Depression und Burn-out überwinden

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Foto Franziska Bauß

Themenkreis 1: Die Krise ist da
Der erste Schritt

Zum Verständnis:

Es gibt ein einfaches Grundprinzip: Alles, was wir annehmen, kann sich wandeln. Alles, was wir zu vermeiden versuchen, nicht wahrhaben wollen oder wogegen wir ankämpfen, bleibt so, wie es ist, oder verstärkt sich. Vor allem aber: Für unser Gehirn ist das sehr anstrengend und macht nur zusätzlichen Stress. Diese Einschätzung mag Ihnen vielleicht absurd vorkommen oder nach Fatalismus klingen. Dem ist nicht so. Annahme heißt, den derzeitigen Zustand voll und ganz anzunehmen. So verrückt es für Sie klingen mag:

Lassen Sie innerlich los, indem Sie die Schultern locker lassen und ausatmen. Gestehen Sie sich ein: „Ja, ich bin gerade in einer Krise. Ich weiß weder ein noch aus und ich brauche Unterstützung.“ Damit hört der Kampf auf und in Ihrem Innern kommt etwas zur Ruhe. Das ist der erste Schritt auf Ihrem Heilungsweg.

Es ist geradezu eine paradoxe Intention, die Depression mit all ihren Begleiterscheinungen wie Verzagtheit, Angst und innerer Leere willkommen zu heißen im Sinne einer wichtigen Information, die Ihnen etwas sagen und von Ihnen ganz persönlich verstanden werden möchte.

Warum wehren wir uns dann so vehement gegen diesen Zustand? Nun, Annehmen ist nicht so einfach. Krank sein will kaum jemand. Jeder Mensch kämpft erst einmal dagegen an, sich schlecht zu fühlen oder gar krank zu sein, selbst wenn es nur eine Grippe ist. Erst recht kämpfen wir, solange es geht, gegen Stimmungstiefs oder Schwächezustände an. Sie stören das eigene Selbstbild, insbesondere, wenn wir gelernt haben, immer zu funktionieren und uns stark zu zeigen. Vielleicht sind Sie außerdem seit Jahren an Gefühle des Unwohlseins und innere Spannungszustände gewöhnt. Gestresst, unglücklich und überanstrengt zu sein gehört für Sie vielleicht zum normalen Lebensgefühl. Auch deshalb fällt es schwer, sich auf einmal als schonungsbedürftig zu bezeichnen und die Krankheit anzunehmen.

Immerhin ist es ein gutes Zeichen unseres Menschseins, dass wir so lange wie möglich hoffen, es würde uns von alleine bald wieder besser gehen. Hinzu kommt, dass die Depression eine Diagnose ist, die in unserer Gesellschaft immer noch mit Scham besetzt ist. Viel „besser“ ist es, einen Herzinfarkt zu bekommen. Die Gesellschaft honoriert diese Diagnose sehr viel eher. Würde man den Herzinfarkt als „die Krankheit des gebrochenen Herzens“ bezeichnen, so hätte dies einen deutlichen Imagewechsel zur Folge. Ich halte deshalb das Eingeständnis, seelische Probleme zu haben und Hilfe zu suchen, für einen sehr mutigen Schritt, mit dem der Heilungsprozess beginnt. Indem wir wenigstens für einen Moment die unangenehmen Symptome willkommen heißen und sie genau ansehen, geben wir unserer Seele die so notwendige Entlastung. Der Kampf hört auf und der seelische Stresspegel wird sofort „heruntergedimmt“.

Ich erinnere mich an eine Frau, die seit Jahren gewohnt war, ihr Grundgefühl von Überforderung, das schon als Kind sehr ausgeprägt war, tapfer „wegzudrücken“. Ihre innere Leere und viele Körpersymptome signalisierten jedoch den starken seelischen Schmerz und sie hatte große Angst davor, dies zuzugeben. „Nein, das muss man unterdrücken!“, war ihre Überzeugung, die sie mit heftigem Kopfschütteln bekräftigte. Als ich ihr die Angst vor der „Kapitulation“ nahm und sie zu diesem überwältigenden Gefühl von Überforderung, Ohnmacht und Selbstabwertung stehen konnte, entspannte sich ihr ganzer Körper: „Jetzt, wo ich es zulasse und Ihnen glauben kann, dass das nicht gefährlich ist, geht es mir besser“, bemerkte sie.

Menschen, die in eine Krise geraten sind, äußern sich oft sehr widersprüchlich: Auf der einen Seite sind sie ganz froh, sich endlich eingestehen zu dürfen, dass es so nicht weitergeht, doch andererseits macht die Erkenntnis, krank zu sein, ihnen Angst. Da fallen Bemerkungen wie diese: „Es fühlt sich eigentlich an wie eine Erlösung, dass ich morgen nicht wieder vor all diesen Aufgaben stehe, aber ich kann doch jetzt nicht einfach nur noch meinen Bedürfnissen nachgehen.“ Außerdem fragen sich die meisten: „ Wann bin ich wieder gesund?“ Es gibt zwar unter Psychiatern den gängigen Spruch: „Jede Depression ist irgendwann vorbei!“ Doch diese Aussage ist für die Betroffenen wenig tröstlich.

Annahme ist bei jeder Krankheit ein wichtiger Heilungsfaktor, doch mehr noch als bei körperlichen Krankheiten ist für die Heilung seelischer Beeinträchtigungen die Selbstannahme eine unabdingbare Voraussetzung.

Der Stress wird nämlich dadurch erhöht, dass die Betroffenen viel Energie darauf verwenden, sich „zusammenzureißen“ und gegen Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und innere Spannungen anzukämpfen. Durch Annehmen verringert sich dieser Stress automatisch und die Neurotransmitter im Gehirn kommen wieder in die Balance. Damit beginnt ein äußerst wichtiger psychischer Prozess.

Die Krankheit anzunehmen ist in gewisser Weise eine „Kapitulation“. Zu kapitulieren beinhaltet den Mut, zuzugeben, dass Sie Ihr Leben gerade nicht mehr im Griff haben und Hilfe brauchen. Viele Betroffene haben mir nach ihrer Genesung berichtet, dass die wirkliche Kapitulation vor den eigenen Problemen ein erlösender Moment gewesen sei, an dem ihre Heilung begonnen habe. Warum ist das so und was geschieht da in unserem Inneren?

In dem Moment, in dem wir den Dingen ins Auge sehen und sagen: „Ja, so ist es gerade mit mir“, hört das Kämpfen auf. Die Seele entspannt sich. Der Atem wird ruhiger, die Spannung in den Muskeln lässt deutlich nach und die Ausschüttung von Stresshormonen nimmt ab. Unser Gehirn kann sich erholen, da es nicht mehr ausschließlich mit Verdrängung beschäftigt ist. Verdrängen kostet viel Energie und aktiviert das innere Notfallprogramm. Um diese Energie aufzubringen, benötigen wir viele zusätzliche Vitamine und Mineralien, die aber dem Körper, insbesondere dem Nervensystem, nicht zur Verfügung stehen. Dieser Mangel destabilisiert die Psyche.

Die Kapitulation ist wie der Ausstieg aus dem Hamsterrad. Es entsteht ein neuer Blickwinkel. Statt immer nur danach zu schauen, was man können müsste oder was andere von einem erwarten, kann die ganze Energie auf die Analyse des derzeitigen Lebens und die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse verwendet werden. Genau das ist die Voraussetzung für den Heilungsprozess. Je bewusster Sie diesen Schritt tun, desto schneller kommt das gesamte System zur Ruhe. Mit der folgenden Übung können Sie die Selbstannahme bekräftigen.

Meine Empfehlung:

Begeben Sie sich an einen Ort, an dem Sie ungestört sind, oder kommen Sie gerade da, wo Sie sind, einmal ganz zu sich: Spüren Sie ganz konkret den Boden unter Ihren Füßen und den Kontakt Ihres Körpers mit der Unterlage, dem Stuhl, dem Sessel. Legen Sie Ihre Hände überkreuz auf Ihren Brustkorb oder umfassen Sie Ihre beiden Schultern. Lassen Sie Ihr Kinn locker auf das Brustbein sinken und sagen Sie sich innerlich in etwa Folgendes:

•Ja, im Moment ist es so, aber das muss nicht so bleiben.

•Ja, im Moment habe ich Probleme, und trotzdem bin ich gut so, wie ich bin.

•Ja, es ist bitter, dass ich im Moment nicht so viel kann, aber ich mag mich so, wie ich bin.

Auch wenn Sie diese Sätze für unsinnig halten, sie wirken trotzdem entlastend! Bleiben Sie einen Moment bei der Wahrnehmung von sich selbst und wiederholen Sie immer wieder den Satz, in dem Sie alles, was ist, annehmen und im Anschluss noch eine positive Aussage hinzufügen. Haben Sie keine Angst, die negativen Symptome, ja, sogar Angst und Ärger zu benennen. Auch wenn Sie sich den positiven Satz nicht glauben, sprechen Sie ihn aus! Indem Sie der belastenden oder negativen Aussage eine positive hinzufügen, relativiert sich der negative Denkansatz in Ihrem Gehirn automatisch. Das wirkt beruhigend. Dabei werden Kräfte frei, sodass Sie sich mit den nächsten Schritten des Heilungsprozesses beschäftigen können.

In diesem Buch werden Sie viele Strategien kennenlernen, wie Sie das eigene Denken positiv beeinflussen können. Das Annehmen dessen, was jetzt gerade ist, ist schon mal ein guter Anfang! Seien Sie so verrückt, zu glauben, dass es jetzt und hier, für Sie ganz persönlich, gut weitergeht, nach dem Motto: „Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“

Für existenzielle Sicherheit und Stabilität sorgen

Zum Verständnis:

Die Depression ist eine Phase im Leben, deren Heilung mehr erfordert als die Einnahme von Tabletten. Insbesondere brauchen Betroffene in ihrer Umgebung Sicherheit und Halt, um mit dieser Lebenssituation und den damit verbundenen existenziellen Ängsten umgehen zu können. Ich möchte im Folgenden einige rein organisatorische und praktische Punkte nennen, die zu bedenken sind.

Nehmen wir an, Sie haben das Gefühl, an einer manifesten Depression oder an einem Zustand des Ausgebranntseins zu leiden. Sie sind zurzeit äußerst empfindlich, unruhig und verletzlich. Ihr limbisches System ist aus irgendeinem Grund in ständiger Alarmbereitschaft. Ihre Neurotransmitter, die für gute Laune, Motivation, Frustrationstoleranz und Offenheit sorgen, verbrauchen sich viel zu schnell und Ihr vegetatives System ist aus der Balance geraten.

Auch wenn Sie sich so überhaupt nicht kennen – im Moment fühlen Sie sich depressiv, ängstlich oder unangenehm erregt. Sie leiden unter Stimmungsschwankungen, sind erschöpft oder apathisch und bringen nur wenig zustande. Zurzeit mahnt Ihr gesamtes System, dass es Halt und Schutz braucht. Für einen Depressiven heißt das: gute Rahmenbedingungen, aber auch die Unterstützung von Experten, die helfen, sich zu orientieren und systematische Heilungsschritte einzuleiten. Worauf kommt es an?

 

Falls Sie sich nicht sicher sind, ob es sich bei Ihrem Zustand um die Folgen einer körperlichen Krankheit handelt, lassen Sie dies von einem Arzt Ihres Vertrauens abklären, denn oftmals haben Krankheiten auf der Körperebene auch psychische Symptome zur Folge. Die Frage ist, ob es sich nur um ein momentanes Stimmungstief oder um eine tiefgehende seelische Störung handelt. Wenn Sie nach einem Arzt oder Therapeuten suchen, achten Sie darauf, dass die „Chemie“ stimmt und Sie sich im Kontakt bestärkt und aufgebaut fühlen. Gemeinsam mit dem Therapeuten Ihres Vertrauens überlegen Sie, welche Schritte in der aktuellen Situation heilungsfördernd sind. Zunächst geht es um die Sicherung Ihrer Existenz.

Die Frage ist, ob es ausreicht, dass Sie gegenwärtig nur etwas besser auf sich achten und sich ein wenig schonen. Oder ist eine zeitweilige Krankschreibung oder Beurlaubung nötig? Dadurch bekommen Sie ein Zeitfenster, um sich über Ihren derzeitigen Gesundheitszustand klar zu werden. Falls Sie selbstständig sind und für den Fall, dass Sie länger krank sein sollten, ist die wichtigste Frage: Wie kann ich meine Existenz absichern? Sie brauchen jetzt vor allem genügend Freiraum ohne Belastung. Außerdem brauchen Sie Menschen, die Ihnen den Rücken freihalten und Sie aktiv unterstützen. Diese Tatsache wird oft unterschätzt und ist doch so wichtig, um sich endlich der eigenen Gesundheit widmen zu können.

Gemeinsam mit einem erfahrenen Therapeuten können Sie die Frage klären, welches Ausmaß Ihre Krankheit hat. Handelt es sich nur um ein leichtes Stimmungstief, das sich durch ein paar Tage Ruhe überwinden lässt? Ist es ein Überarbeitungszustand, ein Burn-out oder eine leichte bis mittelschwere Depression, in der Sie bei (zeitweiliger) therapeutischer Begleitung weiter zur Arbeit gehen können? Oder handelt es sich um einen tiefen krisenhaften Einbruch, der die Grundfesten Ihrer Persönlichkeit ins Wanken gebracht hat? Manchmal braucht man etwas Zeit, um genau herauszubekommen, welches Ausmaß der Krankheitszustand hat. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein paar in kurzen Abständen geführte Gespräche oft schon helfen, dies zu klären. Dann ist Zeit, um die Ursachen kontinuierlich aufzuarbeiten und gezielte Selbsthilfestrategien anzuwenden. Dazu später.

Weiterhin ist zu überlegen, ob ein Klinikaufenthalt sinnvoll ist. Falls Sie zum Beispiel zurzeit gar nicht imstande sind, Ihren Alltag zu regeln, nur noch in Panik sind, keinen Schlaf mehr finden und nicht mehr alleine zu Hause zurechtkommen, kann es sein, dass der Aufenthalt in einer psychiatrischen Akutklinik Ihnen erst einmal einen geschützten Raum bietet, in dem Sie zur Ruhe kommen können. Vielleicht reicht auch eine ambulante Begleitung durch die Krise aus, um Sie zu stabilisieren. Währenddessen kann zum Beispiel auch der Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik vorbereitet werden.

Eine weitere Frage ist, ob Sie Medikamente benötigen oder ob eine therapeutische Begleitung (mit oder ohne Krankschreibung) ausreicht.

Was Sie aber vor allem brauchen, und zwar noch viel dringender als Medikamente, das ist ein unterstützendes Netzwerk von Menschen, die Ihnen zur Seite stehen. Zu einem solchen unterstützenden Netzwerk gehören vor allem vertraute Freunde und Verwandte. Manchmal reicht schon eine Person, zu der Sie Vertrauen haben. Umgeben Sie sich jetzt mit Menschen, die eine ruhige, gelassene Ausstrahlung haben und die Sie nicht noch durch ihre eigenen Ängste und Sorgen verunsichern. Sie brauchen Menschen, in deren Gegenwart Sie sich nicht verstellen müssen, die aber auch selbst Grenzen setzen können und sich nicht von allen Ihren Stimmungen an-stecken lassen. Ich werde dieses Thema noch in einem eigenen Kapitel ansprechen.

Auch Selbsthilfegruppen und unterstützende Institutionen können Hilfestellung geben, zumindest aber das Gefühl vermitteln: Du bist nicht allein! Und das ist schon eine ganze Menge. In jeder Stadt kann man beim Gesundheitsamt Adressen von Anlaufstellen erfahren, die bei seelischen Problemen Unterstützung bieten. Auch im Internetforum der Deutschen DepressionsLiga kann man Orientierung erhalten. Scheuen Sie sich nicht vor einem Anruf bei der Telefonseelsorge, auch dort kann man Ihnen Anlaufstellen nennen. Die Hauptsache ist, Sie treten mit jemandem in Kontakt und bleiben nicht allein mit Ihren Problemen. Aus dem ersten Schritt entsteht der nächste.

Hilfe anzunehmen und zu signalisieren, dass Sie jetzt Hilfe brauchen, ist ein wesentlicher Heilungsschritt, insbesondere für Menschen, die es gewohnt sind, in ihrem Leben alles alleine zu bewältigen. Im nächsten Kapitel werde ich näher beschreiben, welche weiteren grundsätzlichen Schritte zu Ihrer Heilung beitragen.

Meine Empfehlung:

Nehmen Sie sich ein Blatt Papier (quer gelegt) und schreiben Sie alles auf, was Ihnen einfällt zu der Frage: Wer oder was kann mich im Moment unterstützen? – Fragen Sie sich: Wer hat mir bisher schon einmal zur Seite gestanden und welche Anlaufstellen gibt es in meiner Nähe (Hausarzt, Psychologe, Pfarrer, Heilpraktiker, Physiotherapeut, Freunde, Verwandte, Selbsthilfenetzwerke)? Kenne ich jemanden, der auch schon einmal eine Krise durchlebt hat und seine Erfahrung mit mir teilen kann?

Was sind die nächsten praktischen Schritte für mich (Krankschreibung, Gespräch mit dem Arbeitgeber wegen einer Entlastung bei der Arbeit, Klinikaufenthalt, Kontakt mit dem Kostenträger wegen spezieller Fragen wie Therapeutenliste, Recherche im Internet nach geeigneten Institutionen, Selbsthilfegruppen; Ordnen von Unerledigtem). Notieren Sie alles ganz konkret mit Telefonnummer, Adresse, Zeiten der Erreichbarkeit. Etwas zu tun macht Sie tatkräftig!

Stellen Sie Ihre Versorgung sicher, zur Not mit Unterstützung durch einen Menschen Ihres Vertrauens. Dokumentieren Sie Ihre Erkenntnisse mit kurzen Worten in einem Heft. Auf diese Weise können Sie Ihren Heilungsprozess ab sofort mit allen kleinen Fortschritten gut nachvollziehen. Sie nehmen dadurch mehr eine Beobachterrolle ein und werden Ihr eigener Experte. Dies fördert Ihren Heilungsprozess.

Schnelle Entlastung – das Prinzip Hoffnung

Zum Verständnis:

Eine Depression, auch wenn sie schon lange besteht, stellt für die Betroffenen eine akute Notlage dar. Hoffnungslosigkeit ist ein Faktor, der die Depression von einer vorübergehenden Niedergeschlagenheit unterscheidet. Gerade weil der Heilungsprozess viel Zeit und Geduld braucht, sind schnelle Entlastung und Unterstützung mit der Aussicht auf Besserung sehr wichtig. Menschen im Stimmungstief verlieren durch das depressive Denken sehr schnell die Hoffnung. Doch gerade Hoffnung ist der seidene Faden, an dem das Leben eines schwer depressiven Menschen hängt. Ähnlich wie bei einem Schlaganfall oder einer schweren körperlichen Erkrankung kann man hier nicht einfach abwarten. Deshalb: Gestehen Sie sich zu, dass Sie akut und schnell kompetente Hilfe benötigen.

Wie bereits beschrieben besteht im Gehirn ein hochgradiger Alarmzustand. Je schneller hier eine gewisse Beruhigung eintritt, desto besser erholt sich Ihr System und desto gezielter können Sie an Ihrer Gesundung arbeiten. Man muss dazu nicht gleich alle Probleme gelöst haben. Indem Ihr gesamtes System „merkt“, dass jetzt etwas Heilsames geschieht, stabilisiert es sich. Das gibt Hoffnung. Depressivität beeinträchtigt nach der chinesischen Medizin immer auch die Schilddrüsenfunktion (Dreifacher-Erwärmer-Meridian) und den gesamten Energiehaushalt und muss ernstgenommen werden.

Das Prinzip einer ganzheitlichen Betrachtung ist, die aktuell schlimmsten Stressfaktoren zu erkennen und zu beseitigen. Die Frage ist also: Was trägt zu einer spürbaren Besserung Ihres jetzigen Zustands bei und gibt Ihnen eine Perspektive?

Wenn jemand wegen einer Depression zu mir kommt, stelle ich erst einmal ein paar Orientierungsfragen: Wie stabil sind Sie im Moment? Können Sie schlafen? Wie groß ist Ihre Erschöpfung? Kommen Sie zu Hause alleine zurecht? Leiden Sie an schwer zu ertragenden Panikzuständen? Haben Sie Appetit und können Sie sich selbst gut mit Essen und Trinken versorgen? All diese Fragen sind wichtig, denn in einem psychischen und seelischen Ausnahmezustand haben Sie keinen Zugang zu Ihren inneren Ressourcen, aus denen Sie normalerweise Kraft schöpfen. Zunächst muss also die größte Not gelindert werden, damit sich Ihre Neurobiologie und Ihr Stoffwechselsystem normalisieren. Ihr Ernährungs- und Ihr Kräftezustand sind ebenfalls wichtige Voraussetzungen, um sich überhaupt mit den dahinterliegenden Problemen beschäftigen zu können.

Wer zum Beispiel gar nicht mehr schläft, braucht übergangsweise ein leichtes Schlafmittel oder ein Antidepressivum, um wieder zur Ruhe zu kommen. Denn ohne Schlaf kann Ihr Zustand sich massiv destabilisieren. Oft tritt jedoch nach einem klärenden Gespräch, in dem die Betroffenen sich verstanden und endlich nicht mehr alleingelassen fühlen, eine Beruhigung ein. Der Schlaf kommt dann von selbst wieder in die Balance. Eine medikamentöse Unterstützung in Form von antidepressiv oder beruhigend wirkenden Medikamenten ist dann nötig, wenn jemand unter schwerster Niedergeschlagenheit, einer schweren Schlaflosigkeit oder unter hochgradiger Unruhe und Dauerpanik leidet und nicht mehr zur Ruhe kommt. Welche Medikamente sinnvoll sind, sollten Sie zusammen mit einem Psychiater Ihres Vertrauens entscheiden.

Ein Wort zur Gabe von Antidepressiva: Man sollte sie niemals leichtfertig oder routinemäßig bei jeglicher Form von Depression geben. Tatsächlich wirken Antidepressiva nur bei 30 Prozent der Betroffenen. Antidepressiva haben zwar auch Nebenwirkungen, aber sie machen immerhin nicht süchtig. Man kann ihre Einnahme sehr gut „ausschleichen“, wenn sie nicht mehr benötigt werden. Antidepressiva können für eine gewisse Zeit sehr segensreich sein. Manchmal reichen sogar ein bis zwei Tropfen eines Antidepressivums wie zum Beispiel Amitriptylin – das so normalerweise als unterdosiert gelten würde –, um eine Stressspirale kurzfristig zu durchbrechen. Manchmal wirken pflanzliche Mittel mit Melisse, Baldrian, Hopfen, Passionsblume schon beruhigend und stabilisierend. Johanniskrautpräparate haben eine gemütsaufhellende und nachweislich antidepressive, aber nicht schlaffördernde Wirkung. Sie sind – abgesehen von einer gewissen Lichtempfindlichkeit, die sie verursachen – sehr gut verträglich.

Warnen möchte ich vor Tranquilizern wie Diazepam-Abkömmlingen. Solche Medikamente sind in Ausnahmezuständen angebracht. Sie gehören in Expertenhände, da sie ein verheerendes Suchtpotenzial haben, das leider auch von Ärzten noch immer unterschätzt wird. Dabei ist die Dosierung nicht entscheidend, denn auch in niedriger Dosierung ist die Suchtgefahr groß. Diese Mittel helfen schnell. Sie vermitteln aber eine trügerische Selbstsicherheit, die auf längere Sicht eher schadet, als dass sie nützt. Wer den schwierigen Entzug von Tranquilizern einmal miterlebt hat, weiß, wie quälend das Absetzen dieser Mittel für die Betroffenen ist.

Ich empfehle vielfach ein gutes Vitaminpräparat mit Mineralien und allen Vitaminen, insbesondere der B-Gruppe, um das Nervensystem zu stabilisieren. Auch homöopathische Mittel sowie Bach-Blütenessenzen können sehr hilfreich sein. Zur Unterstützung der Schilddrüse erfahren Sie mehr im Kapitel über den Umgang mit Körpersymptomen. Im Kapitel „Nervennahrung und Stärkungsmittel für die Seele“ habe ich verschiedene Stärkungsmittel angesprochen, die dazu beitragen, Ihren seelischen Stresszustand deutlich zu mildern.

Auch ist eine regelmäßige und ausgewogene Ernährung für die Betroffenen wichtig. Schwerer Appetitmangel kann zu Entkräftung führen und schwächt das Nervensystem zusätzlich. Oft kann man mit der Gabe von Vitaminen, insbesondere der B- Gruppe, Mineralien und kleinen gesunden Köstlichkeiten den Appetit wieder anregen. In einem späteren Kapitel werde ich Genaueres dazu berichten.

Ein wichtiger Stressfaktor ist, dass manchen Menschen der Tagesrhythmus völlig aus den Fugen geraten ist. Dann muss das Augenmerk besonders darauf gerichtet sein, wieder einen sinnvollen Ablauf und eine haltgebende Struktur in den Tag zu bekommen. Auch dazu weiter unten.

 

In der Depression ist der Mensch hauptsächlich mit Grübeln und Katastrophenfantasien beschäftigt. Das Denken ist dumpf, voller negativer Gedankenschleifen, und oft breitet sich eine bedrohliche Willen- und Gefühllosigkeit aus. Das normale Empfinden von Ganzheit, insbesondere das Körpergefühl, ist mehr oder weniger abhandengekommen. Daher braucht es ganz konkret „Standfestigkeit“ im Hier und Jetzt. Deshalb: Alles, was im Moment Ihr Körpergefühl und Ihr Gefühl für sich selbst verbessert, wirkt normalisierend auf Ihre Emotionen und Ihr Denken. Ich werde auf wohltuende Maßnahmen für das körperliche Wohl später genauer eingehen. Die Aufarbeitung von Problemen und Konflikten gilt es im Auge zu behalten, aber sie hat in der Regel Zeit. Allein die Erkenntnis: „Ja, meine Psyche und mein Körper haben einen guten Grund, warum sie sich im Moment so schlecht fühlen“, hilft, sich nicht für verrückt zu erklären. Insbesondere benötigen die Betroffenen Ruhe und Entspannung. Da Ruhe für viele jedoch am Anfang schwer auszuhalten ist, begnügen wir uns erst einmal damit, den Rhythmus zu verlangsamen. Wie kommt man in einen langsameren, harmonischeren Takt? Zunächst nur so viel:

Vereinfachen Sie Ihren Tagesrhythmus. Vermeiden Sie jede Hektik. Sagen Sie Unternehmungen ab, die sich nicht gut anfühlen: lästige Besuche, reine Pflichtveranstaltungen, Sondereinsätze und unnötige Aktionen. Beschränken Sie sich auf die elementaren Dinge Ihres Lebens wie das leibliche Wohl, Essen und Trinken, genug Schlaf, frische Luft und den harmonischen Wechsel zwischen Ausruhen und Beschäftigtsein.

Widmen Sie Ihrem Körper besondere Aufmerksamkeit und Pflege. Gewöhnen Sie sich an, sich täglich viel in der Natur aufzuhalten. Den Wind auf der Haut zu spüren, die frische Luft zu riechen, natürliche Geräusche zu hören, all das bringt Sie auch wieder mit Ihrer eigenen Natur in Kontakt. Gehen Sie viel zu Fuß. Berühren Sie bewusst die Erde. Falls Sie das nicht absurd finden, setzen Sie sich immer wieder mal unter einen großen Baum und spüren Sie seinen Stamm in Ihrem Rücken. Das beruhigt. Gehen Sie, sofern es die Temperaturen zulassen, immer mal barfuß. Durch das Berühren der Erde und rhythmisches Gehen kommen Sie wieder in Kontakt mit sich selbst. Sie tanken neue Energie. Ihr Kopf wird freier und die Emotionen beruhigen sich.

Falls Sie nicht allein sein können, bitten Sie eine Person Ihres Vertrauens, vorübergehend bei Ihnen zu sein. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Wohnung oder Ihr Haus Ihnen einen sicheren, ruhigen Ort bieten, an dem Sie sich wohlfühlen.

Aufräumen und Sortieren sind gute Tätigkeiten, um sich auch innerlich zu sortieren. Falls Sie im Rückstand sind mit wichtigen Dingen, die es zu erledigen gilt, lassen Sie sich von jemandem unterstützen, denn der zusätzliche Druck von schlechtem Gewissen oder Angst vor Versäumnissen bringt nur zusätzlichen Stress. Beginnen Sie mit Dingen, die für Sie im Moment am dringendsten sind. Alles andere lassen Sie so, wie es ist.

Manchmal reichen schon kleine Maßnahmen, um Ihnen eine Last von den Schultern zu nehmen. Manchmal sind jedoch auch bestimmte grundsätzliche Entscheidungen erforderlich, zum Beispiel die, eine Unterstützung für den Haushalt zu finden.

Ich erinnere mich an eine Frau, die durch den Verlust von Familienangehörigen in einen schweren Depressionszustand geraten war und kaum noch schlafen konnte. Sie hatte einen kranken Hund, der mit seinem schmerzbedingten Jaulen seit Jahren die gesamte Familie terrorisierte. Alle waren mit ihren Nerven am Ende und die Familie drohte an diesem Tier zu zerbrechen. Schon der Tierarzt hatte seit Monaten dazu geraten, den Hund von seiner Pein zu erlösen. Die Frau war aus nachvollziehbaren Gewissensgründen nicht in der Lage, sich dazu zu entschließen. Sie überschätzte aber auch ihre Fähigkeit, diesen quälenden Zustand weiter zu ertragen. Mit Unterstützung fand die Familie ein gutes Ritual, um sich von dem Tier zu verabschieden. Als im Haus erstmals seit Jahren Ruhe eingekehrt war, konnte die Frau sich langsam erholen und Schritt für Schritt ihre Probleme lösen. Manchmal zwingt uns die Erkrankung auch zu schweren Entscheidungen, die jedoch einen wichtigen Heilungsschritt einleiten.

Vor allem aber bringt der Entschluss, sich jetzt alle Zeit der Welt zu geben und sich selbst völlig in den Mittelpunkt des eigenen Lebens zu stellen, fast so etwas wie ein inneres Aufatmen. Hadern Sie nicht mit ihrer Situation. Sie können nichts dafür. Geduld fördert Ihren schrittweise vorangehenden Heilungsprozess. Vertrauen Sie darauf: In einem Halt gebenden Ambiente mit klaren Strukturen werden auch Sie wieder gesund!

Meine Empfehlung:

Stellen Sie sich folgende Fragen:

•Wie ist mein Schlaf?

•Wie steht es mit meiner alltäglichen Versorgung?

•Bin ich emotional stabil genug? Komme ich alleine zurecht?

•Fühle ich mich zu Hause sicher und geborgen?

•Gibt es dringende Entscheidungen, Erledigungen oder drohen Versäumnisse (Krankmeldung, Rechnungen, Geldangelegenheiten)?

•Habe ich in meiner Situation Verbündete, die mir Halt und Hoffnung geben?

Und dann sorgen Sie dafür, dass Sie den Rücken freibekommen und sich Unterstützung holen. Tun Sie es jetzt gleich! Etwas ist immer möglich, und wenn es nur die Notiz auf einem Zettel ist.