DER WIDERSACHER

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Z serii: Anja Spangenberg #6
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Da er tief in seinen Gedanken und Erinnerungen versunken war, bemerkte er zunächst gar nicht, dass er nicht mehr allein war. Doch dann bellte nur wenige Meter vor ihm ein Hund.

Wimmer fuhr erschrocken zusammen, blieb abrupt stehen und hob den Kopf. Fünf Meter vor ihm stand ein Mann mitten auf dem Weg, neben ihm ein kleiner Hund. Obwohl er in der nächtlichen Dunkelheit keine Einzelheiten erkennen konnte, ließ die massige Gestalt des Kerls keinen Zweifel daran, wen er vor sich hatte.

»Sie?«

»Na sieh mal an, wen wir da haben, Hannibal. Wenn das mal nicht der unfreundliche Kellner aus der Kaschemme ist, in der wir heute mehr schlecht als recht zu Abend gegessen haben.«

Der Hund bellte, sobald der Mann seinen Namen nannte.

Wimmer schüttelte irritiert den Kopf. »Was tun Sie hier?«

Der dicke Mann, von dem der Kellner gehofft hatte, ihn nie wiedersehen zu müssen, kam langsam näher. Er deutete auf den Yorkshire Terrier, der artig im gleichen Tempo neben ihm herlief. »Ich gehe mit meinem Hund spazieren. Oder passt Ihnen das etwa nicht? Dasselbe könnte ich übrigens auch Sie fragen: Was treibt Sie denn zu dieser Stunde in diesen gottverlassenen Park?«

Es widerstrebte Wimmer zwar zutiefst, dem Mann etwas über sich selbst zu offenbaren, dennoch sagte er: »Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich gehe fast jeden Tag hier entlang.«

»Was für ein merkwürdiger Zufall, dass wir uns noch einmal begegnet sind«, sagte der dicke Mann, der weniger als zwei Meter von Wimmer entfernt stehen blieb. Der Hund an seiner Seite hatte zu knurren begonnen. Sein Herrchen sah nach unten. »Ich habe das Gefühl, Hannibal mag Sie nicht besonders.«

Wimmer sah ebenfalls den Hund an und zuckte mit den Schultern. Das beruht auf Gegenseitigkeit, hätte er beinahe gesagt, verkniff es sich jedoch. Als Kellner war es gewohnt, seine Gedanken ständig für sich zu behalten und die Gäste trotz allem höflich und zuvorkommend zu behandeln. Dieses Verhalten hatte er nach all den Jahren verinnerlicht, sodass er sich ebenso verhielt, wenn er freihatte und nicht bediente. »Sieht so aus«, sagte er daher nur.

»Das liegt wahrscheinlich daran, dass Sie ihm kein Mineralwasser, so wie ich es gewünscht hatte, sondern ordinäres Leitungswasser vorgesetzt haben«, meinte der dicke Mann und sah wieder Wimmer an.

Der Kellner hatte ein ungutes Gefühl. Die Bösartigkeit, die er in Gegenwart dieses Mannes unterschwellig wahrgenommen hatte, kehrte zurück. Am liebsten wäre er einfach weitergegangen, auch wenn er einen Bogen um den Kerl und seinen Hund machen musste, um seinen Weg fortzusetzen. Er hielt es jedoch für notwendig, etwas auf die Anschuldigung des Mannes zu erwidern und sich zu rechtfertigen. »Sie waren nicht bereit, für das Mineralwasser zu bezahlen. Also bekam Ihr Hund auch nur Leitungswasser. Wenn er das nicht mag, kann ich auch nichts dafür.«

»Hast du das gehört, Hannibal?«, fragte der dicke Mann seinen Hund, dessen Knurren daraufhin zu lautem Gebell wurde.

Doch Wimmer hatte keine Angst vor dem Tier. Es war zu klein, um ihm gefährlich zu werden. Wenn es notwendig sein sollte, würde er dem Köter einfach einen Tritt verpassen, der ihn mindesten fünf Meter wegschleuderte. Anschließend würde er die Beine in die Hand nehmen und wegrennen. Bei dem Gewicht, das der dicke Mann auf die Waage brachte, würde er kaum hinterherkommen. Wenn sich der Kerl überhaupt schneller als in Schrittgeschwindigkeit bewegen konnte. »Warum sind Sie eigentlich noch immer hier?«, stellte Wimmer nun die Frage, die ihn beschäftigte, seit er den Kerl erkannt hatte. »Es ist Stunden her, dass Sie die Wirtschaft verlassen haben.«

Der dicke Mann zuckte mit den Schultern. »Ich sagte doch schon, dass ich mit meinem Hund spazieren gehe. Er musste furchtbar dringend und schert sich dabei nicht um die Uhrzeit. Anschließend müssen wir wohl die Zeit vergessen haben, während wir durch diesen schönen und ruhigen Park spaziert sind. Außerdem lieben wir beide die Natur. Sie ist so …« Er verstummte und suchte nach dem richtigen Wort, bevor er den Satz beendete. »… natürlich.«

»Ich muss jetzt weiter«, sagte Wimmer, der den Mann und seinen Hund endlich loswerden wollte. »Ich hatte einen langen Tag und bin müde.«

»Das ist aber jammerschade. Dabei wollte ich mich mit Ihnen noch einmal über den grottenschlechten Service und den miserablen Fraß unterhalten, den Sie mir vorgesetzt haben. Jetzt, wo wir uns rein zufällig noch einmal über den Weg gelaufen sind. Vom erbärmlichen Leitungswasser für meinen kleinen Liebling ganz zu schweigen.«

Erneut schluckte Wimmer die passende Erwiderung herunter, die ihm auf der Zunge lag, und schwieg.

»Tun Sie sich keinen Zwang an!«, forderte der dicke Mann ihn da auf, als ahnte er, was in dem Kellner vorging. »Sprechen Sie ruhig aus, was Sie denken. Schließlich sind wir hier in diesem menschenleeren Park nicht mehr Gast und Kellner, sondern nur zwei Männer, die sich zufällig begegnet sind. Außerdem sind wir unter uns. Sie können mir also gern ungeniert die Meinung sagen, wenn Sie wollen.«

Wimmer überlegte. Der Mann hatte recht. Sie waren tatsächlich unter sich und in dieser Situation gleichwertig. Also konnte er mit dem Kerl tun, was er schon bei so manchem Gast gern getan hätte: Ihm ordentlich die Meinung geigen.

»Sie sind widerlich!«, platzte es aus dem Kellner heraus, bevor er überhaupt in der Lage war, über das nachzudenken, was er sagen wollte.

»Hört, hört!«, sagte der dicke Mann daraufhin und lachte gehässig. »Ich bin also widerlich? Was noch? Spucken Sie es schon aus, bevor Sie daran ersticken.«

»Sie haben unrecht.«

»Inwiefern?«

»Das Essen bei uns mag nicht mit dem in einem Sterne-Restaurant vergleichbar sein, aber es ist auf keinen Fall ein, wie nannten Sie es noch mal, miserabler Fraß.« Wimmer spürte, wie er allmählich in Fahrt geriet. Endlich konnte er all das herauslassen, was sich in über fünfunddreißig Berufsjahren in ihm angestaut hatte. »Und was den Service betrifft: Ich möchte mich ungern selbst loben, aber ich habe Sie mit Sicherheit nicht schlecht oder falsch, sondern im Gegenteil absolut korrekt und fehlerlos bedient.«

»Sind Sie fertig?«

»Nein, ich bin noch nicht fertig!«

»Dann fahren Sie endlich fort«, sagte der dicke Mann. »Allmählich werde ich nämlich müde. Außerdem wäre ich gern zu Hause, bevor die Morgendämmerung anbricht.«

»Leute wie Sie«, fuhr Wimmer fort, »haben immer an allem etwas auszusetzen. Sie suchen ständig nach dem Haar in der Suppe. Und wenn Sie keins finden, dann reißen Sie sich eben selbst eins aus und werfen es hinein. Und wissen Sie, warum Sie und Ihresgleichen das tun?«

Der dicke Mann zuckte mit den Schultern. »Ich habe ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer. Aber da Sie es zu wissen scheinen, klären Sie mich doch bitte auf.«

»Weil Ihr eigenes erbärmliches und inhaltsloses Leben Sie insgeheim ankotzt und Sie es nicht ertragen können, dass andere Menschen glücklich oder zumindest zufrieden mit ihrem Leben sind. Deshalb sind Sie so begierig darauf, anderen das Leben zu vermiesen und zur Hölle zu machen, indem Sie ihre Mitmenschen ständig kritisieren und heruntermachen und nach Dingen suchen, über die Sie sich aufregen können.«

»War’s das jetzt?«

Wimmer nickte. Nach dem Ausbruch fühlte er sich erschöpft. Gleichzeitig war er aber auch erleichtert, dass er endlich hatte aussprechen können, was ihm förmlich auf der Seele gebrannt hatte. Obwohl er bis vor wenigen Augenblicken gar nichts davon geahnt hatte. Erst dieser widerwärtige Mann hatte es zum Vorschein gebracht.

»Das war ja ganz schön starker Tobak«, meinte der andere Mann. »Bist du nicht auch dieser Meinung, Hannibal?«

Als hätte er ihn verstanden und wollte ihm zustimmen, bellte der Hund. Aber vermutlich reagierte er nur jedes Mal automatisch auf die Nennung seines Namens, weil er darauf abgerichtet war.

Dann wandte sich der dicke Mann wieder an Wimmer. »Soll ich Ihnen etwas gestehen?«

Der Kellner sah den anderen Mann argwöhnisch an. Dann nickte er.

»Sie haben vollkommen recht!«

»Was?«

»Natürlich meine ich nicht den Teil, in dem Sie meinten, ich würde ein erbärmliches und inhaltsloses Leben führen, das mich insgeheim ankotzt. Im Gegenteil: Mein Leben ist erfüllt, aufregend und reich an Vergnügen und Abenteuern. Ich liebe es und wünsche mir kein anderes. Aber was den Rest angeht, da haben Sie, verflucht noch eins, einen Volltreffer gelandet.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Wimmer verwirrt.

»Was ist daran denn so schwer zu verstehen, wenn ich Ihnen recht gebe?« Der dicke Mann schüttelte den Kopf. »Also wirklich, Ihnen kann man es auch gar nicht recht machen. Und irgendwie machen Sie es einem damit verdammt schwer, Sie zu mögen. Aber was soll’s. Ich werde es Ihnen erklären.« Er kam noch einen Schritt näher, sodass sie nun so eng zusammenstanden, dass sie sich beinahe berührten. Als er fortfuhr, sprach er unwillkürlich leiser, als befürchtete er, sie könnten belauscht werden: »Selbst wenn das Essen und der Service perfekt gewesen wären, was Sie natürlich nicht waren, wie Sie selbst zugeben müssen, hätte ich kein gutes Haar daran gelassen und an allem herumgemeckert.«

»Aber warum tun Sie das?«

»Einfach nur, um Sie zur Weißglut zu bringen.«

»Um mich zur Weißglut zu bringen? Aber wieso?«

»Ich brauchte schließlich einen vernünftigen Grund, um das zu tun, was ich mit Ihnen vorhabe. Und den haben Sie mir gegeben, als Sie mich widerlich nannten. Denn das kann ich Ihnen bei allem Verständnis leider nicht verzeihen.«

Wimmer hatte gar nicht bemerkt, wie die Hand des Mannes in seiner Jacke verschwunden war, von wo er plötzlich wie ein Bühnenzauberer ein langes Fleischmesser zum Vorschein brachte.

 

»Was …?«

Wimmer konnte die letzte Frage nicht beenden, denn der dicke Mann riss die Hand mit dem Messer blitzschnell nach oben und fuhr damit über den Hals des Kellners. Im ersten Augenblick empfand Wimmer gar nichts und dachte, der Kerl hätte ihn verfehlt. Doch dann spürte er jäh, dass eine warme Flüssigkeit über seine Brust und in seinen Hals lief. Wimmer gurgelte hilflos. Seine Beine knickten ein, und er sank auf die Knie. Das Blut spritzte und sprudelte aus dem Schlitz in seinem Hals und schien jegliche Wärme und Energie mit sich zu nehmen, denn rasch breiteten sich eisige Kälte und Kraftlosigkeit in seinem ganzen Körper aus. Er kippte zur Seite und rollte dann auf den Rücken. Mit den bloßen Händen wollte er den Blutstrom stoppen, doch sein Lebenssaft sprudelte zwischen seinen Fingern hindurch und ließ sich nicht aufhalten. Er starrte zu dem dicken Mann empor, der lächelnd auf ihn herunterblickte, das Messer mit der blutigen Klinge noch immer in der Hand. Dann verließ ihn jegliche Kraft und Wärme. Seine Hände sanken herab und blieben reglos liegen. Die letzte Atemluft entwich durch den tiefen Schnitt, der seinen Hals durchtrennt hatte, und ließ das Blut Blasen werfen. Dann trübte sich sein Blick, und Edgar Wimmer nahm nichts mehr wahr.

Der Mörder wartete geduldig, bis der Blutfluss zum Erliegen kam.

»War viel einfacher, als ich dachte«, sagte er zu seinem Hund, der erwartungsvoll neben ihm saß und die Leiche ebenfalls ansah. »Ich habe insgeheim mit etwas mehr Gegenwehr gerechnet. Aber so ist es natürlich viel besser. Ein Kampf hätte nur den Adrenalinspiegel erhöht und sich negativ auf das Fleisch ausgewirkt.« Er lächelte.

In diesem Moment erinnerte er sich an die Verpflichtung, die er übernommen hatte, und holte mit seiner freien Hand einen Tiefkühlbeutel aus einer der Taschen seiner blutbefleckten Outdoorweste. Er entnahm dem Beutel den kleinen Gegenstand, der sich darin befand, und steckte ihn in die linke Socke der Leiche, wo er nicht vom Blut befleckt werden konnte, das dem Toten über die Brust gelaufen und sein Hemd durchtränkt hatte. Nachdem er den Klarsichtbeutel zusammengeknüllt und wieder eingesteckt hatte, wandte er sich erneut an seinen Hund: »Was meinst du, Hannibal? Wollen wir uns nach dem miserablen Wirtshausfraß heute Nacht noch ein Stück gebratene Niere gönnen?«

Der Yorkshire Terrier bellte und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.

»Gut. Dann werde ich mich mal ans Werk machen.«

Der dicke Mann ging laut ächzend neben der Leiche in die Knie und machte sich dann fachmännisch mit dem Fleischmesser an die Arbeit.

ERSTER TEIL

DER LEBENDE TOTE

Kapitel 4

Das Haus sah aus wie eine Baustelle.

Die Mitarbeiter der Fensterfirma hatten im Laufe des Tages sämtliche alten Holzfenster im Obergeschoss und sogar schon einen kleinen Teil im Erdgeschoss ausgebaut und durch neue hochmoderne, energiesparende Kunststofffenster ersetzt. Der Rest der Arbeiten – die Fenster im Wohnzimmer, im Esszimmer und im Gäste-WC – sollte dann am darauffolgenden Tag durchgeführt werden.

Und da Anja Spangenberg schon mal dabei war, das Häuschen zu renovieren, das sie von ihrem verstorbenen Ehemann Fabian geerbt hatte, hatte sie sich spontan dazu entschlossen, eine neue Küche einbauen zu lassen und die Innenwände zu streichen.

Die alte Küche war ebenfalls an diesem Tag abgebaut und abtransportiert worden. Sie war mindestens fünfunddreißig Jahre alt und noch von Fabians Großeltern angeschafft worden, denen das Haus einst gehört hatte, bevor es nach ihrem Tod an den einzigen Enkel gegangen war. Wenn alles wie geplant klappte, was sie inständig hoffte, erwartete sie am kommenden Tag den Fliesenleger, um die alten, im Laufe der Jahre unansehnlich gewordenen braunen Fliesen zu entfernen, die anschließend durch eine moderne Küchenrückwand aus Acryl ersetzt wurden. Außerdem musste der Elektriker die Stromleitungen überprüfen und gegebenenfalls neue verlegen, während der Klempner die Überprüfung und eventuelle Erneuerung der vorhandenen Wasseranschlüsse durchführen sollte. Das Anstreichen der Wände übernahm Anja anschließend selbst, bevor dann endlich die neue Küche eingebaut werden konnte.

Sie hatte vor, nach und nach sämtlichen Innenwänden einen neuen Anstrich zu verpassen, was ihrer Ansicht nach ebenfalls längst überfällig war. Mit dem Arbeitszimmer hatte sie am heutigen Tag den Anfang gemacht. Sie wollte es bei der Gelegenheit auch neu einrichten, um nicht ständig, sobald sie den Raum betrat, daran erinnert zu werden, dass sie an diesem Ort den Leichnam ihres Mannes gefunden hatte.

Anja seufzte. Sie verdrängte die schmerzhaften Erinnerungen an ihren ermordeten Ehemann und die Bilder, die diese unwillkürlich mit sich brachten, und besann sich stattdessen wieder auf das Hier und Jetzt.

Die Handwerker hatten ihre Arbeit für heute bereits beendet und waren gegangen. Sie war daher allein im Haus, denn nicht einmal ihr Mitbewohner Yin war da. Als am frühen Morgen die Invasion der Arbeiter eingesetzt hatte und kurz danach lautes Bohren und Hämmern durchs Haus geschallt war, hatte der schwarze Kater vor dem Lärm und dem Aufruhr die Flucht ergriffen und das Haus verlassen. Seitdem war er nicht mehr zurückgekehrt. Aber vermutlich würde ihn der Hunger alsbald wieder in sein Zuhause zurückführen. Vor allem, nachdem nun fürs Erste wieder Ruhe eingekehrt war.

Anja hatte für den heutigen Tag ebenfalls Feierabend gemacht. Sie musste morgen nur noch die Fensterseite streichen, die sie wegen der Erneuerung des Fensters heute ausgelassen hatte, dann wäre sie zumindest schon mal mit dem Arbeitszimmer fertig. Sie erledigte das Malern aber nicht nur deshalb selbst, um Geld zu sparen. Bei den Unsummen, die allein die neuen Fenster und die Küche kosteten, käme es auf das Geld für einen professionellen Maler ihrer Meinung nach auch nicht mehr an. Sie tat es, weil sie momentan zu viel Zeit hatte und ihr ansonsten sterbenslangweilig wäre.

Nach dem Tod des Mordermittlers Anton Krieger, der aller Voraussicht nach von demselben Mann ermordet worden war, der auch schon ihren Vater, ihren Ehemann und zahlreiche andere Menschen auf dem Gewissen hatte und den sie den Widersacher nannte, war Anja nichts anderes übriggeblieben, als ihren unmittelbaren Dienstvorgesetzten bei der Vermisstenstelle der Kripo München, Kriminalrat Alexander Zumbruch, über all die Dinge in Kenntnis zu setzen, die sie bislang beharrlich verschwiegen hatte, um selbst gegen ihren Widersacher ermitteln zu können. Da sie dadurch nach Meinung ihrer Vorgesetzten die offiziellen Ermittlungen behindert hatte, was schlussendlich auch zum tragischen Tod des Kollegen von der Mordkommission geführt hatte, war wegen des Verdachts eines schwerwiegenden Dienstvergehens ein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet worden. Gleichzeitig war sie vorläufig ihres Dienstes enthoben und angeordnet worden, dass fünfundzwanzig Prozent ihrer Dienstbezüge einbehalten wurden.

Zum Glück war sie auf das Geld nicht angewiesen. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes nicht nur dieses Haus, sondern auch sein Vermögen geerbt. Außerdem hatte Fabian, ohne dass sie davon wusste, ein paar Jahre vor seinem Tod eine Risikolebensversicherung abgeschlossen, deren Begünstigte sie gewesen war. Sie litt also zumindest keine materielle Not.

Schwerer wog die Suspendierung. Anja war mit Leib und Seele Ermittlerin in der Vermisstenstelle, deshalb fehlte ihr die Arbeit auch sehr. Um sich gegen die drohende Beendigung des Beamtenverhältnisses zur Wehr zu setzen, hatte sie sich einen Anwalt genommen. Doch der hatte ihr aufgrund ihrer Vergehen bislang nur wenig Hoffnung machen können, dass das Disziplinarverfahren zu ihren Gunsten ausgehen könnte.

Anja seufzte erneut. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, bevor sie sich umdrehte und das Arbeitszimmer verließ. Sie hatte bereits die Farbroller und Pinsel gereinigt und den Farbeimer sorgfältig verschlossen. Außerdem hatte sie die alten Klamotten, die sie beim Malern getragen hatte, ausgezogen, sich Gesicht und Hände gewaschen und war in ihre Joggingsachen geschlüpft. Sie wollte nicht herumhocken, Däumchen drehen und darauf warten, dass Yin endlich nach Hause kam, sondern verspürte den Drang, sich zu bewegen. Deshalb hatte sie beschlossen, im Westpark ein paar Runden zu drehen. Ihre Armmuskeln schmerzten zwar von der ungewohnten Malertätigkeit am heutigen Tag – vor allem das Streichen der Decke war in die Arme gegangen –, aber schließlich lief sie nicht mit den Armen, sondern mit den Beinen. Die Schmerzen taugten daher ihrer Meinung nach nicht als Entschuldigung.

Da die Küche momentan unbenutzbar war, hatte sie in einer Ecke des Esszimmers eine kleine Ersatzküche eingerichtet. Dort stand ein kleiner Kühlschrank, der die Ausmaße einer Minibar in einem Hotelzimmer hatte. Daneben ein Tisch mit einer Doppelkochplatte und ihrer Kaffeemaschine. Vor allem auf Letztere konnte und wollte sie auf keinen Fall verzichten. Außerdem standen hier auch Yins Näpfe. Da sie nicht warten wollte, bis das Tier sich endlich dazu bequemte, nach Hause zu kommen, füllte sie einen der Näpfe im Bad mit Wasser und einen zweiten mit Katzenfutter aus der Dose. So musste der Kater wenigstens nicht hungern, wenn er während ihrer Abwesenheit nach Hause kam.

Danach verließ sie das Haus umgehend, schloss die Tür hinter sich und sperrte gewissenhaft ab.

Nur wenige Schritte von der Tür entfernt stand ein Gestell mit den restlichen Fenstern, die am nächsten Tag eingebaut werden sollten. Unmittelbar daneben befand sich ein Bauschuttcontainer, in den die Arbeiter die alten Fenster und den entstandenen Schutt geworfen hatten.

Anja ging darum herum und an ihrem weißen MINI Cooper vorbei, der vor der geschlossenen Garage stand, die vom Porsche ihres verstorbenen Mannes in Beschlag genommen wurde. Kaum hatte sie den Wagen passiert, bog ein dunkelblauer BMW in ihre Einfahrt. Anja blieb stehen und sah dem Fahrzeug teils neugierig, teils argwöhnisch entgegen. Sie kannte das Auto nicht, und außerdem erwartete sie ohnehin keinen Besuch.

Der BMW kam hinter ihrem MINI zum Stehen. Ohne den Motor abzustellen, öffnete der Fahrer die Tür und stieg aus.

»Was will denn der Kriminaldauerdienst von mir?«, fragte Anja, sobald sie den Mann erkannt hatte.

»Von wegen Kriminaldauerdienst«, entgegnete Kriminaloberkommissar Andreas Plattner grinsend. »Ich bin jetzt beim Mord.«

Plattner war einunddreißig Jahre alt, ein Meter einundachtzig groß und schlank. Er hatte blassgrüne Augen, kurzgeschnittenes rotbraunes Haar und einen rotbraunen Vollbart. Jedes Mal, wenn Anja ihn sah, erinnerte er sie unwillkürlich an den irischen Schauspieler Michael Fassbender. Anja hatte ihn – den Kollegen, nicht Michael Fassbender! – vor wenigen Wochen kennengelernt. Damals hatte er mit Kriminalhauptkommissarin Melissa Schubert ein Team des kriminalpolizeilichen Dauerdienstes gebildet, dem Bereitschaftsdienst der Kripo. Allerdings hatte er Anja schon damals erzählt, dass er gern zur Mordkommission wechseln wollte, sobald dort eine Stelle frei werden sollte, weil ihn Todesfälle interessierten. Nicht nur das hatte Anja, die nach Möglichkeit einen großen Bogen um jede Leiche machte, an ihm irritiert, sondern auch seine nervige Angewohnheit, ständig, selbst in den unpassendsten Momenten, breit zu grinsen.

»Glückwunsch«, sagte Anja, trat näher und schüttelte ihm die Hand. »Dann hat es ja endlich geklappt, und Ihr Traum wurde wahr.«

»Ja.« Er lächelte mit stolzgeschwellter Brust, doch dann verschwand das Lächeln jäh aus seinem Gesicht und machte einer betroffenen Miene Platz. »Allerdings gibt es bei der Geschichte auch einen Wermutstropfen. Denn es musste erst ein Kollege sterben, bevor ich endlich zur Mordkommission wechseln konnte.«

»Ach.« Anja riss überrascht die Augen auf. »Sie meinen Anton Krieger. Dann haben Sie also seine Stelle und arbeiten jetzt mit Peter Englmair zusammen?«

Plattner nickte. »Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus.«

Anja schüttelte den Kopf. »Wieso sollte es?«

»Na ja, Sie kannten Krieger doch und haben oft mit ihm zusammengearbeitet. Da dachte ich …« Er ließ den Rest ungesagt, als wüsste er nicht, wie er den Satz beenden sollte.

»Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich kannte Anton Krieger und schätzte ihn auch als Polizisten, aber wir waren nicht unbedingt die besten Freunde.« Was sogar noch gewaltig untertrieben war, aber mehr musste Plattner Anjas Ansicht nach nicht wissen. »Außerdem ist er tot, so traurig das auch ist, und irgendjemand musste die freie Position übernehmen. Warum also nicht Sie, wenn das ohnehin Ihr Herzenswunsch war?«

 

Das Grinsen kehrte auf Plattners Gesicht zurück. »Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen«, meinte er. »Ich befürchtete schon, Sie würden mich nicht als Peter Englmairs neuen Kollegen in der Mordkommission akzeptieren.«

»Im Gegenteil, ich freue mich für Sie. Außerdem kann Englmair Ihre Hilfe bestimmt gut gebrauchen. Aber was hat denn Ihre bisherige Kollegin beim KDD dazu gesagt?«

Plattner schnitt eine Grimasse. »Als ich es ihr erzählte, war sie natürlich im ersten Moment ganz schön angefressen und wollte gar nicht mehr mit mir reden. Aber dann hat sie es schließlich doch akzeptiert. Sie hat jetzt einen neuen Partner, der vorher beim Einbruchsdezernat war. Und wie ich hörte, kommen die beiden prima miteinander aus, sodass Melissa mir mittlerweile verziehen hat.«

»Und wie lange sind Sie jetzt schon beim Mord?«

»Seit drei Wochen«, sagte Plattner grinsend. »Ich bin also in Sachen Mord gewissermaßen noch grün hinter den Ohren.«

»Das wird sich schnell ändern, da bin ich mir sicher«, entgegnete Anja. »Und in Peter Englmair haben Sie einen guten Lehrmeister. Aber was führt Sie zu mir?« Sie hob Einhalt gebietend die Hand, als der frischgebackene Mordermittler antworten wollte. »Lassen Sie mich raten: Sie kommen natürlich wegen eines Mordfalls.«

Plattner wiegte den Kopf hin und her. »Sozusagen.«

»Was heißt hier sozusagen?«

»Lassen Sie sich überraschen.«

Anja hatte schon bei ihrer ersten Begegnung bemerkt, dass der Kollege sich gern geheimniskrämerisch gab. »Und was heißt das?«

»Mein Kollege hat mich hergeschickt. Er hat mir aufgetragen, Sie abzuholen. Sie sollen sich etwas ansehen.«

Eine ungute Ahnung befiel Anja. In der Regel hatte es für sie nichts Gutes zu bedeuten gehabt, wenn die Kollegen der Mordkommission sie in letzter Zeit zu einem Tatort gerufen hatten. Außerdem erschauderte sie schon allein bei dem Gedanken, dass sie es heute noch mit einem Leichnam zu tun bekommen könnte. »Ich wollte zum Joggen gehen«, wandte sie daher ein.

»Das kann warten.«

»Kann ich mich wenigstens vorher noch duschen und umziehen?« Das würde das unangenehme Erlebnis zwar nur hinauszögern, aber immerhin hätte sie mehr Zeit, sich mental darauf vorzubereiten.

»Nicht nötig«, sagte Plattner. »Da, wo wir hingehen, reicht ihr Outfit allemal. Außerdem wartet Peter ungeduldig auf uns.«

Anja seufzte tief. »Na gut.« Sie wandte sich ab und umrundete den Wagen des Mordermittlers. »Aber beschweren Sie sich hinterher bloß nicht, dass es in ihrem Auto nach Schweiß riecht. Ich habe nämlich heute die Wände und die Decke meines Arbeitszimmers geweißelt und bin dabei gehörig ins Schwitzen gekommen.«

»Ich werde es überleben«, erwiderte Plattner grinsend, setzte sich wieder hinters Steuer und schloss die Tür.

Sie nahm neben ihm Platz. Bevor sie sich anschnallen konnte, fuhr Plattner bereits rückwärts aus der Einfahrt. »Wieso haben wir es so eilig?«

»Weil ich der Neue im Team bin und meinen Kollegen ungern warten lasse, wenn er mir einen Auftrag erteilt.«

Anja nickte verständnisvoll. »Verstehe. Na, dann geben Sie mal tüchtig Gas, damit Englmair nicht länger als unbedingt notwendig auf uns warten muss.«

»Zu Befehl!«, sagte Plattner und tat genau das.

Ihr Ziel lag in Harlaching, einem Stadtteil mit viel Grün und zugleich eine der ruhigsten und vornehmsten Wohngegenden Münchens, unmittelbar an der Isar gelegen und in Nachbarschaft zum Tierpark Hellabrunn sowie zu den Trainingsstätten des FC Bayern München.

Trotz des dichten Verkehrs, des einen oder anderen leichten Staus und einer Baustelle schafften sie die Strecke erstaunlich rasch in fünfundzwanzig Minuten.

Plattner hielt vor einem imposanten und stilvollen Mehrfamilienhaus unweit des Tierparks, und sie stiegen aus.

Anja sah sich um. Sie hatte einen Tatort mit dem üblichen Aufgebot an Streifenpolizisten, Kriminaltechnikern, Mordermittlern und dem unvermeidlichen Gerichtsmediziner erwartet, doch davon war nicht das Geringste zu entdecken. Sie sah daher Plattner fragend an und hob die Schultern.

»Kommen Sie!«, forderte er sie mit dem obligatorischen Grinsen im Gesicht auf und ging voraus.

Sie zuckte mit den Schultern und seufzte. Doch was blieb ihr anderes übrig, als ihm zu folgen?

Es ging zu einer Tiefgaragenzufahrt. An den Überresten eines rotweißen Flatterbands, die hier und da noch herumlagen, erkannte Anja, dass die Tiefgarage bis vor Kurzem gesperrt gewesen sein musste. Allmählich wurde es interessant. Da das Zufahrtstor offen war, konnten sie die unterirdische Garage ungehindert betreten. Im Licht der für eine Tiefgarage erstaunlich hellen Beleuchtung bewunderte Anja die Autos, die auf einigen Stellplätzen geparkt waren. Es handelte sich fast ausschließlich um Fahrzeuge der Oberklasse oder schnittige Sportwagen. Mit einem schwarzen Mercedes, den sie auf ihrem Weg passierten, hatten sich offensichtlich intensiv die Kriminaltechniker befasst, denn das Fahrzeug war an zahlreichen Stellen, vor allem an der Fahrertür und am Kofferraumdeckel, mit weißem Fingerabdruckpulver bestäubt.

Schließlich entdeckte sie auch Kriminalhauptkommissar Peter Englmair von der Mordkommission, der in der Nähe der Aufzugstür stand und ihnen erwartungsvoll entgegensah.

Englmair war 42 Jahre alt, von durchschnittlicher Statur und eins achtzig groß. Er hatte kurze dunkelblonde Haare und grünbraune Augen.

Erst als sie sich ihm bis auf wenige Schritte genähert hatte, bemerkte Anja die Kreidestriche auf dem Boden der Tiefgarage unmittelbar vor der Aufzugstür. Sie bildeten die Umrisse eines menschlichen Körpers. Außerdem sah sie dunkle Flecken aus getrocknetem Blut.

Also handelte es sich bei diesem Ort tatsächlich um einen Tatort, was zumindest die Anwesenheit der beiden Mordermittler erklärte. Allerdings waren allem Anschein nach die kriminaltechnischen Untersuchungen beendet und die Leiche längst abtransportiert worden. Anja atmete erleichtert auf und spürte, wie die Anspannung und innere Erregung, die sie auf der Fahrt hierher unwillkürlich erfasst hatten, ein wenig nachließen.

Englmair lächelte freundlich, als sie sich begrüßten. Es war ungewohnt, ihn ohne seinen langjährigen Partner Krieger zu sehen. Die beiden waren von den Kollegen oft scherzhaft als siamesische Zwillinge bezeichnet worden. Erstens waren sie nahezu unzertrennlich gewesen, zweitens hatten sie sich trotz eines erheblichen Größenunterschieds ausgesprochen ähnlich gesehen. Doch dann hatte Englmair in den letzten Monaten abgenommen und sich die Haare wachsen lassen, sodass die Ähnlichkeit zwischen ihnen immer weniger geworden war. Und nun war Krieger tot, und Englmair hatte einen neuen Partner. Also sollte sie sich allmählich daran gewöhnen.

Anja bedauerte den Tod des Mordermittlers sehr. Andererseits war sie, wenn sie ehrlich sein wollte, aber auch ein wenig erleichtert, dass er jetzt nicht hier war, denn vermutlich wäre er bei ihrem Anblick sofort wieder auf Konfrontationskurs gegangen. Und darauf konnte sie bei allem Ärger, den sie derzeit ohnehin hatte, gut und gerne verzichten.

Nach Kriegers Tod hatten Anja und Englmair sich geschworen, zusammenzuarbeiten, um seinen Mörder zu finden. Seitdem telefonierten sie häufig miteinander und trafen sich auch gelegentlich. Allerdings geschah das stets privat und außerdienstlich.

Das heutige Treffen war etwas anderes, denn es war allem Anschein nach offiziell. Vermutlich hatte Englmair deshalb seinen neuen Partner geschickt, um Anja hierher zu bringen, und sie nicht einfach angerufen und herbestellt.