Welt der Schwerter

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Z serii: Welt der Schwerter #1
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Irgendwann gab Vater es auf – und Siluren suchte sich seine eigenen Lehrer. Von diesem Tage an blühte er auf. Er las mehrere Bücher im Monat, lernte, die Saiten der Kithalla zu schlagen und begann einen stetigen Schriftwechsel mit den Denkern des Landes. Wegen seiner zurückgenommenen, freundlichen Art fiel es kaum jemandem auf, doch Siluren war ganz sicher der klügste Mann im Schloss, ach was, in ganz Varkaspol und weit darüber hinaus. Hätte Vater nur einmal die Augen geöffnet, um seinen Sohn wirklich anzusehen, so wäre ihm aufgefallen, dass Siluren mehr Wissen und Einsicht besaß als alle Berater und Kanzler, die jemals durch diese Hallen geschlichen waren. Sein Kopf und sein Herz würden ihn dereinst zu einem besseren König machen, als Vater es je hatte sein können, davon war Coridan tief überzeugt.

Silurens Blick kehrte vom Fenster zu ihm zurück. »Auch die Akh’Eldash will, dass man sie um ihrer selbst willen liebt, nicht aufgrund eines magischen Zeichens. Sie hat mein Mitgefühl.«

»Das kann sie sich nicht aussuchen – genauso wenig wie du. Aber ich werde ihr dein Unterpfand übergeben.« Coridan nahm das Kästchen und etwas darin klapperte. Fragend blickte er auf.

»Es ist ein Amulett, ein Abbild der Erdmutter. Sag der Akh’Eldash, ich werde das Lager erst mit ihr teilen, wenn sie es mir zukommen lässt.«

»Das wird Vater nicht gefallen. Die Hochzeit ist für den Blütenmond angesetzt, und er wird erwarten, dass sie vollgültig ist.«

»Niemand kann von mir erwarten, dass ich die Ehe mit einem Kind vollziehe.«

Coridan kannte diesen Blick. Vater hielt Siluren für schwach, weil der sich nicht an den üblichen Formen des Kräftemessens unter Männern beteiligte. Trinken und Raufen, Spielen und Huren lagen ihm nicht. Doch wenn Siluren sagte, er werde die Akh’Eldash erst berühren, wenn sie bereit dazu war, dann würde nicht einmal sein Vater ihn davon abbringen. So wie damals bei der Sache mit dem Karindenbock.

»Die Erdmutter wird kein Kind erwählen«, sagte Coridan voller Überzeugung. »Vermutlich wird sie dreizehn oder vierzehn sein.« Viel älter wohl kaum, denn in diesem Alter galten die Mädchen als erwachsen, ihre Ausbildung im Stift war abgeschlossen, und sie wurden verheiratet.

»Sag es ihr«, bat Siluren. »Gleichgültig, wie alt sie ist.«

»Selbstverständlich.« Coridan verstaute das Kästchen in seiner Satteltasche. »Auf dem Rückweg werde ich dich ihr in den schönsten Farben malen.«

»Lieber nicht.« Siluren lächelte schwach. »Ruothgar hat recht – wecke besser keine Erwartungen, die ich später enttäusche.«

Die Brüder gaben sich die Hand und Coridan stieg in den Sattel. Sie würden zu viert reisen: er und Dendar auf Ulphanen, dazu der Kutscher Helim und ein junger Soldat namens Srimm, der den Platz hinter dem geschlossenen Aufbau des Wagens einnahm. Es war eine kleine Eskorte, aber Coridan kannte jeden der Männer gut, und Schwierigkeiten waren auf der Reise nicht zu erwarten.

Der Trupp setzte sich in Bewegung und die Räder der Kutsche ratterten über den gepflasterten Hof. Als sie das Tor durchritten, sagte Dendar: »Ich fürchtete schon, der Prinz würde den ganzen Tag vertrödeln.«

»Hast du es eilig?«

»Du natürlich nicht, mit deiner anspruchslosen Strenge. Ich habe einfach mehr Fantasie als du.«

»Worüber fantasierst du denn so?«

Dendars Grinsen reichte von Ohr zu Ohr. »Das Tempelstift ist ein Haus voller Jungfrauen – worüber wohl?«

»Jungfrauen«, wiederholte Coridan betont, »und von Adel. Du wirst keiner von ihnen auch nur die Hand küssen, geschweige denn irgendetwas anderes.«

»Du weißt doch, wenn du eine Nacht in der Nähe einer Frau verbringst, die du begehrst, und die dich begehrt, dann können die Geister es fügen, dass ihr euch in euren Träumen begegnet.«

»Die Geister«, sagte Coridan betont, »werden ihren dunklen Zauber wohl kaum so nah am Mutterschoß weben.«

»Sie hätten es leicht. Überlege dir einmal, wie viele begehrenswerte und völlig ausgehungerte Frauen in diesem Haus zusammengepfercht sind.«

»Du solltest dir andere Fantasien suchen. Der Adel ist bekannt dafür, ungewollte Buhlen aufzuhängen.«

»Man kann einen Mann nicht für seine Träume hängen.«

»Verwette nicht deinen Hals darauf.«

***

Die Priorin hatte dem gesamten Tempel einen Tag des Fastens und Betens verordnet, um sich für das Bevorstehende zu reinigen. Der Markgraf und sein Sohn sowie alle männlichen Diener des Tempels hatten sich im Dorf am Fuße des Tempelberges einquartieren müssen. Kein Mann sollte mit seiner Anwesenheit die Manifestation des weiblichen Prinzips stören.

Am frühen Morgen des folgenden Tages betraten alle Kanonissen gemessenen Schrittes den Anbetungssaal. Der Saal war leer bis auf eine Stundenkerze, die neben der Tür zum Heiligtum stand. Die Flamme zitterte im Luftzug, als die Mädchen eintraten.

Lynn liebte das weiße Ritualkleid. Barfuß und barhäuptig, nur in das kühle Leinen gehüllt, fühlte sie sich der Göttin auf seltsame Weise näher. In solchen Momenten wurde die Sehnsucht, zur Schwesternschaft zu gehören, noch größer. Keine Unsicherheit mehr, kein Warten, keine Furcht. Ihr Lebensschiff würde in einen Hafen einfahren und zur Ruhe kommen. Dies hier, ein Leben, das Frauen in eigener Verantwortung gestalteten, zum Dienste der Göttin selbst, das kam sicherlich dem am nächsten, was sich Freiheit nannte. Vielleicht konnte sie doch noch einmal mit der Priorin sprechen.

Die Schwestern traten ein, alle in die gleichen, schlichten Gewänder gekleidet, selbst die Priorin, denn vor der Göttin waren sie alle gleich. Die Bibliothekarin trug die metallene Kassette mit dem Schlüssel zum Mutterschoß, dem tief im Berg gelegenen Heiligtum. Mit gemessenen Schritten bildeten die Heiligen Schwestern einen Halbkreis um die Tür.

Das Schloss war alt. Es knackte vernehmlich, als die Priorin den spannenlangen Schlüssel darin drehte. Sie öffnete die Tür und kühle, kalkige Luft wehte die Mädchen an. In den Fels gehauene Stufen führten nach unten, tief hinein in den Schoß des Tempelberges. Heute würden sie tiefer eindringen als je zuvor, in die Grotte, die sonst den Heiligen Schwestern vorbehalten war. Und eine von ihnen würde verändert zurückkehren, wiedergeboren als Akh’Eldash, als Hohepriesterin der Erdmutter.

Wer es wohl sein würde? Etwa Beringa, die sich schon seit Jahren auf die Ehe mit ihrem Vetter Tharundin freute? Ob die Göttin tatsächlich so grausam wäre? Vielleicht die kleine Sibyllin – jung genug, um sie zu einer idealen Gattin für einen König zu erziehen. Sicher nicht Thaja – ihre Krankheit schloss sie ebenso aus wie Lynns Alter. Es sei denn natürlich, die Göttin würde Thaja zugleich heilen. Wie wunderbar das für sie wäre!

Das erste Mädchen nahm nun eine Kerze aus der Schale und entzündete sie an der Flamme der Stundenkerze. Die Priorin tauchte ihre Fingerspitze in duftendes Öl und legte sie auf die Stirn der Kanonisse. So gesalbt betrat das Mädchen die Stufen, die ins Dunkel führten. Eine nach der anderen durchschritten die Mädchen das Tor zum Allerheiligsten.

Beringa zögerte lange.

»Du musst keine Angst haben«, flüsterte Lynn. »Du könntest die Braut des Prinzen werden, und später Königin.«

»Aber ich will nur Tharundin«, antwortete Beringa mit erstickter Stimme. »Ich bin ihm doch versprochen.«

»Überlasse dich der Göttin.« Lynn nahm tröstend ihre Hand. Himmel, wie verweint Beringas Augen waren, fast schon entzündet. »Sie wird dir nichts nehmen, wenn sie dir dafür nicht unendlich mehr schenkt. Vertraust du ihr?«

Beringa zögerte, dann nickte sie.

»So ist es gut. Hab keine Angst.« Lynn drehte sie in die Richtung der Grotte und ließ ihre Hand los. »Nun geh schon.« Sie gab Beringa einen sanften Anschub und sah ihr nach, wie sie mit unentschiedenen Schritten auf die Priorin zuging und die Kerze nahm. Lynn fing den Blick der Priorin auf. Die alte Dame nickte sachte. »Du auch, Lynneth.«

»Hohe Schwester.« Lynn straffte die Schultern. »Ihr wisst, ich sollte schon gar nicht mehr im Stift sein.«

»Doch noch bist du es.«

»Die Göttin wird mich wohl kaum erwählen, wenn schon Ihr es nicht tut.«

»Das lass die Große Mutter entscheiden.«

Mit einem stummen Seufzen fügte sich Lynn, nahm die Kerze und entzündete sie. Sie wartete, bis die Priorin das Öl auf ihre Stirn gestrichen hatte, dann betrat sie die Stufen.

Die Stufen waren in den felsigen Boden eines Ganges geschlagen, der in Windungen nach unten führte, sodass Lynn keines der vor ihr gehenden Mädchen mehr sah, doch der Klang ihrer bloßen Füße auf dem Stein hallte als geheimnisvolles Wispern zwischen den Wänden. Die Kerzenflamme flackerte und ließ Schatten über die grob behauenen Wände tanzen. Lynn schützte das Feuer mit der Hand und stieg vorsichtig weiter die kühlen Stufen hinab.

Wie jedes Mal hatte Lynn beim Abstieg in den Mutterschoß das Gefühl, die gewohnte Welt zu verlassen und in eine ganz andere Wirklichkeit einzutreten. Alles war hier anders: die Gerüche, das Licht, sogar die Töne. Sie bewegten sich anders fort, hallten von Wand zu Wand, verwoben sich ineinander wie flüsternde, fragende Stimmen, die den Fels selbst zu füllen schienen. Viel mehr Stimmen, als Mädchen diesen Ort betreten hatten.

Einmal im Jahr, am ersten Frühlingsvollmond, gingen alle Frauen des Tempels diesen Weg. Tief im Inneren der Erdmutter reinigten sie sich – ihren Körper mit dem heiligen Wasser, ihren Geist durch Gebet.

Doch heute würde es anders sein. Keine Reinigung stand ihnen bevor, sondern ein Ritual, das vor über zwanzig Jahren das letzte Mal stattgefunden hatte. Heute würde die Göttin selbst eine von ihnen berühren, und niemand wusste, wer das sein würde.

 

Nach gut hundert Stufen mündete der Gang in eine natürliche Grotte. Ein stiller See spiegelte die gewölbte Höhlendecke mit solcher Klarheit, dass er wie eine mit aufstrebenden Tropfsteinen gespickte Grube wirkte. Der Anblick dieser scheinbaren Symmetrie war jedes Mal aufs Neue atemberaubend, selbst für jene, die um die Täuschung wussten.

Niemand konnte sagen, wie alt dieses Heiligtum war. Es hieß, schon die Frauen des alten Volkes hätten hier die Erdmutter verehrt.

Der Geruch nach feuchtem Kalk mischte sich mit dem Duft von geschmolzenem Wachs. Die Kerzen der Mädchen standen nun ringsum auf erstarrten Wachskaskaden, die sich von Felsvorsprüngen und aus Nischen ergossen, hinterlassen von Generationen von Besucherinnen. Auch Lynn tropfte ihre Kerze auf einen der mächtigen Wachspanzer. Dann trat sie in den Kreis der Mädchen, die sich am Rand des stillen Sees aufgestellt hatten.

Hinter ihnen betrat die Priorin die Grotte, gefolgt von den Heiligen Schwestern. Lynn erkannte es am Rascheln der Kleider und dem zusätzlichen Licht. Niemand sprach ein Wort. Hier unten war die grobe menschliche Sprache weder erwünscht noch von Nöten. Man hatte ihnen erklärt, was zu tun war. Doch keines der Mädchen machte Anstalten, zu beginnen. Unsichere Blicke flogen unterhalb gesenkter Lider hin und her.

Nun, Lynn war die Älteste und Erfahrenste hier, und da sie nun schon dabei war, konnte sie auch dafür sorgen, dass sie es hinter sich brachten. Sie schob die Träger auf ihren Schultern zur Seite, und der Stoff glitt in einer fließenden Bewegung zu Boden. Die anderen Mädchen folgten ihrem Beispiel. Lynn wartete, bis auch die letzte Kanonisse nackt dastand.

Etwas berührte ihre Finger. Sibyllin schob ihre Hand zaghaft in Lynns und schaute zu ihr auf. Das Mädchen hatte den ganzen Morgen nur von dem Prinzen gesprochen. Allein das Wort übte eine magische Wirkung auf sie aus. Ob die Göttin sie wohl erwählen würde? Ein so junges Mädchen, dem zweitmächtigsten Mann des Reiches ausgeliefert? Lynn wünschte es ihr nicht, aber niemand konnte den Ratschluss der Göttin vorhersagen. Sie drückte Sibyllins Hand sachte und lächelte beruhigend. Dann, mit Sibyllin an der Hand, stieg sie in den Spiegelsee.

Das Wasser war kühl, aber nicht kälter als während des Rituals im Sommer. Doch heute würden sie es nicht dabei bewenden lassen, sich im Becken des Sees zu reinigen. Heute würden sie tiefer dringen, würden ihren Weg über die Grotte hinaus in das Allerheiligste suchen, das sonst nur die Tempelschwestern betraten.

Hinter Lynn stiegen auch die anderen Mädchen ins Wasser. Der See geriet dadurch in Bewegung, sein Glucksen und Plätschern hallte in der Höhle wider. Das Wasser wurde tiefer, reichte Lynn schließlich bis zum Bauchnabel. Sibyllin ging es bis über die Brust, und sie reckte furchtsam die Nase in die Höhe. Lynn drückte beruhigend ihre Hand. Tiefer würde das Becken nicht werden.

Sie erreichten das hintere Ende der Höhle, und Lynn tastete mit der freien Hand über die Wand unter der Wasserfläche, fand die abgerundete Kante. Der Durchbruch war groß genug, um sie hindurchzulassen. Sie nickte Sibyllin auffordernd zu und holte tief Luft. Die Kleine tat es ihr nach, und zusammen tauchten sie ab.

Das Wasser war glasklar und der Durchschlupf gut zu erkennen: ein rundes Loch, das in absolute Schwärze führte. Lynn stieg hindurch und zog Sibyllin hinter sich her. Die freie Hand sichernd nach oben gestreckt richtete sie sich dann auf und erreichte schnell die Oberfläche. Das Wasser war hier ebenso flach wie auf der anderen Seite.

Tiefe Finsternis herrschte um sie herum. Lynn hatte keinen Begriff davon, wie groß diese zweite Höhle war. Nach dem Klang zu urteilen, mit dem das Geräusch des plätschernden Wassers zu ihr zurückhallte, musste sie riesig sein – und sie war vollkommen dunkel.

Aus dieser Höhle erstreckte sich ein Gang tief ins Innere der Welt, so tief, dass noch nie ein Mensch an sein Ende gelangt war. Von dort waren die Erstlinge gekommen – die ersten Exemplare eines jeden Lebewesens, das diese Welt beherbergte. Hier waren sie geboren worden. Dies war der wahre Mutterschoß.

In der absoluten Schwärze malte die Einbildung Blitze und Funken vor Lynns Augen. Ob es hier drin außer ihr noch anderes Leben gab? Seltsame Kreaturen, die aus dem Inneren der Erdmutter heraufgekrochen kamen, Nachgeborene der ersten Schöpfung? War dies womöglich mehr als eine Erwählung? Stand ihnen eine Prüfung bevor?

Sibyllin drängte sich an sie, und Lynn spürte das Zittern des Kindes. Sie selbst musste stark sein. Es gab ja auch gar keinen Grund zur Furcht. Dies war der Mutterschoß, der Ursprung allen Lebens. Hier hatte jede Liebe und Fürsorge der Welt ihren Anfang genommen. Hier war sie dem Herzen der Mutter näher als an irgendeinem anderen Ort auf der Welt. Wo könnte sie sicherer sein?

Beruhigend legte sie eine Hand auf Sibyllins schmalen Rücken, streckte die andere sichernd nach vorne und ging mit entschiedenen Schritten weiter. Der Boden stieg an und sie verließen das Becken, doch auch hier fand Lynn keine Wand. Wieder und wieder tastete sie ins Leere.

Es war sicherer, sich nicht zu weit vom Becken zu entfernen. Lynn wandte sich um. Vom Licht der Kerzen auf der anderen Seite erhellt tanzte der Durchschlupf als bläuliches Oval unter der bewegten Wasseroberfläche und zeigte ihnen so den Rückweg an. Die anderen Mädchen kamen durch die Öffnung, schwarze Silhouetten im schimmernden Oval, wie Geister, die rasch wieder mit der Dunkelheit verschmolzen. Geräusche zeigten, dass sie aus dem Wasser stiegen und sich im Raum verteilten. Lynn setzte sich frierend zu Boden. Sibyllin kauerte sich ebenfalls nieder, drückte sich furchtsam an sie, und Lynn legte ihren Arm um das zitternde, kleine Mädchen.

Schließlich waren alle Kanonissen durch das Loch getaucht, und es begann das Warten in Schwärze und Stille. Je mehr sich Lynn an die Stille gewöhnte, desto lauter klang der gelegentliche Tropfen, der von den Wänden fiel, oder das Schaben, wenn eines der Mädchen sich bewegte. Von links schwebte unterdrücktes Schluchzen zu ihr herüber – Beringa.

Für ein Ritual waren sie seltsam passiv. Ihre Aufgabe war es nur, zu sitzen und zu beten – sich der Göttin hinzugeben, hatte es die Priorin genannt. Lynn hatte sich noch nie sonderlich gut ins Gebet versenken können, zu vielfältig waren ihre Gedanken, zu quälend die erzwungene Tatenlosigkeit. Vermutlich hatte die Priorin recht damit, dass sie nicht in die Schwesternschaft passte. Schon jetzt regte sich ihre Ungeduld. Wenn die Göttin eine von ihnen erwählen wollte, warum konnte sie das nicht jetzt sofort tun? Worauf wartete sie? Sicherlich kannte sie doch das Herz jedes Mädchens hier zur Genüge.

Dennoch blieb ihnen nichts, als ergeben zu warten. Irgendwann würde sich eine von ihnen über die Stirn tasten und den No’Ridahl erfühlen. Dann würde sich diese Erwählte erheben und auf die andere Seite zurückkehren, das Zeichen für alle anderen, ihr zu folgen und das Ritual damit zu beenden.

Wie lange es wohl dauern würde? Lynn verlor jedes Gefühl dafür, wie viel Zeit verging. Es gab nichts außer der Stille, der Kühle und der Dunkelheit. Eine bleierne Müdigkeit legte sich auf sie und ihr Kopf sank auf die angezogenen Knie.

Ein Stöhnen ließ sie zusammenschrecken. Sibyllin klammerte sich an ihren Arm. Hatte sie geschlafen? Wenn ja, wie lange?

Von links hörte sie wieder ein Stöhnen, dann ein Klopfen und Kratzen. Das Geräusch kam ihr bekannt vor, aber woher bloß? Dann erkannte sie es. »Thaja hat einen Anfall!« Ihre Worte hallten hohl in der Stille wider.

Zischen antwortete von mehreren Seiten. Während des Rituals waren Worte tabu. Einen Moment lang zögerte Lynn. Durfte sie das Ritual unterbrechen? Den Zauber der Erdmutter stören? Aber wenn Thaja sich auf die Zunge biss, wie es schon einmal geschehen war, wenn das Blut ihre Kehle hinab lief, und sie nicht bei Bewusstsein war …

Lynn nahm Sibyllins Hand in die Linke und tastete sich mit der Rechten voran, während sie über den glatten Steinboden in Richtung der Laute kroch. Ihre Finger berührten etwas Weiches, Warmes. Etwas, das leise schniefte. Beringa.

Lynn flüsterte: »Kümmere dich um Sibyllin.« Sie legte Sibyllins Hand auf Beringa und kroch nun rascher weiter. Es wurde dringend. Die Geräusche endeten in einem langgezogenen Röcheln.

Wieder ein Körper. Das Mädchen lag lang ausgestreckt auf dem Boden und reagierte nicht auf Lynns Berührung. »Thaja?« Keine Antwort. Jetzt zischte niemand mehr, und so sagte Lynn in die Dunkelheit: »Thaja ist nicht mehr bei sich. Wir müssen sie rausbringen.« Sie ertastete die Schulter der Freundin und hob deren Oberkörper an. Schwer lehnte sich Thajas Gewicht gegen ihre Brust. Lynn roch etwas Metallisches und erriet, dass es Blut war. Hatte Thaja sich auf die Zunge gebissen oder sich an dem Fels den Kopf angeschlagen? Was immer es war, sie würde es erst im Licht sehen können.

Lynn griff unter Thajas Armen hindurch und verschränkte die Hände über deren Brust. Im Aufstehen stemmte sie ihre Last mit in die Höhe. Ihre Beine zitterten, als sie Thaja rückwärtsgehend zum Wasser hinüberzog. Der schimmernde Kreis unter der Oberfläche war ihr Ziel, ihr einziger Fixpunkt in der schwarzen Leere. Bald umspülte das kühle Wasser ihre Füße, das rasch tiefer wurde und ihr einen Teil der Last abnahm.

»Wie kann ich helfen?«, fragte jemand neben ihr.

»Geh zurück und sag der Priorin, was geschehen ist … und ich brauche jemanden, der uns auf der anderen Seite in Empfang nehmen kann.«

»Das mache ich.« Sie spürte die Strömung des Wassers, als das Mädchen an ihr vorbeieilte. Dann fiel ihr ein, dass sie Thaja nicht durch das Loch ziehen und sie gleichzeitig vor dem Wasser schützen konnte. »Jemand muss Thaja Mund und Nase zuhalten, während wir tauchen.«

»Das kann ich tun!«

Vermutlich waren jetzt alle Kanonissen im Wasser. Sie würden das Ritual wiederholen müssen, aber dann war das eben so.

Lynn zog Thaja zum Loch hinüber, dann wartete sie. Jemand tastete über ihre Arme. »Das bin ich«, sagte Lynn. »Thajas Gesicht ist weiter oben.«

Die Finger verließen ihre Haut und kurz darauf kam die Bestätigung.

»Lass sie noch mal atmen, dann machen wir es auf drei.« Es musste schnell gehen, Thaja sollte nicht ersticken. »Eins … zwei …« Bei drei tauchte Lynn ab, ertastete mit Rücken und Schultern die Felswand, ging tiefer und schlüpfte rückwärts durch den Durchbruch. Glücklicherweise war er kaum eine Elle tief, und so tauchte sie kurz darauf in der von Kerzen erhellten Vorhöhle wieder auf. Das nasse Haar klebte um ihren Kopf und hing ihr in die Augen, was sich durch Kopfschütteln nur wenig verbessern ließ. Thajas Gesicht befand sich sicher über der Oberfläche und die andere Kanonisse nahm ihre Hand von Thajas Mund und Nase. Lynn fühlte beruhigt die Atembewegung des Brustkorbes unter ihren Armen.

Immer mehr Mädchen kamen durch den Spalt zurück, und während Lynn Thaja zum Ufer brachte, versicherte sie sich mit einem kurzen Blick, dass auch Beringa und Sibyllin unter ihnen waren. Viele Hände halfen ihr, die noch immer Bewusstlose aus dem See zu tragen. Endlich lag Thaja auf dem steinernen Boden. Ein dünner Blutfaden lief aus ihrem Mundwinkel und vermischte sich mit dem Wasser.

Lynn strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Wir müssen sie die Treppe hinauftragen.« Für sie allein war Thaja zu schwer. »Beringa, vielleicht kannst du ihre Füße …« Sie stockte, als sie merkte, dass alle sie anstarrten.

»Es reicht«, sagte die Priorin. »Die Schwestern werden sich um Thaja kümmern. Du wirst jetzt mit mir kommen.«

Wollte die Priorin sie tatsächlich maßregeln? Ja, sie hatte das Ritual gestört, aber sie hatte Thaja wohl kaum in der Dunkelheit in ihrem Blut liegen lassen können. »Es tut mir leid«, sagte sie trotzig. »Die Erdmutter wird es verstehen müssen.«

»Das tut sie«, erwiderte die Priorin. »Doch du musst deine Freundin nun anderen Händen überlassen … Akh’Eldash.«