Auf der Suche nach Indien

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ron­ny ­hatte ­eine et­was düs­te­re und ein we­nig be­sorgte Mie­ne auf­ge­setzt. Er kannte die­se re­­ligi­ö­sen An­wand­lun­gen seiner Mut­ter und wuss­te, dass sie bei ihr Symp­tom für in­ne­res Un­wohl­sein wa­ren. Be­son­ders häu­fig wa­ren sie nach dem Tod seines Stief­va­ters ge­we­sen. Er dach­te: »Ganz of­fen­sicht­lich macht sich ihr Al­ter be­merk­bar, und ich sollte keines ih­rer Worte all­zu tra­gisch neh­men.«

»Schon un­ser Be­stre­ben, nett zu­einan­der zu sein, ist Gott will­kom­men … Ja, selbst das ehr­­liche, wenn auch ohn­mäch­ti­ge Be­stre­ben darf Seines Se­gens ge­wiss sein. Ver­mut­lich ver­sagt je­der von uns ein­mal. Aber es gibt so vie­le Ar­ten des Ver­sa­gens. Nur auf den gu­ten Wil­len kommt es an und noch­mals den gu­ten Wil­len. Wenn ich mit Men­schen- und mit En­gels­zun­gen re­dete …«

Er war­te­te, bis sie mit Zi­tie­ren fer­tig war, und ­sagte dann leise: »Das ver­ste­he ich schon. Aber nun sollte ich mich wie­der an meine Ak­ten ma­chen, und du willst zu Bett ge­hen.«

»Ja, zweifel­los, zweifel­los.« Ein paar Mi­nu­ten sa­ßen beide noch beisam­men, aber die Un­ter­hal­tung ­hatte ­einen et­was un­wirk­­lichen Cha­rak­ter an­ge­nom­men, seit das Chris­ten­tum mit he­rein­ge­zo­gen war. Ron­ny ­hatte nichts ge­gen Re­­ligi­on ein­zu­wen­den, so­lan­ge sie sich da­mit be­gnüg­te, der Na­ti­o­nal­hym­ne ­eine hö­he­re Weihe zu ver­leihen, aber er setzte sich ge­gen sie zur Wehr, so­bald sie ver­such­te, Ein­fluss auf sein Le­ben zu neh­men. Dann pflegte er in ehr­er­bie­ti­gem und doch ent­schie­de­nem Ton zu er­klä­ren: »Ich glau­be kaum, dass es viel Sinn hat, über so et­was zu re­den – je­der Mensch hat sich schließ­lich seine eige­ne Re­­ligi­on zu­recht­zuzimmern«, und je­der Mensch, der sich zu­fäl­lig da­bei in Hör­weite be­fand, pflegte »hört, hört« zu mur­meln.

Mrs. Moo­re spür­te, dass es ein Irr­tum ih­rer­seits ge­we­sen war, Gott in dem Ge­spräch zu er­wäh­nen, aber je äl­ter sie wur­de, des­to schwe­rer fiel es ihr, Ihn zu um­ge­hen. Seit sie in­di­schen Bo­den be­tre­ten, ­hatte der Ge­dan­ke an Ihn sie un­auf­hör­lich be­schäf­tigt, auch wenn Er merk­wür­di­ger­weise ih­rem Ge­müt ein we­nig die Be­frie­di­gung schul­dig blieb. Im­mer wie­der ­hatte sie Seinen Na­men im Mun­de zu füh­ren – den höchs­ten al­ler ihr be­kann­ten Na­men –, aber nie­mals ­hatte sie es mit ge­rin­ge­rem Er­folg ge­tan. Über dem sicht­ba­ren Him­mel schien sich stets noch ein an­de­rer Him­mel zu wöl­ben, hin­ter dem ferns­ten Echo noch ­eine Stil­le zu breiten. Und spä­ter be­reute sie so­gar, sich nicht an das wirk­lich ernst­hafte The­ma ge­hal­ten zu ha­ben, das schließ­lich der eigent­­liche An­lass zu ih­rem Be­such in In­di­en ge­we­sen war – näm­lich die Be­zie­hung zwi­schen Ron­ny und Ad­ela. Wür­den beide es fertig­brin­gen, sich durch ein Ver­löb­nis an­einan­der zu bin­den?

6

Aziz ­hatte an der Bridge-Par­ty nicht teil­ge­nom­men. Un­mit­tel­bar nach der Be­geg­nung mit Mrs. Moo­re sah er sich an­der­weitig be­an­sprucht. Im Kran­ken­haus wur­den ein paar chi­rur­gi­sche Fäl­le ein­ge­lie­fert, die ihn un­auf­hör­lich in Atem hiel­ten. Er war nicht län­ger Au­ßen­seiter oder Dich­ter, son­dern fach­kun­di­ger Me­di­zi­ner und als sol­cher höchst un­ter­neh­mungs­lus­tig, ganz vom Ge­dan­ken an seine Ope­ra­ti­o­nen er­füllt, von de­nen er spä­ter seinen Freun­den zahl­lo­se Ein­zel­heiten in die schau­dern­den Oh­ren flüs­ter­te. Bis­weilen schlug sein Be­ruf ihn völ­lig in Bann, aber seine Ar­beit musste un­be­dingt auf­re­gend sein. Wis­sen­schaft­lich ge­schult war seine Hand, nicht sein Geist. Das Skal­pell war sein Lieb­lings­instru­ment, und er wusste es un­ge­mein ge­schickt zu hand­ha­ben. Nicht we­ni­ger Ver­gnü­gen fand er da­ran, den Pa­ti­en­ten die neu­es­ten Se­ren in die Adern zu pum­pen. Aber mit der Ein­tö­nig­keit von Dis­zip­lin und Hy­gi­e­ne konnte er sich nie­mals be­freun­den, und wenn er etwa ­einen Pa­ti­en­ten zum Schutz ge­gen Un­ter­leibs­typhus ge­impft ­hatte, brachte er es fer­tig, aus dem Haus zu schlüp­fen und sel­ber un­filt­rier­tes Was­ser zu trin­ken. »Was kann man auch von ­einem sol­chen Mann an­de­res er­war­ten?«, ­fragte der un­nach­sich­ti­ge Ma­jor Cal­len­dar. »Kein Grips und kein Mumm.« Aber im Grun­de seines Her­zens zweifelte er nicht da­ran, dass die alte Mrs. Gray­ford noch am Le­ben wäre, hätte im ver­gan­ge­nen Jahr nicht er, son­dern Aziz ihr den Blind­darm he­raus­ge­schnit­ten. Was ihn na­tür­lich seinem Un­ter­ge­be­nen ge­gen­über nicht eben ­gnä­di­ger stimm­te.

Am Mor­gen nach dem Mo­schee­be­such kam es, wie zu­vor schon so oft, zu ­einer Aus­einan­der­set­zung zwi­schen beiden. Der Ma­jor, der die hal­be Nacht durch­ge­ar­beitet ­hatte, wollte von Aziz wis­sen, wa­rum zum Teu­fel er auf seinen Be­scheid hin nicht gleich zur Stel­le ge­we­sen wäre.

»Ver­zeihung, Sir, aber ich war gleich zur Stel­le. Ich habe mich aufs Fahr­rad ge­setzt, aber vor dem Kuh­spi­tal platzte ­einer der Reifen. Ich habe also erst ­eine Ton­ga auf­treiben müs­sen.«

»Vor dem Kuh­spi­tal? Und wie sind Sie über­haupt dort hin­ge­kom­men?«

»Wie bit­te?«

»Ge­rech­ter Him­mel! Wenn ich hier woh­ne« – er bohrte ­eine Fuß­spit­ze in den Kies –, »und Sie woh­nen da – keine zehn Mi­nu­ten weit weg –, und das Kuh­spi­tal liegt ein gan­zes Stück weiter auf der an­de­ren Seite – da wie kom­men Sie dann auf dem Weg zu mir über­haupt da­ran vor­bei? Nun tun Sie zur Ab­wechs­lung mal was!«

Wü­tend stelzte er da­von, ohne Aziz’ Ent­schul­di­gung ab­zu­war­ten, die an sich ganz plau­si­bel ge­we­sen wäre: da das Kuh­spi­tal mit­ten auf der nächs­ten Ver­bin­dungs­­linie zwi­schen Hami­dul­lahs Haus und dem seinen lag, war Aziz selbst­ver­ständ­lich da­ran vor­beige­kom­men. Cal­len­dar konnte nie­mals be­greifen, wa­rum ge­bil­dete In­der einan­der stän­dig be­such­ten und so ­viel Mühe da­rauf ver­wand­ten, ein neu­es so­zi­a­les Ge­we­be zu knüp­fen. Kas­ten­vor­stel­lun­gen oder ähn­­liche Vor­ur­teile muss­ten ih­nen das ja oh­ne­hin un­mög­lich ma­chen. Der Ma­jor wusste le­dig­lich, dass keiner der In­der ihm je die Wahr­heit ­sagte, auch wenn er nun schon an die zwan­zig Jah­re im Lan­de war.

Aziz folgte ihm mit be­lus­tig­tem Blick. Wenn er hoch­ ge­stimmt war, be­trach­tete er die Eng­län­der als ­eine ko­mi­sche Welt­ein­rich­tung, wie es ihm auch Ver­gnü­gen mach­te, sich von ih­nen miss­ver­ste­hen zu las­sen. Aber das war ­eine Art des Be­lus­tigt­seins, die nur seine Stim­mung, seine Ner­ven be­traf und die ­einem ein­zi­gen Zwi­schen­fall oder auch nur dem nor­ma­len Ver­lauf der Zeit nicht stand­hal­ten moch­te. Sie war ganz ver­schie­den von der in­ne­ren Heiter­keit seines We­sens, die erst dann nach au­ßen trat, wenn er mit Men­schen zu­sam­men­sein durf­te, de­nen er wirk­lich trau­te. Ein et­was un­bot­mä­ßi­ger Ver­gleich, Mrs. Cal­len­dar be­tref­fend, kam ihm plötz­lich in den Sinn. »Das muss ich Mah­moud Ali er­zäh­len – wie der la­chen wird!«, dachte er. Dann machte er sich an die Ar­beit. Er war tüch­tig, er war un­ent­behr­lich, und das ­wusste er. Und wäh­rend er mit be­ruf­­lichem Ge­schick seiner Tä­tig­keit nach­ging, ent­fiel ihm der be­sagte Ver­gleich.

Im Lauf je­ner an­ge­neh­men, ar­beits­reichen Tage kam es ihm zu Oh­ren, dass der Ver­wal­tungs­di­rek­tor ­eine Ge­sell­schaft ver­an­stal­tete und dass der Na­wab Baha­dur die Pa­ro­le aus­ge­ge­ben ­hatte, dass je­der­mann da­ran teil­zu­neh­men habe. Sein eige­ner Kol­le­ge, Dr. Pan­na Lal, war bei dem blo­ßen Ge­dan­ken an die Ver­an­stal­tung in hel­les Ent­zü­cken ge­ra­ten und be­stand da­rauf, dass sie beide zu­sam­men in seinem neu­en Ein­spän­ner hin­fah­ren soll­ten – was ih­nen auch beiden zu­pass­ge­kom­men wäre. Aziz wäre die un­wür­di­ge Vor­fahrt mit dem Fahr­rad oder die kost­spie­­lige Ein­fahrt in ­einem Miet­fuhr­werk er­spart ge­blie­ben, und Dr. Pan­na Lal, der et­was ält­lich und furcht­sam war, hätte Hil­fe beim Kut­schie­ren ge­habt. Er be­durfte de­ren eigent­lich nicht, so gut wie nicht, aber er fürch­tete sich vor den Au­tos und der un­be­kann­ten Kur­ve bei der Ein­fahrt ins Klub­grund­stück. »Es mag sich ­eine Ka­tast­ro­phe er­eig­nen«, ­sagte er in höf­­lichem Ton, »aber auf je­den Fall wer­den wir hin­fah­ren, selbst wenn wir nicht mehr zu­rück­keh­ren soll­ten.« Und mit et­was we­ni­ger zweifel­haf­ter Lo­gik fügte er hin­zu: »Es wird be­stimmt ­einen gu­ten Ein­druck ma­chen, wenn wir Ärzte gleich­zeitig an­lan­gen.«

Als aber der gro­ße Au­gen­blick da war, wur­de Aziz von Un­lust ge­packt, und er be­schloss, da­heimzubleiben. Ein­mal fühlte er sich nach der so­e­ben zu Ende ge­kom­me­nen Pha­se fie­ber­haf­ter Be­rufs­tä­tig­keit sehr viel un­ab­hän­gi­ger und stär­ker, zum an­de­ren fiel das Da­tum der Ein­la­dung mit der all­jähr­­lichen Wie­der­kehr des To­des­tags seiner Frau zu­sam­men. Sie war kur­ze Zeit, nach­dem er ihr sein Herz er­schlos­sen ­hatte, von ihm ge­gan­gen. Zu­nächst ­hatte sie nicht viel für ihn be­deu­tet. Nicht un­be­ein­flusst von west­­lichen Ge­fühls­vor­stel­lun­gen, ­hatte er sich in­ner­lich der Ver­bin­dung mit ­einer Frau wi­der­setzt, die er noch nie zu Ge­sicht be­kom­men ­hatte. Und was schlim­mer war: als er sie end­lich er­blick­te, fühlte er sich ent­täuscht, und das erste Kind mit ihr ­hatte er im Zu­stand blo­ßer sinn­­licher Be­gehr­lich­keit ge­zeugt. Erst nach der Ge­burt des Kin­des be­gann al­les an­ders zu wer­den. Was ihn zu­letzt an seine Frau ket­te­te, war ihre Lie­be zu ihm, ihre An­häng­lich­keit, die mehr war als blo­ße Un­ter­wür­fig­keit, war ihr Be­mü­hen, sich geis­tig be­reits für die Auf­he­bung der stren­gen pur­dah-Vor­schrif­ten zu wapp­nen, zu der es wo­mög­lich noch zu ih­ren Leb­zeiten kom­men wür­de. Sie war klug und trotz­dem in ­einem alt­mo­di­schen Sin­ne an­mu­tig. Und all­mäh­lich ver­lor sich bei ihm das Ge­fühl, dass seine An­ge­hö­ri­gen für ihn ­eine fal­sche Wahl ge­trof­fen hat­ten. Sinn­­liche Freu­den – nun, selbst wenn er sie ge­kos­tet hät­te, sie wür­den nach Ab­lauf ­eines Jah­res ih­ren Reiz für ihn ver­lo­ren ha­ben, und statt­des­sen war ihm et­was zu­teil ge­wor­den, was an Wert im­mer mehr zu ge­win­nen schien, je län­ger beide zu­sam­men­leb­ten. Sie ge­bar ihm ­einen Sohn … aber als sie ­einem zweiten Sohn das Le­ben schenk­te, starb sie. Und nun erst be­griff er, was er an ihr ver­lo­ren ­hatte, be­griff, dass keine Frau je­mals wie­der an ihre Stel­le tre­ten könn­te, in ge­wis­sem Sin­ne viel­leicht nur noch ein männ­­licher Freund. Sie war von ihm ge­gan­gen, keiner zweiten ver­gleich­bar – und war sol­che Emp­fin­dung für die Ein­zig­ar­tig­keit ­eines an­dern We­sens nicht Lie­be? Er ging seinen Ver­gnü­gun­gen nach, er ver­gaß sie so­gar bis­weilen: dann wie­der war es ihm, als sei mit ihr alle Schön­heit und Freu­de der Welt ins Pa­ra­dies ent­wi­chen, und er spielte mit dem Ge­dan­ken an Selbst­mord. Wür­de er ihr einst jen­seits des Gra­bes wie­der­be­geg­nen – so­fern es über­haupt ­einen Ort für sol­che Wie­der­be­geg­nung gab? Auch wenn er über­zeug­ter Mos­lem war – er wusste es nicht. Die Ein­heit Got­tes stand über je­den Zweifel fest, war über je­den Zweifel auch of­fen­bar, aber im Hin­blick auf an­de­re Fra­gen war er so un­si­cher wie ein Durch­schnitts­-Christ. Die Ge­wiss­heit künf­ti­gen Le­bens ver­blasste in ihm zu blo­ßer Hoff­nung, er­losch, er­glühte von Neu­em – und das al­les im Rah­men ­eines ein­zi­gen Sat­zes oder im Ver­lauf we­ni­ger Puls­schlä­ge. Es war, als ver­füg­ten seine Blut­kör­per­chen, nicht er selbst, wel­che Meinung er sich zu ei­gen ma­chen und wie lan­ge er da­ran fest­hal­ten soll­te. Und so ver­hielt es sich mit all seinen Meinun­gen. Nichts ­hatte fes­ten Be­stand, aber nichts ver­flüch­tigte sich auch für im­mer. Un­auf­hör­lich kreiste in ihm und um ihn her die Welt, und so be­wahrte er sich die Ju­gend und trau­erte seiner Frau umso ehr­­licher nach, als er ihr nur sel­ten nach­trau­er­te.

 

Ge­wiss wäre es ein­fa­cher ge­we­sen, Dr. Lal da­von in Kennt­nis zu set­zen, dass er sich die Sa­che mit der Ge­sell­schaft an­ders über­legt ­hatte. Aber bis zur letz­ten Mi­nute wusste er nichts da­von. Ja, nicht er ­hatte den Ent­schluss – der Ent­schluss ­hatte sich sel­ber ge­än­dert. Eine un­be­zwing­­liche Un­lust wallte in ihm auf. Mrs. Cal­len­dar, Mrs. Les­ley – nein, in seinem Kum­mer konnte er beider Ge­gen­wart nicht er­tra­gen. An­de­rer­seits wür­den sie er­ra­ten, wie ihm zu­mute war – er traute äl­te­ren Eng­län­de­rin­nen selt­sa­me Kräfte der Ah­nung zu –, und si­cher wür­den sie ihn nur zu gern in die Zan­ge neh­men, um sich dann bei ih­ren Män­nern über ihn lus­tig zu ma­chen. Zu der Zeit, in der er sich zur Ab­fahrt be­reit­hal­ten soll­te, stand er an ­einem Post­schal­ter, um ein Te­le­gramm an seine Kin­der auf­zu­ge­ben. Bei der Rück­kehr er­fuhr er, dass Dr. Lal nach ihm ge­fragt ­hatte und dann gleich weiter­ge­fah­ren war. Nun, er mochte nur weiter­fah­ren, wie es der Grob­kör­nigk­eit seines We­sens ge­mäß war. Er, Aziz, wollte Zwie­spra­che mit der To­ten hal­ten.

Er öff­nete ein Schub­fach und nahm ein Foto seiner Frau he­raus. Er be­trach­tete sie, und in seine Au­gen tra­ten Trä­nen. Wie un­glück­lich ich doch bin!, dachte er. Aber weil er wirk­lich un­glück­lich war, mischte sich seinem Selbst­mit­leid noch ein an­de­res Ge­fühl bei: er wollte sich un­be­dingt die le­ben­di­ge Er­scheinung seiner Frau wie­der ins Ge­dächt­nis ru­fen – und ver­mochte es nicht. Wa­rum konnte er sich da­ge­gen ziem­lich ge­nau an Leute er­in­nern, für die er gar nichts emp­fand? Sie wa­ren ihm stets so er­staun­lich ge­gen­wär­tig. Je län­ger er das Foto be­trach­te­te, des­to we­ni­ger konnte er da­rauf wahr­neh­men. Seit seine Frau zu Gra­be ge­tra­gen war, ­hatte sie sich ihm ent­zo­gen. Er ­hatte ge­wusst, dass sie seinen Hän­den und Au­gen ent­gleiten wür­de, ­hatte aber ge­glaubt, sie wer­de in seinem In­nern weit­er­le­ben. Er ­hatte noch nicht be­grif­fen: die blo­ße Tat­sa­che, dass wir die To­ten ein­mal ge­liebt ha­ben, macht sie für uns umso un­wirk­­licher, und sie ent­weichen in im­mer weite­re Fer­nen, je leiden­schaft­­licher wir sie uns wie­der vors Auge zu ru­fen ver­su­chen. Ein Stück bräun­­lichen Kar­tons und drei Kin­der – das war al­les, was ihm von seiner Frau ge­blie­ben war. Eine un­er­träg­­liche Vor­stel­lung. Und wie­der dachte er: wie un­glück­lich ich doch bin, und eben das stimmte ihn ein we­nig glück­­licher. Ei­nen Au­gen­blick lang ­hatte er et­was von der Luft der Sterb­lich­keit ge­at­met, die die Ori­en­ta­len wie alle an­de­ren Men­schen um­weht, und nun wandte er sich mit ­einem Seuf­zer, der wie ein Hauch war, wie­der reine­ren Ge­fil­den zu, denn er war jung. »Nie und nim­mer wer­de ich da­rü­ber hin­weg­kom­men«, ­sagte er zu sich. »Zweifel­los gibt es nun für mich keine Zu­kunft mehr, und auch meine Söh­ne wer­den schief he­ran­wach­sen.« Da ein Zweifel an seinem Schick­sal eben nicht mög­lich war, ver­suchte er we­nigs­tens, des­sen Lauf ab­zu­än­dern. Er über­flog eini­ge No­ti­zen, die er sich über ­einen Krank­heits­fall ge­macht ­hatte. Viel­leicht be­durfte ­eines schö­nen Ta­ges ­eine wohl­ha­ben­de Per­sön­lich­keit ge­ra­de die­ser be­son­de­ren Ope­ra­ti­on, die ihm ­eine be­trächt­­liche Stan­ge Geld ein­brin­gen wür­de. Da aber die No­ti­zen ihn um ih­rer selbst wil­len in­te­res­sier­ten, schloss er die Fo­to­gra­fie wie­der weg. Sie ­hatte das Ihre ge­tan, und er dachte nun auch nicht weiter an seine Frau.

Nach dem Tee hob sich seine Stim­mung ein we­nig und er ging zu Hami­dul­lah hi­nü­ber. Hami­dul­lah war ge­ra­de auf der Ge­sell­schaft, doch sein Pony war da­ge­blie­ben, und Aziz lieh es sich aus, und mit ihm des Freun­des Reit­ho­sen und Po­lo­schlä­ger. Er ritt auf den Mai­dan, der völ­lig ver­las­sen da­lag. Nur am Ran­de trai­nier­ten ein paar Ju­gend­­liche aus dem Ba­sar­vier­tel. Trai­nier­ten wo­für? Sie hät­ten es sel­ber kaum sa­gen kön­nen, aber das Wort war nun ein­mal in Mode ge­kom­men. Lang auf­ge­schos­sen, mit ein­wärts­ste­hen­den Kni­en – in die­ser Ge­gend schien nie­mand gut ge­wach­sen zu sein –, tru­gen sie ­einen Aus­druck nicht so sehr der Ent­schlos­sen­heit als des Ent­schlos­sen­seins zur Ent­schlos­sen­heit zur Schau. »Ma­ha­rad­scha, sa­laam«, rief Aziz ih­nen scher­zend zu. Die jun­gen Leute hiel­ten in der Be­we­gung inne und lach­ten. Er warnte sie vor Über­an­stren­gung, und sie ver­spra­chen, seine War­nung zu be­her­zi­gen, und lie­fen weiter. Aziz sprengte in die Mitte des Plat­zes und be­gann den Ball hier­hin und dort­hin zu schla­gen. Er selbst ver­stand nicht viel vom Spiel, wohl aber das Pony, und er machte sich, al­ler mensch­­lichen Span­nung ent­ho­ben, gleich da­ran, es zu er­ler­nen. Er ver­gaß seine sämt­­lichen Le­bens­nö­te, wäh­rend er über die fla­che Schüs­sel des Mai­dans feg­te. Wie kühl der Hauch des Abend­winds auf seiner Stirn, wie be­ru­hi­gend der An­blick der ihn um­kreisen­den Bäu­me! Der Ball schoss in Rich­tung ­eines ein­zel­nen Fähn­richs, der sich hier gleich­falls zum Üben ein­ge­fun­den ­hatte. Er schmet­terte ihn zu Aziz zu­rück und rief: »Schla­gen Sie ihn wie­der her!«

»Na schön.«

Der Neu­an­kömm­ling wusste un­ge­fähr, was er an­zu­stel­len ­hatte, aber sein Pferd wusste es nicht, und so wa­ren die Kräfte an­nä­hernd gleich­mä­ßig ver­teilt. Ihr Au­gen­merk ganz dem Ball zu­ge­wandt, fass­ten beide Spie­ler ­eine ge­wis­se Zu­neigung zu­einan­der und lä­chel­ten, wenn sie ein­mal ihr Reit­tier zum Ste­hen brach­ten, um ­einen Au­gen­blick zu ver­schnau­fen. Aziz ­hatte für Uni­for­mierte al­ler­lei üb­rig – sie freun­de­ten sich ent­we­der gleich mit ­einem neu­en Be­kann­ten an oder schick­ten ihn flu­chend zum Teu­fel, was im­mer noch bes­ser war als das ein­ge­bil­dete Ge­tue der meis­ten Zi­vi­lis­ten –, und der Fähn­rich wie­de­rum ­hatte für je­den et­was üb­rig, der sich aufs Reiten ver­stand.

»Spie­len Sie oft?«, ­fragte er.

»Sonst nie.«

»Dann las­sen Sie uns noch ­eine Run­de ver­su­chen.«

Als er selbst wie­der aus­hol­te, bäumte sich sein Pferd auf, er fiel zu Bo­den, rief: »O Gott!« und saß wie­der auf. »Fal­len Sie denn nie he­run­ter?«

»Fort­wäh­rend.«

»Das glau­be ich Ih­nen nicht.«

Wie­der zü­gel­ten beide ihr Reit­tier, die hel­le Wär­me der Brü­der­lich­keit im Auge. Aber die­se Emp­fin­dung hielt so we­nig vor wie die Er­hit­zung ih­res Kör­pers, denn sport­­liche Be­tä­ti­gung ver­mag nur ­einen flüch­ti­gen Wär­me­schim­mer her­vor­zu­ru­fen. Bei ­beiden machte sich das Ge­fühl ver­schie­de­ner Stam­mes­zu­ge­hö­rig­keit wie­der gel­tend, aber be­vor es sein Gift ab­zu­son­dern ver­moch­te, schie­den sie mit kräf­ti­gem Hand­schlag. »Wenn die an­de­ren nur ge­nau­so wä­ren!«, dachte je­der von beiden.

Die Stun­de des Son­nen­un­ter­gangs war ge­kom­men. Ein paar von Aziz’ Glau­bens­brü­dern wa­ren auf dem Mai­dan er­schie­nen und hat­ten sich zum Ge­bet nie­der­ge­wor­fen, das Ge­sicht dem fer­nen Mek­ka zu­ge­wandt. Ein brah­ma­ni­scher Bulle ­hatte sich in ih­rer Rich­tung in Be­we­gung ge­setzt, und wenn auch Aziz selbst keine Lust zum Be­ten ver­spür­te, so konnte er doch nicht ein­sehen, wa­rum das schwer­fäl­­lige, göt­zen­gläu­big ver­ehrte Tier die an­dern da­bei stö­ren soll­te. Mit seinem Po­lo­schlä­ger ver­setzte er ihm ­einen kleinen Hieb. In die­sem Au­gen­blick rief ­eine Stim­me von der Stra­ße her seinen Na­men. Es war Dr. Pan­na Lal, der ge­ra­de in tiefs­ter Nie­der­ge­schla­gen­heit von der Ge­sell­schaft des Ver­wal­tungs­di­rek­tors zu­rück­kehr­te.

»Dr. Aziz, Dr. Aziz, wo ha­ben Sie nur ge­steckt? Vol­le zehn Mi­nu­ten habe ich vor Ih­rem Haus ge­war­tet. Dann bin ich al­lein los­ge­fah­ren.«

»Ich bitte tau­send­mal um Ver­zeihung – ich musste ge­ra­de aufs Post­amt.«

Je­der seiner Be­kann­ten aus seiner eige­nen Sphä­re wür­de so­fort be­grif­fen ha­ben, dass er sa­gen woll­te, er habe seinen ur­sprüng­­lichen Ent­schluss ge­än­dert – ein Vor­komm­nis, das viel zu häu­fig war, um ­eine be­son­de­re Rüge zu ver­die­nen. Aber Dr. Lal war von nied­ri­ger Her­kunft und des­halb nicht ganz si­cher, ob jene Be­mer­kung nicht als Be­leidi­gung ge­meint war; au­ßer­dem war er noch auf­ge­bracht, weil Aziz sich an dem brah­ma­ni­schen Bul­len ver­grif­fen ­hatte. »Zum Post­amt? Schi­cken Sie da­hin nicht Ihre Die­ner?«

»Ich habe nur we­nig Die­ner – mein Ge­halt ist zu nied­rig.«

»Ihr Die­ner hat mir Aus­kunft ge­ge­ben. Ich habe mit Ih­rem ­Die­ner ge­spro­chen.«

»Aber Dr. Lal, den­ken Sie doch bitte ­einen Au­gen­blick nach. Wie hätte ich meinen Die­ner weg­schi­cken kön­nen, wenn Sie zu mir kom­men! Sie kom­men, wir beide ge­hen, mein Haus bleibt un­be­wacht, viel­leicht kommt dann mein Die­ner zu­rück, und in­zwi­schen ist meine gan­ze be­weg­­liche Habe von ir­gend­wel­chem zweifel­haf­ten Ge­lich­ter weg­ge­schafft wor­den. Hät­ten Sie mir so et­was ge­wünscht? Der Koch ist taub, auf meinen Koch kann ich mich nie ver­las­sen, der Haus­die­ner ist nur ein kleiner Jun­ge. Un­ter keinen Um­stän­den dür­fen Has­san und ich das Haus gleich­zeitig ver­las­sen. Das ist bei uns ­eine un­um­stöß­­liche Re­gel.« Al­les dies und noch sehr viel an­de­res ­sagte er aus pu­rer Höf­lich­keit, um Dr. Lal Ver­le­gen­heit zu er­spa­ren. Es sollte nicht für bare Mün­ze ge­nom­men und da­rum auch als sol­che nicht ab­ge­lehnt wer­den. Aber der an­de­re zer­pflückte die Er­klä­rung Wort für Wort, was we­der sehr schwie­rig noch sehr vor­nehm war.

»Und selbst wenn es sich so ver­hält – wa­rum las­sen Sie dann nicht ein­fach Be­scheid zu­rück und las­sen mich wis­sen, wo Sie hin­ge­gan­gen sind?« Und so fort. Aziz konnte ­einen sol­chen Man­gel an gu­ter Er­zie­hung nicht ver­zeihen, und er ließ sein Pony hin und her tän­zeln. »Ent­fer­nen Sie sich bit­te, sonst fängt auch mein Tier noch an zu tän­zeln«, jam­merte Dr. Lal und ent­hüllte da­mit die wah­re Ur­sa­che seiner Ge­reizt­heit. »Das Pferd ist heute Nach­mit­tag so bo­ckig und un­ge­bär­dig ge­we­sen. Es hat im Gar­ten des Klubs ein paar wert­vol­le Blu­men zer­tram­pelt und musste von vier Män­nern zu­rück­ge­zerrt wer­den. Eng­­lische Da­men und Her­ren ha­ben al­les mit an­ge­se­hen, und der Sah­ib Ver­wal­tungs­di­rek­tor hat die Stirn ge­run­zelt. Aber, Dr. Aziz, ich wer­de Ihre kost­ba­re Zeit nicht län­ger in An­spruch neh­men. Es ist oh­ne­hin für Sie wohl kaum von In­te­res­se, wo Sie doch so vie­le Ver­pflich­tun­gen und te­le­gra­fi­sche Ver­bind­lich­keiten ha­ben. Ich bin nur ein ar­mer al­ter Arzt, der es für recht und bil­lig hielt, seine Re­ve­renz zu er­weisen, als man ihn zu Gast lud. Wenn ich mir die Be­mer­kung ge­stat­ten darf: Ihre Ab­we­sen­heit hat al­ler­lei böse Zun­gen in Be­we­gung ge­setzt.«

 

»Mö­gen sie doch schwät­zen, so­ viel sie wol­len.«

»Was für ein Glück, jung zu sein! Na schön. Ja, wirk­lich ein Glück. Ha­ben die bö­sen Zun­gen aber ganz un­recht?«

»Ich gehe oder ich gehe nicht – ganz wie ich Lust habe.«

»Aber Sie hat­ten’s mir doch ver­spro­chen, und dann fa­beln Sie die­se Ge­schichte von dem Te­le­gramm zu­sam­men. He! Vor­wärts, Dap­ple!«

Beide ent­fern­ten sich, und Aziz ver­spürte den wil­den Drang, sich ­einen Tod­feind fürs Le­ben zu ma­chen – was er auch nicht un­ter­las­sen konn­te. Tat­säch­lich sprengte er in die Nähe des Wa­gens. Da – Dap­ple scheu­te. Dann raste Aziz auf den Pa­ra­de­platz zu­rück.

Eine kleine Weile hielt das durch das Spiel mit dem Fähn­rich bei ihm aus­ge­löste Hoch­ge­fühl noch vor. Im Ga­lopp fegte er über den gan­zen Platz, bis der Schweiß ihm aus al­len Po­ren brach. So­lan­ge er auf dem Pony saß, war es ihm, als kön­ne er es mit je­dem auf­neh­men. Erst als er es in Hami­dul­lahs Stall zu­rück­ge­bracht ­hatte und wie­der auf seinen Fü­ßen stand, be­sch­lichen ihn al­ler­hand Be­fürch­tun­gen. Hatte er es mög­­licher­weise nun mit den herr­schen­den Mäch­ten ver­dor­ben? Hatte er den Ver­wal­tungs­di­rek­tor durch sein Fern­bleiben be­leidigt? Dr. Pan­na Lal war keine sehr hoch ­ge­stellte Per­sön­lich­keit; aber war es klug, sich auch noch mit ihm zu über­wer­fen? Seine Ge­dan­ken nah­men nun ­eine we­ni­ger mensch­­liche als po­­liti­sche Fär­bung an. Er ­fragte sich nicht län­ger: »Wie kann ich mit an­de­ren Leu­ten aus­kom­men?«, son­dern: »Sind sie stär­ker als ich?« Er ­hatte et­was von den in der Luft ste­hen­den Gift­keimen ein­ge­at­met.

Zu Hau­se er­war­tete ihn ein amt­­licher Um­schlag mit ­einem Re­gie­rungs­stem­pel. Wie ein ge­fähr­­licher Spreng­kör­per, der bei der blo­ßen Be­rüh­rung seinen Bun­ga­low in Trüm­mer le­gen könn­te, starrte ihm der Um­schlag auf seinem Schreib­tisch ent­ge­gen. Be­stimmt drohte seine Ent­las­sung, weil er der Ge­sell­schaft fern­ge­blie­ben war. Als er je­doch den Um­schlag öff­ne­te, war es et­was ganz an­de­res: ­eine Ein­la­dung Mr. Fiel­dings, des Prin­zi­pals des Be­am­ten­se­mi­nars, der ihn für den über­nächs­ten Tag zum Tee bat. Mit ­einem et­was ge­walt­sa­men Ruck kehr­ten seine Le­bens­geis­ter zu­rück. Sie wä­ren an sich auf je­den Fall zu­rück­ge­kehrt, denn er be­saß ein Ge­müt, das wohl leiden, aber nicht un­ter stän­di­gem Druck da­hin­ve­ge­tie­ren konn­te. Un­ter der Ober­flä­che häu­fi­gen Stim­mungs­wech­sels führte er ein sonst aus­ge­g­liche­nes Da­sein. Aber die­se Ein­la­dung be­reitete ihm ganz be­son­de­re Freu­de, weil Fiel­ding ihn schon ­einen Mo­nat zu­vor ein­mal zum Tee ge­be­ten und er, Aziz, es da­mals völ­lig ver­ges­sen ­hatte – er ­hatte nicht ge­ant­wor­tet, war nicht hin­ge­gan­gen, son­dern ­hatte es ein­fach ver­ges­sen. Und hier lag nun ­eine zweite Ein­la­dung – ohne ein Wort des Vor­wurfs, ohne die ge­ringste An­spie­lung auf sein Ver­säum­nis. Ja, das war echte Höf­lich­keit, war das takt­vol­le ­Verhal­ten, in dem sich das gute Herz of­fen­bar­te, und rasch die Fe­der auf­greifend, schrieb er ­eine warm­her­zi­ge Ant­wort. Dann eilte er zu Hami­dul­lah, um sich eini­ge Aus­kunft zu ho­len, denn er ­hatte den Prin­zi­pal bis­her noch nicht per­sön­lich ken­nen­ge­lernt, und er war über­zeugt, dass die ein­zig ernst­hafte Lü­cke in seinem Le­ben sich nun end­lich schlie­ßen ließ. Er wollte al­les wis­sen, was die­sen groß­ar­ti­gen Bur­schen be­traf – Ge­halt und Ge­schmack und Vor­fah­ren und alle Mög­lich­keiten, ihm ge­fäl­lig zu sein. Aber Hami­dul­lah war noch im­mer nicht zu­rück­ge­kehrt, und Mah­moud Ali, der es war, tat nichts an­de­res, als dum­me, gro­be Wit­ze über die Ge­sell­schaft zu reißen.

7

Die­ser Mr. Fiel­ding war erst ver­hält­nis­mä­ßig spät in die Fän­ge In­di­ens ge­ra­ten. Er war be­reits über vier­zig, als er je­nes selt­samste al­ler Zu­gang­store, näm­lich den Vic­to­ria-Bahn­hof in Bom­bay, durch­schrit­ten und dann, nach Be­ste­chung ­eines eu­ro­pä­i­schen Bil­lett-Kont­rol­leurs, sein Ge­päck im Ab­teil seines ers­ten tro­pi­schen Zugs ver­staut ­hatte. Die­se Reise nahm noch jetzt in seinem Be­wusst­sein ­eine be­deut­sa­me Stel­le ein. Von seinen beiden Ab­teil­ge­fähr­ten war der ­eine ein jun­ger Mann, der, wie er selbst, zum ers­ten Mal nach dem Osten kam, der an­de­re ein ab­ge­brüh­ter An­glo-In­der seines eige­nen Al­ters. Von beiden fühlte er sich durch ­eine Kluft ge­trennt: er ­hatte schon zu vie­le Städte und Men­schen ge­se­hen, um dem ­einen zu gleichen, dem an­de­ren je gleich zu wer­den. Er sah sich von zahl­lo­sen neu­en Ein­drü­cken be­drängt, aber es wa­ren keine neu­en Ein­drü­cke im üb­­lichen Sin­ne. Sie wa­ren von seiner Er­fah­rung mit­be­dingt, und nicht an­ders ver­hielt es sich auch mit seinen Irr­tü­mern. Beispiels­weise ist es kein ge­wöhn­­licher, wenn auch ge­wiss kein ver­häng­nis­vol­ler Irr­tum, ­einen In­der zu be­trach­ten, als sei er ein Ita­­lie­ner, und ­Fiel­ding stellte zu­nächst im­mer wie­der Ver­gleiche zwi­schen die­ser Halb­in­sel und je­ner an­de­ren, kleine­ren, kunst­vol­ler ge­form­ten an, die sich in die klas­si­schen Ge­wäs­ser des Mit­tel­meers schiebt.

Wenn seine Be­rufs­lauf­bahn auch die ­eines In­tel­lek­tu­el­len war, so war sie doch wech­sel­voll ge­nug ge­we­sen, und ein­mal war er da­bei auch auf die schie­fe Ebe­ne ge­ra­ten und ­hatte spä­ter Buße da­für ge­tan. Nun war er ein vom Schick­sal hart mit­ge­nom­me­ner, stets gleich­mä­ßig freund­­licher, ge­scheiter Bur­sche an der Schwel­le der mitt­le­ren Jah­re, völ­lig vom Wert der Er­zie­hung über­zeugt. Es war ihm gleich­gül­tig, wen er un­ter­rich­te­te: der Zu­fall ­hatte ihn mit In­ter­nats­schü­lern, geis­tig Zu­rück­ge­blie­be­nen, so­gar mit Po­­lizis­ten zu­sam­men­ge­führt, und er ­hatte keiner­lei Be­den­ken, es nun auch mit In­dern zu ver­su­chen. Dank der Für­spra­che ein­fluss­reicher Freun­de war er zum Prin­zi­pal des kleinen Se­mi­nars in Tschan­dra­pur er­nannt wor­den, ­hatte sich mit seiner Ar­beit be­freun­det und durfte sich auch für er­folg­reich hal­ten. Er war es tat­säch­lich im Hin­blick auf seine Schü­ler, aber die Kluft zwi­schen ihm und seinen Lands­leu­ten, von der er be­reits auf der Her­fahrt et­was wahr­ge­nom­men ­hatte, ver­breiterte sich auf fast be­klem­men­de Weise. Zu­nächst konnte er nicht ein­mal recht be­greifen, wo­ran das eigent­lich lag. Er war durch­aus nicht un­pat­ri­o­tisch, in Eng­land kam er mit Eng­län­dern vor­treff­lich aus, seine bes­ten Freun­de wa­ren eng­­lischer Her­kunft – wa­rum ver­hielt es sich hier drau­ßen so völ­lig an­ders? Der äu­ße­ren Er­scheinung nach et­was un­ge­schlif­fen, schien er mit seinen blau­en Au­gen und lo­cker schwin­gen­den Glie­dern den an­de­ren so lan­ge Ver­trau­en ein­zu­flö­ßen, bis er den Mund öff­ne­te. Dann be­reitete ir­gend­et­was in der Art seines Ver­hal­tens den Leu­ten Kopf­zer­bre­chen oder ver­mochte zu­min­dest nicht das Miss­trau­en zu be­schwich­ti­gen, das sein Be­ruf ver­ständ­­licher­weise bei ih­nen her­vor­rief. Ge­wiss musste es auch in In­di­en das not­wen­di­ge Übel von klu­gen Köp­fen ge­ben – aber wehe dem, der ihre Zahl noch ver­meh­ren half! Man ge­wann in wach­sen­dem Maße den Ein­druck, dass Mr. Fiel­ding ­eine zer­set­zen­de Kraft war, und das auch nicht ganz zu Un­recht, denn Ideen sind ver­häng­nis­voll für die Auf­recht­er­hal­tung stren­ger Klas­sen­un­ter­schie­de, und ge­ra­de Ideen brachte er auf die me­tho­disch wirk­samste Weise ins Spiel – näm­lich auf dem Wege per­sön­­lichen Ge­dan­ken­aus­tauschs. Von Be­ruf we­der Mis­si­o­nar noch Ge­lehr­ter, fühlte er sich am wohl­sten, wenn er ge­bend und neh­mend an per­sön­­licher Un­ter­hal­tung teil­neh­men durf­te. Nach seiner Über­zeu­gung war die Erde ein Pla­net, des­sen Be­woh­ner einan­der nä­her­zu­kom­men trach­te­ten – was ih­nen am ehes­ten mithil­fe von gu­tem Wil­len plus in­ne­rer Kul­tur plus In­tel­­ligenz ge­lin­gen mag –, nur dass die­se Über­zeu­gung nicht recht zu Tschan­dra­pur passte und er zu spät he­rü­ber­ge­kom­men war, um sie noch zu wech­seln. Er kannte keiner­lei Ras­sen­dün­kel – nicht etwa, weil er al­len an­de­ren Zi­vi­lis­ten geis­tig über­le­gen ge­we­sen wäre, son­dern weil er in ­einem völ­lig ver­schie­de­nen geis­ti­gen K­lima he­ran­ge­wach­sen war, in dem der Her­den­trieb durch­aus nicht ge­deihen konn­te. Was ihm aber in den Au­gen der Klub­mit­glie­der am meis­ten Ab­bruch tat, war ­eine un­be­dachte Ne­ben­be­mer­kung des In­halts, dass die so­ge­nannte weiße Ras­se eigent­lich rosa-grau sei. Er ­hatte das nur zum Scherz ge­sagt, denn er machte sich of­fen­bar nicht ganz klar, dass das Wort »weiß« in ­einem sol­chen Zu­sam­men­hang nicht mehr mit ­einer Far­be zu tun hat als das »God save the king« mit ­einem Gott und dass es der Gip­fel der Un­ge­hö­rig­keit war, es als Be­griff wört­lich zu neh­men. Das rosa-gräu­­liche Manns­bild, an das er jene Be­mer­kung ge­rich­tet ­hatte, war auf ­eine ihm selbst kaum ver­ständ­­liche Weise da­rü­ber auf­ge­bracht. In ihm war ein Ge­fühl von Un­si­cher­heit er­wacht, und er wusste es auch dem an­de­ren Her­den­volk zu über­mit­teln.