Die Weltzeituhr

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„Ich bin kein Theoretiker“, bemerkte der Astronom leise. „Doch würde ein derartiger Exodus nicht zur Verarmung der Materie im Endlichen führen?“

Da schaute ihn die Zelebrität mit schalkhaft blitzenden, großen Augen an und entgegnete: „Und wenn es eine Wiederkunft gäbe? Vielleicht vermag zerstrahlte Energie zu kondensieren und aus der Unsichtbarkeit des Nichts ins Sein zurückzufinden. Oh, Einheit der Vielheit! Möglicherweise sind alle universellen Vorgänge nur Veränderungen im Aufbau und Kombinationsrhythmus des Ur-Feldes, in welchem sich die Universalität elektromagnetischer und gravitierender Kräfte offenbart. Deshalb müsste eine logische, symmetrische und ästhetische Weltformel denkbar sein, die für den Mikrokosmos ebenso gilt wie für den Makrokosmos, für statistische Quantenmechanik ebenso wie für die Kausalität der Gestirnsphäre, kurzum für die Totalität jeder raum-zeitlichen Existenzform.“

‚Welch erhabener Auftritt!‘, dachte der Himmelsforscher. Er hörte Albert Einstein zu, der von der Drehbühne aus mit sanfter Stimme über die Geheimnisse des Alls dozierte, bärtig, bauschhaarig und rundäugig wie der liebe Gott.

Ein paar Etagen tiefer

Schade, dass die Augsburger Reporter nichts von den kosmischen „Modell“-Vorstellungen des kalifornischen Chef-Astronomen wussten! Sonst hätten sie den geschätzten Lesern sicher die unmittelbar bevorstehende Blas-Geburt des ersten Gummiuniversums oder einer Trojanischen Himmelsmilchkuh angekündigt. Vielleicht gar einen Mondflug? Aber auch ohne futurologische Anregung besaßen die Unterhaltungskünstler von der Presse selbstverständlich Fantasie genug, ein vorbereitetes wissenschaftliches Abenteuer wirksam ins Gespräch zu bringen. Im Preisausschreiben für die schönste Schlagzeile gelangten in die engere Wahl:

Todesflug ins Vakuum? Himmelfahrt zweier Draufgänger am Mittwoch nach Pfingsten. Prof. Piccard will Aufstieg ins elektrische Potential wagen. Werden Mörderstrahlen die Kabine der Höhenforscher durchlöchern?

Obwohl der „tollkühne“ Professor die feinen Formulierungen der Zeitungsdichter als „dussliges Gequatsche“ bezeichnete (und damit ein bedauerliches Unverständnis für publizistische Volkstümlichkeit bewies), erhielten Mit- und Nachwelt dennoch zuverlässige Kunde: Wie die Baumwollhülle in der Morgendämmerung des 27. Mai zeltplanähnlich ausgebreitet wurde, insgesamt 2 600 Kubikmeter Wasserstoff zu schlucken bekam und sich in den Bodenfesseln aufbäumte wie das Theatergespenst des alten Hamlet oder ein fabelhafter Buckelwal. Nachdem die beiden Männer in die hermetisch verschließbare Kugelgondel hineingeklettert waren, frischte um 3 Uhr 57 MEZ plötzlich der Wind böig auf und riss den Ballon von den Haltegurten los. Aus den Mündern von siebzig prominenten Frühaufstehern und anderthalbtausend Zaungästen ertönte ein langgezogenes Ah!

Auguste Piccard reckte seinen Lamahals und guckte aus enzianblauer Iris durch Rundrahmenbrille und Kabinenbullaugen: Menschenpünktchen, Spielzeughäuser, geometrische Ackerflächen, Kumuluswolken. In kehligem Schwyzerdütsch konstatierte er: „Bhütis, wir flügen! Wir flogen ab ohne Startzeichen. Nun haben wir kurzi Zyti.“

Gegen die Aluminiumwände des Himmelslabors paukten die schwebenden Taue des befreiten Ballons. Im Raum rauschten die Sauerstoffflaschen. Da zischte es neben der Bodenluke, worauf der Professor den Schuderheuel seines eins-Komma-zwoundneunzig hohen Scheitels durch Kniebeuge auf Halbstock brachte. Mit echsendünnen Fingern versuchte er, einen elektrischen Sondenträger durchs Zugloch auszuführen, wobei ihm jedoch das Röhrchen zerbrach und Argentum vivum niederperlte. Nur mühsam konnte er die Öffnung mittels Kautschukzapfen verstopfen. Kaum war das geglückt, als Assistent Kipfer auf Luftdruckabfall und leises Pfeifen aufmerksam machte. Vereint suchend, fanden die Herren in der hinteren Gondelwand einen kleinen Riss, den Piccard mit Textilfäden und Vaselinecreme abdichtete. „Hoppla“, sagte er. „Journalisten sind öppe ahnungsvolle Leute.“

Nun prüfte er Uhr und Barometer und erstaunte. Obgleich der Aufstieg erst vor einer halben Stunde begonnen hatte, stand die Quecksilbersäule bei 80 Millimeter fest. Demnach musste der Ballon so schnell wie ein guter horizontaler Kurzstreckenläufer vertikal in die Stratosphäre emporgeschossen sein, nämlich mit der Durchschnittsgeschwindigkeit von 9 m/sec. Aus der bisher unerreichten Rekordhöhe von 15 500 m schauten die auf Körben sitzenden Forscher nach oben und unten und gewahrten: schwarzblaues Firmament mit praller Aerostatkugel, kontrastarme Landschaft, Alpakaband des Lechflusses, Alpengipfel und in Richtung der fernen Adria eine Dunstglocke. Nach kurzer Überlegung entschlossen sie sich dazu, Ballastschrot abzuwerfen und noch einen halben Tausender weiter zu steigen. Während draußen das Barometer allmählich auf 76 Merkurius-Millimeter absank, machte sich drinnen eine sehr lästige Zunahme der Luftfeuchtigkeit bemerkbar. Zwar wurde das ausgehauchte Kohlendioxyd durch Kalipatronen absorbiert und der Sauerstoff aus Sprühkanistern künstlich ersetzt, doch der Atemdampf schlug sich an Kabinenwänden und Apparate-Isolationen nieder und beeinträchtigte die Funktionstüchtigkeit der Instrumente erheblich. Das vorgesehene wissenschaftliche Programm ließ sich jetzt kaum noch erfüllen. Lediglich der Geiger-Müller-Zähler tickte unablässig und zeigte ionisierte Strahlung an. – Als die Gondel in den Einfallswinkel der Sonne geriet, schob sich die Silbermine des Thermometers rasch auf 32 Grad empor, weshalb Piccard Vorbereitungen zum Abstieg traf. Um 9 Uhr 45 griff er zur Manövrierleine, um im Zenit des Ballons ein Ventil zu öffnen. Aber das Seil ließ sich nicht bewegen oder niederholen, so oft er auch daran zog. Das hatte er in knapp zwanzigjähriger Flug- und Forschungspraxis noch nie erlebt!

„Donnstigs, wir sind Gefangene der Luft“, erklärte er. „Es gibt keine Möglichkeit zur Steuerung mehr. Uns bleibt nur abzuwarten, ob der Aerostat seine Allmacht ausnutzt und uns ins Jenseits entführt, oder ob er gnädig verfahren will. Am besten stellen wir uns erst mal auf Sauna-Verhältnisse ein.“

Da die Temperatur inzwischen 38 Grad maß, legten die beiden Männer Jacken und Hemden ab, wobei der Professor einen Augenblick zögerte, seine milchweiße, unbehaarte Brust zu entkleiden, bis er bemerkte, dass sich auch Kipfer nicht mit „männlicher“ Mähne zu brüsten vermochte. Im Verpflegungsbeutel suchten sie vergeblich nach Erfrischungsgetränk; offenbar war die Korbflasche vergessen worden, weshalb sie Brot, Hirsebrei und Äpfel trocken hinunterschlucken mussten. Um den Durst zu lindern, leckten sie Kondenswasser von der Aluminiumwand ab.

Bei alledem gelang es dem jungen Assistenten nicht, seine Erregung zu verbergen. Piccard drehte seine Zeigefinger wie Lockenwickel, ermahnte zur „Haltung“ und dozierte, dass keinerlei Gefahr bestünde, solange der Sauerstoffvorrat reiche, was bei ruhigem Verhalten bis zum Abend der Fall sein dürfte. – Bald darauf boten die Luftschiffer ein denkwürdiges Bild: Mit entblößten Oberkörpern und leicht vorgebeugten Schultern saßen sie einander Knie an Knie gegenüber und spielten Schach. Von den Stirnen tropfte Schweiß, weshalb die Herren ihre Hemden als Wischtücher gebrauchten oder behutsam wie große Fächer hin und her schwenkten. Infolge ihres eingeengten Aufenthaltsraumes von zwei Metern Durchmesser bereitete es ihnen Vergnügen, wenigstens auf dem Karobrett die Läufer, Springer und Türme zügig zu bewegen. Trotz des hochkonzentrierten Figurenturniers (bei dem der ermutigte Kipfer meistens gewann) versäumte es Piccard nicht, pünktlich im Abstand von fünfzehn Minuten Umschau zu halten und festzustellen, dass sich der Ballon noch immer in 15 500 m Höhe befand, wo er seit den Frühstunden am Himmel aufgehängt schien und unmerklich driftete, während draußen 50 Minusgrade und drinnen 40 Plusgrade herrschten.

Um die Mittagszeit geriet der Kugel-Cockpit, der zum Glück dichthielt und sich als Druckausgleichskabine der Zukunft empfahl, in den Schatten des Aerostaten, wodurch sich die Hitze allmählich verminderte. Später entwickelte der Professor seinem Assistenten die Idee, eine vergleichbare, gut temperierte Tiefseegondel mit Ballastschleusen und Regulierventilen zu bauen. Taucherfahrt zum Grunde des Ozeans! Ferner erörterte er, wie kosmische Strahlen gegebenenfalls auszunutzen und Elemente anzuregen seien, einen Teil ihrer atomaren Kräfte abzugeben. Das würde die gesamte Weltwirtschaft verändern, wobei Kohle und Erdöl nur noch geologisches Interesse hätten. Dann stünden sicher auch Energien zur Verfügung, um ein Luftschiff in erwünschter Weise zu manövrieren.

„Warum fallen wir nicht?“ Musste sich das tragende Wasserstoffgas nicht längst in der Kühle des Raumes zusammenziehen? Welche Erfahrung galt eigentlich noch in diesen bisher unerfahrenen Dimensionen? Vielleicht würden auch die Sauerstoffspeicher schneller aufgebraucht als berechnet? Schlimme Überraschungen, dachte Kipfer. Ursprünglich hatte man jetzt gemütlich am Starnberger See dinieren wollen, und nun schwebte man schon einen halben Tag lang scheinbar reglos in der Stratosphäre! Unheimlich sachte vergingen die Stunden. Ob möglicherweise das Barometer nicht mehr funktionierte, weil es sich fast gar nicht rührte?

Sechzehn Uhr, siebzehn, achtzehn, neunzehn Uhr … Die Sonnen-Tomate rollte die Himmelsböschung zum Westhorizont hinab; zwischen Schäfchenwolken hüpfte der Mond wie Eidotter. Erst als das solare Licht gegen zwanzig Uhr in den Glarner Bergen verglühte, begann der Ballon plötzlich zu schrumpfen und zu sinken. Innerhalb weniger Minuten verdoppelte sich der Luftdruck, weshalb sich Assistent Kipfer erschrocken einen bienenkorbähnlichen Schutzhelm überstülpte. Von dem Augenblick an gefiel es Professor Piccard, Kaltblütigkeit zu demonstrieren. Er holte eine Stabtaschenlampe aus der Joppentasche, hielt sie wie ein Mikrofon vor den Mund und sagte: „Gottwilche, liebe Zuhörer der Nachwelt! Möge es gelingen, die Schwingungen meiner Stimme hörbar zu machen, damit Sie narrochtige Kunde erhalten von zwei Aeronauten, deren Gondel gegenwärtig auf die Erde stürzt. Gewiss könnten wir die Geschwindigkeit durch Ballastabgabe bremsen, doch da unsere Sauerstoffflaschen nahezu leer sind, dürfen wir keinen Dilldopp riskieren. Darum lassen wir uns widerstandslos fallen. In 4 500 m Höhe haben wir soeben die Bodenluke geöffnet; aus Spaß sende ich ein paar Blinkzeichen aus. Im Mondlicht erkennen wir unter uns eine hochalpine Landschaft mit Schneegipfeln, Zacken und Steilwänden. Wenn ich nicht irre, sind unsere Chancen wäger ausgezeichnet, an einem Felsen zu zerschellen oder in einer Gletscherspalte z’Platze zu kommen. Hurra, wir plumpsen! Hinein in die Flühe oder die Eislawine! Adieu, geschätzte Nachwelt!“

 

Ein langer Arm zog die Reißbahn auf. Dumpfer Gong beim Aufprall. Drei Sprünge der Kugel, in der alles durcheinanderwirbelte. Zusammensacken des Ballons. Absolute Stille.

Nach einem Weilchen reckte Piccard hinterm Sandsack seinen Lamahals und konstatierte: „Sanfte Landung. Und Sie sind ein Held, Kipfer!“

Zeitansage, 4. Jahr

1. April: Während das Statistische Bundesamt mitteilte, dass die Vereinigten Staaten nunmehr in New York, Fifth Avenue, ein 381 m hohes, höchstes Gebäude der Welt besitzen und ferner von 35 Millionen Automobilen der Erde allein 27 Millionen ihr bekömmliches Kohlenoxyd auf amerikanischen Straßen verströmen, gab der Kaiser a. D. von China seinen Entschluss bekannt, bald als Opernsänger zu debütieren.

15. Mai: Im Vestibül des neuen Bolognesischen Theaters erging an Arturo Toscanini das Gebot: Vor dem geistlichen Konzert ist der Canto dei fascisti zu spielen. Als sich der Dirigent mit der Begründung weigerte, kein echter Künstler könne politische Vorschriften oder Einmischungen dulden, wurde er durch Ohrfeigen und einen harten Jab über neurömisches Recht belehrt. Seitdem befindet er sich in Sicherheitsverwahrung von achtzehn Kriminalisten und vier Karabinieri.

12. Oktober: Bei einem Kameradschaftstreffen der Aufrechten in Harzburg versprachen die Bankiers eine Verzögerung der wirtschaftlichen Neubelebung, damit die Schowis demnächst als „Bezwinger der Krise“ und „Retter der Nation“ auftreten könnten. Ahi nahm großzügig ein Finanzpaket in Empfang und versprach seinerseits: a) den Konzernherren die rücksichtslose Bekämpfung der Gewerkschaften, b) den Gewerkschaften die rücksichtslose Bekämpfung der Konzernherren, außerdem höhere Löhne und Frieden, c) den Militärs ehestens lohnenden Krieg, d) allen bisherigen Verlierern den Sieg des Volkswillens über rekordsüchtige Dollarplutokratie und jüdisch-bolschewistischen Internationalismus. „Attacke!“, rief der Boss. „Entweder wählt ihr mich – oder das Chaos.“

‚Er ist das Chaos‘, dachte Dr. Möglich am nächsten Morgen bei der Zeitungslektüre.

Märchenstunde im Zwischenreich

Eines Tages entdeckte Guido, dass seine Mutter schön war. In der Tat hatte Frau Dagmar blonde Haarlocken und helle Augen, über die sich beim Herniederschauen große Lider wölbten. Im Übrigen aber besaß sie eher strenge Gesichtszüge: ein ovales Antlitz mit leicht vorspringenden Wangenknochen und eine schmalrückige Nase. Dem Kinde erschien die Mutter nicht nur schön, sondern zugleich lieb wie eine Fee, die alle Wünsche erfüllte, und am meisten gefiel es Guido, wenn sie ihm Geschichten erzählte. Dann durfte er auf ihrem Schoß in der Kuschelecke unter dem Busen sitzen und hören, dass „einmal sieben Zwerge“ waren.

„Diese Zwerge“, erklärte Frau Dagmar, „luden vor vielen Jahren einen spielenden Knaben dazu ein, in ihrem Reich bei einem dreitägigen Fest etwas vorzusingen. ‚Das ist gar nicht lange‘, dachte der Junge und hüpfte zusammen mit den Knirpsen in eine Karussellgondel. Jetzt begann sich das Karussell schnell und immer schneller zu drehen, während er immer kleiner und die Gondel immer größer wurde. Ehe er sich’s versah, verwandelte sich der Raum in eine Liliputstadt, in der es keine Nacht gab, sondern nur blinkendes Licht und hunderttausend Wichtelmänner. Sie freuten sich, als er ihnen alle Lieder vortrug, die er kannte. Nachdem er gesungen, eine Menge Eierkuchen und Pudding gegessen und dreimal geschlafen hatte, schenkten ihm die kleinen Leute einen Korbwagen voll Gold, bremsten das flinke Riesenrad und ließen ihn just an seinem Spielplatz aussteigen. Aufgeregt lief er ins Haus, wo ihm eine alte Frau begegnete und ihn fragte, wer er sei. Das wunderte ihn, bis sie beide ausrechneten, dass er nicht drei Tage, sondern dreißig Jahre im Geisterreich gewesen war.“

Nach diesem Märchen wollte Guido gewöhnlich noch die Erzählung vom König hören. „Ja, der König“, sagte Frau Dagmar. „Er machte den ganzen Tag lang nichts anderes als Zeitungslesen, Papierbekritzeln und Kuchenessen. Da er nur sich selbst liebte, lebte er ganz allein in den vielen Zimmern des Palastes. Um die Mittagszeit trippelte er in den Empfangssaal hinüber, wo ihn seine Höflinge und Soldaten mit Fahnen, Trommeln und Trompeten begrüßten. ‚Allmächtig und gnädig bist du, o Herr!‘, riefen sie dem Gebieter entgegen, der als Hoheitszeichen eine große Fliegenklatsche trug. Misstrauisch schritt er die Versammlung ab, beschnupperte seine Gefolgsmänner und klatschte jeden platt und tot, der nicht richtig roch. Nun hielt er eine lange Schimpfrede und befahl, ihm Denkmäler zu bauen und in den Heiligen Kampf zu ziehen. – Während der König wieder Zeitung las, Papier bekritzelte und Kuchenkrümel leckte, reckten seine Getreuen die Nasenspitzen wie Rüssel über die Köpfe, beschnüffelten alle Leute und schossen mit Feuerspritzen auf jeden, der nicht richtig roch. Weil es so viele Andersriechende gab, herrschte jahrelang Krieg im Lande. Manchmal brachten die Krieger Gefangene in die Stadt. Darunter befand sich einmal eine schöne Maid, die am Geburtstag des Regenten ihr goldenes Haar opfern sollte, weshalb sie sehr weinte. Doch es gelang ihr, heimlich einen geflügelten Boten zum Prinzen Wendehals zu schicken, der plötzlich auf dem Schlosshof landete und die Feuerspritzen der Palastgarde auspustete. Im Thronsaal schimpfte der König fürchterlich über Verräter und Eindringlinge. Er schlug mit der Fliegenklatsche wütend um sich, aber Wendehals lachte und streckte ihm die Zunge heraus, an der die Majestät schließlich festklebte. Mit einem Male verschwand der ganze Spuk, und der Retter konnte das befreite Mädchen heiraten.“

Die Mutter wusste noch viele fabelhafte Geschichten: zum Beispiel vom wandernden Taler auf dem Jahrmarkt oder von einer Grille, die mit der Nachtigall einen Pakt abschließen wollte, sich gegenseitig nicht aufzufressen. Doch am liebsten lauschte Guido auf die Märchen vom bösen König und den sausenden Heinzelmännchen. Vielleicht hörte er sie zu oft?

Eines Nachts schien es ihm so, als ob sich seine Beine wie im Wasser der Badewanne vom Grund lösten und nach oben schwammen. Nanu? Ängstlich ruderte er mit den Armen und bemerkte, wie er unversehens und kopfständig gen Himmel fuhr. Natürlich wollte er schreien, aber die Rufe blieben ihm im Halse stecken. Niemand eilte ihm zu Hilfe, weder der achtäugige Schutzengel Daus noch die Vögel, Zwerge oder großen Leute. Vergeblich versuchte er, sich an den Wolken festzuhalten, die ihm kalte Duschen entgegenspritzten. Unterdessen wurden unter ihm die Kinder, Häuser, Bäume, Straßen und Wiesen klein und kleiner. Dann schwebte er irgendwo im Weltenraum und sah von der Erde nur noch ein paar Lichtpünktchen. Nach einem Weilchen begannen sich die Sterne zu drehen und wie Leuchtkugeln auf krummen Flugbahnen durchs dunkle Gewölbe zu bewegen, weshalb er nicht mehr unterscheiden konnte, wo oben und unten, hoch und tief, gestern und morgen war. Wie lange die Reise und Erkundung der vierten Dimension dauerte? Später glaubte er, sich an ein seufzendes Ausatmen zu erinnern, worauf er sich zu seiner Überraschung wieder der Erde näherte. Kaum hatte er begriffen, dass er durch kurzes Luftschnappen und fauchendes Hauchen die Höhe zu regulieren vermochte, blies er aus Leibeskräften, bis er endlich wie an einem Fallschirm in sein Bettchen flog.

War das eine Not! Fortan fürchtete Guido, er könnte jederzeit aus der Welt hinausfallen, weshalb er abends die Daunendecke mit Stofftieren beschwerte und tagsüber sorgsam Umschau hielt, ob Gebäude und Bäume zum Anklammern in der Nähe seien. Beim Spielen im Garten bereitete das keine Mühe, denn überall ragten stämmige Hölzer und Zwerge empor, die teilweise lustige Namen hatten wie Amarelle, Griepenkerl, Jonathan, Boskop oder Mollebusch. Hinter Flieder und Sonnenblumen gab es verbotene „Kräuterbeete“, von denen ein geheimnisvoller Reiz ausging. Dort wuchsen Sadebaum, Aronstab, Seidelbast und Gesundheitspflanzen, aus deren Giften der Doktor wundersame Säfte und Pulver für seine Hausapotheke gewann. Bisher hatte Guido immer allein oder mit der Mutter gespielt. Jetzt entdeckte er in der Nachbarschaft Annette, die gern zum „Grasen“ hinüberkam. Dann lagen die beiden mucksmäuschenstill auf der Wiese und guckten zu, wie Käfer an Halmen hangelten, Admiralsschmetterlinge im Klee badeten und eine linksgewundene Hortensisschnecke ihre Fühler schwenkte wie ein Geweih. Später fingen die Kinder Eidechsen und grüne Heupferde, die sie auf ihrer Puppenbühne als Krokodile und Zirkusspringer auftreten ließen.

Irgendwann verirrten sich die Spielgefährten in die „Kräuterbeete“. Und Annette erblickte eine Staude mit Früchten und meinte, sie seien lieblich anzuschauen und gut zu schmecken. So pflückte sie braunrote Schattenmorellen und aß und gab dem Guido auch zu essen davon. Da wurden ihre Augen verwirrt, und der blaue Reiter zockelte durch den Garten … Ach, wie erschrak Frau Dagmar darüber! Doch Theo erkannte, was die Stunde geschlagen hatte. Er bemerkte erweiterte Pupillen, Sehstörungen, Puls- und Atembeschleunigung, trockene Haut und diagnostizierte Atropinvergiftung infolge des Genusses von Tollkirschen. Sofort flößte er den Kindern Salzwasser ein, worauf sie erbrachen wie nach stürmischer Seefahrt und erschöpft einschliefen.

Seitdem wussten die beiden „Sünder“, was gut und böse war. Tapfer nahm Guido die „Schuld“ auf sich, aber nicht das bekümmerte ihn vordringlich, sondern die unheimliche Wiederholung der Himmelfahrt. Dabei hatte er diesmal zeitweilig wie eine Eidechse schnappen müssen! Während des interessanten Krankenlagers in der Wohnstube entschloss er sich zögernd dazu, die Mutter um Aufklärung zu bitten, ob ein Junge auch ein Krokodil sein könne.

„Nein, Prinzchen, das kannst du nur spielen oder träumen.“

„Aber ob Krokodile manchmal träumen, dass sie Menschen sind?“

„Bestimmt nicht, denn noch nie hat man Krokodile in die Schule gehen oder Zeitung lesen sehen.“

Guido überlegte einen Augenblick und fragte weiter: „Woher weiß man eigentlich, was wirklich ist? Und wo bin ich, wenn ich träume?“

„Natürlich in deinem Bettchen.“

„Kann das nicht wegfliegen, wenn ich etwas tue?“

„Im Schlaf tut man doch nichts. Da machst du nur die Augen zu und ruhst dich aus vom Spielen und träumst ein bisschen, als ob du an deinen Geburtstag denkst.“

Die Antwort schien den Knaben zu befriedigen. Sein Schlafzimmer, in dem so viele Träume waren, kam ihm nicht mehr allzu gespenstisch vor. Vergnügt guckte er seine schöne Mama an, über deren Augen sich beim Herniederneigen große Lider wölbten. Plötzlich fragte er: „Und wo war ich, als ich noch tot war?“

Frau Dagmar wunderte sich über ihren Sohn. Sie bemühte sich jedoch um behutsames Verständnis und erzählte, wie er einst in ihrem Bauch und vorher vielleicht beim lieben Gott gewesen sei.

Da Guido dem „alten Petzer“ misstraute, erkundigte er sich nach dem „einst“ und „vorher“. Ob eine Stunde so lang sei wie eine Hand oder ein Arm? Auf der Uhr könne man ja die Zeit auch sehen und messen! Warum man die Wochen nicht aufessen könne, damit sie schneller weniger werden? Ob gestern und heute dasselbe sei?

Die Mutter schüttelte den Kopf, worauf Guido erinnerte: „Aber gestern hast du gesagt, dass heute morgen ist.“

„Ja, mein Junge, das ist eine verrückte Sache. Weißt du, heute war gestern und morgen, und heute ist eben heute, ebenso wie gestern heute war und morgen so viel wie heute sein wird.“ Allmählich ging Frau Dagmars Geduld zu Ende, doch das Büblein dachte sich immer neue Fragen aus, um sie am Fortgehen zu hindern: Warum heißt der Stuhl nicht Tisch? Warum fängt man mit eins zu zählen an? Warum fragt man warum? Schließlich: „Warum lebt man eigentlich?“

 

„Um lieb zu sein, Prinzchen.“