Auf der Suche nach Indien

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»An die Ar­beit, Mary, an die Ar­beit«, rief der Ver­wal­tungs­di­rek­tor, mit ­einer Reit­gerte seine Frau leicht an der Schul­ter be­rüh­rend.

Mrs. Tur­ton er­hob sich et­was hilf­los. »Was soll ich denn nur tun? Oh, die­se pur­dah-Frau­en! Ich hätte es nicht für mög­lich ge­hal­ten, dass auch nur ­eine von ih­nen auf­tau­chen wür­de. Du lie­ber Him­mel!«

Auf ­einem drit­ten Vier­tel des Gar­ten­ge­län­des hat­ten sich ein paar In­de­rin­nen zu­sam­men­ge­tan, und zwar in der Nähe ­eines länd­­lichen Som­mer­häus­chens, in dem die we­ni­ger Ent­schlos­se­nen be­reits Zu­flucht ge­nom­men hat­ten. Die Üb­ri­gen hat­ten der gan­zen Ge­sell­schaft den Rü­cken ge­kehrt und ihr Ge­sicht in ­einer He­cke ver­gra­ben. In eini­ger Ent­fer­nung von ih­nen stan­den ihre männ­­lichen An­ge­hö­ri­gen und war­te­ten ge­spannt den Aus­gang des Aben­teu­ers ab – ein viel­sa­gen­der An­blick: ­eine In­sel, die, beim Flut­wech­sel sicht­bar ge­wor­den, an Grö­ße im­mer mehr zu­neh­men muss­te.

»Meiner Meinung nach soll­ten sie zu mir he­rü­ber­kom­men.«

»Na, mach schon, Mary, gib dir ­einen Ruck!«

»Ich will auf keinen Fall ­einem der Män­ner die Hand reichen, es sei denn, dem Na­wab Baha­dur – wenn es un­be­dingt sein muss.«

»Wen ha­ben wir denn schon hier?« Mr. Tur­ton ließ den Blick über die Reihen der Gäste gleiten. »Hm, hm. Ganz, wie zu er­war­ten war. Ich kann mir den­ken, wa­rum So­und­so hier ist – er braucht mich für ­einen Kont­rakt, und der da möchte sich um des mo­hur­ram wil­len lieb Kind bei mir ma­chen, und dort ist der Ast­ro­lo­ge, der die städ­ti­schen Bau­vor­schrif­ten um­ge­hen möch­te, und der da ist der parsi und der – hal­lo, da rast er, par­dauz, mit­ten in un­se­re Stock­ro­sen hi­nein! Zog den lin­ken Zü­gel an­statt des rech­ten. Wie im­mer!«

»Das Ein­fah­ren hätte ih­nen nie­mals ge­stat­tet wer­den sol­len – es be­kommt ih­nen nicht«, ­sagte Mrs. Tur­ton, die sich end­lich in Rich­tung des Som­mer­pa­vil­lons in Be­we­gung ge­setzt ­hatte, be­gleitet von Mrs. Moo­re, Miss Ques­ted und ­einem Ter­ri­er. »Keine Ah­nung, wa­rum sie über­haupt kom­men. Für sie ist das Gan­ze nicht we­ni­ger pein­lich als für uns. Spre­chen Sie ein­mal da­rü­ber mit Mrs. McBryde. Auf Wunsch ih­res Man­nes ­hatte sie pur­dah-Ge­sell­schaf­ten zu ge­ben, bis sie streik­te.«

»Aber das hier ist doch keine pur­dah-Ge­sell­schaft«, ver­suchte Miss Ques­ted rich­tig­zu­stel­len.

»So? Wirk­lich nicht?«, lau­tete die hoch­mü­ti­ge Ent­geg­nung.

»Seien Sie doch bitte so nett, uns zu sa­gen, wer die­se Da­men sind«, be­merkte Mrs. Moo­re.

»Sie sind de­nen oh­ne­hin ge­sell­schaft­lich über­le­gen. Ver­ges­sen Sie das bitte nicht. Mit Aus­nah­me eini­ger we­ni­ger Ranis sind Sie al­len In­de­rin­nen über­le­gen, und selbst die sind Ih­nen nur eben­bür­tig!« Ein paar Schritte vor­tre­tend, reichte sie den Be­su­che­rin­nen die Hand und äu­ßerte auf Urdu ein paar Be­grü­ßungs­wor­te. Sie ­hatte den Di­a­lekt er­lernt, aber le­dig­lich in der Ab­sicht, sich mit ih­ren Die­nern ver­stän­di­gen zu kön­nen. Da­rum kannte sie keine der höf­­liche­ren Wen­dun­gen, und von den Ver­bal­for­men nur die des Im­pe­ra­tivs. So­bald ihre kleine An­spra­che be­en­det war, wandte sie sich ih­ren Be­gleite­rin­nen zu: »War es das, was Ih­nen vor­ge­schwebt hat?«

»Bit­te, sa­gen Sie doch den Da­men, wir wünsch­ten, wir könn­ten uns in ih­rer Spra­che mit ih­nen un­ter­hal­ten, und wir wä­ren eben erst in ihr Land ge­kom­men.«

»Viel­leicht spre­chen wir da­für aber Ihre Spra­che ein we­nig«, ­sagte ­eine der In­de­rin­nen.

»Nanu – sie ver­steht!«, rief Mrs. Tur­ton aus.

»East­bo­ur­ne, Pic­ca­dil­ly, High Park Cor­ner«, re­zi­tierte ­eine der an­de­ren Da­men.

»O ja, sie spre­chen Eng­lisch.«

»Nun kön­nen wir uns we­nigs­tens un­ter­hal­ten – wie reizend!«, rief Ad­ela, und ihr Ge­sicht hellte sich auf.

»Sie kennt auch Pa­ris«, warf ­einer der in der Nähe ste­hen­den Män­ner ein.

»Ja, zweifel­los ist sie auf der Durch­reise auch durch Pa­ris ge­kom­men«, be­merkte Mrs. Tur­ton, als be­schrie­be sie die Wan­der­be­we­gung von Zug­vö­geln. Ihr Ver­hal­ten war noch küh­ler ge­wor­den, seit sie ent­deckt ­hatte, dass eini­ge ih­rer Ge­sprächs­part­ne­rin­nen eu­ro­pä­i­siert wa­ren und sie, Mrs. Tur­ton, in­fol­ge­des­sen nach ih­ren eige­nen Maß­stä­ben be­ur­teilen moch­ten.

»Die kleine­re Dame, sie ist meine Frau. Es ist Mrs. Bhattacharya«, er­klärte der männ­­liche Zu­schau­er. »Die grö­ße­re Dame ist meine Schwes­ter, Mrs. Das.«

So­wohl die kleine­re wie die grö­ße­re Dame zupf­ten sich den Sari zu­recht und lä­chel­ten. Ih­ren Be­we­gun­gen war et­was merk­wür­dig Un­ent­schie­de­nes eigen. Es war, als such­ten sie nach ­einer neu­en For­mel, die ih­nen bis­her so­wohl der Wes­ten wie der Osten vor­ent­hal­ten ­hatte. Als Mrs. Bhattacharyas Mann das Wort er­griff, kehrte sie sich von ihm ab, doch machte es ihr nichts aus, ih­ren Blick auf die an­de­ren Män­ner zu rich­ten. Ja, alle Da­men wa­ren un­si­cher. Sie senk­ten den Kopf und ho­ben ihn wie­der, ki­cher­ten, mach­ten zur Un­ter­streichung al­les Ge­sag­ten win­zi­ge Ges­ten der Ver­zweif­lung oder Zer­knir­schung und tät­schel­ten den Ter­rier oder zuck­ten vor ihm zu­rück. Miss Ques­ted ­hatte nun end­lich die er­sehnte Ge­le­gen­heit: vor ihr stan­den freund­­liche In­der, und sie ver­such­te, sie zum Spre­chen zu brin­gen – freilich ohne je­den Er­folg. Im­mer wie­der rannte sie ver­geb­lich ge­gen die stets nur ein Echo zu­rück­wer­fen­den Wän­de ih­rer Höf­lich­keit an. Wenn sie selbst et­was ­sagte, das wie ein Komp­­liment klang, ant­wor­tete ihr nur ein ab­weh­ren­des Ge­mur­mel, das zum Ge­mur­mel der Be­trüb­nis wur­de, als sie ein­mal ihr Ta­schen­tuch fal­len ließ. Dann nahm sie selbst von je­der eige­nen Be­mü­hung Ab­stand, um zu se­hen, ob nicht viel­leicht das eini­ge Wir­kung tat, aber auch die an­de­ren ver­hiel­ten sich ab­war­tend. Mrs. Moo­res Be­mü­hun­gen wa­ren gleich­falls zur Er­folg­lo­sig­keit ver­ur­teilt. Mrs. Tur­ton be­ob­ach­tete beide mit un­be­teilig­ter Mie­ne. Sie ­hatte vom ers­ten Au­gen­blick an ge­wusst, wie un­sin­nig die gan­ze Ver­an­stal­tung war.

Beim Ab­schied ­hatte Mrs. Moo­re ­einen plötz­­lichen Ein­fall. Sie ­fragte im­pul­siv Mrs. Bhattacharya, de­ren Ge­sicht ihr ge­fiel: »Wür­den Sie uns wohl er­lau­ben, Sie ir­gend­wann ein­mal zu be­su­chen?«

»Und wann?«, er­wi­derte die­se, sich an­mu­tig ver­neigend.

»Wann im­mer es Ih­nen passt.«

»Es passt mir je­den Tag.«

»Also viel­leicht Don­ners­tag …«

»Aber ge­wiss.«

»Es wür­de wirk­lich ein Ver­gnü­gen für mich sein. Um wel­che Zeit wohl am bes­ten?«

»Je­der­zeit.«

»Sa­gen Sie uns doch bit­te, wann es Ih­nen am an­ge­nehms­ten wäre. Wir sind in Ih­rem Lan­de noch fremd und ken­nen die Be­suchs­stun­den nicht«, be­merkte Miss Ques­ted.

Auch Mrs. Bhattacharya schien sie nicht zu ken­nen. Aber ihre Ge­bär­de schien zu be­sa­gen, dass, so­lan­ge es über­haupt ­einen Wo­chen­tag na­mens Don­ners­tag gab, sie ge­wusst habe, dass Eng­län­de­rin­nen ge­ra­de an ­einem sol­chen zu Be­such zu ihr kom­men wür­den, und sie sich da­rum an je­dem Don­ners­tag zu Hau­se hiel­te. Sie zeigte sich sehr er­freut und keines­wegs über­rascht. »Wir fah­ren heute noch nach Kal­kut­ta«, setzte sie hin­zu.

»Ja, wirk­lich?«, ­fragte Ad­ela, die zu­nächst die Be­deu­tung die­ser Mit­teilung nicht ganz er­maß. Dann rief sie aus: »Aber dann tref­fen wir Sie ja gar nicht mehr an?«

Mrs. Bhattacharya stellte die­se Tat­sa­che nicht in Ab­re­de. Aber aus der Ent­fer­nung rief Mr. Bhattacharya: »O ja, na­tür­lich, kom­men Sie nur am Don­ners­tag zu uns.«

»Aber dann sind Sie doch in Kal­kut­ta?«

»Nein, nein, keines­wegs.« Er rief rasch seiner Frau ein paar Worte auf Beng­ali zu. »Wir er­war­ten Sie also Don­ners­tag.«

»Don­ners­tag …«, echote seine Frau.

»Sie sind doch nicht etwa auf den schreck­­lichen Ge­dan­ken ge­kom­men, um un­se­ret­wil­len Ihre Reise zu ver­schie­ben?«, rief Mrs. Moo­re aus.

»Aber nein, na­tür­lich nicht – das liegt uns ganz fern.« Er lach­te. »Ich fürchte doch. O bitte – es täte mir wirk­lich leid.«

Alle Um­ste­hen­den lach­ten nun, ohne aber im Ge­rings­ten den Ein­druck zu er­we­cken, dass sie ir­gend­einen Lap­sus be­gan­gen ­hatte. Es folgte ­eine et­was ge­stalt­lo­se Aus­einan­der­set­zung, in de­ren Ver­lauf Mrs. Tur­ton, still vor sich hin­lä­chelnd, den Rück­zug an­trat. Man kam schließ­lich über­ein, dass der Be­such tat­säch­lich am Don­ners­tag statt­fin­den soll­te, aber so früh am Mor­gen wie mög­lich, da­mit die Plä­ne der Bhattacharyas so we­nig wie mög­lich be­ein­träch­tigt wür­den, und dass Mr. Bhattacharya ih­nen mit­samt ein paar Die­nern, die ih­nen den Weg zeigen soll­ten, seine Kut­sche schi­cken wer­de, sie ab­zu­ho­len. Wusste er denn, wo sie wohn­ten? O ja, na­tür­lich wusste er das, er wusste al­les und je­des, und wie­der brach er in La­chen aus. Mit­ten im Flatte­r­ge­wir­bel von Kom­plimen­ten und lä­cheln­den B­licken ver­ab­schie­de­ten sich schließ­lich alle, wäh­rend aus dem Som­mer­pa­vil­lon wie drei bunt­ge­fie­derte Schwal­ben drei Da­men her­aus­schos­sen, die sich dem Emp­fang bis­her fern­ge­hal­ten hat­ten und sich mit über der Brust ge­kreuz­ten Ar­men vor ih­nen ver­neig­ten.

In­zwi­schen ­hatte auch der Ver­wal­tungs­di­rek­tor die Run­de ge­macht. Er er­ging sich in lie­bens­wür­di­gen Be­mer­kun­gen und ein paar Scher­zen, die aus vol­ler Keh­le be­lacht wur­den. Aber von fast je­dem seiner Gäste war ihm auch das Sün­den­re­gis­ter be­kannt, und da­rum ver­hielt er sich et­was un­ver­bind­lich. Wenn im ­einen Fal­le ir­gend­wel­che Gau­ne­rei vor­lag, dann im an­de­ren Schleich­han­del mit bhang, oder aber ­eine Weiber­ge­schichte oder noch Schlim­me­res. Und selbst die Ver­tre­ter der E­lite woll­ten ihm bei die­ser Ge­le­gen­heit ir­gend­et­was ab­han­deln. Er war über­zeugt, dass ­eine Bridge-Par­ty mehr Nut­zen als Scha­den stif­ten wür­de – an­dern­falls hätte er ja auch keine ver­an­stal­tet –, aber er gab sich auch keinen über­trie­be­nen Il­lu­si­o­nen hin und zog sich im ge­eig­ne­ten Au­gen­blick wie­der auf die eng­­lische Ra­sen­seite zu­rück. Der Ein­druck, den er bei seinen Gäs­ten hin­ter­las­sen ­hatte, war höchst viel­fäl­ti­ger Art. Man­che von ih­nen, vor al­lem die we­ni­ger wohl­ha­ben­den, we­nig ang­­lisier­ten, wa­ren auf­rich­tig dank­bar. Von ­einem so ho­hen Be­am­ten an­ge­spro­chen zu wer­den, musste ih­nen zeit­le­bens zu­stat­ten­kom­men. Es war ih­nen einer­lei, wie lan­ge sie he­rum­stan­den oder wie we­nig sich auch er­eig­nen moch­te, und als die Uhr sie­ben schlug, muss­ten sie sich hi­naus­komp­­limen­tie­ren las­sen. An­de­re wa­ren mit eini­gen Vor­be­hal­ten dank­bar. Der Na­wab Baha­dur, dem so­wohl seine eige­ne Per­son wie seine eh­ren­vol­le Auf­nah­me völ­lig gleich­gül­tig war, zeigte sich in Ge­dan­ken an die Freund­lich­keit, der die Ein­la­dung ent­sprun­gen sein moch­te, ge­rührt. Er kannte auch alle da­mit zu­sam­men­hän­gen­den Schwie­rig­keiten. Auch Hami­dul­lah war der Meinung, der Ver­wal­tungs­di­rek­tor habe sich höchst ge­schickt aus der Af­fä­re ge­zo­gen. An­de­re je­doch wa­ren so zy­nisch wie Mah­moud Ali. Sie wa­ren fest über­zeugt, dass Tur­ton die Ge­sell­schaft nur auf Druck vonseiten seiner Vor­ge­setz­ten ge­ge­ben ­hatte und dass er sich die gan­ze Zeit über in ohn­mäch­ti­ger Wut ver­zehr­te. Sie steck­ten mit die­ser Über­zeu­gung auch an­de­re an, die sonst sehr viel ver­nünf­ti­ger dach­ten. Und doch war selbst Mah­moud Ali froh, ge­kom­men zu sein. Je­der Schrein hat et­was Fas­zi­nie­ren­des an sich, und erst recht ein sol­cher, der so sel­ten ge­öff­net wird, und es be­reitete ihm be­son­de­res Ver­gnü­gen, das Ri­tu­al ­eines eng­­lischen Klubs aus nächs­ter Nähe stu­die­ren und es spä­ter seinen Freun­den ge­gen­über pa­ro­die­ren zu kön­nen.

 

Der Be­am­te, der nach Mr. Tur­ton am bes­ten ab­schnitt, war Mr. Fiel­ding, der Prin­zi­pal des kleinen Be­am­ten­se­mi­nars. Es war ihm erst we­nig von dem gan­zen Dist­rikt und noch we­ni­ger von den Sün­den seiner Be­woh­ner be­kannt, und da­rum be­fand er sich auch in ­einer et­was we­ni­ger zy­ni­schen Ge­müts­ver­fas­sung. Sport­lich ge­stählt und stets froh­ge­stimmt, schoss er hier­hin und dort­hin und leis­tete sich zahl­lo­se kleine Schnit­zer, die die El­tern seiner Zög­lin­ge zu ver­tu­schen such­ten, denn er war be­son­ders be­liebt. Als Er­fri­schun­gen an­ge­bo­ten wur­den, wan­derte er nicht wie­der auf die eng­­lische Ra­sen­seite zu­rück, son­dern ver­brannte sich den Gau­men lie­ber mit gram. Er un­ter­hielt sich mit je­dem und kos­tete von al­lem. Ab­ge­se­hen von man­chem, was ihn fremd­ar­tig an­mu­te­te, er­fuhr er auf die­se Weise, dass die neu­en Da­men aus Eng­land ­einen höchst güns­ti­gen Ein­druck hin­ter­las­sen hat­ten, und dass die Höf­lich­keit, die sich in ih­rem Wunsch, Mrs. Bhattacharya ­einen Gast­be­such ab­zu­stat­ten, kund­tat, nicht nur sie al­lein, son­dern alle In­der ent­zückt ­hatte, die da­von zu hö­ren be­ka­men. Sie ent­zückte auch Mr. Fiel­ding. Zwar kannte er die neu­en Da­men erst flüch­tig, aber er war doch ent­schlos­sen, ih­nen zu sa­gen, wie viel Freu­de sie auch ihm durch ihre Freund­lich­keit be­reitet hat­ten.

Er fand die jün­ge­re von beiden al­lein. Sie be­trach­tete ge­ra­de durch ­einen Ein­schnitt in der Kak­tus­he­cke die fer­nen Mara­bar­hü­gel, die, wie es bei Son­nen­un­ter­gang auch sonst ge­wöhn­lich ge­schah, im­mer nä­her rück­ten. Sollte der Son­nen­un­ter­gang noch län­ger wäh­ren: wür­den sie nicht so­gar die Stadt er­reichen? Aber ein tro­pi­scher Son­nen­un­ter­gang, das ist et­was Ra­sches, Un­ver­mit­tel­tes. Fiel­ding be­rich­tete Miss Ques­ted, was er von den an­de­ren zu hö­ren be­kom­men ­hatte, und sie zeigte sich der­art da­rü­ber er­freut und dankte ihm mit so über­schwen­g­licher Herz­lich­keit, dass er sie und die an­de­re Dame zu sich zum Tee ein­lud.

»Ich wür­de wirk­lich gern kom­men, und Mrs. Moo­re be­stimmt auch.«

»Al­ler­dings füh­re ich ­eine Art E­re­mi­ten­da­sein.«

»Et­was Bes­se­res kann man an die­sem Ort wohl kaum tun.«

»We­gen meiner Ar­beit und al­lem, was da­mit zu­sam­men­hängt, kom­me ich auch nicht oft in den Klub.«

»Ich weiß, ich weiß, und wir kom­men um­ge­kehrt nicht viel aus ihm he­raus … Ich be­neide Sie ge­ra­de­zu, dass Sie mit In­dern zu­sam­men­ar­beiten kön­nen.«

»Hät­ten Sie wohl Lust, den ­einen oder an­de­ren ken­nen­zu­ler­nen?«

»Gro­ße Lust – das habe ich mir näm­lich gra­de ge­wünscht. Die heu­ti­ge Ge­sell­schaft hat mich ganz krank ge­macht. Ich habe den Ein­druck, als wä­ren meine Lands­leute hier drau­ßen völ­lig ver­rückt. Gäste ein­la­den und sie nicht wie Gäste be­han­deln! Sie und Mr. Tur­ton und viel­leicht noch Mr. McBryde sind die Ein­zi­gen, die ih­nen so et­was wie die üb­­liche Höf­lich­keit be­zeigt ha­ben. Aber für die an­de­ren schä­me ich mich ge­ra­de­zu, und im Lau­fe des Nach­mit­tags ist es nur im­mer noch schlim­mer ge­wor­den.«

Das war es al­ler­dings wirk­lich. An sich hat­ten die eng­­lischen Män­ner sehr viel ent­ge­gen­kom­men­der sein wol­len, wa­ren aber da­ran ver­hin­dert wor­den durch die eng­­lischen Frau­en, die sie zu un­ter­hal­ten, de­nen sie Tee zu brin­gen und in Be­zug auf Hun­de und der­gleichen gute Rat­schlä­ge zu er­teilen hat­ten. Als das Ten­nis­spiel be­gann, wur­de die Scheide­wand zwi­schen den beiden Par­teien ge­ra­de­zu un­durch­dring­lich. Man ­hatte ge­hofft, ein paar Spie­le zwi­schen West und Ost zu­stan­de zu brin­gen, was aber rasch ver­ges­sen wur­de, und die Ten­nis­plät­ze wa­ren bald von den üb­­lichen Klub­paa­ren in Be­schlag ge­nom­men. Auch Fiel­ding war da­rü­ber em­pört, äu­ßerte je­doch nichts zu der jun­gen Dame, denn er glaub­te, in ih­rer Ent­rüs­tung ­einen the­o­re­ti­schen Un­ter­ton wahr­zu­neh­men. War sie wohl an in­di­scher Mu­sik in­te­res­siert? An seinem Se­mi­nar war ein al­ter Pro­fes­sor tä­tig, der sin­gen konn­te.

»Oh, das ist ge­ra­de das, was wir hö­ren woll­ten. Und ken­nen Sie Dr. Aziz?«

»Ich bin über ihn im Bil­de, aber ich ken­ne ihn nicht per­sön­lich. Soll ich ihn gleich­falls mit ein­la­den?«

»Mrs. Moo­re meint, er wäre so nett.«

»Na schön, Miss Ques­ted. Wür­de es Ih­nen am Don­ners­tag pas­sen?«

»Aus­ge­zeich­net. Mor­gens be­su­chen wir die In­de­rin. Al­les Hüb­sche kommt of­fen­bar am Don­ners­tag zu­sam­men.«

»Al­ler­dings wer­de ich den Rich­ter nicht bit­ten, mit­zu­kom­men. So­viel ich weiß, ist er um die­se Zeit be­son­ders be­schäf­tigt.«

»Ja, Ron­ny ist stets et­was über­las­tet«, er­wi­derte sie, den Blick auf die Fel­sen­hü­gel ge­rich­tet. Wie reiz­voll sie plötz­lich wa­ren! Aber sie blie­ben ihr un­er­reich­bar. Vor ihr Auge schob sich, wie ­eine Ku­lis­se, das Bild ih­rer künf­ti­gen Ehe. Abend für Abend wür­de sie mit Ron­ny dem Klub ­einen kur­zen Be­such ab­stat­ten und dann zum Um­zie­hen nach Hau­se fah­ren. Sie wür­den im­mer wie­der nur die Les­leys und die Cal­len­dars und die Tur­tons und die Bur­tons se­hen, sie ein­la­den, von ih­nen ein­ge­la­den wer­den, wäh­rend das wah­re In­di­en un­merk­lich an ih­nen vo­rü­ber­glitt. Ge­wiss wür­de et­was von seiner Far­be bleiben – dem fest­lich bun­ten Ge­wim­mel der Vö­gel am frü­hen Mor­gen, den brau­nen Leibern, den weißen Tur­ba­nen und Göt­ter­bil­dern, de­ren Fleisch schar­lach­rot oder blau war –, bleiben auch et­was von seiner Be­we­gung, so­lan­ge es Mas­sen in den Ba­sa­ren, Ba­den­de in den künst­­lichen Teichen gab. Auf dem Sitz ­eines kleinen Jagd­wa­gens thro­nend, wür­de sie sich an beidem er­freu­en. Aber das, was an ech­ter Kraft hin­ter al­ler Far­be, al­ler Be­we­gung wirk­sam war, musste sich ihr in noch stär­ke­rem Maße ent­zie­hen als jetzt. Stets wür­de sie von In­di­en nur die flim­mern­de Au­ßen­flä­che ge­wah­ren, aber nichts von seinem in­ners­ten We­sen, und es war of­fen­bar die­ses We­sen, von dem Mrs. Moo­re in ­einem ein­zi­gen kur­zen Au­gen­blick et­was er­schaut ­hatte.

Und wie konnte es an­ders sein: nach we­ni­gen Mi­nu­ten fuh­ren sie tat­säch­lich aus dem Klub nach Hau­se, ja, und sie zo­gen sich um, und zum Es­sen stell­ten Miss Derek und die McBry­des sich ein, und das Menü be­stand aus Ju­­lienne­sup­pe mit ku­gel­har­ten Büch­sen­scho­ten, Land­brot, das keines war, Fi­schen mit weit ver­äs­tel­ten Grä­ten, an­geb­lich Flun­dern, Ko­te­lett mit weite­ren Büch­sen­scho­ten, Bis­kuit­auf­lauf, Sar­di­nen auf Toast: das ty­pi­sche Menü An­glo-In­di­ens. Je nach­dem, ob man auf der Stu­fen­leiter öf­fent­­licher Äm­ter zu­fäl­lig ­eine Spros­se em­por­ge­klet­tert oder he­run­ter­ge­rutscht war, mochte ein be­stimm­ter Gang hin­zu­ge­fügt oder aus­ge­las­sen wer­den, moch­ten die Scho­ten mehr oder min­der un­ver­dau­lich, Sar­di­nen und Wer­mut auch von ­einer an­de­ren Fir­ma im­por­tiert wor­den sein – die Über­lie­fe­rung als sol­che blieb be­ste­hen: die Kost von Leu­ten, die in der Ver­ban­nung leb­ten, zu­be­reitet von Die­nern, die nichts vom Ko­chen ver­stan­den. Ad­ela ge­dachte der jun­gen Leu­te, die vor ihr nach In­di­en ge­kom­men wa­ren, ein Damp­fer vol­ler als der an­de­re. Man ­hatte ih­nen das gleiche Es­sen, die gleichen Ideen vor­ge­setzt, ­hatte sie auf die gleiche lä­cheln­de Weise zu­recht­ge­wie­sen, bis sie sich an die ge­sell­schaft­lich zu­läs­si­gen The­men hiel­ten und ih­rer­seits an­de­re zu­recht­zu­weisen be­gan­nen. »Ich wer­de ein­mal ganz an­ders sein«, dachte sie, denn sie war sel­ber noch jung. Und doch wusste sie, dass sie stets ge­gen et­was wür­de an­kämp­fen müs­sen, das gleich­zeitig tü­ckisch und zäh war, und dazu brauchte sie Ver­bün­de­te. Sie musste in Tschan­dra­pur ein paar Men­schen um sich ha­ben, die das Gleiche emp­fan­den wie sie, und sie war froh, sol­che Leute in Mr. Fiel­ding und der In­de­rin mit dem un­aus­sprech­­lichen Na­men be­reits ge­fun­den zu ha­ben. Auf je­den Fall ­hatte sie ­einen An­fang ge­macht, und im Lau­fe der nächs­ten Tage musste sie schon kla­rer er­ken­nen, wo sie eigent­lich hin­ge­hör­te.

Miss Derek – sie war Ge­sell­schaf­te­rin bei der Ma­ha­ra­ni ­eines et­was ab­ge­le­ge­nen in­di­schen Fürs­ten­staa­tes. Sie war um­gäng­lich und heiter und rief mit der Ge­schichte ih­res Ur­laubs all­ge­meines Ge­läch­ter her­vor. Sie ­hatte die­sen Ur­laub nicht ge­nom­men, weil ihr die Ma­ha­ra­ni ihn groß­mü­tig ge­währt ­hatte, son­dern weil sie ihn nach ih­rer eige­nen Meinung ver­dien­te. Nun wollte sie sich aber au­ßer­dem den Wa­gen des Ma­ha­rad­schas neh­men. Die­ser Wa­gen ­hatte seinen Herrn auf ­eine Zu­sam­men­kunft der Lan­des­fürs­ten in De­lhi be­gleitet, und sie ­hatte be­reits ­einen groß­ar­ti­gen Plan ge­schmie­det, sich bei seinem Rück­trans­port an ­einem be­stimm­ten Ei­sen­bahn­kno­ten­punkt die­ses Wa­gens zu be­mäch­ti­gen. Auf höchst be­lus­ti­gen­de Weise glos­sierte sie auch die Bridge-Par­ty; ja, sie be­trach­tete die ge­samte in­di­sche Halb­in­sel als Schau­platz für ­eine ko­mi­sche Oper. »Wenn man hier kein Auge für die lä­cher­­liche Seite an den Men­schen hat, ist man ge­lie­fert«, er­klärte Miss Derek. Mrs. McBryde – sie war es, die ein­mal Kran­ken­schwes­ter ge­we­sen war – rief ein ums an­de­re Mal: »O Nan­cy, das ist ja zum Tot­la­chen! Das ist ja ur­ko­misch, Nan­cy! Ich wünsch­te, ich könnte auch al­les so se­hen!« Mr. McBryde äu­ßerte da­für umso we­ni­ger. Es war of­fen­bar ein ganz net­ter Mann.

Als die Gäste sich ver­ab­schie­det hat­ten und Ad­ela zu Bett ge­gan­gen war, kam es noch­mals zu ­einer län­ge­ren Un­ter­re­dung zwi­schen Mut­ter und Sohn. Er brauchte an sich ih­ren Rat und Beistand, ver­wahrte sich aber gleich­zeitig ge­gen alle Ein­mi­schung ih­rer­seits. »Spricht sich eigent­lich Ad­ela manch­mal ein biss­chen mit dir aus?«, be­gann er. »Ich bin der­art mit Ar­beit über­häuft, dass ich sie nicht so oft und so lan­ge zu se­hen be­kom­me, wie ich mir ge­wünscht hät­te, aber ich hof­fe we­nigs­tens, dass sie sich eini­ger­ma­ßen wohlfühlt.«

»Ad­ela und ich spre­chen im­mer­zu von In­di­en. Üb­ri­gens, Lie­ber, da du ge­ra­de die Rede da­rauf bringst – du hast schon recht. Du soll­test et­was häu­fi­ger mit ihr zu­sam­men­sein.«

»Ja, viel­leicht, aber dann wür­den die Leute klat­schen.«

»Nun, sie müs­sen ge­le­gent­lich et­was zum Klat­schen ha­ben. Lass sie doch!«

»Die Leute be­neh­men sich hier so merk­wür­dig, ganz an­ders als bei uns da­heim – man steht hier, wie der Bur­rah Sah­ib es ein­mal aus­ge­drückt hat, im­mer im Ram­pen­licht. Ein kleines tö­rich­tes Beispiel: Ad­ela ging nur bis zum äu­ße­ren Rand des Klub­ge­län­des, und Fiel­ding ging ihr nach. Ich sah, dass Mrs. Cal­len­dar es be­ob­ach­te­te. Die Tur­tons hal­ten hier je­den Neu­an­kömm­ling so lan­ge un­ter Be­ob­ach­tung, bis sie völ­lig si­cher sind, dass er zu ih­nen passt.«

 

»Ich glau­be nicht, dass Ad­ela je­mals zu ih­nen pas­sen wird – sie hat ­einen viel zu aus­ge­präg­ten Cha­rak­ter.«

»Ge­wiss, das ist ge­ra­de das Be­mer­kens­werte an ihr«, ­sagte Ron­ny nach­denk­lich. Mrs. Moo­re wur­de nicht ganz klug aus ihm. Da sie in Lon­don leb­te, wo jede Ein­mi­schung ins Pri­vat­le­ben ver­pönt war, konnte sie nicht be­greifen, dass es in dem an­scheinend so ge­heim­nis­vol­len In­di­en et­was wie Pri­vat­le­ben gar nicht gab und dass in­fol­ge­des­sen die Kon­ven­ti­o­nen sehr viel mehr Macht be­sa­ßen. »Sie fühlt sich doch nicht etwa be­drückt?«, fuhr er fort.

»Frag sie nur ru­hig, frag sie selbst, mein lie­ber Jun­ge.«

»Wahr­schein­lich hat sie al­ler­hand Be­un­ru­hi­gen­des von der ­Hit­ze ge­hört. Aber ich wer­de sie na­tür­lich im Ap­ril im­mer ins Ge­bir­ge schi­cken – ich ge­hö­re nicht zu den Män­nern, die ihre Frau­en im Flach­land schmo­ren las­sen.«

»Oh, es ist wohl kaum das Wet­ter, das ihr zu schaf­fen macht.«

»In In­di­en zählt nichts an­de­res als das Wet­ter, lie­be Mut­ter. Es ist das A und O des täg­­lichen Le­bens.«

»Ja­wohl, das hat Mr. McBryde auch ge­sagt, aber es sind doch wohl eher die An­glo-In­der sel­ber, die Ad­ela auf die Ner­ven fal­len. Sie ist der Meinung, dass sie sich den In­dern ge­gen­über nicht freund­lich ge­nug ver­hal­ten.«

»Was habe ich dir ge­sagt?«, rief er aus, seine ge­wöhn­­liche Sanft­mut ver­leug­nend. »Es ist mir schon wäh­rend der gan­zen letz­ten Wo­che auf­ge­fal­len. Das bringt nur ­eine Frau fer­tig – sich über ir­gend­eine völ­lig ne­ben­säch­­liche Fra­ge so den Kopf zu zer­bre­chen.«

In ih­rer Über­ra­schung ver­lor Mrs. Moo­re Ad­ela aus dem Auge. »Eine ganz ne­ben­säch­­liche Fra­ge, ­eine ne­ben­säch­­liche Fra­ge?«, wie­der­holte sie. »Wie kann so et­was ne­ben­säch­lich sein?«

»Wir sind doch nicht ge­ra­de zu dem Zweck hier im Land, uns freund­lich zu ver­hal­ten.«

»Wie meinst du das?«

»Ganz wört­lich. Wir sind hier, um Recht zu spre­chen und Frie­den zu wah­ren. So emp­fin­de ich es we­nigs­tens. In­di­en ist kein bür­ger­­liches Wohn­zim­mer.«

»So emp­fin­det ein Gott«, ­sagte sie, ohne die Stim­me zu he­ben, aber es war we­ni­ger seine Emp­fin­dung als sein Ton, was sie auf­brach­te.

Er ver­such­te, seinen Gleich­mut wied­erzu­fin­den. »In­di­en hat es nun mal mit den Göt­tern«, ­sagte er.

»Und die Eng­län­der ha­ben es mit dem Wunsch, die Göt­ter zu spie­len.«

»Das ist doch al­les über­flüs­si­ges Ge­re­de. Wir sind nun mal hier, und wir bleiben hier, und das Land hat sich mit uns ab­zu­fin­den, ob wir nun Göt­ter sind oder nicht. Ach«, brach es et­was kläg­lich aus ihm her­vor. »Was sollte ich denn nach deiner und Ad­elas Meinung hier tun? Mich mit meinen eige­nen Stan­des­ge­nos­sen, meinen eige­nen Leu­ten über­wer­fen und mich statt­des­sen in Be­wun­de­rung für die In­der er­ge­hen? Auf die äu­ße­re Macht, in die­sem Land Gu­tes zu tun, ver­zich­ten, weil mein Ver­hal­ten nicht freund­lich ge­nug ist? Keiner von euch beiden ver­steht, was Ar­beiten heißt, sonst wür­dest du nicht sol­chen Un­sinn zu­sam­men­schwat­zen. Es ist gar nicht schön, so et­was zu sa­gen, aber ge­le­gent­lich muss man’s tun. Es ist fast schon ein biss­chen krank­haft, wie ihr beide euch auf­führt – Ad­ela und du. Ich habe euch heute im Klub be­ob­ach­tet – und der Ver­wal­tungs­di­rek­tor ­hatte sich doch so­ viel Mühe ge­macht, euch zu un­ter­hal­ten! Ich bin zum Ar­beiten hier, bitte schön!, und au­ßer­dem dazu, dies elen­de Land mit al­ler Ge­walt zu­sam­men­zu­hal­ten. Ich bin kein Mis­si­o­nar und kein Ab­ge­ord­ne­ter der Ar­beiter­par­tei und kein ver­wa­schen-sen­ti­men­ta­ler Schreiber­ling, der für al­les Ver­ständ­nis hat. Ich bin Re­gie­rungs­be­am­ter, also das, was ich nach deinem Wunsch ge­ra­de sein soll­te, das ist al­les. Wir sind nicht hier in In­di­en, um nett zu sein, und wir ha­ben auch nicht die Ab­sicht, nett zu sein. Wir ha­ben et­was viel Wich­ti­ge­res zu tun.«

Ron­ny sprach in al­ler Auf­rich­tig­keit. Tag um Tag tat er auf dem Rich­ter­stuhl sein Bes­tes, um he­raus­zu­fin­den, wel­che von zwei un­wah­ren Aus­sa­gen die we­ni­ger un­wah­re war, um furcht­los Recht zu spre­chen und um, von Lüg­nern und Schmeich­lern um­stellt, den Schwa­chen vor dem we­ni­ger Schwa­chen, den ­Stam­meln­den vor dem Zun­gen­fer­ti­gen zu schüt­zen. An je­nem Mor­gen ­hatte er ­einen bei der Ei­sen­bahn an­ge­stell­ten Schal­ter­be­am­ten ver­ur­teilen müs­sen, der Pil­gern für ihre Fahr­karte zu viel ab­ver­langt ­hatte; und weiter ­einen Af­gha­nen, der ver­sucht ­hatte, ein Mäd­chen zu ver­ge­wal­ti­gen. Da­für er­war­tete er keine Dank­bar­keit, keine An­er­ken­nung. Der Schal­ter­be­amte wie der Af­gha­ne wür­den wohl auch Be­ru­fung ein­le­gen, vor der nächs­ten Ver­hand­lung die Ent­las­tungs­zeu­gen be­ste­chen und zu­letzt so­gar ­eine Re­vi­si­on des Ur­teils er­wir­ken. Er tat nur seine Pflicht. Was er aber er­war­ten durf­te, war Ver­ständ­nis vonseiten seiner Lands­leu­te, und das wur­de ihm, von Neu­an­kömm­lin­gen ab­ge­se­hen, auch nicht vor­ent­hal­ten. Er ­hatte wohl ein An­recht da­rauf, am Ende ­eines an­stren­gen­den Ta­ges mit Bridge-Par­tys ver­schont zu bleiben und statt­des­sen mit seines­gleichen Ten­nis zu spie­len oder in ­einem Lie­ge­stuhl die Beine lang­zu­stre­cken.

Ja, Ron­ny sprach mit ehr­­licher Über­zeu­gung – wenn er nur, dachte seine Mut­ter, auch mit et­was we­ni­ger Schwung ge­spro­chen hät­te! Wie sehr Ron­ny die Schwie­rig­keiten seiner Lage aus­kos­te­te! Wie nach­drück­lich er im­mer wie­der da­rauf hin­wies, dass er nicht in In­di­en war, um sich an­ge­nehm zu ma­chen; ja, wenn er nur we­ni­ger Ge­nug­tu­ung da­rü­ber emp­fun­den hät­te! Er er­in­nerte sie an den Ron­ny aus der Zeit der Pub­lic-School. Keine Spur mehr von ju­gend­­licher Men­schen­freund­lich­keit. Er sprach wie ein ge­scheiter und ver­bit­ter­ter Jun­ge. Die Worte als sol­che hät­ten wo­mög­lich ­einen ge­wis­sen Ein­druck auf sie nicht ver­fehlt, aber als sie ih­ren selbst­ge­fäl­­ligen Klang ver­nahm, als sie sah, wie un­ter­halb der kleinen röt­­lichen Nase so selbst­zu­frie­den, so sach­kun­dig die Lip­pen auf- und zu­schnapp­ten, ­hatte sie die völ­lig un­mo­ti­vierte Emp­fin­dung, dass da­mit noch lan­ge nicht das letzte Wort über In­di­en ge­spro­chen war. Ein ein­zi­ger Beiklang des Be­dau­erns – nicht etwa des ge­spiel­ten Er­satz­be­dau­erns, son­dern des ech­ten Be­dau­erns, das von Her­zen kommt –: er wäre ein an­de­rer Mann ge­we­sen und das bri­ti­sche Em­pire ein an­de­res po­­liti­sches Ge­bil­de.

»Ich be­streite das, ja, ich ver­lan­ge so­gar, dass du mir zu­stimmst«, ­sagte sie und ließ da­bei die Rin­ge an­einan­der­klir­ren. »Wir Eng­län­der sind hier im Land, um nett zu sein.«

»Wie willst du das denn be­weisen, Mut­ter?«, ­fragte er, nun­mehr aber wie­der in leise­rem Ton, denn er schämte sich seiner Ge­reizt­heit.

»Weil In­di­en mit zum Erd­ball ge­hört. Und weil wir von Gott auf die Erde ge­stellt sind, um nett zu­einan­der zu sein. Gott … ist … die Lie­be.« Sie zö­gerte ein we­nig, weil sie spür­te, wie sehr die­ses Ar­gu­ment seiner eige­nen Über­zeu­gung zu­wi­der­lief, aber ir­gend­et­was nö­tigte sie, fort­zu­fah­ren. »Gott hat uns auf die Erde ge­stellt, da­mit wir un­se­ren Nächs­ten lie­ben und es ihm auch be­weisen, und Gott ist all­ge­gen­wär­tig, so­gar in In­di­en, um sich per­sön­lich da­von zu über­zeu­gen, dass wir es ihm auch recht ma­chen.«