Die Weltzeituhr

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Mein lieber Jab!

Es ist ja ’ne Wucht, dass Du mich durch ein Suchbüro aufgestöbert und gefunden hast. Mensch, Junge, nach drei Jahren endlich wieder etwas von Dir zu hören – darüber bin ich ganz jeck vor Freude! Jedenfalls vielen Dank für Deinen Brief vom 10.8.47, der mich beinahe pünktlich an unserem „Gedenktag“ erreichte. Seinerzeit, vor einem Dezennium, wussten wir noch nichts von der großen Pleite, die uns bevorstand: Von überstürzter Pennäler-Pensionierung“, Kommissdienst und Krieg, Niedergang und Heimatlosigkeit. Aber trotz ständiger Gefahr des Ablebens überlebten wir, um schließlich aufzuleben. – Jetzt schmeiße ich hier in Berlin (zusammen mit meiner Mutter) einen Laden. Wir handeln mit Büchern gemäß dem Sprichwort: Während der Klügling noch denkt, handelt der Grünling schon. Ein guter Job, lieber Jab! Und Du bewachst inzwischen Hamburger Nachtlokale? Da Du stets ein unternehmungslustiger Boy warst, wundere ich mich nicht darüber. Erzähle doch bald mal etwas mehr von deinen Abenteuern.

Nun erinnerst Du an unseren Blutsbrüderschwur vor zehn Jahren. Auch ich entsinne mich genau, wie wir mit dem Fahrrad in den Donnerwald fuhren und schweigend unter ein Mistelkreuzholz traten. Dann desinfizierte ich mit sechzigprozentigem Äthylalkohol eine Nähnadel und unsere Zeigefinger, ritzte die Kuppen und ließ das Blut in eine halbgefüllte Mineralwasserflasche tröpfeln. Nach feierlichem Beistandsgelöbnis tranken wir die sanguinische Limonade und riefen Hugh!

Merkwürdigerweise fällt mir sonst von Anno dunnemals wenig ein. Vielleicht deshalb, weil wir eine anonyme Gruppe bildeten und uns gewissermaßen zu entpersonalisieren trachteten. Die Psychologen behaupten ja, dass man in diesem Alter gefühlsarm sei, zur Nivellierung neige und keine Besonderheit wünsche außer jener, abgewetzt und schmuddlig herumzulaufen „wie alle“. Dennoch muss es gemeinschaftliche Begeisterungen gegeben haben. Sobald ich nämlich beginne, Geschichtliches exakt zu datieren, tauchen plötzlich die dazugehörigen individuellen Geschichten auf. Ob es Dir ebenso geht? Die Angel der Historie verhilft dazu, Provisorisches und längst Vergessenes aus dem „privaten“ Unterbewusstsein heraufzuziehen, wobei es nicht selten zu Überraschungen kommt. Zum Beispiel glaubte ich immer, ein katastrophales, mich stark beunruhigendes türkisches Erdbeben habe in unserem „Schwurjahr“ stattgefunden, aber eine Zeittafel korrigiert mich und weist das Ereignis zwei Jahre später aus. Unser Schutz- und Trutz-Eid hingegen hing ganz sicher mit einer gerade aktuellen, tragischen Himalaja-Expedition zusammen.

Weißt Du noch, wie wir uns im Kino den „Nanga Parbat“-Film anschauten? Uns faszinierten sieben deutsche Sahibs oder Höhenforscher, die durch Kaschmirland zur dajarmurischen Schneegrenze ritten. Dann erblickten wir grandiose Bilder und Szenen vom Aufstieg: vermummte Gestalten mit Sonnenbrillen, Stecken und Halteseilen; einen sich windenden, tausendfüßlerähnlichen Trägertross am Steilhang; Zeltlager auf nackten Plateaus; die Artilleriesalven der Gletscher, deren Eisschollen aus den Flanken des lichtumfluteten Gipfels niederkrachten, am Felsgestein zerbarsten und in winzige Kristalle zerstäubten. Ungeheuer erregend war die Belagerung der sturmumtosten, eingenebelten „Gralsburg“ überm Firngrat des Silbersattels; endlich die Vorbereitung des Angriffs auf eine der höchsten Zinnen der Welt, bis in kühler Mitt-Juni-Nacht eine Lawine über das Camp hinwegrollte und die tapfere Mannschaft begrub. – In jenen Tagen gelobten wir beide uns „Treue bis in den Tod“ wie die Leute vom Nanga Parbat.

Heute, zehn Jahre später, hat noch immer kein Sterblicher auf der weißen Spitze gestanden, ebenso wenig auf den anderen sechs Götterbergen des Himalaja. Allerdings vermute ich, dass dennoch bald tüchtige Sahibs bis zum Scheitelpunkt der Erde bei Kilometer 8 840 emporkraxeln und beweisen werden, was Menschen vermögen. Ich meine die Menschen schlechthin. – Schon als uns Lehrer Krause seinerzeit weismachen wollte, andersrassige und semitische „Untermenschen“ seien dumm, faul und zu keiner hervorragenden Leistung fähig, bezweifelte ich es, weil ich an den schwarzen Weltrekordler Jesse, an die mutigen, geschickten einheimischen Begleiter der Hochgebirgsforscher und an Annette Holdheimer dachte. Welch bedauernswerte Pädagogik, die uns aufzuwerten suchte, obwohl es gar nichts Bestes, sondern nur bestens Spezialisiertes gibt! Welch arme Schulmeister, die nichts wissen und sagen durften von Heinrich Heine, Karl Marx, Gustav Mahler und Albert Einstein, von altägyptischer und chinesischer Weisheit!

Dein Brief, lieber Jab, wirkt auf mich offenbar wie Lackmuspapier, das sich in der Lauge des Erinnerungsstromes vergissmeinnichtblau färbt. Dabei überrascht es mich, dass ich scheinbar so unvertraulich mit Dir plaudere, aber vom privat gelebten Leben blieb eigentlich nur rührend Anekdotisches, während sich denkwürdige Erinnerungen im Allgemeinschicksal auflösen. Darf ich fortfahren wie im Selbstgespräch? – Also, dieweil das indische Grabmal im ewigen Schnee versank, schaufelte sich eine andere Entdeckertruppe wiederholt frei: die Russen auf dem Nordpol. Dass dort vier Männer monatelang auf einem driftenden, brüchigen Eisfeld ausharrten und hundert Gefahren trotzten, fanden wir respektabel. Sicherlich erinnerst Du Dich genauso gut, wie ich an die Berichte von den entlegensten Bewohnern am Schnitt- und Ruhepunkt des blauen Planeten, von ihrem Wigwam in Mitternachtssonne und Polarnacht, Stiemwetter und Gewächte. Jederzeit konnte das Frostfloß zerspringen, umkippen und in die Presse von benachbartem Packeis geraten, aber obgleich die Scholle tatsächlich mehrmals splitterte und auf wenige Quadratmeter zusammenschmolz, loteten ein Hydrobiologe und ein Geophysiker seelenruhig die Ozeantiefe aus; sie fischten Plankton und trieben meteorologische Studien. – Als ein Oberschüler eines Tages renommierte, er habe mit einem selbstgebastelten Amateurfunkgerät Signale der Station UPOL aufgefangen, kannte unsere Begeisterung keine Grenzen. Denkst Du noch daran, wie wir uns auf dem vereisten Mühlbach eine Schneeburg bauten, Messlatte und Funkantenne aus Ästen aufrichteten und Schlitten zum „Provianttransport“ bereitstellten? Ja, und dann kam der alte Krause vorbei und erkundigte sich nach unserem Spiel. „Wir sind die Russen vom Pol!“, riefen wir. – „Schämt euch, Kinder! Das sind doch unsere Feinde.“

Weißt Du, Jab, was mich im Zusammenhang mit der sowjetischen Expedition erschreckte, war die Erkenntnis vom schwankenden Grund. Meine Mutter erklärte mir damals, dass nicht nur Eisschollen driften, sondern auch Kontinente. Vor etwa hundert Millionen Jahren, sagte sie, habe sich Südamerika von Afrika verabschiedet und nach Westen abgesetzt, und Indien sei von der madagassischen Gegend auf Nordostkurs gegangen, um beim Festmachen an der südasiatischen Küste den Himalaja aufzufalten. Unsere Erdteile rutschten ungefähr so über den plastischen Erdmantel wie Robben über Kachelböden, wobei die robbenden Großregionen durchschnittlich nur eine Dicke von zwanzig Kilometern erreichten. Diese Vorstellungen von unserer schauderhaft schmalen Lebenskruste, von vulkanischem Schwingrasen und brodelndem Sand ängstigten mich jahrelang und haben längst symbolische Bedeutung erlangt.

O Freund, nichts ist mehr fest und verlässlich auf der Weltkugel; unter der dünnen Oberfläche wirken furchtbare Kräfte, die sich in jedem Augenblick entladen können. Obwohl ich gründlich desillusioniert aus dem „heißen Krieg“ zurückkam, schien es mir unmöglich, dass es bald wieder einen „kalten Krieg“ geben würde. Er schwelt! Jetzt leben wir in Furcht und Ungeborgenheit. Manchmal frage ich, warum wir aufgespart wurden und weiterleben müssen. Vielleicht deshalb, damit wir für uns und die Menschheit der Zukunft aus dem trügerischen Frieden einen sicheren machen. Möge es gelingen – und unser jungenhaftes Beistandsgelöbnis einen neuen Sinn bekommen.

Das wünscht mit herzlichen Grüßen

Dein Guido

DRITTES LUSTRUM
Erscheinungen des Neandertalers

Während die Zeitungen das große gegenwärtige Zeitgeschehen und den Gebieter Ahi priesen, dem bei der „Ehrenrettung der Nation“ alles „so wunderbar“ gelinge, erzählte Studienrat Hardekopf seinen Schülern von fernster Vergangenheit und den Anfängen der Humanität.

In der unwirtschaftlichen, unmenschlichen Vorgeschichtsepoche des mittleren Paläolithikums, sagte er, seien auf der Erde Menschenwesen aufgetaucht, deren Menschentum man oft bezweifelt habe. Noch immer gelte es als Beleidigung, jemandem derartige Vorfahren zuzumuten. Denn diese schrägstirnigen, großmäuligen und kinnlosen Individuen wiesen unbestreitbar mancherlei äffische Züge auf, weshalb man dazu neige, sie als grunzende, schlurfende Gorillasprösslinge darzustellen, die ihre Weiber an den Haaren in Höhlen zerrten und stumpfsinnig rammelten. – Aufgrund neuester Berechnungen der Schädeldimensionen wisse man jedoch, dass die fellvermummten Gesellen der Vorzeit genauso viel Hirnmasse besaßen wie jetzige Menschen. Demnach habe es im humanen Bereich seit fünfzigtausend Jahren kein evolutionäres Hirnwachstum mehr gegeben. Folglich müsse man alle Völker grundsätzlich als gleichwertig und die sogenannten Neandertaler als vernunftbegabt ansehen. In der Tat könne man aus Gerät- und Pollenfunden in deren Gräbern auf Totenkult, Naturbeherrschung und „Blumensprache“ schließen. Verschiedenartige Steinwerkzeuge beglaubigten zudem manuelle Geschicklichkeit und einige ausgewachsene, deformierte Skelette eine bemerkenswerte Krankenfürsorge.

„Lange vor unserer beschreibbaren, schriftlich überlieferten Geschichte“, fuhr der Lehrer fort, „gelang den Leuten von Crô-Magnon dann eine sichtbare Vergeistigung. Sie beschränkten sich nicht mehr auf Jagd und Daseinskampf, sondern bemühten sich darum, Gewalttat zu bändigen und das Leben zu verschönern. Unnotwendig und aus reinem Wohlgefallen an farbigen Formen begannen sie, die Wände ihrer Behausungen mit ausdrucksvollen Tierbildern zu bemalen. Bereits vor dreißigtausend Jahren wurde offenbar, dass Kunst zum Wesen und zu den Grundbedürfnissen der Menschheit gehört.“ Während Herr Hardekopf Kopien urtümlicher Rötelzeichnungen von Stier, Wildpferd und Bär auf eine Leinwand projizierte, verbarg Guido im Halbdunkel nicht seine Anteilnahme. Besonders gefiel ihm das Foto eines aus Elfenbein geschnitzten, rückwärtsschauenden Farrenkopfes mit mondsichelförmigen Hörnern. Als der Studienrat von französischen und spanischen Kindern berichtete, die bei der Entdeckung der Höhlen und Gemälde wesentlich beteiligt gewesen seien, träumte der Junge von ähnlichen Forschertaten. Fortan kroch er in jede Grotte hinein, doch leider fand er keine Antiquitäten, sondern allenfalls Kothaufen.

 

Seit Beginn des fünften Schuljahres radelte er täglich zusammen mit Freund Martin von Paradies nach Friedburg zum Gymnasium hinüber. Da ihm die Mutter für die „Mittagsstunde“ stets etwas Geld zusteckte, lief er nach dem Unterricht gern durch die Altmarktstraße, besah Aquarien, Fernrohre und Paddelboote wie einst und kaufte Raketenautos und Naschereien. Noch immer suchte er im Stadtpark das Geheimnis des „klagenden Delfins“ zu ergründen. Manchmal beteiligte er sich auch an den Ausflügen der Schowi-Jugend, obwohl ihm die Kommandiererei des Fähnleinführers (Fäfü genannt) sehr missfiel. Hingegen begeisterte sich der Knabe dafür, Jägerstände zu erklettern, Wildrudel zu umschleichen, Pilze zu sammeln und auf Reisigfeuer zu schmoren.

Eines Tages rief ihm der Jungboss zu: „Komm mal mit! Wir wollen auf dem Sportplatz die Fahne hissen.“ Weil der Angeredete nicht reagierte, wiederholte der Häuptling lautstark: „Ich gebe dir den dienstlichen Befehl, sofort mitzukommen!“ Nun blickte Guido den drei Jahre älteren, breitschultrigen Burschen spöttisch an. „Du hast mir gar nichts zu sagen, du Neandertaler.“

Blitzschnell sprang der Fäfü herzu und paukte mit beiden Fäusten auf den Gegner ein. Diesem blieb zunächst nichts weiter übrig, als sich durch Vorbeugen und Armekreuzen überm Kopf gegen die pausen- und rücksichtslosen Boxstöße des vordrängenden Raufboldes zu schützen. Bevor Jung Möglich Distanz schaffen und planmäßig kontern konnte, streckte ihn ein Schlag in die Magengrube zu Boden.

In dem Augenblick stieg Martin vom Fahrrad. Der Jungboss begrüßte ihn: „Oha, noch ein Hackfleisch-Anwärter? Weißt du, solchen Scheißkerlen und Meuterern wie euch beiden wollte ich schon lange mal die Fresse polieren. Los geht’s!“

Das Reizwort bewirkte wechselweise eine Stimulierung des Sympathikus und Ausschüttung des Nebennierenhormons Adrenalin; ferner Beschleunigung des Kreislaufs, Erhöhung des Blutdrucks, Energiesteigerung durch Freigabe von Kohlehydraten aus dem Leberspeicher; Verstärkung der Reaktionsfähigkeit und Muskelspannung.

Temperamentvoll stürzte sich der Fäfü auf den neuen Widersacher, um ihn in erprobter Weise durch Schlagbombardements und brutalen Einsatz überlegener Körperkräfte „fertigzumachen“. Aber zu seiner Verblüffung trafen die Fäuste nicht. Jedes Mal, wenn er wie ein Stier anrannte, wich Martin wie ein Torero aus. Er tauchte seitlich weg, duckte sich, pendelte und tänzelte, weshalb die meisten gegnerischen Aktionen ins Leere liefen. Infolgedessen geriet der Herausforderer zusehends in Rage. Da er wegen seines ungestümen Angriffstempos nur ungenau zu zielen vermochte, ließ sich Guidos Freund bald auf direkten Schlagabtausch ein.

Inzwischen hatten sich ungefähr fünfzig Zuschauer angesammelt, die aufmunternd pfiffen und den Kampf lärmend kommentierten. Sie bemerkten, wie der kleine, stämmige Sextaner die Offensiven des um einen Kopf größeren, athletischen Schowi-Rabauken geschickt blockte, konterte und nach Sidesteps graziöse Uppercuts austeilte. Besonders imponierte es, als Martin die Vorliebe des Fäfüs für Nahdistanz ausnutzte und dessen Deckung durch kurze Haken aufriss. Diese geschwinden linken Winkelschläge, die meistens knallhart am Unterkiefer landeten, machten den Gegener allmählich groggy. Obwohl er für Deutschlands und seine eigene „Ehre“ kämpfte und sich im Infigth verzweifelt wehrte, musste er starke Hiebe hinnehmen: stichartige Geraden, Kolbenstöße, Hammerhits, Wischer, Aufwärtshaken und Schwinger. Schließlich eine wuchtige geschraubte Gerade zum Kinn.

„K. o.!“ und „Okay!“ schrien die Jungen und umringten den Sieger. „Mensch, deine linken Kanthaken sind verdammt klasse!“ „Kanthaken“, sagte Martin geringschätzig. „Das nennt man Jab, falls ihr noch nichts von Boxtechnik gehört haben solltet.“ Begeistert verliehen ihm die Schüler den Sportsnamen als Spitznamen.

Während sich der verprügelte Jungboss verwirrt erhob und trollte, bewegte sich die Gymnasiastengruppe zu Guido hinüber, der noch immer auf der Erde kauerte und erklärte: „Weiß der Teufel, weshalb ich mich nicht rappeln kann. Wahrscheinlich hat mir der Kerl das Zwerchfell gegerbt, denn mir ist zumute, als steckte ein Messer im Leib.“

Auf dem Vierhändesitz trugen Jab und ein Kamerad den Verwundeten zum Aloysius-Spital, wo der Chirurg den schlimmen Milzriss sogleich operierte und nähte. Als Dr. Möglich besorgt herbeieilte, konnte er seinem Kollegen nur noch für Umsicht und schnelle Hilfe danken. Da er eine „gründliche Ausheilung“ wünschte, musste Guido zehn Tage lang im Krankenhaus bleiben, was dem Jungen durchaus gefiel, denn er verspürte keine Schmerzen mehr und wurde von den Pflegerinnen verwöhnt.

Viel Spaß bereitete es ihm, wenn ihn die Schwestern in den Bestrahlungsraum riefen, um Verbinden zu üben. Dann wanden sie Mullstreifen in Spiral- und Schraubentouren um seine Arme und Beine, brachten an den Händen Kornähren, an den Ellbogen Schildkrötenmuster hervor und schnürten die Brust in Sternfaschen ein. Zuletzt lachten sie, weil er wie ein lädierter Kämpe im Ringelkleid aussah oder wie eine altägyptische Osiris-Mumie.

Nachdem Riss und Schnitt gut verheilt waren, verbrachte Guido noch ein Wochenende in der Klinik, damit er am Dienstag von hier aus zur Schule gehen konnte. Fast das gesamte Personal hatte an diesem Samstagnachmittag Ausgang, weshalb die siebzehnjährige Schwester Christine den Jungen zu „Verbandslehre“ und Zeitvertreib einlud. Unterm Bilde des Hausheiligen, flankiert von Lilie und Lamm, begann sie ganz unbekümmert mit dem blonden, blauäugigen Burschen zu flirten. Amüsiert entdeckte sie seine zahlreichen „Verletzungen“ und spulte um Kinn, Schulterblätter, Bauchnabel und Knie fünf Meter Binden ab.

Plötzlich schlug sie einen Rollentausch vor. „Du kannst doch schweigen?“ Sie streifte Kittel und Büstenhalter ab und wies auf die Brust. „Dort bin ich verwundet.“

Obwohl Guido das Delikate der Situation kaum begriff, glaubte er, „mutig“ mitspielen zu müssen, und Christine schien ihn zunächst in der Spielvorstellung zu bestärken. Aber ihre urmenschlichen Katzbalgereien gingen bald in befremdliche Zärtlichkeiten über, die er erschrocken abzuwehren suchte. Immer wieder bemühte sie sich, ihm Wimpern, Lippen, Fingernägel und Strümpfe zu schenken; ihre Brüste flogen ihm wie Ballgeschosse entgegen. Nachdem sie ihn betroffen gemacht hatte durch die Bemerkung, alle Menschen sollten „lieb zueinander“ sein, wusste er nicht mehr, wie ihm geschah. Oh, antipathische Sympathie!

Ungefähr zur gleichen Stunde erlebte auch der Vater im Paradies etwas Unheimliches. In den vergangenen Wochen hatten Patienten vermehrt über Schlaflosigkeit geklagt und Träume erzählt von Gewitterstürmen, Feuersbrünsten, Abstürzen, Schattenverlust und grotesken Drohgestalten. Als der Doktor bei Blutuntersuchungen der Geängstigten eine auffällige, allgemeine Verminderung der Leukozyten feststellte, neigte er dazu, Umwelteinflüsse in Betracht zu ziehen. Vielleicht kosmische Strahlungen? Hieß es nicht, dass die Observatorien gegenwärtig ungewöhnliche Sonnenfleckenaktivitäten registrierten? Ob diese möglicherweise irdische Katastrophenahnungen und Krisen begünstigten, ja determinierten?

Wohl wissend um die Bedeutung eines erquicklichen Schlummers war Theo Möglich im Frühling dazu übergegangen, Ruhe- und Traumzustände genauer zu erforschen. Bei nächtlichen Bespähungen von Frau und Kind gewahrte er durchschnittlich dreißig Körperdrehungen und anderthalbstündige Zyklen mit schnellen Augenrollbewegungen. Es reizte ihn, die Schläfer zu wecken und zu befragen, was sie in dem Moment „gesehen“ hätten. Aber dann überlegte er, wie er sich selbst gleichsam von innen begucken könnte.

Merkwürdigerweise kam ihm Guidos Krankenhausaufenthalt sehr gelegen. Nicht nur aus fürsorglichen Gründen empfahl er eine längere stationäre Behandlung, sondern auch, weil er die Zeit für ein Experiment nutzen wollte, das sich auf keinen Fall vor den Augen eines respektschuldigen Knaben abspielen durfte. Unter Umständen wäre der Bengel sogar imstande, sich rekordsüchtig daran zu beteiligen! Kurzum, der Doktor hatte sich dazu entschlossen, vier Tage und vier Nächte hindurch auf jeden Schlaf zu verzichten.

„Eine verrückte Idee!“, meinte Frau Dagmar. „Und warum?“

„Ich möchte gern herausfinden, ob das Schicksal des legendären Ewigen Juden wirklich so schlimm ist. Auch interessiert es mich, wie lange man bei einer Dauerwache leistungsfähig bleibt und was währenddessen in uns vorgeht.“

„Könntest du das nicht jüngeren Leuten überlassen?“

„Bitte, denk mal an den ‚Mann aus der Provinz‘. Sei lieb und hilf mir, konsequent durchzuhalten, ja?“

Die erste Nacht überstand Theo ausgezeichnet. Zunächst fesselte ihn ein Buch „Zwischen Wasser und Urwald“, obwohl es ihm wissenschaftlich veraltet zu sein schien. Fröhlich kritzelte er an den Rand: „Noch keine Ahnung von Sulfonamiden!“ – Im Morgengrauen, gegen vier Uhr, genoss er Kaffee und ein paar Schinkenbrote, worauf es ihm gefiel, Kasperlepuppen seines Sohnes auszukramen und halblaut ein Weihnachtsspiel zu proben: Hygienische Verhaltensmaßregeln für Maria und Josef „in Bethlehems Stall“. Beim Frühstück wirkte er auf Dagmar frisch und heiter, so dass sie ihn unbesorgt zur gewohnten ärztlichen Sprechzeit entließ.

Erst am Abend bemerkte sie eine gewisse Veränderung seines Wesens. Einerseits lachte er häufig unmotiviert und forderte charmant den Liebesvollzug, andererseits brauste er jäh auf, als sie zögerte und ihn an seine Schonungsbedürftigkeit erinnerte. Dennoch leistete sie ihm verständnisvoll Gesellschaft bis mitternachts. – Nun versuchte er, sich durch „Schwejk“-Lektüre zu ermuntern, aber nach einem Weilchen ertappte er sich beim gedankenlosen Umblättern von Seiten, deren Schrift vor seinen Augen tanzte. Um den kritischen Punkt zu überwinden, stellte er stark rhythmische Grammofonmusik an, bis er sich dazu aufraffte, die andrängende Müdigkeit durch einen Spaziergang zu verscheuchen. Da er während des Marsches tief atmete und am Ortsrand in den Mühlbach tauchte, empfing Frau Dagmar in der Frühe den Eindruck seiner Unverwüstlichkeit. Offenbar „bewies“ er, dass Schlaf nur eine schlechte Angewohnheit war.

Der Augenschein trog. Zwar gelang es ihm tagsüber, bei Telefonaten, Mahlzeiten und einer ausgedehnten Kaffeetafel Leistungsfähigkeit zu mimen, doch tatsächlich spürte er eine entsetzliche Antriebsarmut, Arbeitsunlust und Konzentrationsschwäche. Nachdem er am Spätnachmittag mühsam errechnet hatte, dass er bereits fünfzig Stunden ahasverisch wandelte, entdeckte er dicke Käfer auf dem Teppich. Auch begann der Globus geschwind zu rollen und die Dimensionen im Raum zu verändern: Tische und Schränke zogen sich in die Länge, die Decke wölbte sich und verkürzte die Lampe. Alarmiert nahm der Doktor Kokaintabletten und begab sich ins Studierzimmer, wo er die kommende Nacht mit dem Vorsatz durchzustehen hoffte, sämtliche Titel seiner Bibliothek abzuschreiben. Immer wieder wurde er jedoch aufgeschreckt durch Erscheinungen wie die schwebende Goethebüste, sich schlängelnde Polsterrollen und verdächtige Rufe im Ofen. Wie gehetzt stapelte er Bücher vor sich auf. Er hielt sich für den Archivar von Schloss Ferney.

Am nächsten Morgen guckte er seine Frau misstrauisch an. Schweigend nahm er die Samstagsausgabe der Zeitung zur Hand und starrte lange auf die Überschrift: „Ahi aus Rom zurück.“ Da sah Theo Möglich, wie der schrägstirnige, großmäulige Mann auf dem Titelfoto aus Ruinen hervortrat und eine blutige Faust über Totenschädel reckte.

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