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Krankheitsförderliche Lebensweise

Was bringt uns aus dem Gleichgewicht und führt so zu einer krankheitsförderlichen Lebensweise?

Gegenspieler der Balance bei dauernder Einwirkung:

•Dauer-Stress, Ängste

•Sozialvergleich, soziale Ungerechtigkeit

•Krankheitsförderliche Ernährung bei sitzender Lebensweise

•Einschränkung der Körperwahrnehmung mit Entäußerung (Exo-Skelett durch „Experten“)

•Alltage, die „pausenlos, schlaflos, bewegungslos, maßlos, sinnlos, bodenlos, bindungslos, atemlos“ sind.

Diese Themen werden wir noch ausführlich bei dem Fokus auf die Situation der Kinds-Eltern und auf die Bedeutung von Dauer-Stress und Burn-out bei den Eltern anschauen.

Die epigenetische Bedeutung von Lebensstilen

Die Lebensgewohnheiten haben nun eine zentrale Wirkung auf die Physiologie des Körpers und speziell des Gehirns, derart, dass die gewählte oder geforderte Nutzung der körperlichen und psychischen Herausforderungen über eine längere Zeit Informationen für die Zellen und die Gene in den Zellkernen darstellen. Dort wird dann über mehrere Zwischenschritte durch Enzyme und Botenstoffe festgestellt, dass einige Eiweiße wenig genutzt wurden, die Produktion also offensichtlich eher unwichtig ist, bei anderen quasi ein Mangel herrscht und mehr angefordert ist.

Da die Gene für die Eiweißproduktion von z. B. Enzymen zuständig sind, bedeutet das, dass die Arbeit einiger Gene abgeschaltet oder gedrosselt wird, andere Gene dagegen angeschaltet bzw. zur verstärkten Arbeit angeregt werden. Das nennt man Epigenetik, weil dies von speziellen Botenstoffen um die Gene herum bewirkt wird, und zwar sehr spezifisch und passgenau.

Die Epigenetik bestimmt sozusagen das Muster der aktiven und passiven Gene und reagiert empfindlich auf den Lebensstil. Einfach dargestellt wird das Leben dann auf epigenetischer Ebene in der Summe lebensförderlich oder auch vielfach bei unserer heutigen westlichen Lebensweise krankheitsförderlich geschaltet.

Das eröffnet uns einerseits großartige Möglichkeiten, ist auch eine Grundlage des Satzes: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Wir dürfen aber diesen Satz natürlich nicht als Begründung benutzen, um Menschen in schwierigen sozialen Situationen Selbstverschuldung vorzuwerfen, statt gemeinwohlorientiert zu handeln. Aber wir haben doch viel in der Hand, können vieles beeinflussen, müssen auch mit den Folgen leben, wenn wir unsere Physiologie krankheitsförderlich bedrängen bzw. die Herausforderungen mit unseren Mitteln und Ressourcen nicht bewältigen können.

Allerdings wissen wir auch bei der Epigenetik noch nicht genug, um alles gut steuern zu können, wir können lebensförderlich handeln, sollten aber auch demütig bleiben, weil das Leben manchmal auch Krankheiten für uns bereithält, die trotz bestem gesundheitsförderlichem Bemühen entstehen und dies für uns eben unerklärlich bleiben kann.

Und von einer epigenetischen Kontrolle einzelner Gene sind wir in den meisten Fällen noch weit entfernt. Aber wir wissen mittlerweile, dass lebensförderliche Lebensstile funktionieren, sich also epigenetisch in den meisten Fällen sehr günstig auswirken.

Was ebenfalls sicher ist:

Das Beste für Kinder ist es, wenn es den Eltern gut geht! Am besten schon vor der Empfängnis!

1.7 Die Dunedin-Studie zur Selbstkontrolle

Ich möchte hier jetzt noch abschließend für dieses Kapitel eine Studie anführen, die die ganze Bedeutung einer hinreichend gesunden Hirnentwicklung mit guter Ausbildung der Selbststeuerungs-Funktion zeigt. Diese Studie hat hohe Beachtung und Anerkennung in der Wissenschaft gefunden. Solche Langzeitstudien mit einer Beobachtungszeit über mehrere Jahrzehnte sind ungemein wichtig und bringen besondere Zusammenhänge zutage.

Die Studie

1972 startete an der medizinischen Universität-Klinik in Dunedin in Neuseeland ein Langzeitprojekt der Abteilung für Präventiv- und Sozialmedizin der Universität von Otago (Studienleiter Richie Poulton), das über mehrere Jahrzehnte angelegt war.4 Alle in der Stadt innerhalb eines Jahres geborenen Kinder (Anzahl ca. 1.000 Kinder) wurden erfasst. Alle diese Kinder wurden von Ärzten und Psychologen regelmäßig (alle zwei Jahre) in den ersten elf Jahren einen ganzen Tag lang im Beisein der Eltern untersucht. Nachfolge-Termine gab es im Jugendalter und zum Abschluss mit 32 Jahren. Das Ziel der Studie war es, die Entwicklung der Selbstkontrolle zu beobachten und zu sehen, wie sich dies im weiteren Leben im Jugendlichen-Alter und als Erwachsene auswirkt.

Sozioökonomischer Status, ADHS-Diagnosen und Geschlechter-Differenzen konnten statistisch herausgerechnet werden.

Das Ergebnis war sehr deutlich:

Kinder, die nur eine geringe Fähigkeit zur Selbstkontrolle ausbilden konnten, zeigten im weiteren Leben im Alter zwischen 13 und 18 Jahren gehäuft Auffälligkeiten im Vergleich zu den Kindern, die eine gute Selbstkontrolle entwickelt hatten, z. B.:

•häufiger Schulabbrüche

•häufiger Schwangerschaften bzw. Schwängerungen

•mehr Raucher

Bei den Erwachsenen mit 32 Jahren fiel bei denjenigen, die als Kinder eine geringere Selbstkontrolle ausgebildet hatten, auf:

•der körperliche Gesundheitszustand war schlechter

•sie waren sozial schlechter gestellt

•häufiger alleinerziehend

•verdienten weniger

•hatten häufiger finanzielle Probleme

•waren häufiger drogenabhängig

•und häufiger straffällig geworden.

Diese Ergebnisse, durch die die Lebens-Chancen bei einem gesunden und glücklichen Leben der Kinder gut abgebildet sind, sind eine klare Aufforderung an alle Eltern, ihren Kindern eine gesunde Hirnentwicklung zu ermöglichen und für die Politik eine Verpflichtung, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Eltern diese Aufgabe meistern können! Außerdem ist dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft die jungen Menschen, die diese Liebe nicht erfahren konnten, nicht aufgibt, sondern ihnen zweite Chancen bietet, sich mit liebevoller Unterstützung hier heraus zu entwickeln.

Kurze Zusammenfassung

Kinder, die in liebevoller Umhüllung mit gesunder Hirnentwicklung und sicherer Bindung aufwachsen konnten, weisen folgende Merkmale auf:

•Genügend lange Telomere bei der Vererbung

•Stressarmes Wachsen im Mutterleib

•Initiale Stillzeit, hohe Oxytocin-Ausschüttung

•Dyadische Kommunikation

•Unbehinderte Entwicklung des Gehirns

•Gute Ausbildung und Training des ventralen Vaguszweigs

•Angemessene Ernährung nach der Stillzeit

•Vorbildfunktion der Eltern mit Medien

•Sehr sparsame kindliche Medienerfahrung

Diesen Kindern geht es in den allermeisten Fällen gut und sie sind in guter Gesundheit. Dies gelingt immer dann gut, wenn Eltern ihre Kinder lieben können, so wie sie sind. Dieser Satz endet mit einem Punkt! und nicht etwa mit einem Komma und einem dann folgenden „aber“ oder „wenn“. Darauf weist André Stern in seinen Vorträgen und Büchern immer wieder hin (siehe Literaturliste).

Wir kommen auf diese Merkmalsliste in Kapitel 3 zurück, wenn wir uns die aktuelle reale Situation der Kinder in Deutschland anschauen.

Jetzt in Kapitel 2 gehen wir erst einmal in der Übersichtsgrafik noch weiter zurück zu der Zeit der Eltern vor der Empfängnis, schauen uns ihre Verfassung an in Bezug auf ihre Gesundheit und ihre Kompetenzen und was es bedeutet, wenn sie Kinder bekommen.

Kapitel 2 ELTERN

Kapitel 2 Eltern

Eigene Erfahrung von über Jahre andauernder gelungener Partnerschaft zeichnet die Menschen aus (eines der Hauptmerkmale), die mit 50 Jahren von Zufriedenheit mit ihrem Leben berichten. Diese Menschen leben meist in guter Gesundheit.

Dieses Kriterium lässt sogar die Prognose guter Gesundheit auch mit 75 Jahren sowohl körperlich als auch psychisch sehr verlässlich zu. (Harvard-Langzeitstudie zur Gesundheit seit 1938)5

Prof. Robert Waldinger als Leiter der Studie betont, dass sich damit der Gesundheitszustand besser vorhersagen lässt als beispielsweise mit den Cholesterinwerten.

(Zur häufigen Fehleinschätzung der Bedeutung von Cholesterinwerten siehe auch mein Buch „Schutz vor Burn-out“, S. 140f.).

Auf mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland trifft „gute Gesundheit“ aber nicht mehr zu. Wie ist die gesundheitliche Verfassung der Deutschen?

Wir schauen uns daher die Situation der Eltern bzw. der Menschen, die Kinder bekommen wollen, also vor der Empfängnis (in der Mitte der schon bekannten Abbildung) genau an.


Abb. 1: Phasen des Lebenslaufs von der Empfängnis bis zur Erwachsenenzeit

2.1 Gesundheit und Erkrankungen in Deutschland

Gesunde Eltern sind ein Geschenk für die Kinder, aber das können nicht alle Kinder erleben. Viele Eltern fühlen sich selbst nicht wohl, haben es schwer, ihr eigenes Leben zu meistern oder müssen mit eigenen Krankheiten fertig werden und einen Umgang damit finden.

 

Fast die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung hat Bluthochdruck in verschieden starker Ausprägung. In unserem Gesundheitssystem gilt das nicht als großes Problem, da man den Blutdruck mit Medikamenten senken und ihn „einstellen“ kann.

So „eingestellt“ ist das Problem weg, wie es jedenfalls scheint. Das stimmt allerdings nicht, denn ein längere Zeit erhöhter Blutdruck ist physiologisch eine manifeste Krise, weil die Regelung des Blutdrucks im Vegetativum ein grundsätzlich ganz stabiles System ist. Wenn es aus der Balance kommt, muss man sich die Ursachen anschauen.

Und dann sieht man regelmäßig, dass ein nicht balancierbarer Anforderungsdruck im Alltag, woher er auch immer kommen mag, offensichtlich die physiologische Regelung zunehmend beeinträchtigt, beim Blutdruck und vielen anderen vegetativen und Stoffwechsel-Funktionen.

Wird dies aber nicht als Krise gesehen, dann bleibt der Alltag unverändert, spitzt sich vielleicht sogar zu. Stress, insbesondere Dauerstress bei einem allgemeinen Anforderungsdruck, der die Bewältigungskräfte übersteigt, bildet dabei die dysfunktionale Grundlage der meisten sogenannten Zivilisationskrankheiten und insbesondere der Zunahme psychischer und psychosomatischer Störungen. Das schauen wir uns jetzt genauer an.

2.1.1 Stress

Dies können wir in der modernen Stress-Diagnostik (siehe Kapitel 5) sehr genau nachweisen. Bei Dauerstress (trotz „eingestelltem“ Blutdruck) kommen viele physiologische Regelungssysteme aus der Balance und wir sehen dann z. B. Burn-out, Depressionen, auch Diabetes Typ 2, die jeweils aktuell etwa jeden fünften der erwachsenen Bevölkerung betrifft (viele auch mit mehreren dieser Krankheiten, da es sich um eine gemeinsame Stress-Ursache handelt). Dass Depressionen oder auch Diabetes Typ 2 u. a. eine Stress-Ursache haben, ist dabei in der Bevölkerung gar nicht so bekannt.

Das Stress-System ist seit Jahrtausenden speziell ausgelegt für Situationen, in denen man kämpfen oder fliehen muss. Wenn beides nicht geht, kann man sich noch „tot“-stellen. Früher waren die Gefahren klar und diese Entscheidungen überlebenswichtig. Wenn der damalige Mensch überlebt hatte, kehrte wieder Ruhe ein und das Stress-System ging in seine Ausgangs-Ruhelage zurück.

Heute sind die Gefahren eher unterschwellig, sie sind vielfach nicht greifbar, aber diese unterschwellige Bedrohungsempfindung (Angst vor Arbeitsplatzverlust, Überforderung, digitales Ausspähen, empfundene Erniedrigung, Ausgeschlossen-Werden, Mobbing usw.) aktiviert trotzdem das Stress-System und lässt es nicht mehr zur Ruhe kommen.

Insgesamt leidet mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter solchem Dauer-Stress, fast drei Viertel der arbeitenden Erwachsenen in Berlin beispielsweise haben keinen erholsamen Schlaf mehr (Studie der DAK, siehe auch S. 148).

Schauen wir uns einige Stress-Gründe genauer an.

2.1.2 Beziehungs-Stress und Trennungen

Gut drei Viertel der Menschen in Deutschland leben in der aktuell üblichen Familienform mit Mutter, Vater oder mittlerweile auch gleichgeschlechtlicher/m PartnerIn und einem oder mehreren Kindern zusammen. Das sagt noch nicht viel über die Atmosphäre in den Familien aus. Denn es gibt immer mehr Menschen, die abnehmende Beziehungs-Kompetenzen haben, nicht mehr in sich ruhen oder im Dauer-Stress leben. Dazu tragen Beziehungskonflikte und häufiger Streit ebenso bei wie der Stress aus den Arbeitsverhältnissen.

Die durchschnittliche Ehedauer in Deutschland beträgt etwa 15 Jahre. Aktuell werden knapp 38 % der Ehen wieder geschieden, etwa 150.000 pro Jahr. Die Eltern der Hälfte davon haben minderjährige Kinder, darunter 20 % mit Kindern zwischen null und fünf Jahren.

Das sind jährlich 15.000 kleine Kinder, die aus ihrer noch märchenhaften Welt durch eine Scheidung herausgerissen werden, auch wenn nach langem Streit oder deutlich gewordener Unvereinbarkeit der Lebensvorstellungen der Eheleute dies auch für einige Kinder so besser ist.

Hinweisen möchte ich darauf, dass in Schweden, wo es schon lange eine Elternzeit für Väter gibt und dies dort auch deutlich genutzt wird, ein deutlich geringeres Scheidungsrisiko bei Paaren besteht, wenn Väter diese Elternzeit genutzt haben.

Die genannten Zahlen sind ein Anhaltspunkt für die Auswirkungen auf Eltern und Kinder, denn die Häufigkeit von Trennungen von Paaren ohne Eheschließung ist statistisch nicht klar erfasst und wird je nach Einstellung zur Ehe als häufiger oder weniger häufig angegeben.

Etwa 17 Millionen Menschen leben in Singlehaushalten, davon sind 1,5 Millionen Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern. Singlehaushalte sind nicht unbedingt von Beziehungs-Stress befreit. Die Single-Situation ist von vielen frei gewählt, von vielen anderen aber nicht. Sie entstehen auch häufig aus Trennungen. Und Stress aus dann nachlaufenden streitbefangenen Themen wie Sorgerecht, Unterhalt, Besuchsregelungen sind sehr häufig. Dazu kommt der Stress durch die Mehrfachbelastung und regelhaft Belastung durch ein schlechtes Gewissen, dass man den Kindern nicht gerecht wird. Und sicherlich auch Stress bei der eventuellen Suche nach einem neuen Partner.

Trennung ist natürlich etwas, das in der Regel nicht gelernt wurde, also auch dann nicht unbedingt gekonnt wird. Notwendig ist es, neben der jeweils eigenen Perspektive der einzelnen Eltern eine gemeinsame Perspektive auf das seelische Erleben des Kindes aufzubauen. Kinder sind, auch wenn sie zu einem Elternteil tendieren, innerlich immer zu beiden loyal und in Liebe bzw. bei Trennung innerlich oft stark belastet. Für Kinder ist es also unbedingt wichtig, dass die Eltern dabei bleiben, dass es eine Liebe als Paar gab, dass sie nicht schlecht über den anderen reden und dass sie das Kind nicht in der Paar-Auseinandersetzung benutzen, dafür in einem Rosenkrieg missbrauchen und/oder das Kind vor unlösbare Aufgaben stellen.

Gelingende Trennung wird dann zwar Arbeit, aber eine gute Arbeit für die Eltern und sie ist gut, weil das Kind dann die beiden innerlich noch zusammen fühlen kann. Andernfalls wird es in der Regel irgendwann krank. Der Zusammenhang wird dabei wegen des oft zeitlich großen Abstands einer Krankheit des „Kindes“ zur damaligen Trennungs-Situation der Eltern und fehlendem psychosomatischen und systemischen Wissen nicht bzw. sehr verspätet erkannt.

Was Trennung für Kinder bedeutet, darüber muss also in der Gesellschaft geredet werden und ggf. wird hier Unterstützung gebraucht (siehe auch Kapitel 4 und 5). Wie gesagt, die Elternzeit der Väter hat offenbar einen stark stabilisierenden Effekt auf die Paarbeziehung.

2.1.3 Stressrelevante Einflüsse der Digitalisierung

Die Digitalisierung z. B. findet in ungebremster Beschleunigung statt und ergreift alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche. Grenzen, Werte und Verantwortung sind der Technologie nicht immanent. Dies bleibt den Menschen als Einzelne und der Gesellschaft als Ganzes überlassen. Dabei ist die Steuerungskompetenz der einzelnen Menschen eben sehr unterschiedlich, die Steuerungskompetenz der Gesellschaft erscheint sehr unzureichend und läuft der Entwicklung hinterher.

Die aktuelle Hirn- und Zellforschung lehrt uns nun heute, dass Risiken der Digitalisierung z. B. bei Fehlnutzung von digitalen Medien im Körper und in den Zellen Schäden anrichten können (siehe Kapitel 3). Dies findet insbesondere dann statt bzw. potenziert sich, wenn Menschen in Überforderung, Erschöpfung und Burn-out sind. Dies unterstreicht noch einmal die Balance-Notwendigkeit durch souveräne Mediennutzung, also Medienresilienz für jeden heutzutage.

Kompetenz zur Selbststeuerung

Für die Frage möglicher pathogener Wirkfaktoren in der Digitalisierung ist es also im Besonderen bedeutsam, ob jemand in guter Selbststeuerung souverän für sich ist, z. B.:

•in der Balance von online und offline,

•in der vegetativen Balance (sichtbar beispielsweise in der Messung der Herzratenvariabilität),

•in der Balance von sofortiger Bedürfnisbefriedigung und Befriedigungsaufschub,

•aber auch in der Erfüllung von eigenen und fremden Erwartungen beim sogenannten Arbeiten 4.0 (der neuen digitalbedingten Arbeitsorganisation mit flex desk, home office u. a.)

•im bewussten und zur Person passenden Vernetzungsgrad online (Smarthome), der noch Kontrolle bzw. Transparenz des Datenflusses aus der Privatsphäre zulässt.

Souveräne Menschen profitieren dann im positiven Sinne im Rahmen eigener Entscheidungen von den Möglichkeiten der neuen Technologien, viele können sie sinnvoll und bereichernd in ihr Leben einbauen.

Bei Menschen mit fragilen und schutzbedürftigen Persönlichkeitsanteilen bzw. fehlender Souveränität im Alltag sind Ängste oder Ignoranz in Bezug auf die Digitalisierung dagegen häufig und ausgeprägt. Aber diese Menschen verhalten sich dabei gerade so, dass sie die Kontrolle und Selbststeuerung aus der Hand geben und so ihren eigenen Ängsten Auftrieb geben. Hier ist Aufklärung und Beschäftigung in der Schule und auch politisch zur Digitalisierung zu betreiben (Kapitel 4 und 5).

2.1.4 Stress-Faktor permanente online-Einbindung

Es werden in der Digitalisierung zunehmend gesundheitlich bedenkliche Entwicklungen bei einer gesellschaftlich relevanten Zahl von Menschen identifiziert, bei der die Art der digitalen Nutzung eine Rolle spielt, wie Stresszunahme durch permanente Smartphone-Erreichbarkeit oder wie die Zunahme der stressbasierten Adipositas, die aber u. a. auch direkt als weitere Folge des Bewegungsrückgangs z. B. bei vielstündigem Gebrauch digitaler Medien am Tag gesehen wird.

Die Bedeutung ständiger Erreichbarkeit durch Smartphones als Stresswirkung fordert insofern vom Einzelnen hohe Kompetenzen in der vegetativen Balancierung, u. a. durch ausreichende Pausen und guten Schlaf. Im klinischen Kontext sehen wir dies bei den meisten unserer Burn-out-Patienten als eines der gravierenden Themen.

Durch die enorme Beschleunigung digitaler Technologien (rasche Innovationsschübe, kurzfristig aufeinanderfolgende Restrukturierungen in Unternehmen) mit zunehmender Eroberung aller gesellschaftlichen Bereiche (z. B. smarte Technologien wie „Smarthome“, Internet der Dinge, Robotik) und einem bereits schon hohen Stresslevel in der Bevölkerung gelingt die Bewältigung der sich ständig ändernden Anforderungen vielen Menschen oft nicht mehr.

Ältere Menschen hatten ihre Kompetenzen für andere, vielfach analoge Prozesse in der Gesellschaft erworben, jüngere Menschen haben ihre Alltagskompetenzen oft nur fragil oder nicht ausreichend ausgebildet.

Die digitalen Anforderungen wirken insofern dabei vielfach als zusätzlicher Stressfaktor. Hat der Betroffene dafür keine ausreichende Bewältigungs-Kompetenz, ist Krankheit die häufige Folge, insbesondere im Rahmen von Burn-out-Prozessen und anderen Stressfolge-Erkrankungen.

Wir wissen, dass Menschen in Burn-out-Prozessen ihre Souveränität in vielen Belangen des Alltags und der Anforderungserfüllung am Arbeitsplatz verlieren. Dies gilt insbesondere, wenn der Anforderungsdruck zunimmt, wie es durch z. B. Alleinerziehung, Pflege von Angehörigen, Mehrfachbelastung von Frauen, aber auch Arbeitsverdichtung, Restrukturierung und Personalverringerung häufig der Fall ist. Dabei werden Arbeitsplätze flexibilisiert, gehen gewohnte Kollegenkontakte verloren und das dauernde Erlernen neuer digitaler Techniken überfordert viele, da sie in kürzester Zeit beherrscht werden müssen. Hier ist die Steuerungskompetenz der Gesellschaft mit der Politik gefragt, die sie allerdings bisher nicht ausreichend wirksam erfüllt.

 

Stressrelevante Einflüsse in der Digitalisierung (Beispiele):

•ständige Erreichbarkeit (verordnet oder selbstinitiiert, „Revierstress“)

•mehrstündige Bildschirmpräsenz (Computerarbeit, Online- oder Smartphone-Nutzung) ohne Pausen

•Ängste vor Verlusten und dem Vergessenwerden bei Social-Media-Kontakten

•Missbrauch von mitgeteilten intimen Daten, Texten, Bildern, Videos, also soziale Nötigung und Cybermobbing

•Ängste vor Ausspähen der Privatsphäre

•Unterbrechungs-Stress durch Smartphone-Kontrolle (100-mal +/- täglich)

•Schlafstörungen durch Fehlnutzung (Überdosis, Online am Bett etc.)

Wie man heute krankheitsförderlichen Dauer-Stress diagnostizieren kann, dazu Kapitel 5, S. 420.