Auf der Suche nach Indien

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Der Die­ner wies mit ­einer groß­mü­ti­gen Geste ins In­ne­re des Hau­ses, aber Aziz glaubte es seiner Wür­de schul­dig zu sein, dies­seits der Schwel­le zu ver­har­ren. Auf die Ve­ran­da hi­naus wur­den ihm Pa­pier und Tinte ge­bracht. Er be­gann: »Sehr ge­ehr­ter Herr Ma­jor! Auf Ih­ren aus­drück­­lichen Be­fehl habe ich, wie es sich für ­einen Un­ter­ge­be­nen ge­hört, nicht ge­säumt –«. Er hielt inne. »Sag ihm, dass ich hier war – das ge­nügt«, rief er, seinen Pro­test in Stü­cke reißend. »Hier ist meine Kar­te. Be­sor­ge mir ­eine Ton­ga.«

»Hu­zoor – sie sind alle ge­ra­de beim Klub.«

»Dann be­stel­le mir te­le­fo­nisch ­eine am Bahn­hof.« Und da der Die­ner sich eilig an­schick­te, das Ge­wünschte zu tun, ­sagte er: »Schon gut, schon gut, ich möchte doch lie­ber zu Fuß ge­hen.« Er ließ sich ein Zünd­holz reichen und steckte sich ­eine Zi­ga­rette an. Die­se kleine Auf­merk­sam­keit ­hatte, wie­wohl er­kauft, et­was Be­ru­hi­gen­des für ihn. Er durfte auf Ent­spre­chen­des rech­nen, so­lan­ge er noch Ru­pien in der Ta­sche ­hatte – im­mer­hin et­was. Hätte er nur schon den Staub An­glo-In­di­ens von den Soh­len ge­schüt­telt, sich aus dem Netz he­raus­ge­wun­den, und sähe er sich nur wie­der Um­gangs­for­men und Ge­bär­den ge­gen­über, die ihm ver­traut wa­ren! Er be­gann, ­eine ihm un­ge­wohnte Tä­tig­keit, rasch aus­zu­schreiten.

Aziz war beh­en­de und klein und zier­lich ge­baut, aber im Grun­de recht kräf­tig. Den­noch er­mü­dete es ihn, zu Fuß zu ge­hen, was in In­di­en bis auf den Neu­an­kömm­ling je­den er­mü­det. Der Bo­den scheint et­was Feind­­liches an sich zu ha­ben. Er gibt ent­we­der nach, und man sinkt beim Ge­hen tief in ihn ein, oder er ist un­er­war­tet zäh und scharf­kan­tig, und mehr als ein­mal ver­spürt man, aus­schreitend, den Ge­gen­druck von Stein und Kris­tall. Nach ­einer Reihe solch kleiner Über­ra­schun­gen fühlt man sich ganz er­schöpft. Und Aziz trug oben­drein Schu­he, die keine Ab­sät­ze hat­ten – in je­dem Land ­eine für Fuß­gän­ger un­zu­läng­­liche Aus­rüs­tung. Am Au­ßen­rand der Be­am­ten­sta­ti­on schwenkte er in die Mo­schee ein, um hier ein we­nig zu ras­ten.

Er ­hatte ge­ra­de für die­se Mo­schee stets et­was üb­rig ge­habt. Sie war an­mu­tig ge­glie­dert, und die bau­­liche An­ord­nung ­sagte ihm zu. Im Hof, den er durch ein ver­fal­le­nes Tor be­trat, be­fand sich ein Reini­gungs­brun­nen mit flie­ßen­dem kla­rem Was­ser – Teil ­einer die gan­ze Stadt ver­sor­gen­den Zu­fluss­leitung. Die Pflas­te­rung des Ho­fes be­stand aus ge­bors­te­nen Plat­ten. Der über­dachte Teil der Mo­schee war weit­räu­mi­ger, als es sonst der Fall war – man fühlte sich bei seinem An­blick an ­eine eng­­lische Ge­mein­de­kir­che er­in­nert, bei der ­eine Seiten­wand fehlt. Von dort, wo Aziz saß, konnte er in drei Bo­gen­gän­ge hin­ein­b­licken, de­ren Dun­kel nur durch ­eine kleine Hän­ge­lam­pe und den Mond auf­ge­hellt war. Die Vor­der­wand schien, im vol­len Mond­licht, aus Mar­mor zu be­ste­hen, und auf dem Fries ho­ben sich die neun­und­neun­zig Na­men Got­tes schwärz­lich vom Stein­grund ab, wäh­rend der Fries selbst weiß leuch­tend vor dem nächt­­lichen Him­mel stand. Am Wett­streit der Ge­gen­sät­ze und am Wech­sel­spiel der Schat­ten im In­nern des Baus fand Aziz Ge­fal­len, und er ver­such­te, beidem sinn­bild­­liche Be­deu­tung für ir­gend­eine Wahr­heit der Lie­be oder der Re­­ligi­on ab­zu­ge­win­nen. Wann im­mer ­eine Mo­schee äs­the­ti­sches Wohl­ge­fal­len bei ihm er­weck­te, ver­mochte sie auch seine Ein­bil­dungs­kraft zu be­flü­geln. Der An­blick ­eines an­de­ren Tem­pels, sei es von Hin­dus, von Chris­ten oder von Grie­chen, wür­de ihn ge­lang­weilt, wür­de auch sein Schön­heits­ge­fühl un­be­teiligt ge­las­sen ha­ben. Hier aber war der Is­lam, war seine geis­ti­ge Heimat, mehr als ein Glau­be, als ein Schlacht­ruf, mehr, sehr viel mehr … Is­lam: ein Le­bens­gehäuse, das köst­lich-er­le­sen und gleich­zeitig dau­er­fest war und in dem sein Kör­per und seine Ge­dan­ken sich da­heim füh­len durf­ten.

Sein Ru­he­sitz be­fand sich auf ­einer nied­ri­gen Mau­er, die den Hof zur Lin­ken be­grenz­te. Vor seinen Fü­ßen fiel der Bo­den in Rich­tung der Stadt ein we­nig ab, die jetzt nicht mehr war als ein Schat­ten­ge­bil­de von Bäu­men, und in der Stil­le ver­nahm er vie­ler­lei fer­ne Lau­te. Zur Rech­ten, drü­ben im Klub­ge­bäu­de, steu­erte die eng­­lische Ko­lo­nie den Klang ­eines A­ma­teur­or­ches­ters dazu bei. Ir­gend­wo an­ders rühr­ten Hin­dus die Trom­meln – er wuss­te, dass es Hin­dus wa­ren, weil der Rhyth­mus dem seines We­sens zu­wi­der­lief –, wäh­rend an­de­re ­eine To­ten­kla­ge an­ge­stimmt hat­ten – er wuss­te, wer der Ver­stor­be­ne war, denn er ­hatte ihm erst am Nach­mit­tag den ärzt­­lichen To­ten­schein aus­ge­stellt. End­lich wa­ren Eu­len zu hö­ren und der Pand­schab-Ex­press … und aus dem Gar­ten des Sta­ti­ons­vor­ste­hers wehte be­rü­cken­der Blu­men­duft. Aber die Mo­schee – nur ihr war geis­ti­ge Wirk­lich­keit eigen, und dem viel­fäl­ti­gen An­ruf der Nacht sich ver­schlie­ßend, wandte er sich ihr wie­der zu und schmückte sie mit Be­deu­tun­gen, von de­nen ihr Er­bau­er sich nie hätte träu­men las­sen. Ei­nes Ta­ges wür­de auch er ­eine Mo­schee er­rich­ten las­sen, kleiner als die­se, aber von er­le­sens­tem Ge­schmack, auf dass alle, die zu­fäl­lig hier des We­ges ka­men, das gleiche Ge­fühl der Glück­selig­keit aus­kos­ten durf­ten, das er selbst jetzt emp­fand. Und ganz in ih­rer Nähe soll­te, in ­einem nied­ri­gen Ge­wöl­be, sein Grab sich be­fin­den, mit ­einer per­si­schen In­schrift:

»Ohne mich wird nun, wehe, vie­le Jahr­tau­sen­de

Die Rose er­blü­hen, der Früh­ling er­schim­mern,

Aber wer im Ge­heimen mein Herz ver­stan­den hat,

Wird her­pil­gern zu dem Grab, das mir Ru­he­statt ist.«

Er ­hatte die­sen Vier­zeiler einst auf dem Grab ­eines Kö­nigs im De­khan er­blickt und be­trach­tete ihn als Aus­druck ­einer tief­sin­ni­gen Welt­an­schau­ung – stets setzte er das Pa­the­ti­sche mit dem Tief­grün­di­gen gleich. Das ge­heime Ver­ste­hen des Her­zens! Mit Trä­nen im Auge wie­der­holte er die Flos­kel, und wäh­rend­des­sen schien ­eine der Mo­schee­säu­len ins Wan­ken zu ge­ra­ten. Sie bebte in der Düs­ter­nis, schien sich ab­zu­son­dern. Geis­ter­glau­be spukte ihm im Blut, aber er rührte sich nicht von der Stel­le. Eine zweite Säu­le be­wegte sich, ­eine drit­te, und dann trat ins Mond­licht hi­naus die Ge­stalt ­einer Frau – ­einer Eng­län­de­rin. Plötz­lich von Wut ge­packt, rief er laut: »Ma­dam! Ma­dam! Ma­dam!«

»Oh, oh«, hauchte er­schro­cken die Frau.

»Ma­dam, dies ist ­eine Mo­schee. Sie ha­ben kein Recht, sie zu be­tre­ten! Sie hät­ten Ihre Schu­he ab­le­gen sol­len. Dies ist für Mos­lems ­eine hei­lige Stät­te.«

»Ich habe die Schu­he ab­ge­legt.«

»Tat­säch­lich?«

»Ich habe sie am Ein­gang ge­las­sen.«

»Dann bitte ich um Ver­zeihung.«

Noch im­mer er­schro­cken, be­wegte die Frau sich dem Aus­gang zu, wo­bei sie sich ab­sicht­lich auf der an­de­ren Seite des Reinigungs­brun­nens hielt. »Ich bitte auf­rich­tig um Ver­zeihung für meine Wor­te«, rief er ihr nach.

»Ja, es war doch al­les in Ord­nung, nicht wahr? Wenn ich meine Schu­he aus­zie­he, bin ich doch zu­ge­las­sen?«

»Na­tür­lich. Aber so we­ni­ge Da­men neh­men sich die­se Mühe, vor al­lem, wenn sie glau­ben, dass es nie­mand sieht.«

»Das macht doch nicht den ge­rings­ten Un­ter­schied. Gott ist hier.«

»Ma­dam!«

»Bitte las­sen Sie mich nun ge­hen.«

»Oh, kann ich Ih­nen jetzt oder ein an­de­res Mal in ir­gend­einer Weise ge­fäl­lig sein?«

»Nein, dan­ke schön, wirk­lich nicht – Gute Nacht.«

»Darf ich wohl Ih­ren Na­men wis­sen?«

Sie stand nun im Schat­ten des Tor­wegs, sodass er ihr Ge­sicht nicht er­ken­nen konn­te, aber sie sah das seine und ­sagte mit ­einem Wech­sel der Stim­me: »Mrs. Moo­re.«

»Mrs. –.« Ein paar Schritte vor­tre­tend, be­merkte er, dass sie gar keine jun­ge Frau mehr war. Ein Tra­um­schloss, leuch­ten­der als die Mo­schee, sank in Trüm­mer, und er wusste nicht, ob er froh sein sollte oder be­trübt. Sie war äl­ter als die Hami­dul­lah-Be­gum, ­hatte ein röt­­liches Ge­sicht und weißes Haar. Ihre Stim­me ­hatte ihn ge­täuscht.

»Mrs. Moo­re, ich fürch­te, ich habe Sie er­schreckt. Ich wer­de meinen Glau­bens­brü­dern – un­se­ren Freun­den – be­rich­ten, was Sie ge­sagt ha­ben. Dass Gott hier ist – wie gut, wie schön das klingt! Sie sind wohl noch nicht lan­ge in In­di­en?«

»Gar nicht lan­ge. Aber wo­ran er­ken­nen Sie das?«

»An der Art, wie Sie mit mir spre­chen. Nein, nicht nur das. Aber darf ich Ih­nen ­einen Wa­gen ho­len?«

»Ich bin nur eben vom Klub ­einen Mo­ment he­rü­ber­ge­kom­men. Sie füh­ren dort ein Stück auf, das ich schon in Lon­don ge­se­hen habe, und im Saal war es so heiß.«

»Was ist denn das für ein Stück?«

»›Cou­sin Kate‹.«

»Sie soll­ten bei Nacht hier lie­ber nicht al­lein spa­zie­ren­ ge­hen, Mrs. Moo­re. Es treibt sich al­ler­hand Ge­sin­del he­rum, und von den Mara­bar-Hü­geln wa­gen sich mit­un­ter so­gar Le­o­par­den hier­her. Auch Schlan­gen.«

Sie stieß ­einen Laut des Schre­ckens aus. An die Schlan­gen ­hatte sie nicht mehr ge­dacht.

»Oder auch ein be­stimm­ter Kä­fer mit sechs Pünkt­chen auf den Flü­geln. Sie le­sen ihn auf, er sticht, und Sie müs­sen ster­ben.«

»Aber Sie ge­hen ja selbst hier spa­zie­ren!«

»Oh, ich bin es ge­wohnt.«

»Die Schlan­gen ge­wohnt?«

Beide lach­ten. »Ich bin Arzt«, ­sagte er. »Schlan­gen trau­en sich nicht an mich he­ran.« Seite an Seite lie­ßen sie sich in dem weiten Ein­gangs­tor nie­der und streif­ten sich die Schu­he wie­der über.

»Darf ich bitte noch ­eine Fra­ge an Sie rich­ten? Wa­rum kom­men Sie eigent­lich um die­se Zeit des Jah­res nach In­di­en, aus­ge­rech­net jetzt, wo das küh­le Wet­ter zu Ende geht?«

 

»Ur­sprüng­lich ­hatte ich die Ab­sicht, frü­her zu kom­men, aber es gab ­einen un­ver­meid­­lichen Auf­schub.«

»Bald wird es hier ganz un­ge­sund für Sie sein. Und wa­rum kom­men Sie aus­ge­rech­net nach Tschan­dra­pur?«

»Um meinen Sohn zu be­su­chen. Er ist der Rich­ter für die­se Stadt!«

»Aber nein, ent­schul­di­gen Sie, das ist ja un­mög­lich. Der Rich­ter in un­se­rer Stadt heißt Mr. Hea­slop. Ich ken­ne ihn ganz ge­nau.«

»Er ist trotz­dem mein Sohn«, ­sagte sie lä­chelnd.

»Aber Mrs. Moo­re – wie kann er das sein?«

»Ich war zweimal ver­heira­tet.«

»Ja, nun ver­ste­he ich. Und Ihr ers­ter Gatte ist ge­stor­ben.«

»Ja­wohl, und auch mein zweiter Mann.«

»Dann sind wir ge­nau in der­sel­ben Lage«, ­sagte er ge­heim­nis­voll. »Dann ist der Rich­ter in die­ser Stadt der Ein­zi­ge, der Ih­nen von al­len Ih­ren An­ge­hö­ri­gen ge­blie­ben ist?«

»Nein, ich habe noch zwei jün­ge­re Kin­der – Ralph und Stel­la, die in Eng­land le­ben.«

»Und der Herr hier in der Stadt – er ist Ralphs und Stel­las Halb­bru­der?«

»Ganz rich­tig.«

»Mrs. Moo­re – das ist al­les un­ge­heu­er selt­sam, weil auch ich, ge­nau wie Sie, zwei Söh­ne und ­eine Toch­ter habe. Ist das nicht ­eine merk­wür­di­ge Zu­falls­fü­gung?«

»Wie heißen denn Ihre Kin­der? Doch nicht wohl auch Ron­ny, Ralph und Stel­la?«

Die Fra­ge ent­zückte ihn. »Nein, das nun wirk­lich nicht. Wie ko­misch das klingt! Sie heißen ganz an­ders – Sie wer­den über­rascht sein. Hö­ren Sie bit­te. Ich wer­de Ih­nen jetzt die Na­men meiner Kin­der sa­gen: das erste heißt Ach­med, das zweite Ka­rim, das dritte – die Erst­ge­bo­re­ne – ist Dsch­emila. Drei Kin­der sind ge­nug. Ist das nicht auch Ihre Meinung?«

»O ja.«

Beide ver­san­ken für ­einen Au­gen­blick in Schweigen und ge­dach­ten ih­rer eige­nen Spröss­lin­ge. Mrs. Moo­re er­hob sich mit ­einem Seuf­zer.

»Hät­ten Sie nicht ein­mal Lust, sich früh­mor­gens das Minto-Kran­ken­haus an­zu­se­hen?«, ­fragte er. »Et­was an­de­res habe ich Ih­nen in Tschan­dra­pur nicht zu bie­ten.«

»Dan­ke schön, ich habe es be­reits ge­se­hen. Sonst hätte ich es mir wirk­lich gern von Ih­nen zeigen las­sen.«

»Dann hat es Ih­nen wohl der Ober­arzt ge­zeigt?«

»Ja­wohl, er und Mrs. Cal­len­dar.«

Seine Stim­me wech­selte den Klang. »Oh, ­eine wirk­lich reizen­de Dame!«

»Mög­­licher­weise. Wenn man sie et­was nä­her kennt.«

»Wie? Was? Sie hat Ih­nen nicht ge­fal­len?«

»Sie hat es durch­aus nicht an Freund­lich­keit feh­len las­sen, nur fin­de ich sie nicht ge­ra­de reizend.«

»Sie hat eben erst ohne meine Ein­wil­­ligung meine Ton­ga ent­führt«, brach Aziz aus. »Nen­nen Sie so et­was reizend? – Und Ma­jor Cal­len­dar stört mich Abend für Abend beim Es­sen. Er lässt mich aus dem Haus meiner Freun­de ho­len, und ich habe so­fort zu ihm zu ge­hen und ­eine höchst an­re­gen­de Un­ter­hal­tung ab­zu­bre­chen, und dann ist er nicht da – nicht ein­mal ­eine Bot­schaft von ihm. Bitte schön – ist das reizend? Aber was kommt es schon drauf an! Ich kann mich ja nicht zur Wehr set­zen, und das weiß er. Ich bin nur ein Un­ter­ge­be­ner, und meine eige­ne Zeit ist al­les an­de­re als kost­bar. Für ­einen In­der ist die Ve­ran­da ge­ra­de gut ge­nug, ja, ja­wohl, wa­rum sollte er sich auch nie­der­set­zen? Und Mrs. Cal­len­dar nimmt meine Ton­ga – ich bin ein­fach Luft für sie!«

Mrs. Moo­re hielt ihm ihr Ohr zu­ge­neigt.

In Er­re­gung ge­ra­ten war Aziz zum ­einen bei dem Ge­dan­ken an die ihm an­ge­ta­ne Krän­kung, in weit hö­he­rem Maße aber des­halb, weil ein an­de­rer Mensch ihm Teil­nah­me schenk­te. Und das war es auch, was ihn zu Wie­der­ho­lun­gen, Über­treibun­gen, Wi­der­sprü­chen ver­führ­te. Sie ­hatte ihm ihr Mit­ge­fühl da­durch be­wie­sen, dass sie ihm ge­gen­über Kri­tik an ­einer an­de­ren Eng­län­de­rin übte. Aber selbst vor­her schon war er die­ses Mit­ge­fühls ge­wiss ge­we­sen. Die Flam­me, die nicht ein­mal der An­blick blo­ßer Schön­heit ent­zün­den kann, lo­derte auf, und wenn seine Worte auch weh­leidig klan­gen, so be­gann sein Herz doch im Ge­heimen zu glü­hen. Und so­gleich ging ihm die Zun­ge über.

»Sie ver­ste­hen mich, Sie wis­sen, wie ­einem Men­schen zu­mute ist. Oh, wenn doch auch die an­de­ren Ih­nen ähn­lich wä­ren!«

Et­was über­rascht er­wi­derte sie: »Ich glau­be, ich ver­ste­he von an­de­ren Men­schen nicht viel. Ich weiß nur, ob ich sie gern habe oder nicht.«

»Dann sind Sie Ori­en­ta­lin!«

Sie ließ sich, wie er es vor­ge­schla­gen ­hatte, von ihm zum Klub zu­rück­be­gleiten und be­merkte an der Tür, sie wünsch­te, sie wäre selbst Mit­glied, weil sie ihn dann mit hätte he­rein­bit­ten kön­nen.

»Im Klub von Tschan­dra­pur sind In­der nicht ein­mal als Gäste zu­ge­las­sen«, ­sagte er ein­fach. Er ver­breitete sich auch nicht weiter über die ihm an­ge­ta­nen Krän­kun­gen, denn er fühlte sich glück­lich. Als er un­ter dem lieb­­lichen Mond hü­gel­ab wan­derte und die lieb­­liche Mo­schee wie­der vor sich er­blick­te, war es ihm, als habe er nicht we­ni­ger Be­sitz­an­recht auf das gan­ze Land als ir­gend­einer der an­de­ren. Was lag schon da­ran, dass ein paar schwäch­­liche Hin­dus be­reits vor ihm da wa­ren, ein paar fros­ti­ge Eng­län­der noch nach ihm da sein wür­den!

3

Als Mrs. Moo­re den Klub­saal wie­der be­trat, war man schon mit­ten im drit­ten Akt der Auf­füh­rung von »Cou­sin Kate«. Die Fens­ter wa­ren ver­hängt, da­mit die Die­ner ihre Mem­sahibs nicht schau­spie­lern se­hen konn­ten, und in­fol­ge­des­sen war die Hit­ze ganz un­er­träg­lich. Ei­ner der elekt­ri­schen Ven­ti­la­to­ren wir­belte um sich selbst wie ein wun­der Vö­gel, ein an­de­rer funk­ti­o­nierte nicht. Da Mrs. Moo­re keine Lust ver­spür­te, sich wie­der un­ter die Zu­schau­er zu mi­schen, suchte sie statt­des­sen das Bil­lard­zim­mer auf, in dem sie mit dem Aus­ruf: »Ich möchte aber et­was vom wah­ren In­di­en se­hen!«, be­grüßt wur­de, und schon ­hatte das ihr zu­ge­teilte Da­sein wie­der Be­sitz von ihr er­grif­fen. Der Aus­ruf kam von Ad­ela Ques­ted, dem selt­sa­men, vor­sich­ti­gen jun­gen Mäd­chen, das sie im Auf­trag Ron­nys aus Eng­land ­hatte her­über­brin­gen müs­sen, und Ron­ny war ihr – gleich­falls vor­sich­ti­ger – Sohn, der Miss Ques­ted mit eini­ger Wahr­schein­lich­keit, wenn auch nicht mit al­ler Be­stimmt­heit heira­ten wür­de, und sie selbst war ­eine et­was ält­­liche Dame.

»Auch ich möchte et­was da­von se­hen und wünschte nur, wir bräch­ten es wirk­lich fer­tig. Of­fen­bar wol­len die Tur­tons am nächs­ten Diens­tag ir­gend­et­was ver­an­stal­ten.«

»Das wird, wie im­mer, mit ­einem E­le­fan­ten­ritt en­den. Denk nur an die­sen Abend. ›Cou­sin Kate‹. Stell dir vor: ›Cou­sin Kate‹. Aber wo bist du denn in der Zwi­schen­zeit ge­we­sen? Ist es dir ge­lun­gen, den Mond dies­mal im Gan­ges schim­mern zu se­hen?«

Zu­fäl­lig hat­ten beide Frau­en am Abend vor­her in ­einem fer­ner ge­le­ge­nen Seiten­ka­nal des Stro­mes den Wi­der­schein des Mon­des er­blickt, freilich vom Was­ser so sehr in die Län­ge ge­zo­gen, dass er grö­ßer wirkte als der rich­ti­ge Mond, und hel­ler dazu, und das ­hatte ih­nen Ver­gnü­gen be­reitet.

»Ich bin bis zur Mo­schee ge­kom­men, habe aber leider nichts vom Mond ge­se­hen.«

»Heute wäre wohl auch der Win­kel et­was an­ders – er geht erst spä­ter auf.«

»Spä­ter und im­mer spä­ter«, gähnte Mrs. Moo­re, die sich nach ih­rem Spa­zier­gang et­was müde fühl­te. »Lass mich nach­den­ken – wir se­hen hier nichts von der an­de­ren Seite des Mon­des, nein.«

»Aber, aber, so schlimm ist es mit In­di­en nun wie­der nicht«, ­sagte ­eine freund­­liche Stim­me. »Die an­de­re Seite der Erde, na schön, aber wir hal­ten es noch im­mer mit dem gleichen al­ten Mond.« Keine der beiden Frau­en kannte den Spre­cher, und keine sollte ihn je wie­der zu Ge­sicht be­kom­men. Mit seinem gut ge­mein­ten Wort ent­schwand er hin­ter den ro­ten Back­stein­säu­len im Dun­kel.

»Wir be­kom­men nicht ein­mal et­was von der an­de­ren Seite der Welt zu se­hen – das ist un­ser Kum­mer«, be­merkte Ad­ela. Mrs. Moo­re stimmte ihr zu. Auch sie war über die Reiz­lo­sig­keit ih­res neu­en Le­bens ent­täuscht. Ihre Reise, die sie zu­nächst über das Mit­tel­meer und dann zwi­schen den Sand­flä­chen Ägyp­tens hin­durch bis zum Ha­fen von Bom­bay ge­führt ­hatte, war so ro­man­tisch ge­we­sen, und nur an ih­rem End­punkt hat­ten sie nichts an­de­res vor­ge­fun­den als den Git­ter­rost ­einer Bun­ga­low­sied­lung. Aber sie nahm die Ent­täu­schung nicht ganz so schwer wie Miss Ques­ted – sie war im­mer­hin vier­zig Jah­re äl­ter und ­hatte er­fah­ren, dass das Le­ben uns nie­mals in dem Au­gen­blick un­se­re Wün­sche er­füllt, den wir für den rich­ti­gen hal­ten. Ge­wiss er­eig­net sich al­ler­hand Aben­teu­er­­liches, aber nie­mals auf die Mi­nute pünkt­lich. Noch­mals be­merkte sie, sie hof­fe, dass am fol­gen­den Diens­tag ir­gend­et­was In­te­res­san­tes zu­stan­de kom­men wer­de.

»Las­sen Sie sich et­was ein­schen­ken«, ­sagte ­eine an­de­re freund­­liche Stim­me – »Mrs. Moo­re – Miss Ques­ted – las­sen Sie sich beide Ihr Glas fül­len!« Dies­mal wuss­ten sie, wes­sen Stim­me es war – die des Ver­wal­tungs­di­rek­tors Mr. Tur­ton, in des­sen Haus sie zu Abend ge­ges­sen hat­ten. Ganz wie ih­nen, war es auch ihm bei »Cou­sin Kate« et­was zu heiß ge­wor­den. Ron­ny, be­rich­tete er ih­nen, ver­träte heute Abend Ma­jor Cal­len­dar, den ir­gend­ein in­di­scher Un­ter­ge­be­ner hätte sit­zen las­sen, in der Rol­le des Büh­nen­ins­pi­zi­en­ten, und er ma­che seine Sa­che vor­treff­lich. Dann ließ er sich über Ron­nys Vor­zü­ge aus und äu­ßerte ru­hig und ent­schie­den al­ler­hand Schmeichel­haf­tes über ihn. Nicht, dass der jun­ge Mann sich auf sprach­­lichem oder sport­­lichem Ge­biet be­son­ders her­vor­tat oder dass er auch das der Ju­ris­pru­denz schon be­herrsch­te. Aber – und das war of­fen­bar ein ge­wich­ti­ges Aber – Ron­ny ­hatte per­sön­­liche Wür­de.

Mrs. Moo­re ver­nahm es zu ih­rer Über­ra­schung, denn Wür­de ge­hört an sich nicht ge­ra­de zu den Ei­gen­schaf­ten, die ­eine Mut­ter ih­rem Sohn zu­zu­trau­en pflegt. Miss Ques­ted ver­nahm es mit ­einer ge­wis­sen Be­sorg­nis, denn sie war sich noch nicht da­rü­ber im Kla­ren, ob sie für wür­di­ge Män­ner all­zu viel üb­rig ­hatte. Tat­säch­lich ver­suchte sie, die­se Fra­ge mit Mr. Tur­ton zu er­ör­tern, aber er ver­wies sie mit ­einer gut­ge­laun­ten Hand­be­we­gung zum Schweigen und fuhr fort zu äu­ßern, was zu äu­ßern er eigent­lich ge­kom­men war. »Kurz und gut – Hea­slop ist ein Sah­ib. Er ist ­einer von de­nen, die wir hier brau­chen. Er ist ­einer der Un­se­ren.« Und ein an­de­rer Zi­vi­list, der sich ge­ra­de über den Bil­lard­tisch beug­te, ­sagte ver­nehm­lich: »Hört, hört!« Da­mit war die gan­ze Fra­ge dem Be­reich des Zweifels ent­rückt, und der Ver­wal­tungs­di­rek­tor durfte seinen Weg fort­set­zen, denn es rie­fen ihn an­de­re Pflich­ten.

In­zwi­schen war die The­a­ter­auf­füh­rung am Ende an­ge­langt, und das A­ma­teur­or­ches­ter spielte die Na­ti­o­nal­hym­ne. Un­ter­hal­tung und Bil­lard­spiel bra­chen ab, die Ge­sich­ter nah­men ­einen steife­ren Aus­druck an. Es war die Hym­ne der Be­sat­zungs­ar­mee, und die Klub­mit­glie­der, Män­ner und Frau­en, fühl­ten sich da­ran er­in­nert, dass sie Bri­ten wa­ren – Bri­ten im Exil. Sie hat­ten ihr ein we­nig Rüh­rung zu dan­ken und ­einen nütz­­lichen Zu­wachs an Wil­lens­kraft. Die dürf­ti­ge Weise und die kur­ze Ab­fol­ge der an Jehova ge­stell­ten An­sprü­che ver­schmol­zen zu ­einem Ge­bet, wie es in Eng­land un­be­kannt war, und wenn die Teil­neh­mer am Ge­sang auch we­der von der ir­di­schen noch von der himm­­lischen Ma­jes­tät ­eine deut­­liche Vor­stel­lung hat­ten, so hat­ten sie gleich­wohl ir­gend­eine Vor­stel­lung und fühl­ten sich so weit ge­stärkt, dass sie dem kom­men­den Tag mit Fas­sung ins Auge b­licken konn­ten. Dann füll­ten sie die Glä­ser und bo­ten sich ge­gen­seitig et­was zum Trin­ken an.

»Ad­ela – hier! Mut­ter – auch et­was!«

Die An­ge­spro­che­nen lehn­ten dan­kend ab – sie hat­ten mehr als ge­nug von drinks –, und Miss Ques­ted, die im­mer ge­ra­de­he­raus ­sagte, was ihr in den Sinn kam, er­klärte von Neu­em, dass sie un­be­dingt et­was vom wirk­­lichen In­di­en ken­nen­ler­nen wol­le.

Ron­ny war in bes­ter Stim­mung. Ad­elas Be­geh­ren mu­tete ihn ko­misch an, und er rief ­einem der in der Nähe Vo­rü­ber­streifen­den zu: »Fiel­ding! Wie kann man et­was vom wirk­­lichen In­di­en ken­nen­ler­nen?«

 

»In­dem man In­der ken­nen­zu­ler­nen sucht«, er­wi­derte je­ner und löste sich wie­der in Luft auf.

»Wer war denn das?«

»Un­ser Schul­meis­ter – vom Be­am­ten­se­mi­nar.«

»Als ob man je ver­meiden könn­te, sie ken­nen­zu­ler­nen«, seufzte Mrs. Les­ley.

»Bis­her habe ich es leider er­folg­reich ver­mie­den«, ­sagte Miss Ques­ted. »Ab­ge­se­hen von meinem eige­nen Die­ner habe ich seit der Lan­dung kaum mit ­einem ein­zi­gen In­der ein Wort ge­wech­selt.«

»Oh, Sie Glück­­liche!«

»Aber ich möchte sie ken­nen­ler­nen.«

Ad­ela war nun der Mit­tel­punkt ­einer gan­zen Grup­pe be­lus­tig­ter Da­men. »Sich zu wün­schen, In­der ken­nen­zu­ler­nen! Wie neu das klingt!«, ­sagte ­eine, und ­eine an­de­re: »Ein­ge­bo­re­ne – man stel­le sich vor!« Aber ­eine drit­te, erns­ter ge­sinnte be­merk­te: »Las­sen Sie mich bitte er­klä­ren. Wenn wir mit Ein­ge­bo­re­nen per­sön­lich be­kannt wer­den, heißt das noch lan­ge nicht, dass sie uns des­halb auch mehr res­pek­tie­ren.«

»Was al­ler­dings nicht nur im Fall von Ein­ge­bo­re­nen gilt.« Aber die Spre­che­rin, so tö­rich­ten wie freund­­lichen Her­zens, fuhr fort: »Was ich sa­gen wollte – ich war vor meiner Heirat Kran­ken­pfle­ge­rin und ­hatte be­ruf­lich ­eine gan­ze Men­ge mit In­dern zu tun. Da­rum weiß ich Be­scheid. Ich weiß, wie es sich mit In­dern in Wahr­heit ver­hält. Eine denk­bar un­ge­eig­nete Stel­lung für ­eine Eng­län­de­rin – ich war Kran­ken­haus­schwes­ter in ­einem der in­di­schen Fürs­ten­staa­ten. Die ein­zi­ge Hoff­nung, die mir blieb, war die, mich völ­lig ab­seits zu hal­ten.«

»Selbst von den Pa­ti­en­ten?«

»Das Bes­te, was man ­einem Ein­ge­bo­re­nen an­tun kann, ist, ihn um­kom­men zu las­sen«, er­klärte Mrs. Cal­len­dar.

»Wenn er nun aber in den Him­mel käme?«, ­fragte Mrs. Moo­re mit ­einem sanf­ten, ob­schon et­was hin­ter­häl­ti­gen Lä­cheln.

»Er kann hin­ge­hen, wo es ihm Spaß macht – Haupt­sa­che, dass er nicht in meine Nähe kommt. Beim An­blick von In­dern wird mir im­mer ganz an­ders.«

»Ich habe mir schon öf­ter Ge­dan­ken ge­macht über das, was Sie in Be­zug auf den Him­mel sa­gen. Da­rum bin ich auch ge­gen die Mis­si­o­na­re«, ­sagte die Dame, die ein­mal Kran­ken­schwes­ter ge­we­sen war. »Ich bin durch­aus für Mi­­litär­geist­­liche, aber ge­gen Mis­si­o­na­re. Las­sen Sie mich er­klä­ren.«

Aber be­vor sie dazu aus­ho­len konn­te, griff der Ver­wal­tungs­direk­tor wie­der in die Un­ter­hal­tung ein.

»Möch­ten Sie wirk­lich den ari­schen Bru­der ken­nen­ler­nen, Miss Ques­ted? Das lässt sich ohne Weite­res be­werk­stel­­ligen. Ich ­hatte keine Ah­nung, dass Ih­nen so et­was Ver­gnü­gen ma­chen wür­de.« Er dachte ­einen Au­gen­blick nach. »Ich kann Sie mit je­dem er­denk­­lichen Ty­pus zu­sam­men­brin­gen. Sie brau­chen mir nur zu sa­gen, mit wel­chem. Ich ken­ne die Leu­te, die mit der Re­gie­rung zu tun ha­ben, und ich ken­ne die Groß­grund­be­sit­zer. Un­ser Freund Hea­slop kann die An­wälte her­beibe­or­dern, wo­ge­gen wir uns auf Fiel­ding ver­las­sen dür­fen, wenn Sie es spe­zi­ell auf das Er­zie­hungs­we­sen ab­ge­se­hen ha­ben soll­ten.«

»Ich bin es et­was müde, ma­le­ri­sche Ge­stal­ten an mir vo­rü­ber­zie­hen zu se­hen, wie auf ­einem Wan­del­bild«, er­klärte die jun­ge Dame. »Beim Lan­den fan­den wir al­les so groß­ar­tig, aber der ober­fläch­­liche Reiz stumpft bald ab.«

Ihre per­sön­­lichen Ein­drü­cke wa­ren für den Ver­wal­tungs­di­rek­tor ohne je­des In­te­res­se – es war ihm le­dig­lich da­rum zu tun, ihr den Auf­ent­halt in In­di­en so an­ge­nehm wie mög­lich zu ma­chen. Ob sie wohl Lust auf ­eine Bridge-Par­ty ­hatte? Er er­klärte ihr, was das war – nicht etwa das wohl­be­kannte Kar­ten­spiel die­ses Na­mens, son­dern ­eine Par­ty, die die Kluft zwi­schen Ost und West über­brü­cken hel­fen soll­te. Er selbst ­hatte den Aus­druck ge­prägt, und die­ser be­lus­tigte alle, die ihn zu hö­ren be­ka­men.

»Ich möchte nur die In­der ken­nen­ler­nen, mit de­nen Sie ge­sell­schaft­lich ver­keh­ren – Ihre Freun­de.«

»Nun, ge­sell­schaft­lich ver­keh­ren wir eigent­lich nicht weiter mit ih­nen«, ­sagte er lä­chelnd. »Sie ha­ben alle er­denk­­lichen Tu­gen­den, und trotz­dem hal­ten wir sie uns vom Leibe, und es ist nun halb zwölf, und also zu spät, die Grün­de da­für auf­zu­zäh­len.«

»Miss Ques­ted – was für ein Name«, be­merkte Mrs. Tur­ton, als sie sich mit ih­rem Mann auf der Rück­fahrt be­fand. Sie ­hatte die jun­ge Dame nicht ge­ra­de ins Herz ge­schlos­sen – in ih­ren Au­gen war sie un­ma­nier­lich und ver­schro­ben. Hof­fent­lich war sie nicht he­rü­ber­ge­schleppt wor­den, um sich mit dem net­ten kleinen Hea­slop zu ver­heira­ten. Nur sah es leider so aus. Im Stil­len pflich­tete ihr Mann ihr bei. Aber er äu­ßer­te, wenn es sich ir­gend um­ge­hen ließ, nie­mals ein bö­ses Wort über ­eine Eng­län­de­rin, und da­rum be­merkte er le­dig­lich, Miss Ques­ted hege na­tür­lich ge­wis­se ir­ri­ge Vor­stel­lun­gen. Er fügte hin­zu: »In­di­en wirkt Wun­der in Be­zug auf das per­sön­­liche Ur­teil, vor al­lem zur heißes­ten Zeit des Jah­res. Es hat auch bei Fiel­ding Wun­der ge­wirkt.« Bei Er­wäh­nung die­ses Na­mens schloss Mrs. Tur­ton die Au­gen und er­klär­te, dass Mr. Fiel­ding nicht pu­kka sei, und lie­ber sol­le er Miss Ques­ted heira­ten, denn sie sei gleich­falls nicht pu­kka. Dann lang­ten beide an ih­rem Bun­ga­low an, der, nied­rig und weit­läu­fig, das äl­teste und un­be­quemste Haus in der gan­zen Be­am­ten­sied­lung war und ­einen Ra­sen­platz ­hatte, der wie ein ein­ge­las­se­ner Sup­pen­tel­ler aus­sah. Sie ge­neh­mig­ten sich noch ­einen weite­ren drink, der freilich nur aus Spru­del be­stand, und gin­gen dann zu Bett. Ihr Auf­bruch vom Klub ­hatte dem Abend dort vor­zeitig ein Ende ge­setzt, der, wie alle ähn­­lichen Ver­an­stal­tun­gen, ­einen of­fi­zi­el­len An­strich ge­habt ­hatte. Eine Ge­mein­schaft, die vor ­einem Vi­ze­kö­nig das Knie beugt und des Glau­bens ist, dass die ­einen Kö­nig um­ge­ben­de Gött­lich­keit über­trag­bar sei, muss auch vor je­dem vize­kö­nig­­lichen Er­satz Ehr­furcht emp­fin­den. In Tschan­dra­pur wa­ren die Tur­tons wie kleine Göt­ter. Bald je­doch wür­den sie sich in ir­gend­einer Vor­ort­vil­la zur Ruhe set­zen und, fern der Stätte ih­rer eins­ti­gen Herr­lich­keit, im Exil ihre Le­bens­ta­ge be­schlie­ßen.

»Es war doch sehr an­stän­dig von dem ho­hen Herrn«, schwatzte Ron­ny, der über die seinen Gäs­ten er­wie­se­ne Lie­bens­wür­dig­keit sehr be­frie­digt war. »Wisst ihr, dass er bis­her noch nie­mals ­eine Bridge-Par­ty ver­an­stal­tet hat? Und für euch hat er so­gar schon ein of­fi­zi­el­les Es­sen ge­ge­ben. Ich wünsch­te, ich hätte sel­ber et­was ar­ran­gie­ren kön­nen. Aber so­bald ihr die Ein­ge­bo­re­nen ein biss­chen ge­nau­er kennt, wer­det ihr ver­ste­hen, dass es für den Burra Sah­ib ein­fa­cher ist als für mich. Ih­nen ist er ja kein Frem­der – sie wis­sen auch, dass er sich nichts vor­ma­chen lässt –, und ich sel­ber bin noch nicht lan­ge ge­nug im Lan­de. Kein Mensch darf sich ein­bil­den, die­ses Land zu ken­nen, wenn er nicht min­des­tens zwan­zig Jah­re hier ge­lebt hat. Ach, da ist ja Mut­ter! Hier ist dein Man­tel. Tja – nur ein Beispiel für die Art Irr­tü­mer, die man sich hier leis­tet. Kurz nach­dem ich he­rü­ber­ge­kom­men war, lud ich mal ­einen in­di­schen Ver­teidi­ger ein, ­eine Zi­ga­rette mit mir zu rau­chen – bitte schön, ­eine ein­zi­ge Zi­ga­ret­te. Spä­ter kam ich da­hin­ter, dass im gan­zen Ba­sar­vier­tel je­der seiner Un­terl­in­ge die­se Tat­sa­che an die gro­ße Glo­cke ­hatte hän­gen und al­len Pro­zess­lus­ti­gen ­hatte ver­si­chern müs­sen: ›Oh, kommt nur zu meinem Va­kil Mah­moud Ali – er ist gut Freund mit dem Rich­ter!‹ Seit­dem habe ich ihn mir vor Ge­richt im­mer be­son­ders scharf vor­ge­knöpft. Je­den­falls war das Gan­ze ­eine Lek­ti­on für mich, und für ihn hof­fent­lich auch.«