Angst zeigt Gesicht

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Wer es nicht selbst erlebt hat, kann sich kaum vorstellen, wie viel Angst man haben kann, wenn einem immer so massiv gedroht wird. Es ist ein ganz furchtbares Gefühl und auch heute noch steckt es mir tief in den Knochen und ich denke auch, dass es so bleiben wird, auch wenn eine Besserung eingetreten ist.

Dann ging es eine Weile friedlich zu bei uns und mein Geburtstag rückte näher. Ich glaube, es war mein zwölfter. Meine Mutter hatte sich vor längerer Zeit einen Nebenjob am Wochenende besorgt. Sie arbeitete an der Garderobe in einem kleinen Theater. Sie verdiente ganz gut und bekam durch ihre Art und ihre Schönheit – sie war verdammt schön – sehr viel Trinkgeld. Davon sollte ich etwas abbekommen, das heißt, meine Mutter hatte mir versprochen, dass ich zu meinem Geburtstag ein paar Freunde einladen durfte. Sie wollte alles dafür besorgen – Kuchen, Süßigkeiten und was man noch so brauchte. Das war meine erste Party in Deutschland und ich war total aufgeregt vor Freude. Meine Mutter arbeitete immer Freitags- und Samstagsnacht an der Garderobe. Sie kam dann immer Samstag- und Sonntagfrüh gegen sieben Uhr nachhause, trank einen Kaffee und legte sich danach schlafen.

So ging es nun viele Wochen und mein Geburtstag war nun endlich da. Ich bekam einige Geschenke und das Versprechen meiner Mutter, dass am Sonntag alles richtig schön werden wird. Mann, war ich aufgeregt. Dann ging meine Mutter Samstagabend zur Arbeit, so wie immer, man merkte ihr nichts an. Sie war so wie immer. Ich wachte schon früh auf vor lauter Aufregung und wartete nun gespannt, bis meine Mutter endlich heimkam. Es war sieben Uhr und ich guckte aus dem Fenster, aber ich sah meine Mutter nirgends. Es wurde halb acht und ich ging zu meinen Vater und fragte: „Wo bleibt Mama denn nur?“ „Na, die wird wohl gleich kommen“ antwortete er. Sie wollte am Bahnhof, wo die Geschäfte noch offen waren, für meine Geburtstagsfeier einkaufen. Um Viertel vor acht fing es an, in meinem Magen zu rumoren und ich fing zu weinen an.

Mein Vater und Sven fragten mich, was denn los sei und ich antwortete: „Sie kommt nicht, sie kommt nicht nachhause“, lief in mein Zimmer und warf mich weinend auf mein Bett. Papa und Sven wollten es nicht glauben, aber es war so, sie kam nicht.

Als es neun Uhr war, sagte mein Vater zu mir: „Du hast Recht, sie kommt nicht, es tut mir so leid.“ Ich weinte wie verrückt und fragte, was ich falsch gemacht habe, dass sie mich einfach so im Stich ließ und das auch noch an meinem Geburtstag. „Nichts“, sagte Papa und streichelte mir über den Kopf, „nichts hast du falsch gemacht. Sie ist einfach abgehauen, die Hure, und lässt uns hier sitzen. Ohne Geld und ohne Kuchen und alles.“ Nun weinten wir zusammen.

„Was soll ich bloß machen, Papa?“ Später kam doch mein Besuch und ich schämte mich schon jetzt in Grund und Boden. Mein Vater improvisierte, er kochte Kakao und beschmierte Brote mit Marmelade. Ich weiß nicht mehr, was wir uns für eine Geschichte ausgedacht hatten für meine Besucher, aber ich erinnere mich, dass alle sagten, es war gut und wir hatten Spaß. Ja, das hatte ich meinem Vater zu verdanken, dass es noch einigermaßen gut ausging.

Ich fing an, meine Mutter zu hassen, denn ich war mir keiner Schuld bewusst und sie verließ mich Knall auf Fall, ohne Vorwarnung. Hätte sie doch wenigstens etwas Geld da gelassen, aber ich fühlte mich nun noch wertloser und einsamer denn je. Ich glaube, das habe ich bis heute noch nicht ganz verkraftet, denn dieses Gefühl ist oft noch da, wertlos zu sein. Es tut sehr weh. Doch bin ich froh, es auf diese Art und Weise zu verarbeiten.

Wir haben nie wieder darüber geredet, sondern alles totgeschwiegen, wie immer und wie alles andere auch. So nach circa drei Wochen kam ein Brief von ihr, in dem stand, sie brauche ihre Papiere zum Arbeiten. Wir waren wie vor den Kopf geschlagen. Sie war mit einer Frau, die mit ihr an der Garderobe gearbeitet hatte, nach Süddeutschland verschwunden.

Als wir die Adresse hatten, machte sich mein Vater mit mir auf den Weg dorthin, um meine Mutter heimzuholen. Wir fuhren mit dem Auto dorthin und ich hatte weiche Knie, denn einerseits war ich wütend auf sie und schob Hass und andererseits war ich verletzt und hatte Sehnsucht nach ihr. Sie war ja meine Mutter. Als wir uns dann in einem Café trafen, mit der Freundin zusammen, konnte ich nicht anders, als nur fürchterlich weinen. „Komm mal her“, sagte meine Mutter zu mir, „Du brauchst nicht weinen, Papa und ich haben uns ausgesprochen und ich fahre wieder mit euch nachhause.“

Ich war sehr froh, erleichtert und doch voller Angst, denn ich dachte nur immer: „Wann haust du das nächste Mal ab und lässt mich in Stich!“ Zuhause angekommen, guckten alle Nachbarn und sagten: „Schön, dass sie wieder da ist.“ Damit war das Thema wieder für alle erledigt.

Als ich abends in meinem Bett lag, dachte ich an Roswitha, das war die Frau, die mein Vater kennen gelernt hatte und die bei uns war für zwei Wochen, als meine Mutter weg war. Ich ging morgens nichtsahnend ins Wohnzimmer und da lag sie bei meinem Vater im Bett. Meine Augen waren groß wie Kugeln, als ich das sah und ich schämte mich und rannte stotternd in mein Zimmer. „Sven, Sven, wach auf, Papa hat eine fremde Frau im Bett.“ Sven sah mich verschlafen an und sagte: „Was erzählst du für eine Scheiße.“ „Nein, keine Scheiße, guck doch selber“, sagte ich, was er dann auch tat. Danach kam mein Vater zu uns, um die Sache aufzuklären. „Ja, das ist Roswitha“, sagte er, „ich habe sie vor einer Woche kennen gelernt und sie ist jetzt meine Freundin, da eure Mutter ja mal wieder abgehauen ist.“

Wir waren entsetzt und schockiert, ließen es unseren Vater aber nicht anmerken. Christopher war sowieso kaum noch zuhause, er hatte seit einiger Zeit eine feste Freundin und war die meiste Zeit bei ihr. Dann kam Roswitha ins Esszimmer, um mit uns zu frühstücken. Sie stellte sich kurz vor und streichelte mir lächelnd über den Kopf. „Mann, tut das gut“, dachte ich und merkte schnell, dass ich sie sehr lieb gewinnen würde.

Wann hatte ich das letzte Mal so ein Gefühl oder hatte ich es je? Ich war nicht mehr sicher, aber das war mir in diesem Augenblick völlig egal, ich wollte, was mir zustand – Liebe und Geborgenheit. Das würde ich mir bei Roswitha holen und wusste auch, dass ich es bekommen würde. Roswitha war nicht verheiratet und hatte keine Kinder, war aber auf der Suche nach einem festen Partner, mit dem sie eine Familie gründen wollte. Sie dachte nun, den richtigen Mann dazu gefunden zu haben. Roswitha hatte Urlaub und blieb bei uns und übernahm die Pflichten der Hausfrau. Es war schon komisch, dass plötzlich den ganzen Tag jemand da war, aber gleichzeitig auch ein sehr schönes Gefühl.

Als ich von der Schule kam, gab es gleich was zu essen (Sonst aßen wir immer abends mit meinem Vater.), aber heute war es anders. Ich brauchte auch nichts im Haushalt zu helfen – im Gegenteil, ich machte Hausaufgaben und Roswitha saß neben mir und sah zu. Es war ein sehr schönes Gefühl. Als ich fertig war, ging ich raus zum Spielen und war sehr entspannt, wie schon lange nicht mehr. Mein Vater kam abends nachhause und staunte, dass alles gut gelaufen war. Wir saßen mit ihm am Tisch und erzählten, wie der Tag so verlaufen war.

Dann guckten wir abends zusammen fern und ich rückte an Roswitha heran, um mir schon mal einen Teil meiner Geborgenheit zu holen. Aber da machte mir mein Vater gleich einen dicken Strich durch die Rechnung. Er sagte mir auf Schwedisch, dass ich mich woanders hinsetzen sollte und nicht so dicht bei Roswitha, denn sie sei nicht meine Mutter. Peng, das saß. Ich rückte erschrocken weg und schämte mich, denn obwohl Roswitha kein Schwedisch verstand, hatte Sie begriffen, was mein Vater gesagt hatte. „Ach, lass sie doch, das macht mir nichts aus, im Gegenteil.“ Mein Vater antwortete im barschen Ton: „Ich sagte Nein und jetzt lass es gut sein.“ Am nächsten Morgen war der Frühstückstisch gedeckt und es war ein schöner Start in den Tag, so mit Roswitha.

Als ich dann losgehen wollte, nahm Roswitha mich in den Arm, gab mir einen Kuss und wünschte mir einen schönen Tag. Ich nahm es an und erwiderte es auch und ging wie auf Wolken schwebend zur Schule. Es war ein tolles Gefühl, geliebt zu werden. Ich freute mich schon darauf, wieder nachhause zu kommen. Auch nach der Schule nahm mich Roswitha in den Arm, gab mir einen Kuss und fragte mich, wie mein Tag so war. Dieses Gefühl, wertvoll und geliebt zu sein, einfach so, das wollte ich niemals mehr verlieren.

Auch an diesem Tag war das Essen fertig und es war einfach toll. Ich ging dann wieder nach draußen, um mit meiner Freundin zu spielen. Nach einiger Zeit hörte ich Roswitha nach mir rufen. Ich lief vor das Haus und fragte, was denn los sei. „Komm mal kurz rauf und bring deine Freundin mit.“ Als wir oben waren, fragte ich nochmal, was denn los sei. „Ich habe euch frischen Saft gepresst“, sagte sie. Ich sah sie an und ein Grinsen zog durch mein Gesicht. Ja, sie hatte frische Orangen und Zitronen gepresst und gab mir und meiner Freundin ein Glas.

Ich war so stolz – stolz, endlich mal das zu haben, was ich im Stillen so sehr vermisste – eine Mutter, die für mich da war und mir so deutlich zeigte, wie lieb sie mich hatte. Ja, sie hatte mich lieb und ich hatte Angst, dass es eines Tages vorbei sein könnte.

Meine Freundin fand Roswitha auch sehr nett. Am Nachmittag ging ich nach oben, da meine Freundin weg musste. Roswitha strahlte, als sie mich sah. „Na, Anna, was ist los?“ „Ach“, sagte ich, „meine Freundin muss weg und alleine ist es mir zu langweilig.“ „Komm mal mit“, sagte Roswitha, „ich habe eine Idee.“ Wir gingen in mein Zimmer. Sie legte sich auf mein Bett und sagte: „Leg dich zu mir, Anna, ich lese dir was vor.“ So etwas kannte ich ja gar nicht. Zögernd legte ich mich dazu und Roswitha legte den Arm um mich. Es war ein so warmes, schönes Gefühl und ich kuschelte mich ganz eng an Roswitha an. Dann fing sie an, mir vorzulesen und ich hörte gespannt zu. Nebenbei streichelte sie mir über den Kopf und ich war das glücklichste Kind auf der Welt. Ich genoss es in vollen Zügen.

 

Als mein Vater abends heimkam, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Er war schlecht gelaunt und zeigte es uns auch ganz deutlich. Dann ging er mit Roswitha ins Wohnzimmer und machte die Tür zu. Sven und ich hörten sein Gebrüll, von wegen: „Du bist nicht ihre Mutter, sondern auch nur eine Hure“ und warf sie raus. Sie kam mit verweinten Augen raus, packte ihre Sachen und nahm mich zum Abschied in den Arm und sagte: „Ich hab dich sehr lieb und werde dich nie vergessen, mein Kätzchen.“ Ja, wenn wir alleine waren, nannte sie mich immer ihr Kätzchen. Ich weinte, wollte nicht, dass sie geht, aber sie musste. Es war ein furchtbares Gefühl. Als sie weg war, sagte mein Vater: „Hör auf zu heulen, sie ist nicht deine Mutter.“ „Nee“, dachte ich, „leider nicht.“

Schlimm, solche Gedanken zu haben, finde ich. Wir hörten nie wieder etwas von Roswitha und ich brauchte eine ganze Zeit, um das zu verdauen. Nun, da meine Mutter wieder da war, ging alles so wie immer. Unsere Eltern arbeiteten und wir waren auf uns alleine gestellt. Ich spürte, dass mit Sven irgendetwas nicht stimmte, konnte aber nicht erklären, was mit ihm los war. Er zog sich immer mehr zurück und war verschlossen.

Eines Tages passierte, was wohl passieren musste. Sven hatte Tabletten geschluckt. Meine Mutter hatte diverse Tabletten im Haus, auch Schlaftabletten und Sven schluckte sie. Ich bekam es nicht mit. Er ging nach der Einnahme der Tabletten raus und lief zu den Gleisen und legte sich dort hin, um zu schlafen. Er hatte großes Glück – ein Mann, der dort gerade mit dem Fahrrad langfuhr, hatte Sven gefunden und Feuerwehr und Polizei geholt, nachdem er Sven von den Gleisen gezogen hatte. Und noch immer wusste ich nichts. Am Abend klingelte es an der Tür. Die Polizei stand da und sagte uns, was passiert war. Mir rutschte alles in die Hose – Herz und Hirn. Ich fing sofort an zu weinen. Meine Eltern blieben ruhig und fragten, wo Sven jetzt ist und wie es ihm geht. Der Polizist sagte: „Er ist in der geschlossenen Psychiatrie und bleibt auch erst mal dort, bis er wieder stabil ist.“

Es war eine harte Zeit. Sollte ich jetzt auch Sven verlieren? Ich fragte meine Eltern, ob wir ihn denn mal besuchen können, aber es kam ein ganz klares Nein. Ich war entsetzt, das konnte doch nicht sein, aber es war so. Sven blieb sechs Wochen in der Klinik, bis meine Eltern ihn endlich abholen konnten. Der Professor der Klinik hatte gesagt, dass es ein ganz lauter Hilferuf war und wollte mit unseren Eltern sprechen. Dieses Gespräch fand auch statt, aber wir haben nie erfahren, worüber geredet wurde.

Dann war er endlich da, der Tag, an dem wir Sven heimholten. Ich war aufgeregt und total nervös. Dann sah ich Sven, er saß draußen auf einer Bank und wartete auf uns. Aber statt einer Umarmung meiner Eltern gab es nur laute Vorwürfe, von wegen: „Was hast du dir dabei gedacht, was sollen die Nachbarn denken?“ Aber den absoluten Schock versetzte ihm und auch mir unsere Mutter.

Sie begrüßte Sven mit den Worten: „Guck mal, Rudi, da sitzt der Bekloppte, der sich umbringen wollte.“ Ich sah Sven an und sah seine Tränen. Sah denn sonst keiner was? „Sind denn alle blind?“, dachte ich. Ich nahm Sven in den Arm und dann auch an die Hand und sagte: „Komm mit nachhause.“

„Nachhause“, dachte ich, „was für ein Wort und dann einfach so daher gesagt, obwohl es doch eine ganz bestimmte Bedeutung hat, dieses Wort. Nachhause, geliebt werden, dazu gehören, ernst genommen werden und vieles mehr. Aber gilt das auch für uns?“

Ich war sehr unsicher in allem, vor allem nach der Begrüßung meiner Eltern. Da war wieder etwas zu Bruch gegangen. Ich habe mich später oft gefragt, wie groß eine Seele ist und wie viel man doch daran zerstören kann. Heute weiß ich leider aus Erfahrung, man kann eine ganze Menge ertragen. Und oft denke ich: „Wie schnell kann man etwas kaputt machen – aber reparieren?“ Es dauert meistens ein Leben lang und ist dann auch nur zum Teil ausgeheilt.

Sven ging nach einiger Zeit wieder arbeiten, er wollte doch seine Lehre irgendwann mal beenden. Christopher war nun auch wieder öfter zuhause, da er sich von seiner Freundin getrennt hatte. Mir war das gar nicht recht, aber was konnte ich schon machen, gar nichts.

Dann kam ein Samstag, meine Eltern bekamen Besuch und ich sah zu Sven und wir beide dachten dasselbe: „Hoffentlich geht das gut.“ Unsere Mutter war so gut gelaunt, dass es einem schlecht werden konnte. Christopher war unterwegs und Sven und ich bekamen Geld fürs Kino. Einerseits freuten wir uns, andererseits hatten wir auch wieder mächtig Schiss in der Hose, denn den Ausklang dieser Feier kannten wir schon vorher. Es war ein grauenvolles Gefühl.

Sven und ich saßen draußen vor dem Haus auf einer Bank und beratschlagten, ob wir ins Kino gehen oder lieber zuhause bleiben sollten, um aufzupassen, was geschieht. Nach langem Hin und Her beschlossen wir dann doch, ins Kino zu gehen. Ich weiß bis heute noch ganz genau, dass es ein Film mit Lilo Pulver war, „Kohlhiesels Töchter“. Er war zum Lachen und wir hatten viel Spaß. Zwischendurch sagte ich zu Sven: „Mir wird schlecht, mein Bauch tut weh, irgendetwas passiert zuhause.“ „Ach was“, sagte Sven (Er wollte mich nur beruhigen.), „da ist schon alles in Ordnung.“

Aber ich sah in seinen Augen, dass er selbst nicht glaubte, was er zu mir sagte. Als der Film zu Ende war, gingen wir zum Bus, um dann gleich nachhause zu fahren. Je näher wir unserem Haus kamen, desto schlechter ging es uns. Wir hatten noch ein Stück Fußweg, aber wir gingen nicht schnell, sondern trödelten absichtlich, um nicht nachhause zu müssen. Als wir dann endlich da waren, hörten wir im Treppenhaus schon, was los war. Wir rannten, wie vom Teufel gejagt, nach oben zur Wohnung, schlossen die Tür auf und sahen wieder einmal das ganze Ausmaß dieser tollen Feier. Unsere Mutter lag blutüberströmt im Flur und bettelte, dass unser Vater aufhören sollte, sie zu schlagen und zu treten, aber er war wie von Sinnen. Wir beide schrien ihn an: „Hör auf, du Schwein, sie ist doch schon halb tot.“ Meine Mutter nutzte die Gelegenheit, um sich in der Küche zu verkriechen. Sie kroch auf allen Vieren mit schmerzverzerrtem Gesicht dort hin.

Ich stellte mich schützend vor sie, weil mein Vater wieder nach ihr trat. Aber dummerweise bekam ich den Tritt ab, mitten in den Unterleib. Er sah mich erschrocken an, als ich vor ihm zusammensackte, weil der Schmerz so groß war, dass ich dachte, ich würde sterben. Mein Vater war auf einmal stocknüchtern und half mir auf die Beine. Als ich auf meinen Füßen stand, drehte sich alles und ich erbrach mich dermaßen, dass mein Vater es mit der Angst zu tun bekam.

„Oh Gott, Anna, das wollte ich nicht, bitte verzeih mir.“ Ich sah ihn an und sagte nur: „Lass meine Mutter in Ruhe“ und ging schmerzgekrümmt in mein Zimmer und legte mich auf mein Bett. Ich war vollkommen fertig und Sven kam gleich, um nach mir zu sehen. Er hatte meinen Vater angeschrien: „Du Schwein, jetzt trittst du auch noch Anna.“ Dann weinte er und mein Vater sagte nichts. „Sven“, sagte ich, „sieh mal nach, wie es Mama geht, denn ihr geht es bestimmt sehr schlecht nach der ganzen Schlägerei.“ Meine Mutter lag immer noch auf dem Küchenboden und weinte vor Schmerzen. Sven half ihr auf und brachte sie ins Wohnzimmer, damit sie sich in den Sessel setzen konnte.

Ich ging auch hin, um nach ihr zu sehen. Ich ging wie eine alte und gebeugte Frau, denn der Tritt in den Unterleib hatte es in sich. Im Wohnzimmer sah es wieder mal aus wie auf einem Schlachtfeld, überall umgekippte und kaputte Gläser, volle Aschenbecher, leere und kaputte Flaschen. Ja, hier hatte man sich wieder richtig ausgetobt. Wir halfen unserer Mutter wieder dabei, sich das Blut aus dem Gesicht und von den Händen zu waschen. Danach konnte man dann genau sehen, was alles wieder kaputt und geschwollen war. Sie sah mal wieder grausam aus und mein Vater saß immer noch schweigend da und sagte nichts. Sven und ich machten das Klappsofa zurecht, sodass meine Mutter sich hinlegen konnte.

Dann waren wir beide damit beschäftigt, alles aufzuräumen und sauber zu machen. Als wir das alles fertig hatten, machten wir uns Abendbrot und schauten fern. Es war so still im Raum, dass man eine Stecknadel auf den Teppichboden hätte fallen hören. Keiner sagte etwas.

Am nächsten Morgen war dann alles wie immer. Es lief der gleiche Film – nie wieder passiert es und nie wieder Alkohol und so weiter. Wir kannten diese Leier schon und mittlerweile langweilten uns diese Texte.

Meine Eltern hatten sich abends, als wir im Bett waren, wieder versöhnt. Sven und ich fragten nur, wie es wieder so weit kommen konnte. „Ja“, sagte Papa, „wir haben beide Schuld, aber eure Mutter findet ja kein Ende und dann triezt Sie mich so lange, bis es knallt, obwohl ich immer sage, „Hör auf.“

Ja, das stimmt, meine Mutter fand wirklich kein Ende und sie stichelte wirklich so lange an meinem Vater herum, bis er wirklich explodierte. Aber wir sagten ihm klar und deutlich, dass er trotz allem nicht das Recht hat, meine Mutter immer so zu verprügeln und zu verletzen.

„Guck sie dir doch an“, sagte ich, „man erkennt überhaupt kein Gesicht. Eines Tages schlägst du sie tot.“ Mein Vater saß da und wusste nicht, was er machen sollte. Dann fragte er mich, wie es mir geht und das es ihm so leid tat, mich getroffen zu haben. Ich sagte nur: „Es geht, ich habe starke Schmerzen. Zum Glück sind meine Organe nicht verletzt worden.“

Dann war wieder Ruhe, endlich friedlich und schön. Aber das sollte sich wieder ändern. Einige Monate später war meine Mutter wieder auf und davon und wieder wussten wir nicht, wo sie war. Es war entsetzlich, denn dieser Verlust riss immer wieder unsere Seelen auseinander.

Sven fing nun auch an zu schludern, das heißt, er ging nicht zur Arbeit und tat auch sonst nichts Vernünftiges. Nun hatte Christopher leichtes Spiel mit Sven. Christopher hatte ja schon seine kriminelle Laufbahn begonnen und zog Sven voll rein. Sie machten diverse Einbrüche und ich wusste zum größten Teil davon, bekam es ja mit, wenn sie darüber sprachen. Aber sie machten sich um mich keine Gedanken, denn so verschwiegen wie ich war, brauchten sie keine Angst zu haben.

Es klappte immer gut, sie hatten wohl immer gute Objekte und wurden nie erwischt. Ich profitierte selbstverständlich auch davon. Ich hatte immer Geld in der Tasche. In der Schule gab es Sparbücher, da konnte man Marken kaufen. Ich glaube, eine Marke kostete fünfzig Pfennig und ich hatte gleich mehrere Sparbücher davon. Natürlich wurde mein Lehrer aufmerksam und sagte: „Anna, wo hast du denn das viele Geld her?“ Aber ich war ja auch schon mit allen Wassern gewaschen und sagte: „Das habe ich zuhause gespart.“ Mein Lehrer sah mich an und meinte: „Wo kommt denn so viel Geld zum Sparen her?“ Ich hatte wieder sofort eine Antwort parat, ich sagte: „Ich gehe für Nachbarn einkaufen und helfe überall, wo ich helfen kann.“ Das war auch nicht gelogen, so verdiente ich mir mein Taschengeld. Das Einzige, was nicht stimmte, war die Menge des Geldes, aber da ich ja gesagt hatte, ich habe schon lange zuhause gespart, musste er mir glauben und die Sache war erledigt.

Eines Tages hatten Christopher und Sven ein richtig großes Ding vor. Ich hatte Angst, es könnte schief gehen, aber beide meinten nur: „Nee, klappt schon.“ Dann war es soweit. Sie gingen abends aus dem Haus und kamen in der Früh wieder heim mit einem großen Haufen Geld. Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Und wieder ging alles glatt – viel zu glatt für meinen Geschmack.

Einige Zeit später packte die beiden das Reisefieber. Sie klauten das Auto meines Vaters und machten sich auf den Weg nach München. Keiner von uns hatte eine Ahnung davon, auch ich nicht. Mein Vater war stinksauer, unternahm aber nichts, da er glaubte, sie würden bald wieder auftauchen. Sie hatten ihm ja auch Geld da gelassen, das heißt, mein Vater wusste auch, was die beiden getan hatten.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Meine Mutter tauchte plötzlich wieder auf. Eines Tages stand sie in der Wohnung. Ich kam von der Schule und war total überrascht, dass sie wieder da war und dass es so ruhig war, denn auch mein Vater war da. Sie hatten sich, wie immer, wieder mal versöhnt. Es wurde auch gar nicht weiter darüber geredet, wo sie war und warum sie wieder abgehauen war, aber ich glaube, es ging um einen anderen Mann. Nun saßen wir drei zusammen und meine Eltern fragten sich, wo die Jungs waren. Sie waren nun schon zwei Tage weg und wir hatten noch immer nichts gehört. Wir waren alle voller Angst, aber die Polizei wollten meine Eltern auch nicht rufen, das wäre wohl zu peinlich gewesen.

 

Am nächsten Tag klingelte es an der Tür. Als ich öffnete, stand die Polizei da und fragte nach meinen Eltern. Ich rief meine Mutter, die dann auch kam. Sie bat die Polizei herein, um zu hören, was passiert war. Christopher und Sven waren irgendwo eingebrochen und waren dieses Mal prompt auf frischer Tat ertappt worden.

Meine Eltern mussten nach München mit dem Zug, um unser Auto abzuholen und bei der Gerichtsverhandlung dabei zu sein. Christopher und Sven wurden verurteilt. Aber bei Sven, da er noch so jung war, ging es glimpflich aus. Er saß insgesamt nur vier Monate in U-Haft. Christopher wurde zu achtzehn Monaten verknackt. Das war hart, aber mir so ziemlich egal. Für Sven war das erst mal eine Lehre, in Zukunft keine krummen Dinger mehr zu drehen. Unsere Eltern schimpften wieder wie verrückt, aber warum sind die beiden Jungs letztendlich auf die schiefe Bahn geraten?

Nicht, weil bei uns alles normal ablief. Und dass mein Vater meckerte, finde ich heute sehr dreist (Damals war ich zu jung, um es zu verstehen.), denn er hatte doch auch das gestohlene Geld benutzt und ausgegeben, aber darüber wurde wahrscheinlich nicht gesprochen.

So verging wieder mal eine ruhige Zeit, in der nichts Besonderes passierte. Meine Eltern arbeiteten, Sven hatte seine Arbeit und ich meine Schule. Meine Mutter hatte einen guten Job in einer Firma, wo Klaviere und Pianos hergestellt wurden. Die Fabrik war ganz in der Nähe unserer Wohnung und das war schön, denn dadurch war sie nachmittags nun immer zuhause. Das war besonders für mich sehr schön, denn ich fühlte mich dadurch nicht mehr so einsam.

Direkt gegenüber unserer Wohnung lebte eine Frau, Christa hieß sie. Mit ihr hatte sich meine Mutter vor längerer Zeit angefreundet. Sie tranken fast jeden Tag zusammen Kaffee, was mir sehr gefiel, denn ich mochte Christa sehr. Dadurch hatte ich auch endlich mal das Gefühl, in unserer Familie wäre alles normal. Christa lebte alleine in der Wohnung und hatte einen verheirateten Freund, der auch einen Schlüssel zu ihrer Wohnung hatte. Christa war eine kleine, sehr zierliche Frau, die sich oft bei meiner Mutter ausweinte. Sie hatte so ihre lieben Probleme mit ihrem Freund, der sich nicht entscheiden konnte, sich ganz zu ihr zu bekennen und sich von seiner Frau zu trennen. Er versprach es Christa immer wieder, tat es dann aber doch nicht. Sie tat mir immer sehr leid, denn sie litt wirklich sehr darunter, nur die Geliebte „von“ zu sein. Wenn sich die beiden gestritten hatten, blieb er immer für ein paar Tage fern, um Christa damit zu bestrafen und wieder gefügig zu machen. Aus Angst, für immer alleine zu bleiben, gab sie immer wieder nach und das wusste dieser Scheißkerl ganz genau. Sie drohte ihm auch sehr oft damit, dass sie sich umbringen würde, wenn er sie verlassen würde. Meine Mutter schimpfte dann immer mit Christa und sagte, dass dies eine dumme Idee sei und sie es gar nicht nötig hätte, so etwas zu tun. „Du findest noch einen Mann, den du für dich alleine haben kannst.“

Eines Tages erzählte Sie meiner Mutter dann wieder von einem bösen Streit mit ihrem Geliebten, und dass er dann einfach so abgehauen sei, ohne Aussprache. Danach hatte Christa mit ihm telefoniert und ein Treffen für den nächsten Abend in ihrer Wohnung vereinbart. Darüber war sie so froh und strahlte über das ganze Gesicht.

Meine Mutter fragte noch, ob sie denn noch zusammenbleiben wollten, aber Christa war unsicher und voller Angst, dass er sie nach der Aussprache verlassen würde. „Na, mal sehen“, sagte meine Mutter, „warte erst mal ab. Lass uns morgen um drei Uhr Kaffee trinken, dann können wir vorher nochmal miteinander über alles reden.“ „Ja, fein“, sagte Christa, „machen wir.“ „Ich mache morgen noch meine Bügelwäsche fertig und dann klingelt Anna bei Dir, damit Du rüber kommen kannst.“ „Ja, so machen wir das.“ „Bis morgen dann und einen schönen Abend noch“ – das war das Letzte, was wir von Christa sahen und hörten.

Am nächsten Tag, pünktlich um drei Uhr, sagte meine Mutter zu mir: „Geh bitte rüber und sag Christa Bescheid, dass der Kaffee auf dem Tisch steht.“ „Ja, mache ich“, sagte ich und ging klingeln. Als ich ein paar Mal geklingelt hatte, guckte meine Mutter zur Tür hinaus und fragte: „Macht Christa die Tür nicht auf?“ „Nein“, sagte ich, „ich habe schon einige Male geklingelt, aber niemand öffnet.“ Meine Mutter klingelte nun auch nochmal, aber es tat sich nichts. Sie legte das Ohr an die Tür, um etwas hören zu können, aber es war still, viel zu still. „Komm Anna, gehen wir zurück.“

Als wir bei uns im Esszimmer saßen, bemerkte ich, dass meine Mutter sich Sorgen machte. „Was ist los, Mama?“, fragte ich. „Ach, ich mache mir Sorgen um Christa, da stimmt was nicht, ich glaube, sie hat sich etwas angetan.“ Ich erschrak und wurde blass. „Oh nein“, sagte ich, „bitte nicht.“

Christa wohnte uns direkt gegenüber, wir wohnten rechts und Christa links und in der Mitte des Treppenhauses waren Einzimmerwohnungen und auf unserer Etage wohnte ein Mann, der sehr nett war. Meine Mutter sagte zu mir: „Ich klingel mal bei Herrn Meyer, der kann mal von seinem Balkon aus zu Christa auf den Balkon rüber klettern und mal nachsehen, ob sie im Wohnzimmer ist und vielleicht nur alleine sein will.“

Die Balkone dieser Wohnungen lagen so dicht beieinander, dass man mühelos rüberklettern konnte. Wir klingelten und Herr Meyer war sofort einverstanden. Er kletterte auf den Balkon von Christa und sah ins Wohnzimmer. „Und“, sagte meine Mutter, „sehen Sie was?“ Wir standen da und warteten auf seine Antwort. „Ja, sie ist da. Sie liegt auf dem Sofa und schläft.“ Meine Mutter sagte nur: „Bitte, klopfen Sie laut an die Scheibe, damit sie wach wird“, aber es tat sich nichts, Christa erwachte nicht, sie war tot.

Meine Mutter wurde nervös und fragte Herrn Meyer, ob wir mal telefonieren dürften und er sagte: „Aber natürlich dürfen Sie das.“ Meine Mutter hatte die Telefonnummer von Christas Freund, für den Fall, das mal etwas passieren sollte mit ihr, oder sie ihren Schlüssel vergessen hatte. Ich hörte meine Mutter sagen: „Komm sofort her, ich glaube, Christa ist tot.“ Etwa eine halbe Stunde später war Christas Freund da und klingelte bei uns.

„Was ist los, Pia?“, fragte er. „Komm kurz rein.“ Sie erzählte im Schnelldurchlauf, was wir beziehungsweise Herr Meyer gesehen hatten und dass Christa überhaupt nicht reagierte. „Man“, sagte er, „mach keinen Scheiß. Wir haben gestern Abend noch telefoniert und ich bin noch hergefahren, um mit ihr zu sprechen. Ich hatte meinen Schlüssel vergessen und klingelte einige Male. Da sie nicht öffnete, dachte ich, sie ist noch sauer auf mich oder schläft und macht deshalb die Tür nicht auf. Mein Gott, Pia, ich habe Angst.“ „Es nützt nichts“, sagte meine Mutter, „wir müssen aufmachen, um nach ihr zu sehen.“ Zu mir sagte sie: „Anna, du bleibst bitte hier, ich weiß nicht, was da los ist und will nicht, dass du dabei bist. Wenn alles in Ordnung ist, sage ich dir Bescheid.“

Sie gingen rüber und ich guckte durch unseren Spion in der Tür, denn ich wollte auch wissen, was los ist, auch wenn sich mein Magen schon wieder drehte, als würde ich zu schnell Karussell fahren.