Das Lied der Eibe

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KAPITEL III

Fiktive Erinnerungen eines ebensolchen chattischen Kriegers aus dem 6. Jh.

AUS DEM VERGESSEN

Es dunkelt. Aber das Mondlicht sollte reichen: Fast voll steht Manis Nachtgesicht am Himmel, knapp über den Buchen, die jetzt nur noch Schattenrisse sind, schwarz und stumm. Ich bin nicht weit vom Lager, aber entweder sind sie alle still geworden dort – oder etwas in mir blendet die Geräusche aus, ich kann sie nicht mehr wahrnehmen. Stattdessen höre ich Unken aus Südwest, da ist wohl ein Bach, und das Aufflattern einer Ralle, aber jetzt ist auch das vorbei. Nur der Wind pfeift und klatscht mir die nassen Haare ins Gesicht. Der Regen hat aufgehört. Ich atme durch. Es wird Zeit. Lang will ich nicht wegbleiben. Mein kleines Messer und der Speer. Das kleine Messer meines Bruders und der Speer. Das kleine Messer, das mein Bruder mir geschenkt hat, nachdem er mir – Monde her – versucht hat, damit in den Arm zu schneiden. Echt lustig. Wir dachten, es sei stumpf – aber wir waren einfach nur zu betrunken. Jetzt wird unsere Blutsbrüderschaft, obwohl überfällig, noch ein wenig warten müssen. Wenn wir überleben, wir beide. Wofür – zumindest für meinen Teil – etwas getan werden muss: was ich vorhabe. Die Klinge muss in Holz schneiden – erstmal. Ich betrachte meine Hand, die den Speer umfasst und wiegt. Die Hand, aus der ich ihn einst empfing, ist Rabenfraß geworden. Mein anderer Bruder ist das gewesen, mein leiblicher. Er war jünger als ich. Aber dann haben die Valkyries ihn geholt, vor der Zeit, wie ich meine. Er ist tot und ich lebe. Die Welt kann ungerecht sein. Es gilt, Ausgleich zu schaffen. Verdammt. Hätte er nicht überleben können? Es ist, wie es ist. Es rafft immer die Falschen dahin. Morgen werden viele dran sein, niemand weiß, wen es treffen wird. Deshalb bin ich hier. Mit dem kleinen Messer meines Lieblingsbruders, der nicht mein leiblicher ist – aber mir so nah wie die eigene Mutter. Welche Zeichen sind die richtigen – was ist der beste Zauber? Ich spucke aus. Kenne eh zuwenige. Wie war das – was hat die Erilar gesagt?

„Nimm Ansuz. Das ist der Atem der Götter. Mächtiger Schutz. Besseren kriegst du nicht für die Schlacht.“ Und das hat sie gesagt: „Es ist Speerschüttlers Mantel. Siehst du den Stab? Den senkrechten Strich? Zwei schräge Äste gehen von ihm ab, weisen nach unten. Das sind die Falten von Siegvaters Mantel.“ Sie nennt den Schrecklichen nie beim Namen, erfindet immer neue. Aber es ist klar, wen sie meint: den Einäugigen! Ich nenn ihn ja auch nie beim Namen. Den Herrn der Valkyries. Die meinen Bruder fraßen. Meinen leiblichen. Kalt braust der Wind. Ich setze die Messerschneide auf den Speerschaft an. Zögere noch. Wie ging sie noch gleich, diese Rune, Ansuz?

Die Erilar. Was willst du von der, hat es geheißen. Diese alte Wanderkrähe will dich doch bloß vernaschen, weil sie nie einen abkriegt. Jetzt versucht sie es bei dir, pass ja auf, haben sie gespottet. Aber sie haben – wie immer – keine Ahnung. Die Erilar braucht keinen Mann, hab ich die Freunde erinnert. Die hat es mit Frauen – und Tieren, wenn überhaupt. Und den Geistern. Ganz sicher mit den Geistern. Sonst wäre sie ja keine Erilar, oder? Aber mit Besoffenen kannst du nicht reden. Die lallen nur herum und dünken sich doll. Trottel, geliebte. Ich grinse. Aber Ahnung haben sie wirklich keine, die Freunde. Ich ging zur Erilar. Weiß gar nicht, was die so hässlich finden an ihr – angeschmust hat sie mich sowieso nicht. Eher fasziniert. Na ja, vielleicht nicht das richtige Wort. Ich mag sie. Sie macht mich ruhig. Ohne dass sie was sagen muss. Eine weise Frau. Ganz dunkel. Wie die Nacht heute. Fast schwarz ihre Haut, tiefschwarz ihr Haar und so kräuselig wie zerzauste Wolle… Sie sei von weit her gekommen, heißt es. Egal: eine der unseren. Vom Stamm der Katzen. Wir sind alle Katzen. Die Sonne ist unsere Mutter. Die Erilar erzählte mir mal, da, wo sie herkam, ganz fern und urweit im Süden, da, wo angeblich kein Wald mehr wüchse und die Luft viel heißer sei, auch winters, da würden andere Große verehrt. Aber dann kam sie zu uns und wurde eine Katze so wie wir. Eine von uns. Mit uns. Sonnentochter. Und dass ihre Haut so schwarz sei, das läge daran, dass die Mutter sie zu lange gewiegt habe. Denn wo sie, die Erilar, herkam, bevor sie eine Erilar wurde, eine Runenkundige, sei die Sonne näher und heißer gewesen und – äh ja, „männlich“. Das war mir dann ein bisschen zu hoch. Ob Gottheit oder sterblich: Ein Mann ist doch keine Mutter! Zumal die Haut der Erilar nicht wirklich verbrannt ist, sondern einfach nur dunkel. So dunkel wie die Augen meines toten Bruders, des geliebten. Obwohl meine Augen die Farben des Wassers haben und mein Haar hell ist wie das von Sif selbst: wie das reife Korn im Wind! Egal. Hauptsache ist, dass wir alle Katzen sind. Kinder der leuchtenden Großen Herrin, der Sonne am Himmel.

Ich weiß jetzt wieder, wie die Ansuz geht. Ritze ins Holz. Runter, kräftig: ein langer Strich. Ganz gerade, steil und stolz. Kerb ihn rein in den Speerschaft, in seine Rundung. Atme durch, konzentriere mich und setze nochmal an: am oberen Ende des Strichs, direkt an dem Ende, seiner Kante. Ritze von da aus schräg runter: den Ast, den einen. Muss plötzlich lachen. Das ist doch auch ein Zeichen? Ja, ich erinnere mich der Weisen Frau, der Erilar Worte. Wie heißt das Ding? Laguz! Das fließende Wasser, der Lauch! Das ist nicht die Rune, die ich ritzen will. Ein einziger Schräg-Ast macht den Unterschied. Es ist schon kompliziert mit der Zauberei. Es kommt aufs Detail an, aufs verdammte. Zum Donner! Fast scheint es mir einfacher, einen wehrhaften Mann zu erschlagen, was ja auch geübt sein will, als diesen ritzigen Fitzelkram herzukerben. Alles so klein hier! Hochkonzentriert: Der zweite Ast kerbt sich parallel zum ersten in die Schaftrundung. Dies ist Ansuz. Jau, jahu, gelungen! Die erste! Wie viele Runen sollen es werden? Sechs, sagte die Erilar, sechs mindestens. Warum sechs, fragte ich. Denn ich bin ja kein Erilar. „Weil sechs das Zeichen des Könnens ist, der Fackel, der Kunst. Und acht schaffst du ja sowieso nicht.“ Sagte die Erilar. Und hat gelacht. Dieses kehlige Lachen, das ich an ihr so liebe. Natürlich schaffe ich acht – hab ich mir vorgenommen. Eine ganze Ætt: eine Familie, eine Sippe! Aber ich sehe schon: Das wird schwierig. Die zweite Ansuz-Rune, die ich ritze, gerät weniger ideal als ihr Vorbild. Ihr zweiter Ast ragt links ein Stück über den Rückgratsstab hinaus. Mist! Hoffentlich gilt das noch… Außerdem ist sie kleiner als die erste. Gleich die nächste ritzen! Mit Schweiß und Not gelingen mir vier – aber irgendwie sehen sie alle aus wie die Kinder, die ich noch nicht zeugte: eins missratener als das andere. Ansuz, Ansuz, Ansuz…

Verzeiht mir, ihr Großen – meine Pfoten sind zu grob, diesen Zauber vollendet zu weben, aber ich hoffe und bitt‘ euch, ihr versteht, wie mein ungelenkes Ritzen gemeint ist. Ihr versteht doch? Um Schutz ruf ich euch an, dich, Speerschüttler, dich, Hammerwerfer, dich, fauchende Sonnenkatze, Herrin des Krieges, den es zu gewinnen gilt: für mich, für den toten Bruder und den lebendigen, der noch keiner ist, für alle Katzen vom Stamm der Katzen – macht meine Hand sicher, lasst diesen Schaft, den sie wirft, über oder in das Heer der Feinde fliegen! Macht mich, bittebittebitte, unverwundbar, groß und mächtig wie den Schreckensbringer selbst! Leiht mir seinen Mantel! Macht mich unversehrbar für Pfeil, Speer und Axt! Denn ihr Großen wisst ja, worum es geht! Wir sind die Katzen! Die, denen wir morgen gegenüberstehen, nennen sich auch so – doch sie sind keine! Die paktieren mit den Legionen des eisernen Lindwurms… von denen sie auch ihre Schwerter haben. Ein römischer Pfeil war es, der meinen Bruder fällte! So weit zu uns hinauf wären die Schildkrötenpanzer des großen Lindwurms aber nie geklappert gekommen, hätten die vom Stamm der falschen Katzen ihnen nicht den Weg gewiesen und bereitet. Wir werden sehen, wer morgen den Speer übers Heer schleudert – es Gungnirs Schüttler weiht, dem Leichenschwelger und seinen schwarzgefiederten Töchtern.

Leiber will ich fällen, Krieger töten, Schwerter von Armen trennen mit der Schneide meiner Klinge, Schädel zertrümmern und in Augen sehen, die brechen, während ein roter Fluss den Schmerz lindern soll, den das bleiche Antlitz meines jüngsten Bruders hinterließ. Ansuz, Ansuz, Ansuz… Atmet mit mir, ihr Großen: Leiht mir euren Atem, den langen. Wenn ich falle, sollen tausend Katzen meinen Tod rächen – wie ich den Fall meines Bruders räche an so vielen von diesen Lindwurmkriegern, wie mein Speer, mein Sax, meine Axt, meine Keule – oder mein bloßer Arm erreicht. Feuer schleudern sie durch die Luft, heißt es – doch es bricht sich an den Bäumen. Morgen noch nicht: Erst stellen – und fällen – wir die falschen Katzen, Lindwurms Vorhut. Die haben kein Feuer. Doch wir das der Sonne. Wir sind die Katzen. Krieger Freyjas, der Herrin der Lust, der Vanadís. Ich ritze die Ansuz. Ein-, zwei-, drei-, sechsmal. In den Schaft meines Speers. Der übers Heer fliegen wird. Das Heer der Feinde. Sie dem Einäugigen opfernd. Hoch steht Mani am Himmel. Was höre ich? Die Geräusche des Lagers, wieder. Gesprächsfetzen, Feuerknacken, Scheitgeprassel, Lachen. Rundmond: fast voll. So neigt sich die Nacht! Einem roten Morgen entgegen. Dem Tag der Entscheidung. Zurück, rasch zurück: für ein, zwei Hörner am Feuer – und eine Mütze Schlaf!

Nachtrag. Ich überlebte die Schlacht, und mein Blutsbruder in spe auch. Wir siegten! Gewannen die Schlacht – verloren den Krieg. Andere Geschichte. Ich starb Jahre später. Im Kampf gegen Hennen. Die ich versuchte, aus dem obersten Speicher der Scheune zu verscheuchen – wobei ich vom Balken fiel. Als ich erwachte, war ich tot. Ich sah ins Antlitz der Sonne. Komm ich zu dir, bin ich daheim? Fragte ich. Die Große lächelte. Ich schämte mich, den Strohtod gestorben zu sein: als Krieger! Nicht nach Walhall gekommen. Nicht zu Odin – so sein Name – und den Einherjern. Doch die große Katze lächelte. Willkommen in Folkwang, flüsterte sie. Hier ist es viel schöner. Du bist meine erste Wahl. Und – so ich zu euch – nichts sonst geht euch Sterbliche an. Weshalb es keine Überlieferung gibt von diesem Ort. Lebt euer Leben. Macht‘s gut!

 

Felzritzungen mit Runen, Sollentuna, Schweden


KAPITEL IV

Warum und wie Runen in heutiger Zeit sinnvoll anwendbar sind

GEDANKEN ZUR GEGENWART

Rund 1.500 Jahre später: Die Kämpfe und Nöte unseres Erzählers (aus dem vorigen Kapitel) sind vergessen. Mama Globus trägt über sieben Milliarden Menschen, weit mehr als je zuvor, und ein Großteil ihrer Zivilisationen lebt mit elektrischem Strom. Die wenigsten Erwachsenen haben noch Angst vor Blitzen oder verehren irgendwelche Donnergötter. Vergöttert wird vielmehr ein weltumgreifendes Magiesystem namens Geld. Selbst der eine große Gott, der keine anderen neben sich zulassen will und damit über anderthalb Jahrtausende höchst erfolgreich war, wird in den Industrienationen oft nur noch geduldet oder als zeremonieller Zierrat aufgefasst. Seine Alleinherrschaft jedenfalls ist vorbei und kehrt genauso wenig wieder wie das Zeitalter der Dampfmaschine und ihrer Vorgängerinnen, allen Dampfplauderern – auch allen Wächterräten, Sprengstoffgürtelzündern, Kalifatserköpfungsmaßnahmen sowie dem gesamten Bible Belt – zum Trotz. Der Himmel ist nicht länger sauber, aber, so weit wir sehen und schießen können, ernüchternd unbewohnt. Wir Menschen fliegen längst selbst über den Wolken. Wer sich‘s leisten kann. Die Mehrheit der Menschheit lernte lesen und schreiben – und macht davon Gebrauch. Nur mit dem Denken hapert‘s noch.

Wozu sich mit Runen beschäftigen? Sind das nicht so schreckliche Zeichen, die noch schrecklichere Nazis benutzt haben und noch immer benutzen – gehört das nicht zu deren unappetitlichen Erkennungsmerkmalen? Ja, das ist auch wichtig zu wissen. Aber die haben das nur geklaut – und obendrein keine Ahnung. Runen sind weder Ausdruck ethnischer Zugehörigkeit noch Künder vorbestimmter Schicksale. Es sind mehrschichtige Bedeutungsträger, die eine große Anzahl von Interpretations- und Anwendungsmöglichkeiten zulassen. Die germanischen Zeichensysteme stammen aus Agrar- und Nomadenkulturen, die stammesrechtlich organisiert waren – und in vielerlei Hinsicht, was ich keineswegs despektierlich meine, der Jungsteinzeit näher standen als dem Mittelalter. Als mögliche Werkzeuge sind Runen so amoralisch wie ein Satz Messer, Schraubenschlüssel oder die Kochfelder eines Elektroherdes.

Verabschieden wir uns von der Zwangsvorstellung, dass es eine ausschließliche, immer und überall zutreffende Interpretation für jede Rune – oder auch nur für ein Futhark – zu geben habe. Das einzige Runensystem ohne strittige Bedeutung, mit eindeutiger Auslegung also, ist das neuzeitliche und in keiner Hinsicht als „germanisch“ titulierbare Konstrukt des Rassisten Guido List aus dem frühen 20. Jh.: das so genannte 18er System oder „Armanen-Futhork“. Zu keinem anderen Zweck geschaffen als dem Einteilen von Menschen in wertige und unwertige Sorten, bot es esoterisch angehauchten Herrenrassen-Fanatikern so etwas wie eine göttliche Rechtfertigung ihres Wahns und entsprechenden Denkweisen einen maßgeschneiderten okkulten Überbau. Dass ausgerechnet diese Pseudorunen – in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, nach der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands – ihre größte Verbreitung fanden, ist eine traurige Tatsache, die hier zunächst nicht weiter erörtert zu werden braucht.

Germanische Runensysteme sind zwischen ein- und (fast) zweitausend Jahre alte Hinterlassenschaften untergegangener Kulturen, die kein Interesse daran hatten, ihrer Nachwelt schriftliche Erklärungen zu hinterlassen. Daher sind historische Runensysteme umstandshalber nur lückenhaft und oberflächlich entschlüsselt – und das ist gut so: Es lässt Raum für Interpretationen und Weiterentwicklungen. Was ich für sinnvoll halte, solange wir wissen (und zugeben), was wir tun und warum. Es besteht nicht die geringste Notwendigkeit, eine stimmige Anwendung von Runen damit begründen zu wollen, dass sie bereits aus der Entstehungszeit dieser Zeichen stamme oder bei irgendwelchen Kulturen, die wir heute „germanisch“ nennen, schon oder noch üblich gewesen sei. Das ist schlichtweg nicht möglich – eine solche Behauptung ist immer unseriös. Wer eine germanische Kultur leben möchte, die sich nicht in Reenactment-Übungen und Freizeitkult erschöpft, sondern rund um die Uhr und ums Jahr, mit einer gewissen spirituellen Ernsthaftigkeit, heutigen Alltagsanforderungen genügen soll und ebenso die Aufgabe hat, das eigene Leben zu bereichern und das soziale Miteinander zu erleichtern, muss sich eine solche Kultur eben schaffen: sie selbst entwickeln.

Genau dafür liefern die Runen des Älteren Futhark ein mögliches Modell.

Ohne dass ein solches bereits bei ihrer Entstehung beabsichtigt gewesen sein muss, lassen sie sich in geradezu verblüffender Weise so auslegen und anwenden. Dabei ist es wichtig, unterscheiden zu können, was sich seit der historischen Verwendung dieses Runensystems alles geändert hat und was nicht. Die Lebensverhältnisse sind längst völlig andere als damals – gleich geblieben jedoch, so will mir scheinen, sind die Menschen in ihren grundsätzlichen Bedürfnissen, Wünschen, Nöten, Befangenheiten und Möglichkeiten. Natürlich ist der Alltag in unserer hochtechnisierten und extrem komplexen Zivilisation, ihrer globalen Vernetzung zumal, nicht vergleichbar mit den Lebensanforderungen unmittelbar wetterabhängiger Kleingemeinschaften zwischen Wald und Sumpf. Die Runen bieten aber auch gar keine Anleitungen zum Bau von Langhäusern oder dem Betrieb von Ochsenkarren. Sie erzählen vielmehr etwas über soziales Zusammenleben. Ganz konkret: über den sinnvollen Verlauf projektierter Unternehmungen, über das Erkennen und Weiterentwickeln des eigenen Charakters sowie über die grundsätzlichen Bedingungen, wo und wie beides stattfindet. Alle drei Beschreibungsstränge sind einerseits sehr allgemein, andererseits aber exemplarisch genau gehalten, so dass sie sich ohne weiteres auf unsere heutigen Lebensverhältnisse übertragen lassen. Wie gesagt: Sie enthalten keine Hinweise zum Ausfüllen von Steuererklärungen, Reparieren von Kühlschränken, Pflegen von Bronzeäxten oder Wiederherstellen von Festplatteninhalten. Runenweisheit ist basal: Es geht ums Wachsen und Werden, ums Erkennen und Sinnfinden – und ums Verantworten der eigenen Taten und Unterlassungen. Das gilt im Ochsenkarren wie in Straßenbahn und Flugzeug – auf all unseren Wegen, ob asphaltiert und bereits eingefahren oder nicht. Und auch, wenn wir heute statt Messer, Ahle und Talisman eher ein Smartphone, den (hoffentlich richtigen) USB-Stick und, äh, vielleicht auch einen Talisman bei uns tragen.


KAPITEL V

Überblick über Freyrs Ætt: die acht Stationen des Entstehens, Werdens und Vollendens

DIE ERSTE ACHT: FREYRS SCHÖPFUNG


Am Anfang steht die Möglichkeit. Was vermagst du, über was verfügst du – frei und uneingeschränkt? Von nichts kommt nichts. Aber Kleinvieh macht auch Mist. Was ist dein Potential? Was setzt du davon ein und wofür? Was und wie viel brauchst du und auf welche Weise gehst du vor?


Hier, mit der Rune Fehu, beginnt dein Universum der Schöpfung. Sie entsteht aus dem, was du hineingibst in den Prozess. So war das mit dem Anfang des Weltalls, so ist das mit jedem weiteren Projekt, ob Großbauanlage, Gedankengebäude oder Bastelarbeit. Acht Stationen geben die Runen vor, hier ist die erste.

Die Urbedeutung von Fehu ist Vieh. Hausrinder waren gemeint: Tiere, die sich treiben lassen, die deinen (oder unseren) Wohlstand darstellen. Fehu kann alles bedeuten, was mit deinem Potential zu tun hat und seinen Möglichkeiten. Freyr ist einer der Großen, der die Schöpfung hütet. Er ist vermählt mit Gjerda, jener Riesin, die wir Menschen als Vegetation erkennen: Jeden Frühling legt sie sich erneut auf die Erde mit ihrem Leib, der blüht, glänzt und schillert in den erstaunlichsten Farben. Ihr Göttergatte Freyr steuert und bewacht auch die Wunder der Fortpflanzung (doch dafür gibt es eine Extrarune, die erst später dran ist). Freyr kann Dinge fast aus dem Nichts entstehen lassen – so scheint es zumindest. Er hat ein kleines Ding in seiner Tasche. Faltet er es auf, wird ein Boot daraus – und dieses Faltboot enthält die ganze Götterwelt. Er war, das vermute ich zumindest, am Urknall beteiligt: damit etwas daraus werden konnte. Sonst hätte es nur geknallt – und das wäre es dann gewesen. Wie ein Silvesterböller – schön und ah, aber sogleich vorbei. Dank Freyrs Kunst ist aber das Universum daraus entstanden, wie wir es kennen – und die Wissenschaft hat errechnet, dass der ganze Akt nur den Bruchteil einer Nanosekunde gedauert haben soll… (Jede Kultur braucht – und ersinnt – ihre Mythen). Aber Kunststück – die Zeit war ja noch jung. Vor dem Urknall hat es gar keine gegeben.


Und in dem Moment, da die Schöpfung enstand, wurde die Möglichkeit zur Materie: hat sich manifestiert. Die Rune, die das verbildlicht, ist Uruz. Ihre Urbedeutung ist Auerochs. Das war mal das größte Landtier Eurasiens: schwarz, schön, schlank und wild, riesig und kraftvoll. Uruz symbolisiert geballte (Lebens-)Kraft: die jeglicher Materie – vom nanowinzigen Nukleus, der im Schöpfungsakt (oder Urknall – auf den kommen wir gleich noch einmal zurück) zur ganzen Welt wurde (über die vorstellbare hinaus; auch wenn das allein schon die individuelle Vorstellungskraft sprengt) über jedes einzelne Ding oder Lebewesen bis hin zu dir: deinem Leib, deinem Körper, dem einzigen Zuhause deiner Seele (zumindest in diesem Leben). Und auch jeder andere Körper jedes anderen Lebewesens, ob klein oder groß, ob dick oder dünn, mit oder ohne was dran, drin, drauf – enthält diese Kraft, besteht in gewisser Weise aus ihr.


Wissenschaftlich betrachtet, mag es vielleicht die Kraft der Atome sein. Der Ur-Nukleus war wahrscheinlich kein Atom in heutigem Sinne, aber er flog auseinander, schlagartig. Konnte seine Kraft nicht mehr halten und musste sich entladen, zu ungeheurer Größe aufblähen und ausbreiten. Das ist, wofür die Rune Thurisaz steht. Ihre Urbedeutung ist Riese: im Sinne riesenhafter Naturgewalt. Sich entladendes Chaos. Dessen Resultat: die Ausbreitung von Materie. Das Chaos ist ein wichtiges Moment im Schöpfungsprozess. Denn erst die wilde Ausbreitung schafft die Voraussetzung dafür, das Verstreute und Umhergeworfene sortieren zu können, zu etwas Sinnvollem zusammenzufügen.


Das Zeichen, unter dem dies erfolgt, ist Ansuz: die Rune der göttlichen Ordnung und der Kommunikation, ja, des Geistes überhaupt. Aus unserem eigenen Leben wissen wir: Spätestens dort, wo es etwas zu sortieren gilt, müssen wir uns einigen, was wohin soll und warum. Wir müssen uns verständigen; ein Mittel, dies sogar generationenübergreifend zu tun, ist die Sprache. Sie ermöglicht uns, auch auf die Erfahrungen von Leuten zurückgreifen zu können, die nicht mehr leben. Denn Menschen erzählen weiter, was sie erfahren, was sie wissen – oder zu wissen meinen. So blieben wichtige Entdeckungen erhalten und ließen sich weiterentwickeln, verbessern und verfeinern und in einst ungeahnten Varianten einsetzen – wie zum Beispiel das Rad. Die Rune Ansuz steht für das Wunder des Bewusstseins und all seine Höhenflüge: vom richtigen Wort zur richtigen Zeit über alle Formen der Sprache, der bewussten Verständigung miteinander, bis zum Begeistern der Gemüter mit Gesang. Die Urbedeutung von Ansuz ist „Gottheit“. Vom Wortstamm geht es zurück auf „asa“, Pfahl oder Balken – auch dies passt zur Erschaffung von Struktur. Für mich ist Bewusstsein das Phänomen, das uns mit den Göttern verbindet: Von ihnen haben wir es, sie spiegeln sich in unserem – wir sind ihr Werk ebenso wie sie das unsere. (Das ist nicht die Logik des Verstandes – nur die des Herzens.)

 

Das Universum ist kein starres Gebilde, sondern in steter Bewegung. Mit der Schöpfung entstand ein weiteres Phänomen: die Zeit. Sie wird durch die Rune Raidho ausgedrückt. Deren Urbedeutung ist „Reiten“: Dabei sind alle rhythmischen Vorgänge gemeint, jedes Auf und Ab, Hin und Her, Hoch und Nieder… immer wieder, in ständiger Wiederholung. Die ganze natürliche Welt besteht aus Zyklen – großen und kleinen, gewaltigen und langsamen wie mikroskopischen und urschnellen samt aller Tempi und Dimensionen dazwischen. Nichts von uns Geschaffenes und Konstruiertes ist frei oder unabhängig davon – zumal unsere Konstruktionen eigene zyklische Verläufe bilden, schon von sich aus (ob wir das beabsichtigen, erkennen oder auch nicht): Ein Haus soll vielleicht für die Ewigkeit dastehen, wird aber früher oder später zur Ruine und deren Reste gehen irgendwann wieder in der Umgebung auf, aus der sie entstanden. Wir selber würden gerne ewig leben, altern aber alle und sterben: gehen genauso wieder auf – und entstehen aufs Neue so wie das Haus. Es ist niemals dasselbe Haus, nie wieder dasselbe Individuum. Auch für dieses Phänomen gibt es eine Rune – zu der kommen wir gleich. Vorher soll noch eine andere wichtige thematisiert werden!


Kenaz – die Fackel. Mit ihr gestalten wir die Welt, verändern unsere Umgebung. Dazu braucht es Kompetenzen. Die Rune repräsentiert das Können – vom spielerischen Basteln und Ausprobieren über alle Arten handwerklicher Fertigkeiten und deren Spezialisierung bis hin zum Erschaffen jener Werke, deren Ziel und Wirkung vollständig losgelöst ist von jedem augenscheinlichen praktischen Nutzen: Kunst. Jeder echte Schaffensdrang ist mit Leidenschaft verbunden und so lässt sich die erotische (gleich welcher Neigung und Ausrichtung) getrost mit dazuzählen. Gestalterische Obsessionen und sexuelle Sehnsüchte nähren sich aus ein- und demselben Feuer (eine Erkenntnis, für die es der Rune nicht bedürfte – aber sie bestätigt sie… und lässt erahnen, dass manche heutigen Weisheiten schon früher einmal bekannt und in der Welt gewesen sein müssen…). Die Kräfte hinter dieser Rune sind, wie ich es erlebe, Freyja und die Zwerge: die Große für die größte Macht der Welt, die Kleinen für die größten Geschicklichkeiten. Kunst schafft – so oder so – immer eine Abbildung ihrer Umgebung und so lässt sich auch die nächste Rune in gewisser Weise als das Ergebnis einer Kenaz-Rune sehen, die sich selbst gespiegelt hat.


Gebo repräsentiert die vollendete Harmonie – astrophysikalisch gesehen den Energieerhaltungssatz (die Energiesumme im Universum bleibt immer gleich) – und aus magischer Sicht dein persönliches Talent, deine Gaben (es können mehr als eine sein). Mindestens eine hat jedes Geschöpf von Geburt an, es ist das persönliche Göttergeschenk: der Schatz, den wir im Laufe unseres Lebens bergen sollten. Natürlich besser früher als später – aber besser spät als nie. Die persönliche Gabe ist das, was uns einzigartig macht als Individuen: viel mehr und bedeutsamer als die Form der Nase oder andere Äußerlichkeiten. Die Gabe ist das, wofür wir jeweils geboren wurden und unterscheidet sich meistens beträchtlich von allem, was wir uns beibringen ließen, wofür wir angeblich geboren seien. Das erschwert die Lage, aber ändert nichts am Umstand: Es gilt, die eigene Gabe zu finden, anzuerkennen – und einzuüben. Talent allein ist nämlich keine Fähigkeit oder gar Leistung, sowenig ein Blatt Papier und ein Bleistift ein Gedicht sind, eine Ackerfurche eine Mahlzeit wäre oder eine anmutig geratene Menschengestalt bereits allein wegen ihrer Ansehnlichkeit ein Auto reparieren, eine Theaterrolle verkörpern oder in Rekordzeit eine Strecke im Wasser zurücklegen könnte. Das alles muss gegebenenfalls gelernt werden – und hat mit den Äußerlichkeiten der Person nicht nennenswert zu tun. Die Rune Gebo markiert auch die Vollendung des Schöpfungsaktes – die Übergabe des Werkstücks, ließe sich sagen: den Moment, in dem es so weit fertiggestellt ist, dass es, so wie es geriet und entstand, nicht mehr verbessert werden kann.


Doch es bedarf noch einer weiteren Kraft, den Akt wirklich abzuschließen, seine Vollendung gewissermaßen zu krönen. Dies geschieht durch die Freude, ausgedrückt durch die Rune Wunjo. Sie repräsentiert die Verbundenheit: sowohl mit dem Geschaffenen als auch der daran Beteiligten untereinander. Freude, Wonne, Glück, Verbundenheit: Das ist das Ziel des ganzen – ja: jeden – Schöpfungsprozesses!