Der Mensch – zu schlau zum Überleben

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Die Forschung zu Ernährung hat aber in den letzten Jahrzehnten auch weitere Fortschritte in den Erkenntnissen unseres Stoffwechsels erbracht, die dem Leser hier nicht vorenthalten werden sollen. Wenn ein Mangel an Vitaminen, Aminosäuren oder Fettsäuren eine bestimmte Erkrankung oder einen Symptomkomplex verursachen kann, wie steht es um Mineralien? Dazu einige wichtige Grundlagen:
Mineralien finden sich ausschließlich in der Erdkruste. Weder Pflanzen noch Tiere oder Menschen können sie herstellen. Wir sind also als Lebewesen auf dieser Erde darauf angewiesen, dass die Pflanzen Mineralien aus der Erde aufnehmen und uns diese zur Verstoffwechselung zur Verfügung stellen, indem wir sie essen. Das ist der Weg des Lebens und kann nicht geändert werden. Sie können nicht Calcium-Gestein essen und glauben, dass das Ihren Knochen stärkt. Genauso wenig wird anorganisches Eisen Ihren Blutwerten helfen. Dass es Mineralien gibt und sie eine Rolle in unserer Gesundheit spielen, ist ebenfalls seit etwa 100 Jahren bekannt. 1912 beobachtete ein Prof. Wasserman aus Berlin, dass Tumore in Mäusen durch eine Injektion von Selen verschwanden. Da die Tumore in Mäusen und Menschen eine hohe Ähnlichkeit haben, versprach sich Prof. Wasserman einen enormen Nutzen in der Bekämpfung von Krebserkrankungen beim Menschen durch Selen.14 2002/2003 wurde sogar ein Gerichtsprozess gegen die FDA (Federal Drug Administration in den USA) verhandelt, aufgrund der Aussage, dass Selen die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einiger Krebsarten reduziert (wurde gewonnen). In der Zeitschrift „The Lancet“ erschien 2000 eine Studie, die die Wichtigkeit von Selen unterstrich. Selen sei von essenzieller Bedeutung für die menschliche Gesundheit (6). Es reduziert antioxidativen Stress, schützt bei HIV-positiven Menschen die Progression zu AIDS, fördert die Mobilität von Spermien und scheint die Wahrscheinlichkeit einer Fehlgeburt zu vermindern. Ein Mangel wurde mit Stimmungsschwankungen in Zusammenhang gebracht, genau wie mit Herzkreislauferkrankungen.
14 Dr. Sigmund Fränkel: Die Arzneimittel-Synthese, Auf Grundlage der Beziehungen zwischen chemischem Aufbau und Wirkung; Für Ärzte, Chemiker und Pharmazeuten, Springer Verlag 2013
Grundsätzlich sind Mineralien notwendig und dienen unter anderem als Cofaktoren für die ca. 10.000 Enzyme im menschlichen Körper, die biochemische Reaktionen katalysieren, für Gewebestabilität, physiologische Prozesse wie Muskelkontraktion und vieles mehr. Die eigentliche Frage ist, ob wir die nötigen Nährstoffe mit der Ernährung aufnehmen oder nicht. Auch hierzu findet man widersprüchliche Aussagen. 1992 fand der sogenannte „Earth Summit“ der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro statt. Es wurde festgehalten, dass die Böden der USA und Kanada im Zeitraum von 1936 bis 1992 etwa 85 % ihres Mineraliengehalts verloren hatten, Asien und Südamerika etwa 76 %, Afrika 74 %, Europa 72 % und Australien 55 %. Im März 2006 wurde von der UN anerkannt, dass der multiple Nährstoffmangel an Häufigkeit zunimmt. Die Übergewichtigen seien laut der damaligen Untergeneralsekretärin der UN (Catherine Bertini) genauso schlecht mit Nährstoffen ausgestattet wie die Hungernden. Es kommt nicht auf die Menge an, sondern auf die Qualität. Dieses Ergebnis spiegelte sich auch in der Nährstoffmenge in verschiedenen Gemüse- und Obstarten wider. Zwischen 1963 und 2000 zeigte grünes Blattgemüse einen Verlust von 62 % an Vitamin C,
41 % Verlust von Vitamin A und 29 % Verlust im Calciumgehalt, 52 % Verlust von Kalium und 84 % Verlust von Magnesium. Blumenkohl hatte ca. die Hälfte des Vitamin C-, Thiamin- und Riboflavingehalts eingebüßt, und in kommerzieller Ananas fand man kaum noch Calcium. Der Grund für die Verluste ist, dass Pflanzen Mineralien aus dem Boden saugen, deswegen sind sie auch als Nahrung für Menschen und Tiere geeignet. Die Mineralien sollten im Boden aber auch wieder ersetzt werden. Dieser Sachverhalt wurde in verschiedenen Kulturen jahrtausendelang berücksichtigt. Holzasche beispielsweise wurde auf die Felder oder in den Garten geworfen. Holzasche ist nichts anderes als die Mineralien, die beim Verbrennen vom Holz übrigbleiben. Die langlebigen Kulturen dieser Welt haben diesen Brauch nie verloren. Zudem binden Pestizide und Herbizide Mineralien und lassen sie im menschlichen Körper nicht für Stoffwechselaktivität frei. Die Bakterien in den Böden, welche die Mineralienaufnahme der Pflanzen fördern, werden durch die chemischen Bindungen direkt geschädigt. Mittlerweile werden Pestizide in Muttermilch, Urin, Fäkalien und verschiedenen Geweben gefunden. Ein weiteres Problem stellt das Mikroplastik dar, das mittlerweile sogar im Trinkwasser und auch im Urin von Kindern und Jugendlichen gefunden wird. Pestizide und Herbizide akkumulieren in den Geweben (v. a. Fett) und können nur schwer entgiftet werden. Die Erosion des Oberbodens, der die eigentlichen Mineralien enthält, passiert durch Wind und Wetter, aber auch durch übermäßige Nutzung von Weideflächen, immer größer werdende Ernten und Überholzung. Der Verlust organischen Materials resultiert in einem Verlust von Stickstoff, Mineralien und seltenen Erden, sodass die Erde weniger Flüssigkeit halten kann und das Wachstum von Pflanzen behindert wird.
Natürlich gibt es, wie bei allen Themen, auch Studien, die das Gegenteil zeigen. Sie berichten, dass die Böden keinen Mineralienverlust erleiden und dass in einigen Nationen sogar ein Überschuss bestehe. Supplementierung sei unnötig und teilweise schädlich. Auch hier ist es wichtig, sich zu informieren, unabhängige Studien zu lesen, die frei verfügbar im Internet zu finden sind. Die Zusammenhänge zu verstehen hilft ungemein, sich ein Bild zu machen, welches einen Sinn ergibt.
Die Mineralien, die bisher im menschlichen Gewebe gefunden wurden und für die Stoffwechselfunktionen identifiziert werden konnten, sind:

1 Aluminium, Arsen, Barium, Beryllium, Boron, Bromin, Cäsium, Calcium, Carbon, Cerium, Chlorid, Chrom, Cobalt, Dysprosium, Eisen, Erbium, Europium, Gadolinium, Gallium, Germanium, Gold, Hafnium, Holmium, Iod, Kupfer, Lanthanum, Lithium, Lutecium, Magnesium, Mangan, Molybdän, Natrium, Neodymium, Nickel, Niobium, Phosphor, Praseodymium, Rhenium, Rubidium, Samarium, Sauerstoff, Scandium, Selen, Silber, Silica, Stickstoff, Strontium, Sulfat, Tantalum, Terbium, Thulium, Titan, Vanadium, Wasserstoff, Ytterbium, Yttrium, Zink, Zinn und Zirconium

Um aufgenommen und verstoffwechselt zu werden, müssen diese Mineralien in pflanzlich gebundener kolloidaler Form aufgenommen werden. Die Resorptionsrate sollte über 90 % liegen. Ein Problem mit Nahrungsergänzungsmitteln ist, dass nicht alle diese Qualität erreichen und daher ihre Wirkung eingeschränkt bleibt. Der von der Natur vorgegebene Weg geht, wie gesagt, über die Aufnahme von Mineralien durch Pflanzen. Damit das funktioniert, sind Bakterien im Boden notwendig, die mit anderen Mikroorganismen die sogenannte „Rhizosphäre“ bilden, ein Mikrokosmos, der mit der Pflanzenwurzel eine enge Beziehung hat und zu dessen Wachstum und Immunsystem beitragen (7). Verschiedene Bakterien- und Pilzspezies verändern u. a. die chemisch gebundene Form von Schwefel, Phosphat und Stickstoff und lassen sie so für die Pflanzen bioverfügbar werden. Moderne mineralienhaltige Dünger sollen die Nährstoffe auffüllen, allerdings bedingt ein Überdüngen Gefahren für die Fauna und den Boden selbst. Düngerbestandteile gelangen in das Grundwasser und können dessen Qualität vermindern. Ein Überangebot von Mineralien nennt man „Eutrophierung“, was Algenblüten begünstigen und einen Sauerstoffmangel im Tiefenwasser von Seen verursachen kann, insbesondere ein Problem bei intensiver landwirtschaftlicher Nutzung mit Viehbesatz. Klärschlammdüngung kann zu einer erhöhten Konzentration von Schwermetallen im Boden führen, was unfruchtbare Böden zur Folge haben kann, da Schwermetalle kaum auswaschbar sind und Pflanzen sie kaum aufnehmen. Nitrat sollte möglichst nicht ins Grundwasser gelangen, da es zu Nitrit umgewandelt werden kann, was im Körper von Säugetieren Nitrosamine erzeugt, die wiederum krebserregend sind. Seit 1991 wurde der Grenzwert für Nitrat im Grundwasser auf 50 mg/Liter festgesetzt. Grundwasser enthält natürlicherweise meistens weniger als 10 mg/Liter. In der Nachkriegszeit in Deutschland ist durch eine dichtere Besiedlung und eine intensive Bodenhaltung der Nitratgehalt gestiegen (8).

Kapitel 4
Emotionen und Wahrnehmung, unser Alltagsnavi
Emotionen und Gefühle … die männlichen Leser müssen jetzt stark sein. Emotionen wie Glücklich- oder Traurigsein sowie Wut sehen bei Menschen der ganzen Welt gleich aus, sie lassen die gleiche Mimik entstehen, sodass wortlose Kommunikation möglich ist. Das Thema rundum Emotionen wird in der medizinischen Versorgung entweder unterschätzt oder teilweise gar nicht eingebunden.
Dass Emotionen für die Gesundheit wichtig sind, ist wohl jedem klar, aber wie die einzelnen Zusammenhänge sind, bleibt häufig schwammig und allgemein. Es soll nun versucht werden, darzustellen, auch anhand von Alltagsbeispielen, warum und wie Emotionen beziehungsweise das Glücklich- oder eben Nicht-Glücklichsein im Leben Einfluss auf Gesundheit allgemein, aber auch in Bezug auf Lebenssituationen und -entscheidungen nehmen können.
Mittlerweile gibt es immer mehr Forschung zu der Anatomie und Biochemie der Emotionen. Verschiedene Hirnareale werden in verschiedenen Situationen stimuliert und kommunizieren eng mit dem autonomen Nervensystem. Nehmen wir folgendes Beispiel: Sie fahren mit dem Auto mit ca. 130 km/h auf der Autobahn und plötzlich überholt Sie ein Porschefahrer mit 200 km/h und fährt direkt vor Ihnen auf Ihre Spur. Sie erschrecken, die Pupillen werden weit, die Gefäße zum Kopf erweitern sich, Blutdruck und Puls steigen, Blutzucker und Cholesterin werden dem Körper als Energiequelle zur Verfügung gestellt, Cortison und Adrenalin werden als Stresshormone ausgeschüttet, die Verdauung und die Schilddrüse werden vom autonomen Nervensystem mehr oder weniger ausgegliedert. Das sind typische Stressreaktionen, die unabhängig der Ursache auftreten. Nicht nur akute emotionale Erlebnisse, sondern auch chronischer Stress wird, nicht immer im gleichen Ausmaß, eine ähnliche Antwort mit sich bringen.
Ein anderes Beispiel ist die Trauer, die eine Trennung vom Partner mit sich bringt. Manche Menschen empfinden geradezu Schmerzen in der Bauchregion oder ein Engegefühl in der Brust. Auch wenn es hierzu nur wenig bis gar keine Daten gibt, so ist die klinische Erfahrung die, dass der Ort dieser Gefühle von der Konfiguration der Wirbelsäule abhängt. Bei Fehlstellungen der oberen Brustwirbelsäule werden bei akutem oder chronischem Stress entweder Schmerzen, Engegefühl oder Herzrhythmusstörungen auftreten, da die Nerven, die aus den fehlgestellten Segmenten stammen, durch den erhöhten Druck der kleinen Wirbelmuskeln als Erstes in ihrer Funktion eingeschränkt werden und weniger Signale zum jeweiligen Organ, Muskel, Gelenk oder zur Hormondrüse senden können. Der Ort des Fühlens ist also nicht gleich dem Ort des Problems.
Wie sieht es aus mit der Herzinfarktstatistik? Die Deutsche Herzstiftung berichtet: Als im Jahr 2006 die Fußball Weltmeisterschaft in Deutschland stattfand, wurden von der Ludwig-Maximilians-Universität München mehr als dreimal so viele Herznotfälle während spannender Spiele registriert wie zu den Zeiten ohne spannende Ereignisse15. Seien wir ehrlich, die Männer, die aufgrund eines Fußballspiels einen Herznotfall erleiden, waren vorher schon nicht gesund. Egal wie mitreißend das Spiel war, man muss deswegen nicht gleich einen Herzinfarkt haben. Aber was ist es, dass in so dramatischerweise ein lebensbedrohliches Ereignis auslösen kann? Hier muss man die Verbindung von Emotionen zu körperlichen Vorgängen ernst nehmen. Was passiert genau und wer ist davon betroffen?
15 https://www.herzstiftung.de/pdf/zeitschriften/HH2_10_Mitfiebern.pdf
Das limbische System
Um die Vorgänge besser zu verstehen, wenden wir uns dem Gehirn zu, insbesondere dem limbischen System. Der Begriff „limbus“ leitet sich aus dem Lateinischen ab und bedeutet „Saum“. Der Franzose Paul Broca entdeckte es im späten 19. Jahrhundert und setzte den Grundstein für emotionale Forschung. Der Begriff „limbisches System“ wurde 1949 vom Physiologen MacLean definiert. In den 50er Jahren wurde in den USA der Begriff aufgenommen und weiterentwickelt. Mittlerweile kennt man verschiedene Anteile, die zusammengenommen den Apparat bilden, der emotionale Entwicklung und Abwicklung hauptsächlich verarbeitet: Hypothalamus, Hippocampus, Fornix, Amygdala und der limbische Cortex. Von diesen Arealen gehen Nervenstränge in verschiedene Hirngebiete und kommunizieren mit ihnen, unter anderem mit dem Frontallappen, dem Ort der höheren komplexen kognitiven und emotionalen Funktionen. Das unterstreicht, welche Wichtigkeit emotionale Erlebnisse auf die Entwicklung der Persönlichkeit und Entscheidungsfindung im Leben haben. Des Weiteren gibt es eine direkte Verbindung mit dem Hypothalamus, der Stoffwechselregulation betreibt. Das limbische System ist ein sehr alter Teil des Gehirns und lässt sich in allen Säugetieren nachweisen. Besonders ausgeprägt ist es bei Jagdhunden, da das limbische System eng mit dem Riechhirn verbunden ist. Und einen guten Geruchsinn zu haben ist für einen Jagdhund relativ nützlich.
Der Hypothalamus ist eine Art Steuerzentrale für Stoffwechselvorgänge wie Schlaf-Wach-Rhythmus, Hunger-Durst-Gefühl, Sexualtrieb, Schmerz und Körpertemperatur. Von ihm aus werden Hormone produziert, die sowohl direkte Wirkung auf Organe (Brust, Niere, Wehentätigkeit) als auch Signalwirkung für die Hypophyse haben, eine kleine Drüse, die weitere Hormone zur Steuerung von Schilddrüse, Wachstum, Steroidsynthese, Fettstoffwechsel und weitere ausschüttet.
Der Hippocampus ist bekannt für den Sitz des Gedächtnisses und seine Empfindlichkeit gegenüber Sauerstoffmangel.


Quelle: Adobe Stock
Bei einem Herzstillstand sind die Hippocampuszellen mit die ersten, die ihre Funktion verlieren und sterben. Deswegen ist nach Reanimation häufig das Gedächtnis gestört. Ebenfalls spielt der Hippocampus bei der Entstehung von Alzheimer Demenz eine Rolle.
„Fornix“ ist ein lateinischer Begriff und bedeutet Wölbung, Kuppel oder Bogen. Im Englischen bedeutet das Wort „fornication“ Unzucht. Die Geschichte dazu stammt aus der Zeit der Römer, als Aquädukte gebaut wurden, um eine kontinuierliche Wasserversorgung der Stadt zu gewährleisten. Bevor die Aquädukte die Stadt erreichten, wurde ein kleiner Bogen eingebaut. Unter diesen Bögen fanden sich die Prostituierten, die, man kann es nur annehmen, Unzucht betrieben. Aber zurück zum Gehirn: Der Bogen (Fornix) verbindet den Hippocampus mit dem Zwischenhirn und dem Vorderhirn. Dementsprechend ist es die Verbindung der Gefühlswelt mit der bewussten Wahrnehmung und verschiedenen Kontrollzentren.
„Amygdala“, auch Mandelkern genannt (es gibt zwei, einer rechts einer links), gilt als eine wichtige Struktur im Rahmen von Angstentstehung. Sie bewertet Erinnerungen und belegt sie mit emotionalen Inhalten. Bei bedrohlich wahrgenommenen Situationen werden die weitergeleiteten Signale zu der vermehrten Produktion von Hormonen wie Dopamin, Serotonin, Acetylcholin, Adrenalin und Cortisol führen. Diese Erfahrungen werden wieder mit Erinnerungen abgeglichen und gespeichert für zukünftige Situationen. Das nennt man Lernen.
Der „limbische Cortex“ spielt eine Rolle in der Weiterleitung von Informationen an weitere Hirnstrukturen, Konsolidierung und Wiederherstellung von Erinnerungen mit der Herstellung persönlicher Bedeutung.
Ohne das limbische System wären wir wohl gefühllose Zombies, die ihren Erinnerungen keine Bedeutung zuordnen können, die Lernfähigkeit wäre drastisch eingeschränkt, zudem wären viele Stoffwechselfunktionen und das Einordnen von Erlebnissen nicht möglich.
Jetzt, da wir die anatomischen Verhältnisse grob geklärt haben, können wir in die Tiefen des autonomen Nervensystems eintauchen. Wir haben schon etabliert, dass Stress eine Sympathikusreaktion auslöst. Das hat Auswirkungen auf den ganzen Körper. Nehmen wir den Darm, das Organ, das unsere Ernährung aufnimmt und den Rest vom Schützenfest wieder hinausbefördert. Der Darm ist nicht nur für Verdauung zuständig. Dort werden auch 95 % unseres Serotonins produziert. Serotonin ist ein Hormon, das aus der Aminosäure Tryptophan gewonnen wird und für unser Wohlbefinden eine entscheidende Rolle spielt, oft wird es auch als „Glückshormon“ bezeichnet (1). Niedrige Spiegel stehen mit verschiedenen Erkrankungen und Persönlichkeitsmerkmalen in Verbindung wie: negative Emotionen, impulsives aggressives Verhalten, vermehrter Alkohol- und Zigarettenkonsum, erhöhter Sympathikotonus und erniedrigter Parasympathikotonus und veränderte neuroendokrine Funktion (also den Hormonhaushalt betreffend). Diese Erkenntnis hat jede Menge Implikationen für unsere Gesundheit und für unseren persönlichen Lebensweg. Der Sympathikus und Parasympathikus sind bereits beschrieben worden, wichtig ist an dieser Stelle trotzdem die Bedeutung für Emotion, Wahrnehmung und Persönlichkeitsentwicklung. Wenn die Kontrolle des autonomen Nervensystems gestört ist, sei es durch einen Unfall und Wirbelsäulenfehlstellungen, durch chemische Belastungen oder durch einen emotionalen Stress, wird der Darm seine Funktion nicht vollständig ausführen können, und dazu gehört die Serotoninsynthese. Die WHO definiert eine Depression folgendermaßen16:
16 http://www.euro.who.int/de/health-topics/noncommunicable-diseases/ mental-health/news/news/2012/10/depression-in-europe/depression- definition
„Eine Depression ist eine weit verbreitete psychische Störung, die durch Traurigkeit, Interessenlosigkeit und Verlust an Genussfähigkeit, Schuldgefühle und geringes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Konzentrationsschwächen gekennzeichnet sein kann. Sie kann über längere Zeit oder wiederkehrend auftreten und die Fähigkeit einer Person zu arbeiten, zu lernen oder einfach zu leben beeinträchtigen. Im schlimmsten Fall kann eine Depression zum Suizid führen. Milde Formen können ohne Medikamente behandelt werden, mittlere und schwere Fälle müssen jedoch medikamentös bzw. durch professionelle Gesprächstherapie behandelt werden (…) Depressionen setzen oft in einem jungen Alter ein. Sie betreffen häufiger Frauen als Männer und Arbeitslose sind ebenfalls stärker gefährdet.“
Hier wäre die Idee also, dass man bei depressiven Patienten das autonome Nervensystem untersucht, sowohl elektrophysiologisch (beispielsweise durch eine Herzfrequenzvariabilitätsmessung) als auch durch eine Röntgenaufnahme der Wirbelsäule inklusive Becken durchführt, um Fehlstellungen der Wirbelsäule auszuschließen, die dazu führen könnten, dass die Nervenversorgung des Darms eingeschränkt ist. Diese zu beheben, die autonome Kontrolle über den Darm zu verbessern und damit Hormonproduktion zu steigern, chemischen Stress zu reduzieren und eine professionelle Gesprächstherapie als ganzheitliche Behandlung anzustreben, scheint im Lichte der zunehmenden Erkenntnisse über molekularbiologische und physiologische Zusammenhänge des Körpers als ein vielversprechender Ansatz. Man denke nur an eine postpartale Depression, also eine negative Gefühlsstimmung nach der Geburt mit einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung, die ca. 10–15 % aller Mütter betrifft. Dies ist eine deutliche Belastung, sowohl für die Mutter als auch für den Rest der Familie. Schuldgefühle gegenüber dem frisch Geborenen und der Familie sind nicht selten und führen zu einer Verstärkung der bereits vorhandenen Gefühlswelt. Die Symptome treten in der Regel innerhalb des ersten Jahres nach einer Geburt, häufig bereits im Wochenbett, auf. Man könnte ja auch denken, dass die Geburt eine Art Beckentrauma ist und die parasympathischen Nervenfasern aus dem Steißbein eine deutliche Irritation erfahren. Das wäre bereits ausreichend für eine Dysbalance des autonomen Nervensystems und die daraus resultierenden Probleme. Interessant ist außerdem, dass Serotonin Einfluss auf die Körperhaltung hat. Schonmal einen Menschen mit echter Depression aufrecht gehen sehen? Man könnte auch umgekehrt argumentieren, dass eine unphysiologische Haltung zu einer Verschlechterung der Nervenversorgung des Darms, und damit einer Verminderung der Serotoninsekretion, und damit biochemisch in eine Depression führt.
Es gibt seit einigen Jahren innerhalb der „Naturheilkunde Gemeinde“ andere Meinungen, die sich lohnen, kurz anzusprechen. In seinem Buch „Let Them Eat Prozac: The Unhealthy Relationship Between the Pharmaceutical Industry and Depression“ hat der Psychiater D. Healy aus den USA einige Dinge ans Tageslicht gebracht, die zunächst verwundern müssen, wenn man dem klassischen Medizinsystem bis jetzt gefolgt ist (2). Er berichtet, dass es genau genommen keine Studien gibt, die beweisen, dass biochemischen Dysbalancen von Hormonen im Gehirn psychologische Probleme verursachen, wie es beispielsweise für Schizophrenie und das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom postuliert wird. Neurotransmitter wie Serotonin können in ihrer Aktivität und Funktion kaum gemessen werden, ohne das Gehirn herauszunehmen und zu sezieren, wie es in Ratten oder Mäusen getan wird. Die Theorie, dass Dysbalancen von Hormonen zu einer psychologischen oder psychiatrischen Störung führt, ist auch durch andere renommierte Psychiater als nicht seriös eingestuft worden. Der ehemalige Redakteur der Zeitschrift „Psychiatric Times“ Ronald Pies nannte die Theorie eine „urbane Legende“, eine einfache Begründung, um ein Medikament zu verschreiben und den Patienten das Gefühl zu geben, er wäre dadurch aufgeklärt worden (3–5). Mittlerweile nimmt jeder 6. Erwachsene Amerikaner mindestens ein psychiatrisches Medikament, und 84,3 % dieser Menschen nehmen es langfristig. 522 Studien, die 21 Antidepressiva mit 116.477 Patienten untersucht haben, kamen zum Schluss, dass sie nur knapp besser als ein Placebo wirken (6). 850 Erwachsene und 250 Kinder, die diese Medikamente nehmen, bekommen in den USA täglich eine Stufe der Behinderung zugesprochen. Die Wahrscheinlichkeit, ein psychiatrisches Medikament verschrieben zu bekommen, steigt, da zum einen die Diagnosen erweitert wurden (mehr Diagnosen bedeutet mehr Therapiemöglichkeiten) und zum anderen Allgemeinmediziner, Internisten, Rheumatologen etc. ebenfalls psychiatrische Medikation ansetzen dürfen. Bei manchen Ärzten reicht es aus, traurig zu sein, damit ein bestimmtes Medikament verschrieben wird. Häufig wird nicht nach Ernährung, Lifestyle, Schlafdauer und -qualität oder anderen Lebensumständen gefragt. Ungefähr die Hälfte der Kinder mit psychologischen Problemen werden nie beim Psychiater vorgestellt (8). 2018 wurde eine Studie zur Häufigkeit von psychiatrischen Erkrankungen in Kindern/Jugendlichen in den USA veröffentlicht (7). Die Zahlen sind wie folgt: 1 von 8 hat eine Depression und 1 von 12 ADHS, was an sich schon erschreckend ist. Fast 1 von 100 3–5-Jährige, 5,4 % von 6–12-Jährigen, 7,7 % der Teenager und 6 % der 19–24-Jährigen haben regelmäßig Medikamente eingenommen (9). War das schon immer so? Waren Kinder und Jugendliche schon immer willenlose Sklaven ihrer Hormone, die nur darauf aus waren, Erwachsene in den Wahnsinn zu treiben? Hier ein Zitat von Sokrates, dem griechischem Philosophen aus dem 5. Jahrhundert vor Christus: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“17 Nun, die Jugend hat es immer schon schwer gehabt, aber vermutlich liegt das in der Natur des Erwachsenwerdens, ist jedoch kein Grund, gleich Medikamente zu verschreiben, um sie ruhigzustellen. Schwieriger wird es, wenn man sich die letzten Jahrzehnte anschaut in Bezug auf Amokläufe.
17 https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_sokrates_thema_jugend_zitat_ 11962.html
Wenn man die letzten 100 Jahre betrachtet, dann ist es offensichtlich, dass Amokläufe in den 60er Jahren erst zu einem echten Problem wurden und Ende der 90er einen sprunghaften Anstieg erfuhren. 2017 wurden in den USA bei „mass shootings“, also Schusswaffenmassaker, 224 Opfer registriert, bis dahin das Jahr mit den meisten Vorfällen. Das Ganze hat natürlich viele Gründe. Zum einen hat die USA mit 89 Schusswaffen pro 100 Einwohner etwa dreimal mehr als Deutschland und doppelt so viel wie die Schweiz. 2019 gab es so viele Massenmorde in den USA wie nie zuvor. Insgesamt starben 211 Menschen bei 41 Attacken (10).
Ein anderes Problem ist die zunehmende Benutzung von Herbiziden/Pestiziden. Sie sind dazu gedacht, Unkraut und bakterielle bzw. Pilzinfektionen von Pflanzen zu bekämpfen, indem sie den „Shikimatweg“ unterbrechen, einen Stoffwechselweg, der in menschlichen Zellen nicht vorkommt. Daher wurden sie allgemeinhin als sicher für uns abgesegnet. Ein paar Überlegungen müssen hierzu jedoch angestellt werden, die zu einem etwas differenzierten Ergebnis führen (s. Umwelteinflüsse). Pestizide, Insektizide und Herbizide sind nicht nur Chemikalien, die wir über die Ernährung aufnehmen und wieder ausscheiden, sie beeinflussen unsere Physiologie und die unserer ungeborenen Kinder. Eine Standardexposition führt auch in der Entwicklung von Embryonen zu anatomischen Veränderungen, darunter auch am zentralen Nervensystem mit einer dünneren Hirnrinde, und veränderten Größen anderer Anteile des Gehirns (11). Da eine große Anzahl von Pestiziden weltweit eingesetzt wird und in allen Bevölkerungsgruppen nachweisbar ist, sind die Auswirkungen auf Hirnentwicklung nur schwer auf die einzelnen Stoffe reduzierbar. Aber eine wachsende Menge an Studien belegt Veränderungen, sowohl in der Entwicklung des Gehirns als auch bei Erwachsenen, vor allem im limbischen System und im Frontalhirn, der Ort, an dem Persönlichkeitsmerkmale und Impulskontrolle stattfinden. Häufig sind neurokognitive Einschränkungen wie psychomotorische Geschwindigkeit, Sprachstörungen, geringere Gedächtnisleistung, Aufmerksamkeitsdefizit, Koordinationseinschränkungen und Einschränkungen der visuellen Raumwahrnehmung (12–13).
Welche Auswirkungen auf Emotionen und Impulskontrolle diese Veränderungen haben können, wurde anhand erhöhter Selbstmordzahlen in China untersucht, eine Korrelation mit erhöhter Pestizidexposition konnte hier in signifikanter Weise nachvollzogen werden (14–15). Aber nicht nur die Gewaltbereitschaft gegen sich selbst, sondern auch die gegen andere konnte in einigen Studien belegt werden. Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung, um ein Modell zu entwerfen, welches die zunehmende Gewalt, gerade unter Jugendlichen in den USA, erklären könnte. Es sind wohl doch nicht die Videospiele, die zwar Gewalt darstellen, aber auf der ganzen Welt von Kindern und Jugendlichen gespielt werden und nicht überall gleich zu Gewalt führen. Aber verarbeitetes Essen, erhöhte Schwermetallbelastung, Pestizide und die sozioökonomischen Probleme unserer Zeit zusammengenommen scheinen einen plausiblen Mix für Gewaltausbrüche darzustellen (16). Hinzu kommt die verstörende Tatsache, dass Antidepressiva eine besondere Nebenwirkung haben können: Selbstmord und Gewalt gegen andere. In einer großen Studie aus dem Jahr 2016 wurde eine Verdopplung der Suizidgefahr und der Gewalttaten an anderen festgestellt (und zwar in einer Gruppe an gesunden Freiwilligen!) (17).
Mikrobiom
Kommen wir zu unseren kleinen Freunden, die milliardenfach in unserem Darm mietfrei hausen: Darmbakterien. Wir beherbergen ca. 10-mal so viele Bakterien wie menschliche Zellen in unserem Körper und sollten dementsprechend freundlich mit ihnen umgehen. Insgesamt sind sogar 90 % aller Zellen an und in unserem Körper und nach einigen Schätzungen irgendwo zwischen 8 und 99 % unserer DNA nicht menschlich (je nach Studie), sondern viral und bakteriell (18). Auch eine nette Vorstellung. Wir sind seit Millionen von Jahren mit unserer Umgebung gewachsen und verbunden mit Mikroorganismen, die auf unserer Haut und in uns leben und eine Symbiose mit uns eingehen. Der Zucker, der unsere DNA ausmacht, ist zudem in Meteoriten gefunden worden, die aus dem Weltall auf die Erde niederprasselten. Vielleicht sind wir selbst sogar aus außerirdischem Material entstanden, das legt zumindest eine Forschergruppe im November 2019 nahe.18 Genetisches Material aus dem Weltall könnte zu der Entstehung von irdischem Leben beigetragen haben und die Entwicklung bis hin zu uns initiiert haben (19–21).
18 „Extraterrestrial ribose and other sugars in primitive meteorites“, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, Y. Furukawa et al., November 18, 2019
In unserem Darm leben Bakterien mit einem kombinierten Gewicht von ca. 2–3 kg. Es konnte gezeigt werden, dass sie einen direkten Einfluss auf unser Verhalten haben. Diesen Draht von Darm zu Hirn nennt man auf Englisch „gut-brain-axis“ (22).
Eine Verminderung unserer natürlich vorkommenden Bakterien führt zu einer Verschlechterung von Darmfunktion, Hormonhaushalt, Immunsystem und zu nachfolgender Erkrankung. Deswegen sind Probiotika bei vielen Darmproblemen von Vorteil, sie füllen die natürliche Darmflora auf und stellen das Gleichgewicht wieder her (23, 24). Sie können Entzündungsprozesse herunterregulieren, das Immunsystem stärken und positiven Einfluss auf Stimmung ausüben. Infektionen und Antibiotikatherapie unterbrechen diesen positiven Einfluss und können so zur Entstehung von Krankheit beitragen (26,27).
Da spielt die Ernährung eine Riesenrolle. Je gesünder die Ernährung, desto besser geht’s unseren Darmbakterien, und damit auch unserem Immunsystem und unserem Emotionshaushalt. In den letzten Jahren sind eine Fülle von Studien veröffentlicht worden, die einen Zusammenhang zwischen Stress und Bakterienzusammensetzung und deren Verhalten ausmachen konnten. Beispielsweise wird mittlerweile anerkannt, dass Stress die Mikroflora des Mundes verändert und so zu Zahnfleischentzündungen führen und durch Veränderung der Hautflora Hauterkrankungen begünstigen kann. Die Stresshormone wie Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin und Cortisol werden durch das sympathische Nervensystem gesteuert, kontrolliert ausgeschüttet und erreichen als Neurotransmitter sowohl Verdauungstrakt als auch andere Organe, die Bakterien, Viren und Pilze enthalten. Eine ständige Erhöhung dieser Stresshormone könnte zu einer Störung der Integrität der Darmzellen führen und das Einwandern von Bakterien, Proteinanteilen oder Pilzen ermöglichen, was wiederum eine Entzündungsreaktion des Immunsystems triggert (28–32). Auf jeden Fall ein Grund, um negativ empfundenen Stress, wenn möglich, zu reduzieren.
Die Bakterien unseres Darms können sogar unser Verhalten modulieren sowie unsere Gedächtnisleistung, Kommunikation und Stressreaktionen beeinflussen. Es wurde schon gezeigt, dass psychologischer Stress bzw. dessen Wahrnehmung nur durch Probiotika reduziert werden konnte. Mäuse zeigten nach Erhalt des Bakterienstamms Lactobacillus rhamnosus weniger Cortisol in ihrem Blut und mehr Energie im Rahmen eines ihnen auferlegten Schwimmtests. Diese positiven (wenn auch für die Maus bestimmt nicht unbedingt eingeplanten) Veränderungen konnten durch eine Durchtrennung des Vagusnervs unterbrochen werden, ein deutliches Zeichen dafür, dass der Nerv, der zu ca. 80–90 % hirnzuführende Fasern hat, ein wichtiger Kommunikator zwischen Darm und Darmbakterien und unserem Gehirn darstellt.
Unser Appetit unterliegt auch teilweise dem Willen unserer Untermieter. Einige Bakterien können sowohl Lust auf Essen als auch das damit verbundene Vergnügen manipulieren. Schlanke Mäuse, die eine Stuhltransplantation einer dicken Maus erhielten, wurden dick. Das Hormon „alpha-Melanozyten-stimulierendes Hormon“ ist bekannt dafür, dass es Hunger und Lust beim Essen beeinflusst. Einige Bakterienstämme können dieses Hormon nachahmen und so den Wirt manipulieren. Vielleicht haben Sie ja gar keine Lust auf Schokolade, sondern Ihre Darmbakterien … (33–37)
Zumindest gibt es einige Hinweise, dass die Zukunft für Menschen mit Essstörungen (für Anorexie und Bulimie immerhin 5 % der Frauen und 2 % der Männer) und Übergewicht eine bakteriell-basierte Lösung parat hält. Aber auch für sämtliche neurologische Erkrankungen scheinen die Mikrokäfer eine Rolle zu spielen, sodass auch hier die Zukunft spannend bleibt und unter anderem die Fachrichtungen Neurologie und Innere Medizin sicherlich einige Erweiterungen erfahren werden.
Die Zusammensetzung der 100 Billionen kleinen Racker ist aber auch von unserer Ernährung abhängig. Insbesondere nicht gänzlich verdaute Kohlenhydrate werden von ihnen genutzt und fermentiert. Das kann zu pH Änderungen im Dickdarm führen und zu einer unphysiologischen Umverteilung und Umwandlung der Komposition der Bakterienspezies. Vitamin D Mangel ändert die Zusammensetzung ebenfalls und kann dadurch zu einem Vitamin B Mangel führen, was wiederum das Immunsystem negativ beeinflusst und die Inzidenz von Atherosklerose und Autoimmunerkrankungen erhöht (36).
Wie genau Bakterien unser Verhalten beeinflussen und was sie mit chronischen Erkrankungen zu tun haben, ist aktueller Gegenstand der Forschung und wird mit Sicherheit weitere Erkenntnisse bringen. In jedem Fall spielen sie eine große Rolle für emotionale Gesundheit, Immunsystem und Krebsentstehung, Neurokognition und Nährstoffaufnahme, sodass deren Schaden multiple Auswirkungen auf unsere Gesundheit
haben wird.
Lachen
Einer der schönsten Emotionen, die bei allen Menschen gut aussieht, ist Lachen. Im Mittelalter gab es sogar Lachverbote auf öffentlichen Plätzen, um Provokationen zu vermeiden. Aber auch wenn Dieter Hallervorden erkannte: „Deutscher Humor ist ein echter Schlankmacher: Man muss meilenweit laufen, bis man ihn trifft“19, ist auch hierzulande das ein oder andere Lachen drin. Aber „Spaß beiseite“, Lachen hat viele nützliche Effekte, die soziale, aber auch gesundheitliche Aspekte umfassen. Hier kommt dem Immunsystem die volle Aufmerksamkeit zu. 2001 führte Lee S. Berk von der Loma Linda Universität in Kalifornien ein Experiment durch, bei dem Probanden ein lustiges Video anschauten und ihnen vorher und nachher Blut abgenommen wurde (38). Hierbei fiel auf, dass Lachen die Anzahl der natürlichen Killerzellen (eine Art weiße Blutkörperchen) im Blut bis zu zwölf Stunden lang erhöhte. Auch wenn die Teilnehmerzahl nur gering war, ist es doch ein deutliches Zeichen, wie gesund Lachen tatsächlich ist. Das Ganze ist bereits Prof. William Fry 1964 schon eingefallen, als er das Institut für Humorforschung in Kalifornien gründete und ähnliche Experimente mit ähnlichen Ergebnissen durchführte.
19 https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_dieter_hallervorden_thema_humor_zitat_2042.html
Lachen baut Stress ab, schüttet Endorphine aus, regt Verdauung und Stoffwechsel an, es kommt beim Lachen seltener zu Herzinfarkten oder Depressionen, das Lachen erhöht den Sauerstoffaustausch im Gehirn, steigert das Wohlbefinden und schafft eine soziale Sympathie.
„Lachen stimuliert das Immunsystem und hilft dem Körper, Krankheiten, sowohl Krebs als auch virale und bakterielle Infektionen, zu bekämpfen. Glücklich zu sein ist die beste Heilung aller Krankheiten“ – freie Übersetzung eines Zitats von Patch Adams20. Oder wie Bugs Bunny schon immer wusste: „Ja Freunde, Lachen ist gesund!“
20 https://www.goodreads.com/author/quotes/436656.Patch_Adams
Emotionale Intelligenz
Emotionen laufen biochemisch immer gleich ab, aber unsere Wahrnehmung ist von Person zu Person sehr unterschiedlich, was sich unter anderem mit dem sogenannten „EQ“ (Emotionaler Quotient) messen lässt. Der EQ ist ein emotionales Äquivalent zum IQ und misst die Fähigkeit, Emotionen von sich und anderen zu spüren, zu deuten und Konsequenzen für das Verhalten daraus zu ziehen. Das Ganze hört sich vielleicht etwas schwammig an, hat für das Leben enorme Bedeutung und kann lebensverändernd wirken. Einige Autoren halten die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen und daraus sowohl zu lernen als auch adäquat zu reagieren, für wichtiger, als einen hohen IQ zu haben. Man denke zum Beispiel an erfolgreiche junge Menschen, die über soziale Medien wie YouTube oder Facebook und Instagram zu Reichtum gekommen sind. Die Videos und Bilder, die gepostet werden, strotzen meist nicht vor stechender Logik und neuen Erkenntnissen, die intellektueller Natur sind. Aber sie packen die Menschen emotional. Kleine Welpen, die ihre Mutter zu erdrücken scheinen, oder kleine Kinder, die lachen, bekommen zig Millionen Klicks, während intellektuell anspruchsvolle Aufklärungsvideos hier nicht mithalten können. Die Menschen sind emotionale Wesen, keine Frage. Wie will man eine glückliche Beziehung führen, wenn man seine eigenen Emotionen nicht versteht oder gar korrekt wahrnimmt, geschweige denn die des Partners? Das wird unweigerlich zu Konflikten führen, die mit gegenseitigem Unverständnis nur schwer zu lösen sind. Auch im Rahmen von beruflichen Entwicklungen ist es immer von Vorteil zu spüren, wann der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch gekommen und wann es passender ist, den Moment vergehen zu lassen, ohne eine Diskussion zu beginnen. „Gnothi seauton!“, heißt es im Altgriechischen am Apollotempel von Delphi, zu Deutsch: „Erkenne dich selbst!“ Diese Fähigkeit wird im Laufe des Lebens durch Erziehung und Erlebnisse geschult, aber häufig von Mädchen und Frauen besser internalisiert als von Männern. Weibliche Gehirne wiegen ca. 200 Gramm weniger als männliche, haben aber ein größeres Verhältnis von grauer zu weißer Substanz. Die graue Substanz besteht aus Hirnzellen, die weiße Substanz ist signalübertragendes Gewebe. Die graue Substanz ist verantwortlich für Funktionen wie Planung, Lernen, soziale Interaktion, Intelligenz- und emotionalem Quotient (Prof. Dr. Annica Dahlström von der Universität Göteborg). Vielleicht ein Grund, warum Frauen sich stundenlang über Emotionen unterhalten können und Männer eher abgeschreckt reagieren oder vielleicht auch wirklich Schwierigkeiten mit dem Thema allgemein haben und sich schwertun, sich damit zu beschäftigen.
Die Fähigkeit, zu verstehen, wer man ist und welche Dinge im Leben für einen selbst wichtig sind, ist essenziell, um die richtigen Lebensentscheidungen, wie Berufswahl und Partnerwahl etc., zu treffen. Wer sich hier nicht loyal ist und auf sein Gefühl hört bzw. die Selbstwahrnehmung verdrängt oder gar nie gelernt hat, wird sehr viel Glück haben müssen, dass die eigenen Entscheidungen dauerhaft nicht bereut werden. Dieses interne Navi kann uns glücklich und sicher an unser Lebensende bringen oder auch in eine Sackgasse manövrieren, die wir in dem Fall nicht haben kommen sehen oder kommen sehen wollen („biegen Sie rechts ab, biegen Sie rechts ab, neue Route wird berechnet“). Und letzten Endes ist es doch das Glücklichsein, das eine hohe Lebensqualität ausmacht. Diese wird aber auch durch den höchsten IQ nicht gewährleistet werden, wenn Gefühle ignoriert oder nicht verstanden werden. Manchmal kann schlau also auch dumm sein.
Charaktereigenschaften, die sich im Laufe des Lebens entwickeln hatten, auch wenn sie in der Gegenwartentweder nicht hilfreich oder sogar störend sind, hatten irgendwann einmal einen Sinn bzw. eine Funktion (zum Beispiel den Drang zur Kontrolle seines Umfelds kann bei einem Kind oder Jugendlichen dazu führen, dass das Leben in eine geebnete Richtung mit Ausbildung und gutem Job führt. Allerdings kann es im Laufe der Zeit auch dazu führen, dass eine Beziehung schwierig wird und zwischenmenschliche Aktionen von anderen, bei hohem Kontrollzwang, als irritierend wahrgenommen werden). Diesen Kontrolldrang loswerden zu wollen, kann ein erster Schritt in Richtung Änderung des Selbst sein. Dafür ist notwendig, dass derjenige sich selbst erkennt und die Entwicklung und Funktion seines Charakters bzw. seiner Persönlichkeit nachvollziehen kann und die Ursache dieses speziellen Verhaltens versteht. Erst dann kann eine Änderung möglich werden und effektiv sein. Eine emotionale Beratung (auch bei einer Psychotherapie) muss als Erstes ein Ziel der Beratung festlegen. Hieraus muss sich dann das Konzept ableiten, wie man dieses Ziel erreichen kann. Eine strukturlose Therapie wird auch ein strukturloses Ergebnis mit sich bringen, die oftmals in Unzufriedenheit endet. Ein maßgeschneidertes, individuelles Konzept mit Ziel- und Zwischenzielformulierungen hingegen hat viel größere Erfolgschancen, da sich der Klient direkt und persönlich beraten fühlt.
Wie der eigene Horizont auf den EQ Einfluss nimmt, ist ebenfalls hochinteressant und in unserer Umwelt täglich beobachtbar. Der Dunning/Kruger Effekt21 kommt hier ins Spiel. Dazu eine Geschichte: 1995 gab es einen 44-jährigen Mann in Pittsburgh, der sich Folgendes überlegt hatte. Zitronensaft wird für unsichtbare Tinte benutzt, die unter Wärme sichtbar wird. Wenn man sein eigenes Gesicht mit Zitronensaft einschmiert, dürfte es dann für die Überwachungskameras in Banken ebenfalls unsichtbar sein. Das perfekte Verbrechen! Also beschmierte sich Herr Wheeler mit Zitronensaft und raubte am helllichten Tag 2 Banken ohne Maske oder sonstige äußere Veränderung seines Gesichts aus. Er lächelte in die Überwachungskameras, denkend, dass niemand ihn sehen oder ihm etwas anhaben konnte. Als die Polizei später am Abend vor der Tür stand und ihn verhaftete, war er ratlos, wie sie ihn ausfindig gemacht hatte. Als er die Videoaufnahmen von sich sah, konnte er es kaum glauben, seine Antwort: „Aber ich trug den Saft!“ Ein Psychologe namens David Dunning, der zu der Zeit an der angesehenen Universität Cornell in NYC arbeitete, fand diese kleine Episode interessant und arbeitete mit einem Studenten namens Justin Kruger den „Dunning-Kruger Effekt“ aus. Dieser besagt, dass Menschen mit niedrigerem IQ ein höheres Selbstbewusstsein entwickeln, weil sie der Ansicht sind, dass sie bereits viel wissen, was daran liegen könnte, dass ihr Horizont kleiner und dieser nahezu voll erschöpft ist. Menschen mit hohem IQ sehen, was sie alles nicht wissen, und fühlen sich dementsprechend klein und sehen die Dinge mit etwas mehr Bescheidenheit. Hierzu gibt es aber natürlich auch Ausnahmen. Es wurde Schachweltmeistern in der Vergangenheit mehrfach ein übertriebenes Ego vorgeworfen. Bobby Fischer, der wohl bekannteste Schachspieler aller Zeiten, sagte einmal: „Ich liebe den Moment, in dem ich das Ego meines Gegners zerbreche.“ Und ein weiteres Zitat: „Erwähne nicht das Wort ‚Niederlage‘ in meiner Gegenwart. Ich kann nicht einmal den Gedanken daran ertragen.“22 Schach ist nun mal psychologische Kriegsführung.
21 Kruger, J. & Dunning, D. (1999). Unskilled and unaware of it. How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. Journal of Personality and Social Psychology. 77, 1121–1134. (Stangl, 2020)
22 https://www.chess.com/de/article/view/die-besten-zitate-von-bobby- fischer
Das große Selbstbewusstsein von Menschen mit kleinem Horizont begegnet uns täglich und zeigt sich gelegentlich in einer krassen Fehlwahrnehmung. Beispielsweise Menschen im Schwimmbad, die sich als nahezu Nichtschwimmer (liebevoll unter Schwimmern auch „Schildkröten“ genannt) auf eine Schwimmerbahn begeben und glauben, sie wären da richtig, aber in Wahrheit den Schwimmbetrieb aufhalten. Ein anderes Beispiel findet sich auf der Straße. Männliche junge Autofahrer, die besonders viele Unfälle verursachen, haben erstaunlicherweise trotzdem ein hohes Selbstbewusstsein bezogen auf ihre Fähigkeiten: Ein weiteres schönes Beispiel sind TV Sendungen, in denen sich junge Leute die Möglichkeit erarbeiten können, entweder einen Plattenvertrag, eine TV Karriere oder sonstiges zu erreichen und damit Berühmtheit und Reichtum zu erlangen. Das zieht aber nicht nur die absolute Spitze der Zunft in die Castings. Immer wieder kommt es zu peinlichen Vorstellungen, die die Teilnehmer selbst manchmal gar nicht als solches wahrnehmen. Ein klassischer Fall von Dunning-Kruger. Der Begriff „Intelligenz“ wurde von den beiden allerdings bewusst aus der Definition herausgelassen. Die entsprechenden Menschen sind nicht per se dumm, ihnen fehlt nur die Wahrnehmung für die eigene Person in Bezug auf das, was sie sagen oder tun. Ähnliche Beispiele finden sich in der internationalen Politik, was natürlich entsprechende gefährliche Konsequenzen mit sich bringen kann, wenn Menschen in Macht ihr Können und Wissen überschätzen.
Menschen mit starker Wahrnehmung, sagen wir mit großen Antennen, spüren schneller und besser, was sie selbst, aber auch was andere fühlen. Das gibt ihnen die Fähigkeit, emotional besser auf Situationen zu reagieren, aber es bedeutet auch, dass es schnell zu Frustration kommen kann, wenn sie mit Menschen zu tun haben, die diese Fähigkeit nicht oder nur begrenzt besitzen und damit nicht wie erhofft agieren/reagieren.
Ein Beispiel:
Nehmen wir an, Herr A arbeitet im Büro als leitender Angestellte und hat viel mit Personalangelegenheiten zu tun. Er ist ein gutmütiger Mensch, der immer versucht, den Kollegen entgegenzukommen und Konflikten aus dem Weg zu gehen. Menschen mit hohem emotionalen Einfühlungsvermögen sind zumeist auch sehr sensible Menschen, die ein hohes Harmoniebedürfnis haben und nicht gerne streiten. Der Angestellten B hat die Angewohnheit, sich seinen Kollegen als führende Persönlichkeit darzustellen, die er in Wahrheit aber nicht ist. Den meisten Kollegen fällt das nicht auf, aber Herr A merkt, wie es ihm zunehmend ein Dorn im Auge ist. Da er Konflikte gerne meidet, hat sich die Situation für ihn lange hinausgezögert, ohne dass dem Angestellten B dieser Konflikt bewusst ist. Herr B kommt morgens pfeifend ins Büro und präsentiert sich lautstark dem Kollegium wieder und wieder. Hierbei ist interessant zu vermerken, dass in der Familie von Herrn B viele Menschen in höheren Positionen arbeiten, sodass B immer das Gefühl von Wichtigkeit vermittelt bekommen und überhaupt keine Zweifel an seiner Person hat. Er gesellt sich gerne zu Diskussionen zwischen Herrn A und einem anderen leitenden Angestellten, mit der er aber prinzipiell gar nichts zu tun hat. Erschwerenderweise kommt hinzu, dass Herr B seine Arbeit sogar sehr gut meistert und ein fachlich wertvoller Mitarbeiter ist. Da Herr A der leitende Angestellte ist, muss er, entgegen seiner üblichen Vorgehensweise, entscheiden, ob er das Verhalten von Herrn B weiterhin toleriert und damit das Risiko eingeht, dass sich die Situation für ihn persönlich weiter zuspitzt, oder ob er ein Machtwort spricht und einen ansonsten guten Mitarbeiter, der in den Augen der anderen Kollegen keine große Irritation darstellt, in die Schranken weist und damit auch gegebenenfalls den Unmut von Herrn B und dem anderen Personal auf sich zieht. Es ist nicht gesund, Ärger in sich zu behalten, da es das autonome Nervensystem in Richtung Sympathikus schiebt und damit auch Schlaf, Erholung und viele physiologische Prozesse behindert. Das heißt im Klartext, Ärger in sich hineinzufressen macht krank. Daher sollte Herr A irgendetwas unternehmen, ohne jedoch dem ahnungslosen Herrn B zu sehr auf die Füße zu treten. In diesem Fall entschied er sich, Herrn B in sein Büro zu bitten und erstmal seine Freude zum Ausdruck gebracht, dass es Herrn B so gut geht, allerdings sollte er doch bitte mit seinem Gepfeife aufhören und sich nicht unnötig darstellen. Hiernach gab es keine weiteren Zwischenfälle. Diese oder ähnliche Situationen wiederholen sich ständig in der Arbeitswelt und werden häufig nicht ernst genommen, aber für die Betreffenden, die dadurch grübelnd nach Hause gehen und morgens mit Bauchschmerzen in die Arbeit kommen, wird es auf Dauer zu einer Belastung, die sich nicht von selbst lösen wird. Oftmals werden solche Situationen als banal eingestuft, aber Menschen, die diese Atmosphäre spüren, ist es ein Bedürfnis, darüber zu sprechen und Probleme aus der Welt zu schaffen. Kommunikation ist hier das A und O. Schon in der Erziehung werden die Grundlagen der kommunikativen Fähigkeiten gelegt, die später im Berufsleben oder auch im Privatleben eine hohe Relevanz einnehmen.
Natürlich muss man nicht alles auf die Goldwaage legen, denn wie Konrad Adenauer schon sagte: „Nehmen Sie die Menschen wie sie sind, andere gibt’s nicht“ und: „Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen
Horizont.“23
23 https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_konrad_adenauer_9.html
Eltern-Kind-Beziehung
Ein weiteres Beispiel ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Die Kinder „loslassen“ zu können, ist nicht für alle Eltern gleich einfach. Manche Eltern haben das Bedürfnis, ihre Kinder in ihrer Nähe zu haben und sie mit Aufgaben oder Forderungen zu binden. Damit ist die weitere Entwicklung eines jungen Erwachsenen gehemmt und kann zu einem deutlichen Konflikt führen, der sich ebenfalls nicht von allein löst. Entweder man kommt den Wünschen/Forderungen der Eltern nach und nimmt die eigenen Einschränkungen hin oder man distanziert sich, entwickelt sich nach eigenen Wünschen, was allerdings auch Schuldgefühle mit sich bringen kann, entweder aktiv durch Elternanteile oder durch das eigene Seelenleben.
X ist eine 30-jährige junge aufstrebende Managerin, kommt aus einer guten Familie und arbeitet in einer größeren Firma. Sie ist mit einem Jurist verheiratet und hat eine kleine Tochter. Obwohl die Eltern der kleinen Familie eine Wohnung gekauft haben, haben sie sich entschieden nicht dort zu wohnen, sondern 50 km weiter zu ziehen, um näher bei der Arbeit zu sein. Frau X ist in ihrer Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter immer den Wünschen der Eltern nachgekommen, ohne auf ihre eigenen Gefühle zu hören oder sich durchzusetzen. Der Umstand, dass die beiden die Wohnung der Eltern abgelehnt haben, hat zur Folge gehabt, dass bei jedem Treffen Schuldzuweisungen seitens der Mutter vorgebracht werden. Sie sei zu weit weggezogen, die Mutter fühle sich im Stich gelassen, ihre Großmütigkeit werde nicht akzeptiert und die Tochter sei undankbar. Das Verhältnis wird nun bei jedem Treffen belastet. Dramatisierend kommt die Drohung der Mutter hinzu, sich umzubringen, wenn die Tochter nicht ihren Wünschen entspricht. Wie soll so eine Beziehung sich normalisieren? Die Wahrnehmung der Mutter bezieht sich nicht auf das Wohlbefinden der Tochter, sondern ausschließlich auf sich selbst, was einen hohen Grad an Egoismus offenbart. Durch die jahrelange Akzeptanz der Tochter und Umsetzen der Wünsche der Mutter hat Frau X selbst keine neutrale Wahrnehmung der Situation. Sie kommt nicht von selbst darauf, dass die Mutter sie manipuliert, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Auch solche oder ähnliche Situationen sind auf der ganzen Welt keine Seltenheit und führen bei den Betroffenen zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität und zu einer Verminderung des Glücklichseins.
Partnerschaft/Selbstwertgefühl
Aber nicht nur die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, sondern auch unter Partnern ist eine potenzielle Quelle für Stress. Wenn eine Beziehung für mindestens eine von beiden Partnern unzufriedenstellend ist, folgt normalerweise eine Trennung, wenn sie als nicht haltbar erscheint. Um in einer Beziehung den Schlussstrich zu ziehen, ist allerdings von demjenigen, der Schluss macht, die Stärke notwendig, dies zu tun. In genügend vielen Fällen fehlt dies beiden Partnern, was zu einem langen Hinauszögern der Beziehung bei beidseitiger Unzufriedenheit führt. Schluss zu machen, erfordert ein gewisses Maß an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Es bleibt das Wissen, oder zumindest das Gefühl, dass man wieder einen Partner finden wird, zu dem man passt und eine Beziehung neu aufbauen kann. Wenn dieses Gefühl fehlt, wird man sich mit dem, was man hat, eher zufriedengeben und nimmt auch eine Beziehung in Kauf, die weit von seiner Idealvorstellung entfernt ist. Dieser Zustand ist nicht lange haltbar, ohne dass zumindest einer von beiden, aber meistens doch beide, einem erhöhten Stress ausgesetzt ist. Wie man mit dem Partner Schluss macht, ist jedoch auch bezeichnend für die eigene Persönlichkeit. Beschimpfungen, Beleidigungen oder sogar öffentliches „Hating“ inklusive Veröffentlichung von Fotos oder andere Verunglimpfungen sind mittlerweile, im Zeitalter der sozialen Medien, nicht mehr selten. Eine solche Trennung kommt ebenfalls durch ein mangelndes Selbstwertgefühl zustande. Es ist eine Art, sein eigenes Ego aufzuwerten und sich darzustellen, da man mit dem vorhandenen „Ich“ nicht zufrieden ist. Diese Tatsache ist kein Trost für das Opfer, kann aber zu mehr Verständnis führen und (hoffentlich) zu einer besseren Partnerwahl.
Die Umstände, unter denen man sich für einen Partner entscheidet und sich bindet, sind für den langfristigen Erfolg der Beziehung wichtig zu beleuchten. Schwierig ist es, wenn diese Bindung auf der Basis von Angst aufgebaut ist. Angst, keinen anderen Partner zu finden, Angst davor, nicht allein sein zu können und Angst davor, keine Kinder mehr zeugen zu können, sind eine negative Motivation bzw. ein negativer Antrieb, der eine Verblendung verursachen kann und verhindert, dass man den Partner wirklich kennenlernt. Wenn man den Partner nicht wirklich kennt und sieht, wie er wirklich ist, ist die Verwirklichung einer erfolgreichen und glücklichen Beziehung vom Zufall abhängig. Und wer möchte sein Leben und sein Glück schon dem Zufall überlassen? Trotzdem gibt es genügend Menschen, die sehr früh im Leben heiraten, bevor sie herausgefunden haben, wer sie sind und wer ihr Partner ist. Die Lebenserfahrung ist noch bescheiden ausgeprägt. Die Gesellschaft, die Familie, und vielleicht der Freundeskreis haben bestimmte Vorstellungen davon, wie der Ablauf einer „normalen“ Beziehung sein sollte, und viele Pärchen fühlen sich, ob bewusst oder unbewusst, unter Druck gesetzt, diese Vorstellungen zu erfüllen. Man muss heiraten, Kinder bekommen, einen Hund haben, Tennis und Golf spielen, Kinder sollten ein Musikinstrument spielen etc. 10 Jahre später sind die beiden Partner in diesem Leben festgebunden, ob sie es nun wollen oder nicht. Die Vorstellung davon, wie sein Leben ursprünglich mal aussehen sollte, ist dann nicht mehr entscheidend, da nun nur noch wenig Flexibilität herrscht. Träume und Wünsche, die man als Jugendlicher und junger Erwachsener mal hatte, sind, wenn überhaupt, nur noch schwer umzusetzen.
Distanzlosigkeit
Wenn sich hieraus eine unglückliche Situation für die Beteiligten ergibt, aber sich kein offensichtlicher Ausweg darstellt, so ist der Nährboden für Fremdgehen und/oder eine zunehmende Suchtgefahr gelegt. In dieser Beziehung werden zumeist beide Partner nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie sich wünschen, und suchen sie dann woanders. Dies kann sich als tatsächliches Fremdgehen oder auch schon in kleineren Gesten manifestieren. Ob es unpassende Streicheleien, „zufällige“ Berührungen, unangebrachte Gesprächsthemen aufbringen etc. sind, diese Dinge entstammen einer tieferen Problematik und können schnell in ein echtes Problem ausarten, wenn dieser Art Distanzlosigkeit keine Grenzen gesetzt werden. Distanzlosigkeit muss sich aber nicht auf sexuelle Inhalte beschränken. Es ist auch die Schwiegermutter, die sich ohne Erlaubnis der Eltern in die Erziehung der Enkel drängt, der Besucher, der sich als Gast unangemessen aufdrängt und Privatsphäre nicht respektiert, oder der Bruder/die Schwester, der/die sich in alles einmischt, ohne eigene Kenntnis der Sachlage zu haben. Auch diese Situationen sind ubiquitär in praktisch allen Bereichen des Alltags vorhanden, mal mehr, mal weniger, aber sie können in einer Gemeinschaft schnell die Harmonie stören und zerstören. Diese Dinge sollten von dem Betroffenen frühzeitig wahrgenommen und nicht als harmlose Geste abgetan werden, da sie sich häufig hochschaukeln, weil der Distanzlose dies als Zeichen wahrnimmt, die Grenzen seines Verhaltens weiter zu testen, und damit eine Eskalation anstrebt. Natürlich möchte man niemanden mit einer klaren Grenze vor den Kopf stoßen, und das passiert in solchen Situationen häufig. Reaktionen wie „so war das doch gar nicht gemeint“, „sei doch nicht so“, „wie bist du denn drauf?“ sind vorprogrammiert, dürfen aber gerne an einem abprallen, da sich zu äußern, wenn einem etwas unangenehm ist, kein Verbrechen ist. Machen Sie nicht die Probleme anderer zu Ihren eigenen. Wenn wir jemand haben, der sich häufig distanzlos verhält, aber niemand ihm jemals eine direkte Rückmeldung gibt, hat dieser auch nie die Chance sich Gedanken zu machen, vielleicht realisiert er überhaupt nicht, dass seine Umgebung sich gestört fühlt, vor allem, wenn man sich schon lange kennt.
Jeder muss irgendwie sein Leben strukturieren und planen. Manche tun das mit einer ausgesprochenen Akribie, andere praktisch gar nicht. Ein großes Problem hierbei entsteht, wenn andere über den eigenen Alltag bestimmen, sei es durch Auferlegen von privaten oder beruflichen Pflichten oder durch Aufdrängen einer Rolle, die man nicht einnehmen möchte oder kann. Solche Situationen sind häufig in unserer Gesellschaft und können hier anhand von 2 Beispielen erläutert werden:

1 Eine 70-jährige Mutter von 4 Kindern lebt allein und ist aufgrund dessen, dass sie nie eigenständig im Leben stehen musste, nach dem Tod ihres Mannes einsam und sehnt sich nach Aufmerksamkeit und Fürsorge. Sie war schon immer aufmerksamkeitsbedürftig, aber nun, da sie keinen Partner hat, lässt sie das ihre Kinder umso mehr spüren, indem sie sich bei Alltagsproblemen hilflos stellt, um deren Hilfe in Anspruch zu nehmen, sich umsorgt fühlt und Gesellschaft hat. Immer wieder hat sie Probleme, die sie mit ein bisschen Engagement selbst lösen könnte, stattdessen bemüht sie immer wieder die Kinder, ihr zu helfen. Die Rollen von Eltern und Kindern scheinen hier vertauscht (Parentifizierung), was für die Kinder eine Belastung sein kann. Zusätzlich müssen sie (unnötigerweise) Zeit von ihrem Alltag abzwacken, um der Mutter zu helfen. Tun sie das nicht, sind Vorwürfe und schlechtes Gewissen voraussehbar. Das Gefühl, dass ständig neue Probleme entstehen, bei denen man aushelfen muss, kann für einen in Vollzeit arbeitenden Menschen, vielleicht noch mit Familie, eine emotionale Last sein. Dies v. a. dann, wenn derjenige, der die Hilfe/den Gefallen einfordert, sie/ihn nicht unbedingt braucht. Diese Situation ist nicht zu verwechseln mit Eltern, die wirklich Hilfe brauchen, sie aber nicht forciert einfordern. Diese zu gewährleisten, ist für viele Kinder eine Selbstverständlichkeit, wenn auch nicht für alle.

 
 

2 Eine 32-jährige junge Frau ist Mutter von 2 kleinen Kindern und hat gerade wieder angefangen, zu arbeiten, nachdem sie eine Elternzeit-Pause eingelegt hatte. Die beiden Großeltern der Kinder sind berentet und wohnen nicht weit weg. Die Mutter der Kinder bemüht immer wieder die Großeltern, auf die Kinder aufzupassen, ohne diese explizit zu fragen, ob sie etwas dagegen hätten. Sie nimmt es als selbstverständlich an, dass die Großeltern zur Verfügung stehen, wenn sie arbeitet. Die beiden lassen sich immer darauf ein, da sie nicht möchten, dass sie als „schlechte“ Großeltern dastehen und ein schlechtes Gewissen bekommen. Ob sie damit einverstanden sind oder dabei eine Last empfinden, wird die Tochter niemals erfahren, wenn sie nicht miteinander darüber sprechen. Ein solches Gespräch gehört an den Beginn dieser Ereigniskette und nicht erst nach mehreren Wochen, Monaten oder Jahren. Sobald dies zu einer Routine geworden ist, wird es immer schwerer die Situation seitens der Großeltern anzusprechen, ohne dass die Tochter mit Unverständnis reagiert.

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