Die Weltzeituhr

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Zeitansage, 7. und 8. Jahr

30. Juni: Obwohl Ahi durch Besiedlung von Konzentrationslagern, Beschleunigung des Emigrationstourismus und friedliche Kriegswirtschaft alsbald Hunderttausende Arbeitsplätze für Erwerbslose schuf, nannte Spezi Rüpel derartige Errungenschaften einen Furz. Kraftmeierisch forderte er eine blutige, zweite „Revolution“ und die Übertragung aller militärischen Macht an Ganoven-Sturmabteilungen. – Blitzschnell entschloss sich Ahi dazu, von Bonn nach Bayern zu fliegen, um die unehrerbietigen Getreuen zur Räson zu bringen. Wie die Staatszeitung meldete, fuhr er im Morgengrauen fast ohne Begleitung zum Quartier der alten Mitkämpfer, bezwang die Wachposten mit blitzendem Blick und betrat, eine Hundepeitsche schwingend, das Schlafgemach des Rivalen. Von zwei Scharfschützen flankiert, trieb er den Mann im Nachthemd heldenhaft aus dem Bette und verkündete: „Du bist verhaftet!“ In den angrenzenden Stuben bot sich dem charaktervollen, makellosen, sauberen Boss ein empörendes Bild dar; er fand die Rüpel-Garde zumeist in perversen Positionen. „Ihr Arschficker!“, brüllte er in kernig-korrektem Bühnendeutsch und riss von umherliegenden Uniformen die Rangabzeichen herunter. „Pfui Teufel! Ich arretiere, degradiere und liquidiere euch!“ Wenige Stunden später verordnete Ahi den hochverräterischen Freunden und Opfern der deutschen Bartholomäusnacht den Gnadentod durch Erschießen.

20. Dezember: Einst war das Luftschiff „Graf Zeppelin“ bei einer Besichtigungsreise in zwanzig Tagen um die Welt gesegelt. Nun stellte es einen Streckenrekord auf, der vierundzwanzig Erdumkreisungen in einem Betriebslustrum entsprach. Während der Flug von Friedrichshafen nach Rio de Janeiro für jeden der zwanzig Gondelpassagiere vor fünf Jahren noch 8 400 RM kostete, dürfte die Preissenkung auf 1 500 RM für daheim Unerwünschte erwünscht sein.

Im nächsten Spätsommer, 15. September: Gemäß rassenhygienischer Vorschrift sind Eheschließungen zwischen Juden und arischen Deutschen künftig verboten, bereits geschlossene Mischehen null und nichtig und außereheliche Geschlechtsbeziehungen im genannten Personenkreis verbrecherisch. Ab sofort haben Hebräer und Farbige als minderwertig, schamlos, sexuell entartet und schwachsinnig zu gelten. Die Höchststrafe trifft jedermann, der den Retter Ahi, den Heiland und die ersten Menschen nicht für nordisch und reinrassig hält.

Der klagende Delfin

Zischend, fauchend und Dampfballons verpuffend setzte sich die Lokomotive in Bewegung. Frau Dagmar, über deren Augen sich beim Herniederneigen große Lider wölbten, beobachtete ihren Sohn, der endlich wieder lachte. Er hockte neben ihr auf dem Fensterplatz des Eisenbahnwagens, drückte die Nase an die Scheibe und fand es lustig, wie draußen die Leute, Häuser, Bäume und Telegrafenstangen zu tanzen begannen. Immer wieder jauchzte er den Dingen entgegen, die am Zug vorbeirannten, bis eine Haltestelle in Sicht kam. Nun fuhr die linke Seite des Abteils (neben Güterwaggons) überraschend weiter, während die rechte Seite still stand.

Obwohl die Mutter amüsiert lächelte und dem Jungen die Suche eines festen Bezugspunktes auf der Böschung empfahl, vermochte sie die Sorgen der vergangenen Woche nicht ganz zu verdrängen. Holdheimers waren plötzlich verschwunden. Emigriert, wie Theo verstohlen sagte. Natürlich hatte Guido ständig nach Annette gefragt, aber was sollte sie ihm antworten? Fabelei von einer Ferienreise ohne Wiederkehr? Erzählung von „andersartigen“ Menschen, die angeblich nicht „hierher“ gehörten? Berufung auf Himmels- und Landesväter, die für jedermann das Beste aus dem Schicksalssack schütteten? Ach, sie hatte es mit allen drei Erklärungen versucht, doch durch Guidos unerbittliche Warum-Geschosse waren sämtliche Ausreden zerplatzt. Nein, vom „ollen Petzer“ oder von „hundsgemeinen“ Knecht-Ruprecht-Vätern wolle er nichts wissen; seine Freundin sei nicht „anders“, sondern die beste und liebste und gehöre ins Nachbarhaus. Als er gleichsam in den Hungerstreik trat und sich ganz unkindlich aus der Spielecke zurückzog, verging den Eltern rasch die Lust, über „frühen Liebeskummer“ zu spaßen.

Schließlich kam Frau Dagmar auf den Gedanken, den Jungen zu „zerstreuen“ und erstmals zum Einkaufsbummel in die Kreisstadt mitzunehmen. Schon beim Gang durch die Altmarktstraße eröffnete er jeden zweiten Satz mit dem Vorspruch: „Kaufst du mir –?“ Es gab in den Schaufenstern so ungeheuer viel zu sehen und zu begehren, etwa weiße Mäuse im Kletterrad, ein Aquarium mit Purpurkopfbarben, Schleierschwänzen und flügelflossigen Guranis, ferner Boxhandschuhe, Fernrohr und Armbanduhr. Bevor er sich ein Paddelboot wünschen konnte, gelang es der Mutter, seine Aufmerksamkeit auf einen Rasselkasten zu lenken, der jeweils fünf Pfennige verschluckte und dafür portionsweise Bonbons und Fruchtwaffeln herausrückte. Vergnügt stopfte Guido die Taschen voll und gönnte seiner Begleiterin vorübergehend den Ausblick auf Kleider, Hüte und Strickmoden. Später zeigte sie sich erkenntlich, indem sie außer Utensilien für die bevorstehende Einschulung noch Buntstifte, Malbuch, Trommel und ein Miniaturmodell des neuesten Raketenautos erstand.

Während der Rast im Stadtpark entdeckte der Knabe inmitten eines Wasserbassins eine Säule, auf deren Spitze sich ein zeppelinförmiges Marmorgebilde befand. „Ein Krokodil?“, mutmaßte er.

„Nein, ein Delfin. Weißt du, das sind Tiere, die im Meer schneller schwimmen als Dampfer und Fische und den Matrosen manchmal zuzwinkern. Ein Steindelfin kann freilich nicht zwinkern, aber auf einer Inschrift erklärt der Denkmalbauer, dass es ein ‚klagender Delfin‘ ist.“

„Warum klagt er?“

„Weil er traurig ist, mein Junge.“

„Und warum ist er traurig?“

„Ich glaube, weil er baden und planschen und nicht immerzu in der Luft hängen möchte.“

Guido überlegte ein Weilchen und sagte: „Nein, weil er so alleine ist! Er hopst bloß aus’m Schwimmbecken, damit er seine Freundin schneller sieht, wenn sie kommt.“

„Vielleicht hast du recht“, meinte Frau Dagmar. „Aber Delfine können im Wasser besser gucken als in der Luft, und sie finden im Meer auch viel flinker andere Delfine, die lieb sind und sogar untergehenden Menschen helfen.“

Leider erfüllte sich die Hoffnung der Eltern nicht, dass sich ihr Sohn bei Schulbeginn an neue Gefährten anschließen würde. Zwar versicherte der Lehrer, nahezu alle Siebenjährigen säßen wochenlang kontaktarm wie Kohlköpfe nebeneinander, bis sie plötzlich „Freunde“ entdeckten, doch Guido schien auf Annäherung keinen Wert zu legen. Da er von zu Hause aus eine Mittelpunktrolle gewöhnt war, dachte er, sie stünde ihm auch in der Klasse zu, weshalb er von den Mitschülern unbedingte Unterordnung erwartete. Es gab für ihn nur willige Zuhörer oder freche Ruhestörer, und als sich die meisten Jungen nicht fügen wollten, nannte er sie rundheraus doof. Nun blieb ihm nur, aus sich selbst heraus geeignete Partner zu schaffen.

Beim Lesen- und Schreibenlernen fand er es reizvoll, das Alphabet zu verbildlichen und zu beleben. Beispielsweise bemerkte er im A die langen, hängenden Arme eines Affen, im B die ergänzungsbedürftigen Blütenblätter des Wiesenschaumkrauts und im O eine Orange; aus M flog eine Möwe hervor, und S wand sich wie eine Schlange. Während des Unterrichts unterhielt er sich minutenlang mit den Tieren und Dingen, die hinter den Buchstaben hervorlugten und ihm bedeuteten, dass sie Verkehrszeichen der Sprache seien. Besonders gut verständigte er sich mit der katzengesichtigen Eule, die reglos wie ein Yogi im U-Bogen hockte, sich über die Dummheit der Leute im Uhu-Märchen mokierte und dagegen die kauzige Begabung zur Durchdringung der Dunkelheit pries. Wortsymbole paradierten. Mühelos gelang es ihm, Texte in Bilder, Sinnbilder in Sätze zu verwandeln und nach flüchtiger Ansicht auswendig herzusagen.

Lehrer Krause wunderte sich über die rasche Auffassungsgabe des Knaben, der offenbar gar nicht aufpasste. Immer wieder bemühte sich der alte Schulmann, durch kurzweilige Lernspiele nützliches Wissen zu vermitteln, doch Guido zeigte sich nur ausnahmsweise interessiert. Einmal beäugte er am Kartenständer erstaunt eine Reproduktion altägyptischer Bilderschrift. Ein andermal verblüffte ihn die Demonstration der Leichtgläubigkeit, denn nach episodischer Betrachtung eines Landschaftsfotos bejahten fast alle Kinder die Suggestivfrage, ob sie im Hintergrund eine (gar nicht vorhandene) gelbe Postkutsche gesehen hätten. Schließlich erregte ihn die pädagogische Umfrage, wen sich jeder zum liebsten Spielkameraden wünsche, weil bei der anonymen Auszählung eine rätselhafte Stimme für ihn dabei war. In der nächsten Zeichenstunde löste er die Aufgabe, das sympathischste Tier darzustellen, indem er zwei springende Delfine mit menschenähnlichen Köpfen malte.

Als Dr. Möglich von der schulischen Verträumtheit des Sprösslings hörte, schimpfte er über die in seinem Hause „leider üblich gewordene törichte Verzärtelung“. Obwohl Frau Dagmar spöttisch fragte, seit wann er sich für die Ideale der behämmerten, ruppigen Schowi-Jugend begeisterte, hielt Theo am Erziehungsvorsatz fest, aus Guido einen Guide zu machen.

Der Knabe zeigte sich anfangs durchaus beglückt davon. Wie sehr hatte er einstmals Annette um deren stets anteilnehmenden Ätti beneidet, und jetzt sollte er selbst endlich einen Papa bekommen, der sich mit ihm beschäftigte! Gern folgte er der Aufforderung zum lustigen Wettlauf und Seilhüpfen; vergnügt tummelte er sich beim Ballspiel auf dem Rasen, bis er sich unversehens als Torwart zwischen zwei Pappelstäbe gestellt sah. Nun flogen wuchtige Geschosse wie Donnerkeile um ihn her. Mehrmals traf ihn die harte Lederkugel frontal und bereitete ihm brennende Schmerzen, die ihn aufschreien ließen. Aber der Vater rief ungerührt: „Heul nicht! Fang auf oder köpfe! Dann kann dir gar nichts passieren.“

 

Trotz mitleidiger Einwände der Mutter verlangte der Doktor in der Folgezeit immer neue Mutproben von seinem Sohn, dem er die „Gefahrlosigkeit jeder Situation“ erläuterte, vorausgesetzt, er verhalte sich vernünftig. Nach sportwissenschaftlicher Belehrung musste Klein Guido auf Bäume klettern, „federnd“ von Mauern hinunterspringen und „absolut entspannt“ über eine zwei Meter hohe Latte balancieren, wobei er das philosophische Schreck- und Schwindelgefühl über seine abgründigen Möglichkeiten erst hinterher spüren durfte. Ein andermal half ihm kein Weh und Ach gegen das Gebot, im fröhlichen gymnastischen Schwimmbewegungs-Einszweidrei einen Fluss zu durchqueren, was er am Ende im Vertrauen auf imaginäre rettende Delfine tatsächlich wagte. Seitdem blickte er seinen Erzeuger teils trüb-, teils feindselig an.

Abends sank er sofort in tiefen Erschöpfungsschlummer. Während Frau Dagmar den „armen Jungen“ bedauerte, dozierte Theo über ausdauernde Gesundheit durch Turnen. „Nach unseren medizinischen Erkenntnissen“, sagte er, „begünstigen Training und langer Schlaf die Langlebigkeit. Außerdem trägt erquickliche Nachtruhe zur Intelligenzverstärkung und körperlichen Kräftigung bei, da sich das Wachstumshormon Somatotropin vorwiegend nachts auswirkt. Wünschst du noch mehr für Guido? Wachsend wird er sich ändern, nachdenklich wird er wandeln.“

Zeitansage, 9. Jahr

12. Juli: Während der Himmel das Land der rechtschaffenden Schowis segnete und dort eine Rekordernte reifen ließ, bescherte er dem Land der protzigen Yankees arge Hitzerekorde um sechzig Grad, katastrophale Dürre, Heuschreckenplage und (wie in einem Super-Western-Film) stündlich hundert Tote.

18. Juli: Andächtig lauschten die Aufrechten Deutschen den Nachrichten über die Erfolge der Erneuerungsbewegung in Marokko und Andalusien. Als der oberste Falange-General seine Entschlossenheit bekundete, zum Zwecke der heiligen Machtergreifung gegebenenfalls „halb Spanien zu erschießen“, telegrafierte ihm Ahi entzückt Glückwünsche, verbunden mit der Ankündigung bombiger Mithilfe und der Entsendung manöverlustiger Flugzeuggeschwader.

14. August: Anlässlich der Olympischen Spiele herrschten in Berlin zwei Wochen lang die Hellen Nächte. Hunderttausende Glühbirnen, griechische Feuer, Lampions, Scheinwerfer und Strahlendome erfüllten die goethesche Forderung: mehr Licht! Tagsüber besichtigten anderthalb Millionen Gäste und Reporter den üppigen Festschmuck (50 000 Quadratmeter Fahnentuch, 70 Kilometer Eichenlaubgirlanden), diverse Weiheräume und die Auslagen humanistischer Literatur in den Schaufenstern zur Welt. Beunruhigung durch die Broschüre „Lernen Sie das schöne Deutschland kennen“ mit Empfehlung eines Besuchs in „Sonderbehandlungsräumen“ der Konzentrationslager. Dennoch stimmten die Globetrotter begeistert in den Halleluja-Chor aus Händels „Messias“ ein, dieweil der Retter Ahi das Stadion betrat. Freundlich begrüßte er die Repräsentanten des Auslandes, huldvoll ehrte er die nationalen Triumphatoren, doch unmutig verließ er jedes Mal die Ehrentribüne bei Medaillengewinnen der „Untermenschen aus dem Dschungel“, dem Siegesquartett des Negers Jesse und anderen skandalösen Vorfällen. „Deutschland von Norwegen 2:0 geschlagen!“ Welch hochverräterische Schlamperei! Es war Pflicht der arischen Deutschen, Überlegenheit zu demonstrieren.

19. August: Vier Wochen nach dem Sieg der Falange in Granada kamen die Häscher in das Haus der Geborgenheit und verhafteten Frederico. Oh, wäre er im bedrohten Madrid geblieben oder rechtzeitig über den Ozean zu Freunden geflohen! Aber er hatte sich nach andalusischen Hirten, Gärten und der Sprache der Blumen gesehnt, nach lyrischem Kopfweh und den pianistischen Mysterien Debussys. – Nun saß er im Gouverneurspalast gefangen und sagte leichthin zu Angeline, die ihm Kaffee und blonden Tabak brachte: „Dichter tötet man nicht.“ Unmöglich konnten Poeme der Wahrheit strafwürdig sein, denn Wahrheit galt seit je als hohes Ziel der Erkenntnis und sittlichen Bemühung. Dennoch: Überall breitete sich Angst aus wie Nebel im Tal und erreichte auch ihn. Erinnerung an seine Verse gegen miese Bourgeoisie, Gendarmen mit Schädeln aus Blei und die Diebe von Brot und Öl des Volkes; Bekenntnisse zur Freiheit in der Liebe, Liebe zur Freiheit und zu den Unfreien, die um ihr Menschenrecht stritten. – Die Schwarze Legion vergaß nichts. Kurz nach Mitternacht fuhren sie ihn nach Viznar und von dort auf dem Mönchsweg zum dunklen Gewölbe. Im Morgengrauen eskortierten sie ihn gefesselt zum Quell der Tränen. Erschrocken gewahrte er die letzte Wahrheit, Flügel aus Moos, Schwefelblüte über dem Mund und den blauen Reiter. Doch kein Geklage! Dem Tod muss man auf die Lippen sehen. Stille. Schüsse. Unter den Zweigen des Ölbaums verblutete Spaniens großer Dichter.

23. November: Durch anklagende Dichterworte war es überraschend gelungen, den Berichterstatter Os aus den Händen der Folterknechte zu befreien. Im Berliner Staatskrankenhaus empfing er die Nachricht von seiner Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis. „Dank für die Ehrung“, sagte er. ‚Leider bin ich bald am Ende‘, dachte er. Und er schwieg beredt.

Von der Größe eines Landes und des Kindes

Nachdem Lehrer Krause seine gamaschenumwickelten Beine ausgestreckt, den rechten Arm entblößt und den Bizeps angespannt hatte, ließ er die kichernden Schüler der dritten Klasse vorbeimarschieren und „kartoffelharte“ Muskeln befühlen. Gleichzeitig sprudelten aus dem breiten Mund seines treuherzigen Froschgesichts unablässig Worte hervor über erstrebenswerte „Kraft durch Klimmzüge“ und Übung, die dreister machte. Der Magister ermutigte alle Jungen dazu, sich zu trimmen wie er und zu Ruhm und Ehre des Vaterlandes athletische Formen zu gewinnen.

Im Unterricht erzählte er vom olympischen Fest der siebenundfünfzig Nationen, bei dem sich die deutschen Sportler als die besten der Welt erwiesen hätten. Nirgends gäbe es ähnlich vorzügliche Speerwerfer, Boxer und Reiter, aber auch nirgends vergleichbare Erfinder und Soldaten, Ochsen, Schweine und Puffbohnen. Unter Führung Ahis sei Deutschland ein Riesenkurort und das schönste, bedeutendste und stärkste Land auf Erden geworden.

Zu Hause fragte Guido, wie lange man laufen müsse, um von einer Grenze des Reiches zur anderen zu gelangen.

Frau Dagmar lächelte und meinte, wenn er täglich nur zehn Kilometer wandere, also wie von Paradies nach Friedburg, brauche er sicher drei Monate dazu.

„Und wie lange geht man um die ganze Welt?“

„Um Himmels willen, Prinzchen! Da wärst du bestimmt mehr als zehn Jahre unterwegs. Doch schaue es dir selber einmal an!“

Im sogenannten Herrenzimmer sah er auf einem medizinballgroßen Globus, den er bisher wenig beachtet hatte, das blaue Band der Meere und darin gesprenkelte, flundernförmige Kontinentalgebilde. Ein pausbäckiger gelber Fleck hieß China, über Kanada lag eine grüne Sattelschrecke, die Vereinigten Staaten bewachte ein silbergrauer Bär, Brasilien leuchtete wie eine Ocker-Unke, und Australien schwamm wie eine violette Muschel im Ozean. Am auffälligsten fand der Betrachter eine weiträumige fuchsrote Fläche, in der er den Namen Sowjetunion entzifferte.

Als die Mutter auf eine braune Warze am asiatischen Hals hinwies und sagte, das sei Deutschland, schüttelte Guido ungläubig den Kopf. „So lütt? Das ist ja nicht mal so dick wie mein Daumen, der –“ er ließ die Finger der Hand wie ein Klavierspieler über die Tasten der Längengradmarkierungen gleiten – „siebzigmal auf die Kugel passt. Wie können wir die Stärksten sein, wenn wir so klein sind?“

„Ja, mein Junge, das möchte ich auch gerne wissen.“

Ein bisschen beunruhigt entließ sie ihn zum nachmittäglichen Spiel mit dem Bauernsohn Martin, der sich grinsend als Guidos rätselhafter „Wahlmann“ beim schulischen Beliebtheitstest zu erkennen gegeben hatte. Vermutlich ging von dem stämmigen, verkniffen blickenden Burschen kein günstiger Einfluss aus, aber man musste wohl froh sein, dass er eine gewisse kindliche „Liebesaffäre“ vergessen half. Zu Beginn der Freundschaft bemühten sich die beiden, in olympischem Geiste Rekorde aufzustellen im Weitpissen (4 Meter) und Eisessen (1 Kilo pro Stunde). Erfreut über die respektablen Ergebnisse machten sie Shakehands und den Plan, die Zulässigkeit des Bösen im heimatlichen Paradies zu erproben.

Wie Verschwörer steckten sie die Köpfe zusammen, wobei es Guido war, der die abscheulichsten „Experimente“ ausdachte und vorbereitete. Von den Schnüren ihrer Eibenholzbogen schnellten die Büblein Pfeile auf Vögel ab, deren Federn sie als Trophäen begehrten. Unbekümmert sezierten sie Feuersalamander und schmierten Drüsengift auf Speerspitzen, mit denen sie ominöse Igel und streuende Katzen durchlöcherten. Gierig beobachteten sie, wie Ameisen einen Käfer skelettierten oder eine Gottesanbeterin den begattenden Partner auffraß, denn danach bereitet es unheimliches Vergnügen, sowohl Killer wie Gekillte zu zertrampeln. Katapulte dienten zum Fensterscheibenbeschießen, aus Verstecken warfen die Knaben Grasbüschel und Kletten auf sauber gekleidete Passanten. Der „alte Petzer“ im Himmel schwieg dazu und enttäuschte, weil er offenbar nicht mal einen strafenden Blitz zu schicken vermochte. Am interessantesten fanden die Jungen eine Lupe, die sie als Brennglas zum Anzünden der ersten Zigaretten benutzten, aber auch zum Ausräuchern von Wespennestern und Schmoren arglosen Kleingetiers. Das Absengen von Hummelflügeln nannten sie „rasieren“, das Verglühen einer Raupe „sonnenbaden“, und göttlich-koddrig atmeten sie jeden Opfergeruch ein. Als Dr. Möglich seinen Sohn eines Tages bei der „Punktbestrahlung“ einer weißen Maus ertappte, holte er zu einer Backpfeife aus. Guido lief davon, der Vater trappelte hinterher. Guido kletterte auf eine Pappel, der Vater schimpfte. Guido lachte sehr frech und sprang plötzlich aus drei Meter Höhe hinunter, wobei der Vater spontan Hilfestellung leistete. Schwer atmend standen sie sich gegenüber.

„Schämst du dich gar nicht, wehrlose Tiere zu quälen?“

„Nein, denn du selbst hast mir beigebracht, dass ich tun soll, was ich nicht tun möchte.“

Seit dem väterlichen „Abhärtungskursus“ reizte es Guido in der Tat, Widerwärtiges entschlossen anzupacken, Furcht zu überwinden und sich mutwillig in Gefahr zu begeben. Wenn er nun auf dem Dachfirst herumkletterte, mit Freunden Messerwerfen „auf den Mann“ übte oder sich selbst ein Feuermal auf die Haut brannte, hatte er die Genugtuung, dass sich der „Alte“ offensichtlich mehr ängstigte als er. Schließlich zog sich Theo resignierend in seine Studierstube zurück und überließ Frau Dagmar die weitere Erziehung des Sohnes.

Ach, welch komplizierte Psychologie der heranwachsenden Jugend! Gemäß den Lehrbüchern müsste das Bürschlein in dem Alter noch friedlich mit Kreisel und Murmeln spielen und einen guten Mitteilungsdrang entwickeln. Stattdessen diese sadistischen Entartungen und verspäteten Trotzreaktionen. Oder handelte es sich bereits um frühreife pubertäre Allüren? Ob der Schlingel wohl bald zur Besinnung kam und die besten väterlichen Absichten anerkannte?

Zur ärztlichen Sprechstunde erschien (wie gerufen) Lehrer Krause, der über ungewöhnliche Schlaflosigkeit klagte. Während der Routineuntersuchungen (Auskultation, Perkussion, Blutdruckmessung) erkundigte sich Dr. Möglich jovial nach den „Heldentaten“ seines Sprösslings, und er hörte mit Erstaunen von dessen andauernder „Verträumtheit“.

„Einatmen, ausatmen! Husten Sie mal! – Und Guido, meinen Sie, schläft im Unterricht besser als Sie in der Nacht?“

„Wahrscheinlich, Herr Doktor, obwohl er bei Fragen aufgeweckt wirkt und eigentlich stets gescheite Antworten gibt.

Erst kürzlich hat er einen Text über das Dämmerungssehen leuchtäugiger Tiere erfreulich ergänzt durch den Hinweis, dass sich echopeilende Delfine sogar in absoluter Dunkelheit zurechtfinden.“

‚Nanu!‘, dachte Theo Möglich. ‚Das weiß er doch nicht von mir!‘ Dann sagte er: „Ihr Herz ist ein bissel huschlig. Haben Sie irgendwelche Schwierigkeiten?“

„Ich bin seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet, Herr Doktor.“

„Hm! Und weitere Kalamitäten, bitte? Zum Beispiel in der Schule? Da Sie mein Sohn merkwürdigerweise nicht ärgert, treiben es andere Jungen vielleicht ärger.“

 

„Nach zwanzig Dienstjahren, Herr Doktor, glaube ich den Anforderungen meines Berufes gewachsen zu sein.“

„Na, mein Lieber, Ihr Herz scheint aber nicht ganz mitgewachsen zu sein, sonst würde es nicht so puppern. Wer weiß, was Sie für ein unordentliches Innenleben haben! Und nun denken Sie, der olle Möglich wird die verheimlichten, schlafhemmenden Konfliktchen schon mit seiner chemischen Kriegführung aus dem Nischel jagen. So einfach ist das nicht, lieber Herr Krause, zumal unsere üblichen barbitursäurehaltigen Hypnotika meistens die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.“

„Das möchte ich allerdings nicht riskieren. Und was empfehlen Sie in meinem Falle?“

„Ein dickeres Fell, Herr Nachbar. Außerdem: beruhigendes Hellblau im Schlafzimmer, Nord-Süd-Ausrichtung des Bettes und Beachtung des Erdmagnetismus, Buddhaspiele und ermüdende Goethelektüre.“

„Ist das Ihr Ernst, Herr Doktor? Sollte es gar keine unschädlichen Medikamente gegen gewisse Beunruhigungen geben?“

„Aha!“, sagte Theo Möglich. Bevor er weiterredete, zündete er sich unter der Goldrahmenbrille eine Zigarre an. „Nun will ich Ihnen mal was erzählen: Wenn Sie schlecht schlafen, produziert Ihr Körper bestimmte narkotische Substanzen nicht ausreichend. Und warum nicht? Weil Sie es selbst angstvoll blockieren. Erst wenn es gelänge, die fehlenden körpereigenen Hypnotoxine künstlich herzustellen und damit Spannungen zu beheben, besäßen wir eine halbwegs harmlose Droge. Aber noch gibt es sie nicht! Vielleicht verraten Sie mir jetzt, was Sie bekümmert?“ „Es soll geheim bleiben, Herr Doktor. Mein Sohn wurde als Bombenflieger nach Spanien abkommandiert.“