hier.“ Er zeigte auf den schlichten Sessel, den er gegen den vorherigen Thron des Statthalters eingetauscht hatte.

Korvinag lachte: „Wenn Sie mir schon nicht den Knochenthron der Hochkönige anbieten können, will ich das da auch nicht.“ Dann fügte er lauernd hinzu: „Aber ich könnte Yxistradojn sagen, dass ich Ihre Unterstützung bei meinen Nachforschungen benötige.“

Schaddoch klatschte sofort freudig erregt in die Hände. „Abgemacht!“, rief er. „Lassen Sie uns sofort loslegen!“

Der alte Einsiedler wusste, dass das Angebot des Surdyriers absolut ernst gemeint war. Und er konnte jemanden wie den Baron bei der schwierigen Aufgabe, die Yxistradojn ihm gestellt hatte, bestens gebrauchen. Genau genommen hatte der Hochkönig nur den Anstoß gegeben. Eigentlich hatte Korvinag sich die Aufgabe selbst gestellt; er war kein Mann, dem man Weisungen erteilen konnte.

Bedächtig, wie man dies von einem uralten Einsiedler erwartete, nickte er.

Beim Blick in die Augen des Barons wurde ihm jedoch klar, dass sich dieser Mann nicht täuschen ließ. Korvinag hatte als Einziger der Gründer des „Geheimen Bundes von Dunculbur“ überlebt und galt als der beste Schauspieler aller Zeiten und gefährlichster Mann des Kontinents. Obwohl er kein Gestaltwandler war, konnte er sein Äußeres fast nach Belieben verändern. Sein tatsächliches Alter kannte niemand. Zudem ahnte kein anderer Mensch, dass er neben Roxolay der engste Verbündete des Geflechts der alten Wesenheiten war. Nicht einmal er selbst hätte im Traum daran gedacht, dass er gerade im Begriff stand, eine tödliche Auseinandersetzung mit dem Geflecht auszulösen.

„Können wir jetzt die Gemächer aufsuchen, die Selazidang zuletzt bewohnt hat?“, bat er den Statthalter von Doinat.

„Gehen wir!“, sagte Schaddoch leichthin und schritt voraus durch die große Halle, über etliche Treppen und Flure zu einem der vielen Nebengebäude des Palasts. Dort befand sich die Wohnung des Mannes, der als der größte Gelehrte Sindras galt. Während die Einrichtung der Aufenthaltsräume Selazidangs eher spärlich anmutete, fiel sofort auf, dass der Umfang an wissenschaftlichen und technischen Ausstattungen genauso unbescheiden wirkte wie der zur Schau gestellte Reichtum der Musenkönige.

Korvinag und Schaddoch gingen kreuz und quer durch die Räume. Bereits bei dieser Gelegenheit wurde deutlich, dass sich die beiden Männer in außergewöhnlicher Weise ergänzten. Während Korvinag sein Augenmerk auf die Apparaturen und Aufzeichnungen Selazidangs legte, suchte Baron Schaddoch nach Hinweisen, die Auskunft über persönliche Eigenheiten und Vorlieben des weithin bekannten Sohnes von Sindra geben konnten.

Plötzlich blieb Korvinag wie angewurzelt stehen. Schaddoch bemerkte sofort, was den Einsiedler fesselte, und er verstand, was die wenigsten Menschen verstanden hätten. Hinter einer aufwändigen Versuchsanordnung mit zahlreichen Glaskolben und Metallbehältnissen hingen mit großer Sorgfalt gefertigte Zeichnungen an der Wand, die allerlei Gerätschaften darstellten. Inmitten dieser beeindruckenden Darstellungen fiel ein bereits deutlich vergilbtes Pergament auf. Das war sicherlich die Älteste der Zeichnungen, aber merkwürdig erschien sie aus einem ganz anderen Grund: Sie bestand lediglich aus sechs dicken Punkten und einer unregelmäßigen Umrisslinie, die fast bis zum Rand des Pergaments reichte. Die Punkte waren anscheinend willkürlich auf der ansonsten leeren Fläche verteilt.

„Was soll das denn darstellen?“, fragte Schaddoch stirnrunzelnd.

Korvinag zuckte hilflos die Schultern: „Das weiß ich auch nicht. Aber es würde sicherlich nicht schon so lange hier hängen, wenn Selazidang ihm keine herausragende Bedeutung beigemessen hätte. Wir sollten uns das gut einprägen.“

Noch während Korvinag dies sagte, erstarrte er erneut. Das Geflecht der alten Wesenheiten hatte seinen Geist berührt. Ein schrecklicher, für Menschen unhörbarer Aufschrei breitete sich über den gesamten Kontinent aus. Plötzlich stand Panik in den Augen des gefürchtetsten Mannes der Welt. Er war von einem Augenblick zum nächsten kreidebleich geworden.

„Wir müssen sofort weg von hier!“, keuchte er.

Schaddoch hatte die Veränderung im Gesichtsausdruck seines Begleiters sofort erfasst. Er reagierte blitzartig. Mit weiten Schritten eilte er voraus in einen Nebenraum, von dem aus man durch eine Seitentür ins Freie gelangen konnte.

*

Der Mann, den seine Landsleute wegen seiner Gutmütigkeit „Mondgesicht“ nannten, war äußerst schlecht gelaunt. Dabei gab es nur wenige Dinge, mit denen man dem Fröhlichsten aller Eisgrafen die Stimmung verderben konnte. Am allerschlimmsten traf es ihn, wenn er einem rauschenden Fest, das sich gerade in vollem Gange befand, den Rücken kehren musste. Und genau das war geschehen.

Besonders griesgrämig stimmten ihn darüber hinaus die erheblichen Zweifel, ob die Botschaft tatsächlich genügend Gewicht besaß, dass es sich dafür lohnte, die Feierlichkeiten einer Doppelhochzeit zu verlassen. Eigentlich hätte er schwören können, dass nichts auf der Welt derart wichtig sein konnte.

Schweren Herzens und mit verbissenem Gesicht ritt Quartor durch die Ebene von Tanaria an dem Gebirgsbach Holbu entlang. Nach seinem steilen Absturz aus dem Aralt-Gebirge hatte sich das kleine Gewässer hier unten wieder beruhigt. Sanft plätschernd floss es dem Talawi entgegen.

Endlich kam das Ziel des Eisgrafen in Sicht, ein Ort, an dem er viele Stunden seines Lebens verbracht hatte. Es gab Zeiten, in denen er sogar noch häufiger hier war als in den Tavernen von Tanaria. Ein Kreis von Büschen umgab einen riesigen Eisbaum in unmittelbarer Nähe des Bachufers.

Misstrauisch sah Quartor zu der anscheinend erschöpften Gestalt hinüber, die sich mit dem Rücken gegen den mächtigen Stamm des gewaltigen Baumes gelehnt hatte. Üblicherweise scheuten die Menschen ehrfurchtsvoll die Berührung der heiligen Bäume des Nordens.

Beim Näherkommen steigerte sich der Ärger des Eisgrafen immer mehr. Bei dem Fremden handelte es sich um denselben Mann, der ihm die Botschaft überbracht hatte. Wieso hatte er ihn an diesen Ort bestellt, wenn er ihm die Botschaft auch gleich im Quaralpalast hätte mitteilen können? Zwei Meter von dem Mann entfernt hielt Quartor sein Pferd an und sprang aus dem Sattel. Als er den Mann genauer betrachtete, stutzte er. Die blauen Augen des jungen Mithriers glänzten seltsam, und sein Blick wirkte gleichermaßen verklärt und entrückt. Er schien durch den Eisgrafen hindurchzuschauen.

„Ich werde den Auftrag bekommen, dich zu töten“, erklärte der Mann mit einer klaren Stimme, in der jedoch Trauer mitschwang.

Quartor verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. Ein mitleidiges Lächeln umspielte seine Lippen als er erwiderte: „Diesen Auftrag solltest du besser ablehnen. Ich bin nicht nur ein leidlich guter Schwertkämpfer, sondern besitze auch den „vernichtenden Blick“, wie du vermutlich weißt.“

Vor dieser Fähigkeit der Eisgrafen, allein durch die Kraft ihres Willens das Gefüge von Gegenständen auflösen zu können, sodass sie zu Staub zerfielen, erzitterten die Menschen auf dem gesamten Kontinent.

Doch der junge Mann schien völlig unbeeindruckt und entgegnete mit unveränderter Stimme: „Beides wäre gegen mich wirkungslos. Aber ich glaube, du verstehst mich nicht. Du bist nicht hier, weil ich dir drohen will, sondern weil ich dich warnen will.“

„Und wovor willst du mich warnen?“, wollte Quartor wissen.

„Das ist die falsche Frage, weil du die Antwort nicht begreifen würdest“, antwortete der Mann. „Ich werde dir stattdessen sagen, warum ich dich warnen will. Ich möchte dich nicht töten müssen, weil du mir das Leben gerettet hast.“

 

Nun betrachtete sich Quartor den Mann genauer. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, ihn vor der kurzen Begegnung im Quaralpalast jemals gesehen zu haben. Ihm lag schon die nächste Frage auf der Zunge, da dämmerte ihm plötzlich die unglaubliche Erkenntnis: Es war nicht der Mann, der zu ihm sprach, sondern der Eisbaum! Einige Jahre zuvor hatte Quartor den damaligen Ordenssprecher der Priester des Wissens daran gehindert, gemeinsam mit zwei Spießgesellen den Eisbaum von Tanaria abzusägen.

Nur: Wer in aller Welt konnte die Macht haben, einem Eisbaum Anweisungen zu erteilen? Quartor hatte einmal davon gehört, dass in alten Schriften die Meinung vertreten wurde, die Eisbäume seien Teil eines „Geflechts der alten Wesenheiten“. War es dieses Geflecht, von dem er leider so wenig wusste, oder vielleicht noch etwas anderes? Ja, der Baum hatte recht. Mit einer Antwort auf seine Frage hätte er nichts anfangen können.

Der junge Mithrier erhob sich, was ihm große Mühe zu bereiten schien. Sein Blick begann, sich langsam zu klären. Schnell trat der Eisgraf zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück.

„Bitte!“, rief er flehentlich. „Sage mir wenigstens noch, warum ich getötet werden soll.“

„Auch das ist die falsche Frage“, erwiderte der junge Mann. „Wenn ein Wachhund seine Kette zerreißt, kann es geschehen, dass er die Nahrung frisst, die sein Herr benötigt – und dessen Herr. Kann man es dem Herrn verdenken, dass er um sein Leben kämpft? Quartor, wir beide sind nur Randfiguren in einer sich anbahnenden Auseinandersetzung, deren Ausmaß du dir nicht einmal annähernd vorstellen kannst. Jetzt gehe und tue was du für richtig hältst!“

Der Eisgraf ließ den jungen Mann los. Er hatte die hintergründige Warnung begriffen, die hinter der vordergründigen verborgen lag. Der Baum hatte ihm viel mehr verraten als er eigentlich wollte.

„Danke“, murmelte Quartor und schwang sich auf sein Pferd. Er musste sofort zurück zum Quaralpalast reiten und die anderen Eisgrafen warnen. Er konnte nur hoffen, dass er sie alle noch antreffen würde.

*

„Einerseits ist es traurig, dass ich mich von euch verabschieden muss“, bedauerte Sestor. „Aber andererseits sollten wir dafür dankbar sein, dass dies das schönste und längste Zusammentreffen war, das uns je vergönnt gewesen ist.“ Er blickte in die Runde, die sich im Saal der Eisgrafen versammelt hatte. Leider fehlte einer seiner Gefährten. Daher fügte er hinzu: „Bitte grüßt Quartor von mir und sagt ihm, dass ich ihn nach meiner Rückkehr aus Zogh in Tanaria aufsuchen werde. Nachdem ich inzwischen alle Wirtshäuser dort kenne, müsste ich ihn eigentlich recht schnell finden.“

Die anderen Eisgrafen lachten. Tatsächlich hatten sie noch nie zuvor einen Aufenthalt im Quaralpalast derart ausgiebig und unbeschwert genießen können. „Ich habe bereits durch einen Boten Anweisung gegeben, dass Prandorak dich in Sylabit erwartet“, erklärte Tritoria und umarmte Sestor. „Danke, dass du uns diese Aufgabe abgenommen hast.“

„Ich bin immer gerne in Zogh gewesen“, sagte er mit einem breiten Grinsen. „Nur war es mir leider nicht vergönnt, eine dieser wunderschönen Frauen für mich zu gewinnen.“ Sein Blick wanderte von Tritoria zu Octora und blieb dann an Unitor hängen. „Weil mir ständig einer meiner sogenannten Freunde in die Quere gekommen ist.“

„Ich bin noch frei“, lächelte Octora schnippisch.

Sestor breitete in einer scheinbar hilflosen Geste die Arme aus: „Du bist die Königin. Ändere dieses verdammte Brauchtum, und ich werde auf Knien um deine Hand anhalten!“ Er spielte damit auf die Tradition an, wonach die Königin nicht dauerhaft mit ihrem Ehemann zusammenleben durfte.

Octora schüttelte lachend den Kopf: „Nicht einmal ich kann solche Bräuche ändern. Aber es kann ja auch durchaus reizvoll sein, wenn man nicht ständig zusammenlebt. Es dauert viel länger bis man einander überdrüssig wird.“

„Ich werde darüber nachdenken“, versprach Sestor.

„Bis dahin kannst du ja in den Höhlen nach einer geeigneten Frau suchen“, schlug Tritoria vor.

„Aber zuerst soll er die Weiße Frau finden“, mischte sich Quintora ein. „Sestor, ich kann dir versprechen, dass du von ihr fasziniert sein wirst, falls sie genauso aussieht wie Siridindar.“

Sestor verzog das Gesicht, was jedoch unter dem Vorhang der herabhängenden schwarzen Haare kaum zu erkennen war: „Ist sie nicht etwas zu alt für mich?“

Quintora hatte ihm kurz zuvor erzählt, dass Siridindar nach eigenen Angaben älter als fünfzigtausend Jahre war.

Unitor sah ihn schelmisch an und meinte: „Umso mehr kannst du von ihr lernen.“

Am gleichen Abend noch verließ Sestor den Quaralpalast. Quartors Warnung erreichte ihn nicht mehr.

*

Nachdem der von Crescal ausgelöste Aufstand gegen die Mon’ghale ins Stocken geriet, zerfiel Obesien faktisch in drei Machtbereiche.

Im Süden hatten sich die Mon’ghale halten können und beeinflussten weiterhin die dort ansässigen Obesier. Die kleinen, raupenartigen Lebewesen waren vor langer Zeit in Lumburia aus einer Schmetterlingsart entstanden, die die Fähigkeit zur Verpuppung und Ausbildung von Flügeln verloren hatte. Um dennoch ihr Überleben zu sichern, hatte die Natur sie mit einer einzigartigen Gabe ausgestattet.

Sie entwickelten die Fähigkeit, andere Lebewesen auf geistiger Ebene zu beeinflussen. So konnte die von den Ureinwohnern als Cerghale bezeichnete Lebensform sogar ihre ehemaligen Fressfeinde, etwa Vögel, als Helfer benutzen und sich von diesen mit Nahrung versorgen lassen.

Auf ungeklärte Weise war eine riesige Stammmutter der Cerghale in die Katakomben von Tulumath nahe Dunculbur in Obesien gelangt. Menschenopfer hatten sie in die Lage versetzt, ihrer Nachkommenschaft die Befähigung zur geistigen Beeinflussung von Menschen zu vererben.

Allerdings wirkte diese Fähigkeit nur bei der Urform der obesischen Menschen, nicht bei ihren rotäugigen Abkömmlingen, die als Priester des Wissens eine eigenständige Bevölkerungsgruppe bildeten. Diese hatte jedoch mit der von den Mon’ghalen beherrschten Restbevölkerung Regeln eines einvernehmlichen Zusammenlebens gefunden. Der Grund bestand vor allem darin, dass die Obesier auf die wissenschaftlichen Errungenschaften des Priesterordens angewiesen waren, während umgekehrt der Orden den militärischen Schutz der Obesier benötigte. Nur gemeinsam konnten sie äußeren Feinden trotzen.

Der Niedergang der Mon’ghale hatte damit begonnen, dass die Eisgräfin Quintora die Stammmutter in den Katakomben von Tulumath aufgespürt und getötet hatte. Nur kurze Zeit später brach der von Crescal angeführte Aufstand los, der die Mon’ghale vom gesamten Territorium des nördlichen Landesteils hinweggefegt hatte.

Die Macht des Südens gründete sich auf die Landheere von Gladunos und Xotos. Erstaunlicherweise war der Oberbefehlshaber der Armee von Xotos nicht durch Mon’ghale beeinflussbar, besaß jedoch die Befähigung, sich mit ihnen zu verständigen. Er hatte erkannt, dass die Parasiten eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Ordnung aufrechterhielten, die unter anderem auch die Begehung von Verbrechen weitgehend ausschloss. Deshalb unterstützte er das Heer von Gladunos.

Der Osten Obesiens mit den Zentren Dunculbur und Bogogrant stand unter dem Einfluss Zyrkols, der im Monasterium von Dunculbur den Posten des Rektors bekleidete. Er hatte dafür gesorgt, dass das Leben im Osten völlig unverändert weiterging, so als habe es den Aufstand nie gegeben. Unter der Oberfläche begannen jedoch auch dort schleichende Veränderungen.

Tirestunom im Nordwesten, wo der Aufstand seinen Ausgang genommen hatte, war inzwischen mit der Region um die Landeshauptstadt Modonos verbündet. Dort herrschte nun faktisch eine aus fünf Personen bestehende Gruppe, die sich selbst die „Riege der Freiheit“ nannte, von ihren Gegnern jedoch als das „dämonische Pentagramm“ bezeichnet wurde. Die wahren Drahtzieher dieser Gruppe waren Tornantha, die Witwe Crescals, und Atarco, der Sohn des Mannes, der als Höchster Priester die Nachfolge Saradurs angetreten hatte. Bis vor kurzem hatte auch noch der ermordete Milesion Corbunt zu diesem Klüngel gehört.

Nach außen hin übte Atarco lediglich die Funktion eines Verbindungsmannes zwischen der „Riege der Freiheit“ und dem Inneren Zirkel des Priesterordens aus. Viele glaubten jedoch, dass er innerhalb des Ordens einen noch größeren Einfluss hatte als der Höchste Priester selbst. Notgedrungen musste Ulban zustimmen, dass sein Sohn in das Führungsgremium der Akademie berufen wurde und dadurch die Berechtigung erwarb, ein rotes Gewand zu tragen. Obgleich der Höchste Priester stets ein gutes Verhältnis zu seinem Sohn pflegte, war ihm dessen Machtstreben inzwischen unheimlich geworden.

Bei den anderen drei Mitgliedern der regierenden Riege handelte es sich um die Befehlshaber der Schildwache sowie der Heere von Modonos und Tirestunom. Sie hatten eine umfassende Reform des Militärwesens durchgesetzt, die zugleich mit einer deutlichen Machtkonzentration in einzelnen Positionen einherging. So hatte die Schildwache auch die Überwachungsaufgaben der aufgelösten Garde von Modonos und der Geheimen Schar übernommen.

Nicht wenige glaubten, dass Atarco und Tornantha den früheren Befehlshaber des Landheeres von Modonos, Corbunt, aus dem Weg geräumt hatten, um ihre Vorherrschaft zu festigen. Das ungleiche Paar verbreitete dagegen in der Öffentlichkeit das Gerücht, Attentäter aus Gladunos hätten den Milesion vergiftet. Unter dem Strich hatte die Durchführung der Untersuchungen jedenfalls zu einem beträchtlichen Machtzuwachs der Schildwache und ihres Ducarions Robanost geführt.

Der Waffenstillstand, den die Heerführer des Südens mit Corbunt und dem Rektor von Dunculbur ausgehandelt hatten, war brüchig geworden. Es schien eine Frage der Zeit zu sein, bis die Kämpfe wieder aufflammen würden.

*

Tornantha handelte mit kühler Berechnung. Nachdem sie bemerkte, dass der Milesion Corbunt ihr hoffnungslos verfallen war, benutzte sie ihn, um die Ermordung ihres Ehegatten Crescal zu rächen. Danach sorgte der Milesion dafür, dass die Witwe des Aufrührers zur heimlichen Herrscherin von Modonos und Tirestunom aufstieg. Als Tornantha dies erreicht hatte, kam Corbunt unter mysteriösen Umständen ums Leben. Ein Medicus der Priester des Wissens stellte fest, dass er vergiftet worden war.

Einerseits kam der Witwe die Ermordung des Milesions gelegen. Sie hatte ihre Freiheit wiedergewonnen und zugleich die Möglichkeit erlangt, ihre Macht durch eine Militärreform zu festigen. Dabei stützte sie sich auf die Schubladenpläne, die noch ihr verstorbener Gemahl vorbereitet hatte. Diese Pläne stellten auch den Grund dafür dar, dass Crescal bis zuletzt seine Ernennung zum Milesion verweigert hatte.

Andererseits löste der Mord an Corbunt bei Tornantha aber auch eine innere Wut aus. Obgleich sie nicht wirklich wusste, wer ihn zu verantworten hatte, vermutete sie Atarco als Drahtzieher.

Der junge Priester des Wissens hatte seit ihrer ersten Begegnung unermüdlich nach einem Weg in ihr Bett gesucht, der ihm jedoch von Corbunt versperrt worden war. Atarco hätte nach Tornanthas Überzeugung erkennen müssen, dass das Volk sie mit diesem Giftmord in Verbindung bringen würde. Als sie ihn zur Rede stellte, leugnete er die Tat. Sie glaubte ihm nicht. Anscheinend fürchtete er, dass sie sich aufgrund ihres Zornes von ihm abwenden könnte. Tornanthas nüchternes Denken gebot ihr jedoch, die Vorwürfe letztlich auf sich beruhen zu lassen und stattdessen nach einer für das Volk überzeugenden Erklärung zu suchen.

So beschlossen Tornantha und Atarco, den Bewohnern der Hauptstadt eine Begründung der Mordtat zu liefern, die sich in der gegenwärtigen Situation anbot: Attentäter aus Gladunos hatten angeblich den gefürchteten Befehlshaber des feindlichen Heeres in Modonos beseitigt.

„Ich habe Corbunt vergiftet.“ Der Hall dieses Geständnisses schien von den Wänden abzuprallen und kreuz und quer durch den Raum zu schwirren.

Atarco saß wie versteinert in seinem Lesesessel und starrte die schwarzhaarige Frau mit der auffälligen Narbe im Gesicht an. Erst nach längerer Zeit gewann er seine Fassung zurück.

„Weshalb haben Sie das getan?“, wollte er wissen. „Haben Sie ihn denn überhaupt gekannt?“

„Nein“, antwortete der Begleiter der Frau an ihrer Stelle. Er trug ebenfalls das braun gestreifte Gewand einer Hilfskraft der Akademie. Seine drahtige Gestalt und die stark gebräunte Haut deuteten darauf hin, dass er aus Lokhrit oder Borgoi stammte und zur See gefahren war. Er spuckte ein paar Fasern des Speckstücks aus, auf dem er die ganze Zeit über herumkaute, und erklärte lapidar: „Wir führen nur Aufträge aus.“

 

„Und wer hat Ihnen diesen Auftrag erteilt?“, fragte Atarco. Der Mann zuckte mit den Schultern. Zweimal hatte ihn schon ein Blitzschlag getroffen. Aber im Gegensatz zu anderen Menschen, denen ein solches Unglück widerfahren war, hatte er dies jedesmal fast unversehrt überlebt. Worum es sich bei seinen Auftraggebern handelte, wusste er selbst nicht ganz genau. Nach wie vor konnte er sich unter dem „Geflecht der alten Wesenheiten“ nichts vorstellen. Deshalb hätte es auch keinen Sinn ergeben, Atarco etwas erklären zu wollen.

„Wir haben bewiesen, dass wir in der Lage sind, den Höchsten Priester zu töten“, sagte die schwarzhaarige Frau. „Aber wir sind auch imstande, jemanden zum Höchsten Priester zu machen, falls er dies unbedingt will.“

„Sie haben auch Saradur ermordet?“, fragte Atarco, ohne auf die Anspielung einzugehen, die erkennbar auf ihn gemünzt war. Nun ging die schwarzhaarige Frau nicht auf seine Frage ein. „Sie müssen eine Entscheidung treffen“, erinnerte sie stattdessen.

„Der Höchste Priester ist mein Vater“, entgegnete Atarco. „Ich will nicht, dass er getötet wird.“

Der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht spuckte erneut ein Stück der Speckschwarte aus bevor er klarstellte: „Glauben Sie mir, es macht uns keine Freude, Menschen zu töten. Wir könnten Ihren Vater einfach verschwinden lassen. Aber was sollen wir unternehmen, falls Ihr Ziehbruder Nachforschungen anstellt?“

Atarco war gemeinsam mit Jobork aufgewachsen. Nach dem frühen Tod seiner Eltern hatte Ulban seinen Neffen Jobork aufgenommen und wie einen eigenen Sohn behandelt.

„Das werde ich wohl Ihnen überlassen müssen“, vermutete Atarco.

„Dann wären wir uns einig“, bestätigte Brinngulf Sterndek. „Sobald die Zeit gekommen ist, wird sich ein Mitglied des Inneren Zirkels an Sie wenden und Sie als Nachfolger Ihres Vaters vorschlagen. Er wird behaupten, Ulban tot gesehen zu haben. Das wird eine Lüge sein. Ihr Vater wird friedlich an einem versteckten Ort dieser Welt seinen Lebensabend genießen können.“

Die Sterndek-Geschwister wandten sich zum Gehen, aber Atarco hielt sie nocheinmal zurück.

„Eine Frage hätte ich noch“, sagte er. „Was verlangen Sie als Gegenleistung?“

„Vorerst nichts“, erwiderte Tannea Sterndek. „Falls wir irgendwann einmal eine kleine Gefälligkeit benötigen sollten, würden wir auf Sie zurückkommen.“

*

Die gemeinsame Reise auf dem breiten Lumbur-Strom hatte nicht dazu beigetragen, dass Baron Schaddoch seinen Begleiter als weniger unheimlich empfand. Dabei hatte er jahrzehntelang unter den schlimmsten Schurken des Kontinents gelebt. Aber zwischen diesen Halunken und dem neuen Gefährten des ehemaligen Verbrecherkönigs von Surdyrien lagen Welten. Noch im Schlossgarten von Doinat hatte Korvinag auf unerklärliche Weise sein Äußeres verändert und anschließend auch gleich noch seinen Namen. Er nannte sich jetzt Rakoving und sah mit seinen gestrafften Gesichtszügen, der kräftigen Statur und dem braunen Lockenschopf gleich vierzig Jahre jünger aus.

Nach ihrem Eintreffen in Dirtos begaben sich Schaddoch und Rakoving auf kürzestem Weg in eine der übelsten Spelunken, die die Hauptstadt Surdyriens aufzubieten hatte. Und in dieser Hinsicht hatte Dirtos mehr zu bieten als jede andere Stadt auf dem Kontinent. Der Anblick der Gäste im Schankraum hätte zart besaitete Menschen in Angst und Schrecken versetzt, obgleich Einzelheiten im trüben Licht des rauchgeschwängerten Raumes kaum zu erkennen waren. Der Mief vergorener Getränke vermischte sich mit abstoßenden Körperausdünstungen und dem durchdringenden Geruch des Saffagass-Krauts, einer berauschenden Droge. Schaddoch steuerte von alledem unbeeindruckt mit zielgerichteten Schritten auf eine kleine Tür in der hinteren Wand des Gastraums zu. Sie führte zu einem offenen, von zwei seitlichen Mauern begrenzten Durchgang. Am Fuß der rechten Mauer entlang verlief eine Rinne, in der Reste von Fäkalien einen entsetzlichen Gestank verbreiteten. Deshalb beeilten sich die beiden Männer, das am Ende des Durchgangs befindliche Scheuertor zu erreichen. In einem unregelmäßigen, aber dennoch offenbar festgelegten Takt klopfte Schaddoch so lange dagegen bis es einen Spaltbreit geöffnet wurde. Schaddoch und Rakoving schlüpften durch den Spalt hinein. Danach wurde das Tor sofort wieder geschlossen und verriegelt. Das Innere der Scheune erinnerte an einen Versammlungsraum mit einer Vielzahl von Tischen und Stühlen. Außer dem Mann, der die Tür geöffnet hatte, war jedoch niemand anwesend.

„Baron Schaddoch!“, rief er erfreut. „Wir haben schon gedacht, Sie würden überhaupt nicht mehr nach Surdyrien zurückkehren.“

„Das hatte ich eigentlich auch nicht vor, Iplokh“, entgegnete der Baron. „Ich bin nur auf der Durchreise. Glauben Sie, dass Sie ein paar Männer für eine gefährliche Mission zusammenbekommen könnten?“

„Jeden, den Sie gerne haben würden“, versprach Iplokh.

„Gut“, nickte Schaddoch befriedigt. „Wo sind Shrogotekh, Wurluwux, Jalbik Truchardin und Kamgadroch?“

„Wurluwux ist in Lumbur-Seyth. Alle anderen sind in Surdyrien“, erwiderte Iplokh. „Shrogotekh und Kamgadroch sind hier in Dirtos, Jalbik ist in Albiros.“

„Ich möchte, dass Sie wissen, worauf Sie sich einlassen“, warf Rakoving ein. „Ich muss davon ausgehen, dass der gefährlichste Mann auf dem ganzen Kontinent den Auftrag erhalten hat, Baron Schaddoch und mich zu töten. Wir müssen ihm zuvorkommen. Das hört sich zwar einfach an, ist es aber nicht. Dieser Mann verfügt über Kräfte und Verbündete, die jenseits Ihrer Vorstellungskraft liegen. Nicht umsonst nennen ihn die Eingeweihten den „Meister der Todeszeremonie“. Eine Zeitlang hat er sogar Eisgrafen gejagt und zur Strecke gebracht.“ Rakoving hätte nun ein unbehagliches Schweigen erwartet, aber Iplokh winkte nur leichtfertig ab und entgegnete voller Stolz: „Die Männer, von denen Baron Schaddoch gesprochen hat, sind bisher noch mit jeder Bedrohung fertig geworden. Sie haben ein Jahrhunderte lang besetztes Land in nur wenigen Wochen befreit. Wir fürchten uns vor nichts und niemandem.“

„Außerdem sind Sie ja bei uns“, grinste Schaddoch den verwandelten Einsiedler an. „Ich glaube kaum, dass irgendjemand gefährlicher ist als Sie.“

„Danke für Ihr Vertrauen“, gab Rakoving trocken zurück. „Aber im Gegensatz zu Roxolay verfüge ich nicht mehr über unvorstellbar mächtige Verbündete, nur noch über unvorstellbar mächtige Feinde.“

„Sie haben jetzt uns als Verbündete“, bekräftigte der Baron selbstbewusst und wandte sich an Iplokh: „Verständigen Sie Kamgadroch und Shrogotekh! Kamgadroch soll zu Jalbik und Wurluwux reiten. Sie und Shrogotekh begleiten uns nach Obesien. Wir treffen die anderen in genau achtzehn Tagen von heute an gerechnet in der Ruinenstadt Derfat Timbris.“

*

Unitor schüttelte entrüstet den Kopf: „Das ist völlig unmöglich. Wir sind die Beschützer der Eisbäume. Warum sollten sie uns töten wollen?“

„Vielleicht hat dieser seltsame Mann Unsinn geredet“, pflichtete Telimur ihm bei. Abgesehen von Berion war er der einzige Priester des Wissens, der jemals an einer Besprechung in dem allein den Eisgrafen vorbehaltenen Saal im Quaralpalast teilnehmen durfte. Nicht einmal als jetziger Prinz von Mithrien stand ihm ohne ausdrückliche Einladung dieses Privileg zu.

„Ich bin absolut sicher, dass der Baum zu mir gesprochen hat“, beharrte Quartor, der schon eine ganze Weile kategorisch alle Einwände zurückwies.