Angst zeigt Gesicht

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Meine Mutter musste wieder in die Schule und sich dort anhören, was geschehen war. Aber sie wusste es ja bereits von Sven. Meine Mutter grinste nur und zum Schluss lachte sie sogar laut. Der Direktor und die Lehrerin waren entsetzt und fragten, ob sie den Ernst der Sache nicht begriffen hatte. „Doch“, sagte sie, „habe ich. Aber ihr habt ihn nicht begriffen.“ „Sie können froh sein“, sagte sie der Lehrerin, „dass er ihnen nur den Arsch versohlt hat, ich hätte ganz andere Sachen gemacht, nach der ewigen Schikane.“

Meine Mutter sagte: „Dass mein Sohn diese Schule nicht mehr betritt, versteht sich ganz von selbst, denn ich kenne es so, dass eine Schule da ist, damit Kinder etwas lernen und nicht dauernd schikaniert werden, weil einige Lehrer überfordert sind.“ Die beiden standen mit großen Augen und offenem Mund da und sagten nichts mehr. Meine Mutter ging und die Sache war für sie erledigt. Es kam nicht einmal zur Anzeige, ich glaube, die waren in der Schule nur froh, Sven endlich los zu sein.

Kurze Zeit später bekam Sven durch Bekannte eine Lehrstelle als Kfz-Mechaniker. Er war jetzt wieder auf einem guten Weg, aber nicht für sehr lange Zeit, denn Christopher verstand es, ihn vom richtigen Weg abzubringen.

Nun war bei uns zuhause eine ganze Weile Ruhe gewesen, was sich aber schon bald ändern sollte. Es war Wochenende, ich glaube mich zu erinnern, dass es ein Sonntag war. Meine Eltern hatten Besuch und es wurde getrunken, nein, eher gesoffen bis zum Umfallen. Wir waren wieder in Panik und hofften und beteten, dass alles gut ausging. Zu unserem Erstaunen gingen unsere Eltern nach der Feier zu Bett. Mein Vater war zwar immer mit unserer Mutter am Flüstern, er wollte Sex, aber sie nicht. Aber wie sonst, gab es nur böse Worte und Flüche. „Gott sei Dank“, dachten wir, als es ruhig wurde.

Dann am Morgen wurden wir mehr als unsanft geweckt. Mein Vater brüllte wie blöd: „Du versoffene Hure, steh auf, geh zur Arbeit! Saufen und nicht aufstehen, dir werde ich helfen, du Drecksau.“ Wir waren hoch und bettelten: „Papa, bitte hör auf. Lass das, sie steht nachher schon auf.“ „Nein, sie soll jetzt aufstehen, die Hure“ und ehe wir uns versahen, kippte er das ganze Bett um, in dem sie lag. Nun lag sie auf dem Fußboden, begraben von Bett und Matratze. Mein Vater fing an, auf sie einzuprügeln, aber irgendwie kam sie hoch, schrie ihn an und hatte plötzlich das Brotmesser in der Hand. „Ich steche dich ab, du Sau“, schrie sie und stach auf ihn ein.

Den ersten Stich wehrte er mit der Hand ab und wollte raus laufen, aber meine Mutter war wie von Sinnen und stach noch einmal zu, dieses Mal direkt in den Rücken. Als sie sah, wie unser Vater stöhnend zusammensackte und Blut aus der Wunde lief, bekam sie Panik und verschwand. Wir schrien und weinten, dann hatten einige Nachbarn, die es schon mitbekommen hatten, Polizei und Rettung verständigt.

Sie nahmen meinen Vater mit zur Untersuchung. Am Nachmittag konnte er wieder nachhause, er hatte mehr Glück als Verstand gehabt, der Stich hörte genau vor der Lunge auf, sonst wäre er vielleicht gestorben. Er wurde krankgeschrieben und sollte viel ruhen. Wir riefen in seiner Firma an und sagten, er sei überfallen und mit dem Messer niedergestochen worden.

Am Nachmittag, unser Vater lag auf der Couch und hatte große Schmerzen, fragte er uns, wo unsere Mutter sei. Aber keiner von uns wusste es. Wir sagten: „Sie hat Angst bekommen und ist weggelaufen.“ Mein Vater war zerknirscht, aber er wusste auch, dass er schuld daran war, dass es so gekommen ist. Sie versteckte sich im Keller, hinter Müll und Dreck.

Am nächsten Morgen kam sie dann nachhause. Vorsichtig sah sie durch die Tür und peilte so die Lage. Als sie meinen Vater so sah, verbunden und mit schmerzverzerrtem Gesicht, fing sie an zu weinen, wie wir auch. Für uns waren heute Schule und Arbeit wieder einmal ausgefallen wegen Schlägerei und Sauferei.

Meine Mutter ging zu meinem Vater, nahm seine Hand, küsste sie und bat um Verzeihung. Ein Spiel, das wir schon oft genug gesehen hatten und auch kannten. Dann wurde wieder eine Runde geredet, geweint und viele schöne Versprechen gegeben. Wir Kinder hörten schon gar nicht mehr hin, denn wir wussten ja, jedes Versprechen war ein Versprecher. Aber sie vertrugen sich erst einmal wieder und wir hatten wieder für eine Weile Ruhe.

Eines Tages stellte uns Christopher seine Freundin vor. Ich mochte sie sehr gerne, sie war lieb und auch sehr hübsch. Ihren Namen habe ich vergessen, aber ich weiß noch, sie war klein, sehr zierlich und hatte einen ganz kleinen Busen und lange blonde Haare. Ich konnte nicht verstehen, dass sie mit ihm zusammen war, so wie er sie behandelte. Er beleidigte sie immer mit Worten, die sehr unschön waren, und machte sie lächerlich. Kurze Zeit später verprügelte er sie auch, denn er hatte von zuhause ja gelernt: Frauen sind Huren und müssen verprügelt werden.

Ich sprach oft mit ihr und sagte: „Das kann nicht sein, warum gehst du nicht von ihm weg?“ Sie sagte: „Er kann ja auch ganz anders sein, so lieb und zärtlich“, aber das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Sie blieb einige Monate mit ihm zusammen, für meinen Geschmack viel zu lange, bis sie sich endlich trennte. Er hatte sie dermaßen verprügelt, dass sie ihr Gesicht nicht mehr erkannte. Und dann machte sie endlich Schluss mit ihm. Endlich, damit meine ich, dass er ihr nichts mehr antun konnte. Er hatte ständig neue Freundinnen, aber mit jeder Frau machte er dasselbe – Erniedrigen und Verprügeln.

Die Narben meines Vaters waren gut verheilt, aber die Narben auf der Seele blieben, so wie auch immer bei meiner Mutter. Sie hielten nun eine ganze Weile durch, ohne Schlägerei und Gesaufe, worüber wir sehr froh waren. Dafür klopfte aber wieder die Polizei an die Tür, dieses Mal ging es um Vergewaltigung und Körperverletzung. Christopher kannte ein Mädchen, das er vergewaltigt und verprügelt haben sollte. Meine Eltern waren entsetzt, wie auch ich. Sven sollte auch dabei gewesen sein, was ich aber absolut nicht glauben konnte. Nein, nicht mein Bruder Sven. Beide stritten es ab und sagten: „Das Mädchen lügt.“ Wie auch immer, die Sache ist bis heute nicht geklärt, denn das Mädchen hatte plötzlich ihre Anzeige zurückgezogen.

Der Herbst war fast vorbei und wir freuten uns auf die Adventzeit und auf die Weihnachtszeit. Bei uns war Ruhe, dafür krachte es bei vielen Nachbarn. Ein Nachbarskind kam zu uns gelaufen und weinte so sehr, dass es einem das Herz zerbrach. Es erzählte, seine Mutter liege am Boden und blute so doll und schreie. Meine Mutter lief rüber und es waren auch schon andere Nachbarn da, um zu helfen und den Rettungswagen zu rufen, der auch bald kam. Ich rannte mit, um zu gucken, obwohl meine Mutter es mir verboten hatte.

Dann sah ich, was ich eigentlich gar nicht mehr sehen wollte, aber schon gesehen hatte. Die Mutter des Jungen lag am Boden auf dem Rücken und hatte ein Messer im Bauch. Der Vater hatte gesoffen, sich mit ihr gestritten und ihr das Messer in den Bauch gerammt und war dann abgehauen. Die Frau hatte Glück, sie überlebte die ganze Sache und kam bald wieder nachhause. Ich dachte nur: „Wie bei uns und dann ist wieder für eine Weile Ruhe.“

Meine Mutter ging nachhause und sprach mit meinem Vater über das, was geschehen war. Alle waren entsetzt und ich denke, unsere Eltern am meisten, denn sie wussten ja, was sie uns und sich selber antaten.

Der erste Advent war da. Sven arbeitete neben seiner Lehre immer noch als Laufbursche und half immer noch den alten Leuten. Er bekam zur Weihnachtszeit wieder sehr viele Trinkgelder und Bücher und Schokolade und ich weiß nicht, was noch alles. Über die Bücher freute ich mich am meisten, denn Sven war keine Leseratte, so wie ich, deshalb schenkte er mir die Bücher.

Christopher lachte sich immer kaputt und hänselte Sven: „Mann, du bist ja ein richtiger Sklave und buckelst für ein paar Pfennige und ein paar blöde Bücher.“ Mein Vater sagte: „Wenigstens verdient er sich sein Geld und das auf ehrliche Art und Weise.“ Christopher maulte und sagte: „Ich verdiene auch Geld auf ehrliche Art.“ „Ja“, sagte mein Vater, „aber nicht allzu oft. Du bist doch zu faul, morgens den Arsch aus dem Bett zu kriegen, um zur Arbeit zu gehen.“ Christopher wurde sauer und meinem Vater gegenüber laut und ich dachte: „Gleich knallt es bei den beiden“, aber meine Mutter ging dazwischen und konnte zum Glück schlichten.

Als wir alle zusammen am Abendbrottisch saßen, sagte meine Mutter: „Rudi, wir haben Post von der Stadt bekommen. Stell dir vor, etwa zum Mai hin sollen wir nun endlich unsere Wohnung bekommen.“ Wir sahen sie alle mit großen Augen an und jubelten. Endlich, nach vier Jahren, wieder eine richtige Wohnung und ein echtes eigenes Klo! Mann, war das eine tolle Nachricht.

Wir hatten ja schon immer geguckt, denn es wurde eine ganz neue Siedlung mit vielen Blöcken, Wohnungen und einem Einkaufszentrum gebaut und endlich kamen auch wir bald an die Reihe. Einige Leute waren schon aus der Kaserne ausgezogen und fühlten sich sehr wohl in ihrem neuen Zuhause. Ich hatte mich vor längerer Zeit mit einem Mädchen, das Andrea hieß, angefreundet. Sie hatte noch sieben Geschwister und wir spielten zusammen und verstanden uns gut.

Dann erzählte sie mir, dass sie im Mai wegziehen würde und wohin. Ich staunte nicht schlecht und freute mich sehr, denn wir zogen in den gleichen Block, ja sogar in den gleichen Eingang. Das fanden wir beide toll, denn nun konnte unsere Freundschaft weiter bestehen. „Und wenn es regnet“, sagte ich zu Andrea, „können wir uns besuchen und werden nicht einmal nass.“ Darüber lachten wir sehr.

Unsere Eltern verstanden sich auch sehr gut, was uns noch mehr freute. Aber nun machten wir mit unseren Eltern erst einmal Pläne für die neue Wohnung. Wir sollten im zweiten Stock wohnen, mit drei Zimmern, Bad, Küche, Flur und einem Balkon, auf den ich mich besonders freute, warum auch immer.

 

Sven und ich würden uns ein Zimmer teilen, was ich gut fand, denn ich wollte nicht alleine sein. Da Christopher der Älteste war und auch noch zuhause wohnte, bekam er sein eigenes Zimmer.

Meine Eltern wollten sich dann eine neue Schlafcouch kaufen und weiterhin im Wohnzimmer schlafen. Es machte so viel Spaß und alle waren so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Wir waren in diesem Moment wirklich eine Bilderbuchfamilie, was mich sehr freute.

Sogar Christopher war angesteckt und hatte auch mal gute Ideen und nicht immer nur dumme Sprüche und so. So ging ein Abend, der so voller Harmonie war, zu Ende und ich schlief als das glücklichste Mädchen der Welt ein.

Als dann die schöne Weihnachtszeit vorbei war und das neue Jahr angefangen hatte, ging alles seinen normalen Gang. Sven machte immer noch seine Lehre, Christopher wechselte die Arbeit, wie andere ihre Hemden, ich ging zur Schule und meine Eltern arbeiteten. Als ich von der Schule kam, traute ich meinen Augen nicht, denn Christopher hatte Besuch. Er war betrunken und seine Freunde oder was immer die auch waren, waren auch total betrunken. Ich fragte: „Was ist denn hier los?“ „Ach, kleine Schwester, komm her zu mir“, aber ich sagte: „Nein“ und ging in die Küche. Ich hatte Angst. Angst, dass er mir wieder was antun würde oder mich schlagen würde oder sonst was. Ich ging ins Wohnzimmer und sagte zu Christopher: „Ich gehe raus zum Spielen“, denn ich wollte nur weg.

„Ja, geh nur“, meinte er. Es saßen Mädchen und Jungen zusammen und betranken sich. Dass es eskalieren würde, war mir eigentlich schon klar. Dann, einige Zeit später, hörten wir lautes Geschrei und irgendetwas ging zu Bruch. Ich rannte hoch und die Tür stand weit offen. Dann hörte ich Christopher brüllen und es klatschte nur so. Als ich näher ran ging, sah ich, was passiert war.

Sie hatten alle im Suff angefangen, sich zu streiten und schlugen nun heftig aufeinander ein. Überall lagen Scherben und Blut war zu sehen und ich schrie auf. In dem Augenblick sah Christopher mich an, mit blutverschmiertem Gesicht und lallte: „Was willst du denn hier?“ „Man hört euch im ganzen Block, so laut seid ihr.“ Ich hatte wieder furchtbare Angst. „Mensch Christopher“, sagte ich, „Mama und Papa kommen bald nachhause und nun guck mal, wie das hier aussieht.“ Mittlerweile waren alle abgehauen, auch Christopher haute einfach ab.

Ich stand nun alleine da, nicht wissend, wie ich dieses Chaos beseitigen sollte. Kurze Zeit später kam schon Sven und fiel aus allen Wolken. Ich erzählte kurz, was los war und wir fingen an, sauberzumachen, aber wir waren noch mittendrin, als unsere Eltern kamen.

Sie waren total geschockt, so wie wir es sonst immer waren, wenn die zwei sich prügelten. Gemeinsam schafften wir dann Ordnung. Christopher blieb drei oder vier Tage weg, ehe er sich wieder nachhause traute. Mein Vater hatte gesagt, er schmeiße ihn raus, aber meine Mutter wollte ihm noch eine ewig letzte Chance geben und setzte sich durch.

Als Christopher wieder da war, musste er den Schaden, den er gemacht hatte, selber bezahlen und versprechen, dass er so etwas nie wieder tun würde. Natürlich bezahlte er brav und versprach auch ganz artig, was meine Eltern hören wollten. Ich war erst einmal wieder bedient.

Einige Zeit später, meine Eltern feierten mal wieder fröhlich, kam nun, was ja immer kommen musste. Es gab Krach, aber dieses Mal hatte meine Mutter Glück, denn sie konnte, bevor mein Vater sie richtig niederschlug, abhauen. Sie schnappte sich ein paar Sachen und ich wollte mit, aber sie sagte: „Bleib, ich bin morgen wieder da.“

Dieser Morgen dauerte etwa vier Wochen. Wir saßen wieder da ohne Mutter und wieder nicht wissend, wo sie war oder ob sie lebte. Das war, wie jedes Mal, ein ganz furchtbares Gefühl, aber wenigstens mussten wir dieses Mal nicht ins Heim, denn unser Vater war da und den Nachbarn erzählten wir, unsere Mutter sei nach Dänemark gefahren, denn unsere Großmutter wäre krank geworden und wir wüssten nicht genau, wann sie wieder kommt. Das war mal wieder sehr glaubwürdig. Nach circa vier Wochen kam sie dann wieder. Zuerst hatte mein Vater eine Stinkwut, aber wir sagten, er solle aufhören zu streiten, denn wir waren froh, Mama wieder bei uns zu haben. Na ja, dann war alles wie immer, große Reden, viele Versprechen, usw.

Dann kam endlich der Tag, als wir unsere Wohnung bekamen. Wir waren alle in heller Aufregung. Wir tapezierten und legten Teppichboden und putzten alles blitzeblank. Dann kam der Umzug. Ich war so aufgeregt und freute mich auf das Badezimmer mit dem eigenen Klo. Kein Eimer mehr für die Nacht, keine Toiletten auf dem Flur, die man mit fremden Menschen teilen musste.

Wir waren unendlich glücklich, den Kasernenblöcken den Rücken zu kehren. Ein Gefühl wie Weihnachten. Wir hatten alles fertig eingerichtet und im Flur, der quadratisch war, standen unser Esszimmertisch und die Stühle dazu. Was mich noch sehr glücklich machte, meine Eltern trennten sich von der gelben Couch mit den schwarzen Punkten, denn diese nicht täglich sehen zu müssen, war eine große Erleichterung für mich.

Auch Andrea und ihre Familie wohnten nun hier im Erdgeschoss und wir trafen uns täglich zum Spielen. Das gefiel mir sehr, keine langen Flure mehr, nicht täglich die Polizei oder die Angst, dass wieder etwas Furchtbares passieren würde. Hier konnte alles nur viel, viel besser werden, dachte ich, aber wie immer, hatte ich die Rechnung alleine gemacht, ohne meine Eltern und ohne Christopher.

Wie gesagt, wir fühlten uns hier sehr wohl und mein Schulweg war nun auch nicht mehr so weit. Wir hatten uns gut eingelebt und waren ganz zufrieden. Sven und ich waren zufrieden, in einem Zimmer zu sein. Christopher hatte sein eigenes Reich und hatte sich, von welchem Geld auch immer, ein Schlagzeug gekauft und spielte auch immer, wenn er zuhause war, darauf. Er ging nun auch in Discotheken, um Musik zu hören und neue Leute kennen zu lernen. Er hörte mit Leib und Seele Musik und wäre wohl gerne selber Musiker geworden. Damals wurde ja in den Clubs oft Live-Musik gespielt, von bekannten, wie auch unbekannten Musikgruppen.

Christopher war nicht schüchtern und hatte schnell Kontakt zu anderen Menschen. Da er auch fließend Englisch sprach, war es erst recht kein Problem, mit Menschen aus anderen Ländern zu sprechen.

Es war ein Sonntag und wir waren alle aufgestanden, bis auf Christopher. Wir wollten zusammen frühstücken. Deshalb öffnete meine Mutter die Tür zu Christophers Zimmer. Die Tür nicht ganz offen, ließ sie ein lautes „Ach, du meine Güte“ heraus.

Unsere Neugierde war somit geweckt und wir gingen zu ihr hin, um zu sehen, was denn los sei. „Mensch“, rief Sven, „vier klasse Weiber auf der Bude, das muss ihm erst mal einer nachmachen.“ Christopher wurde wach, sah uns an, legte den Zeigefinger auf den Mund und machte: „Pssst.“

Wir schlossen leise die Tür und setzten uns an den Tisch. Ich fand es irgendwie komisch, aber auch lustig, denn meine Eltern machten so blöde, aber auch gleichzeitig witzige Gesichter. Einen Augenblick später kam Christopher heraus. „Guten Morgen“, sagte er zu uns und wir antworteten „Guten Morgen.“ „Na“, fragte meine Mutter, „gut geschlafen mit vier hübschen Mädels im Bett?“ „Ja, gut geschlafen“, sagte er, „aber das sind …“, weiter kam er nicht, denn meine Mutter meinte: „Du weißt, ein Mädel zum Übernachten, damit wären wir ja einverstanden, aber gleich vier. Nein, das geht einfach zu weit.“ Christopher konnte nicht anders und fing lauthals an zu lachen. Wir sahen ihn alle ganz verdattert an, vor allem meine Mutter. „Mama“, sagte Christopher, „das sind keine Mädels, das sind vier Jungs.“ „Um Gottes willen, was willst du mit vier Jungs, Christopher?“

Er klärte die Geschichte dann schnell auf. Er hatte die vier am Abend in einer Disco kennen gelernt, sie waren eine der Bands, die einen Live-Auftritt hatten. Sie hatten sich schnell angefreundet und Christopher hatte sie dann zu uns eingeladen, um ihnen später noch die Stadt zu zeigen. Es waren vier Jungs von den Philippinen, sie hatten lange schwarze Haare und waren supernett. Als sie aufgestanden waren, saßen wir noch lange zusammen und redeten. Sie konnten ein wenig Deutsch, den Rest machte Christopher auf Englisch.

Ich vergesse diesen Tag nie, denn sie komponierten in nur kurzer Zeit nur für mich ein Lied und im Refrain war immer „Annalena“, das war echt toll. Dies waren Augenblicke, die ich einfach nicht vergessen kann oder will, denn sie waren herrlich.

Am nächsten Morgen reisten die Jungs ab, um in anderen Städten aufzutreten. Christopher wäre am liebsten mitgefahren, hatte auch die Einladung dazu, tat es aber dann doch nicht. Ich wäre froh gewesen, wenn er es getan hätte, denn ich wünschte mir immer noch, dass er verschwindet.

Am nächsten Tag war wieder Schule angesagt. Ich war nun mittlerweile elf Jahre alt und entwickelte mich körperlich ganz normal. Was ich aber tat, war immer, mich mehr oder weniger zu verstecken. Ich fing an, weite Klamotten zu tragen und immer nur lange Hosen. Meinen aufrechten Gang hatte ich auch abgelegt, weil ich einfach nicht wollte, dass jemand mich ansah und für ein Mädchen hielt, also benahm ich mich wie ein Junge. Sven sagte mal zu mir: „Anna, du siehst echt aus wie ein Junge und benimmst dich auch so.“ „Na und“, sagte ich, „ist doch meine Sache.“ Er verstand es einfach nicht und meine Mutter war auch immer wütend deswegen. Ich sollte wie ein Mädchen hübsche Röcke und Kleider tragen. „Pfui Teufel“, dachte ich nur, „wie kann sie das von mir verlangen.“

Nun war Montag früh und Sven war schon auf, um zur Arbeit zu gehen und ich war auch soweit fertig für die Schule und wollte frühstücken. Da kam Christopher plötzlich aus seinem Zimmer und grinste uns blöde an, dass es einem schlecht wurde. Er stand nur in Unterhose gekleidet und machte uns richtig blöde von der Seite an. „Mann“, sagte Sven, „hör auf! Lass uns zufrieden, wir wollen in Ruhe frühstücken.“ Aber das interessierte Christopher nicht. „Und überhaupt, wieso bist du zuhause und nicht auf der Arbeit? Du bist doch mit Papa und Mama zusammen losgegangen.“ Christopher grinste breit und meinte: „Ja, bin ich auch. Aber als sie weg waren, bin ich zurück ins Bett, hab keinen Bock auf scheiß Arbeit. Und du, Schwesterchen, Lust auf Schule?“ „Ja“, sagte ich, „habe ich und nun lass mich in Ruhe frühstücken.“

Ich hatte einen Becher Kakao für mich gemacht und auf meinem Holzbrett lag eine Scheibe Brot, beschmiert mit Butter und Marmelade. Ich hatte gerade ein Stück Brot abgebissen, da kam Christopher immer näher zu mir und fummelte sich dabei an seinem Penis herum und berührte mich damit am Arm. Ich schrie auf: „Hau ab, du Drecksau, oder ich mach dich tot.“ Sven kam aus der Küche und sagte: „Bist du bescheuert, lass die Kleine in Ruhe.“ Aber Christopher lachte nur und machte weiter. „Hör auf!“, brüllte ich. Sven versuchte mir zu helfen, aber ehe er sich versah, hatte Christopher ihm so eine ins Gesicht gehauen mit der Faust, dass Sven hinfiel und weinte. „Du blödes Schwein“, schrie ich, „hau bloß ab.“ Dann kam Christopher lachend zu mir und legte seinen steif gewordenen Penis auf mein Brot und sagte: „Nimm den hier, der schmeckt viel besser als dein Brot.“ Dann drückte er mir seinen steifen Penis in den Mund.

Ich sprang würgend und weinend hoch, schubste ihn zur Seite, rannte ins Badezimmer und kotzte, dass ich dachte, ich müsste sterben. Ich weinte wie verrückt und hörte Christopher lachen, als wenn er der Teufel persönlich wäre, und dieses Lachen höre ich heute noch so manches Mal. Ich spülte mir den Mund aus und putzte mir die Zähne, solange bis mein Zahnfleisch blutete und schmerzte.

Nach langer Zeit verließ ich das Badezimmer, voller Angst, was ich wieder über mich ergehen lassen müsste. Sven hatte ein ordentliches Veilchen davongetragen und Christopher setzte uns beide so unter Druck, dass wir nie im Leben erzählt hätten, was vorgefallen war.

Sven erzählte, er hätte Krach mit einem Freund gehabt und ich erklärte mein komisches Verhalten damit, dass ich ebenfalls Ärger mit einer Freundin hätte. Wir waren sehr glaubwürdig, denn es wurde nicht weiter nachgefragt. Wir hatten ja schließlich gelernt zu lügen und waren mittlerweile Profis darin.

Sven war auch sehr glaubwürdig, da er bei solchen Lügengeschichten niemals rote Ohren bekam. Ich glaube, das lag daran, dass er einfach zu viel Angst hatte, dass Christopher ihn dann wieder viel schlimmer verprügelte. Das war die einzige Sprache, die Christopher verstand - Prügeln und anderen Menschen wehtun.

Christopher schwänzte nun wieder jeden Tag die Arbeit, bis meine Mutter eines Tages dahinter kam. Irgendwie hatte sie ihn erwischt, als er unten war, um zur Arbeit zu gehen, aber stattdessen wieder nach oben ging und sich ins Bett legte. Es gab dann am Nachmittag ein riesen Theater. Ich kam aus der Schule und hörte schon im Treppenhaus, was los war. Die Nachbarin, die unter uns wohnte, kam raus und fragte mich, was bei uns los sei, der Krach wäre ja nicht auszuhalten. Ich maulte sie mit den Worten an: „Weiß ich doch nicht, ist mir auch scheißegal.“ Sie ging zurück in ihre Wohnung und ich hörte, wie sie vor sich hin plapperte: „So eine Frechheit von der Göre.“

 

Aber das juckte mich überhaupt nicht, denn ich war auf die Schiene gekommen, mich verbal gegen alles und jeden zu wehren. Meine Ausdrücke waren vom Feinsten, (so schlimm, dass ich heute noch rot werde und mich dafür schäme), aber anders konnte ich mich nicht mehr wehren.

Als ich in die Wohnung kam, hörte ich Christopher heulen wie ein kleines Kind. „Mama“, sagte er und heulte, „hör auf, die waren teuer und ich hab kein Geld, um neue zu kaufen.“ „Das ist mir scheißegal! Dir werde ich helfen, immer die Arbeit zu schwänzen und wenn du keine andere Sprache verstehst, hast du eben Pech gehabt.“ Ich sah meine Mutter, die bei Christopher im Zimmer auf dem Bett saß und alle seine geliebten Schallplatten zerbrach. „Ach herrje“, dachte ich, deshalb das Gejaule von Christopher.

Ich versuchte, meine Mutter vorsichtig anzusprechen, denn ich hatte Angst, dass ich bei ihrem Wutausbruch auch noch was abkriegen würde, denn im Ohrfeigen verteilen war sie erste Klasse, schnell und immer genau treffend ins Gesicht, dass man noch lange was davon hatte. Sie sah mich an und brüllte auch gleich los: „Was ist, was willst du?“ „Mama, bitte hör doch auf, warum tust du das?“ „Warum?“, schrie sie. „Damit dein großer Bruder endlich mal lernt, was es heißt, ehrlich zu sein und Verantwortung zu übernehmen.“ „Mama, bitte“, sagte ich und ging vorsichtig auf sie zu, „hör doch auf, das hilft doch auch nichts.“ Sie sah mich an und fing an zu weinen. „Du hast ja Recht“, sagte sie, „ich rege mich nur unnütz auf.“ Sie sah Christopher an und sagte: „Räum den Scheiß hier weg, bevor dein Vater kommt, der muss von der ganzen Sache nichts wissen.“ „Aber wenn die Nachbarin ihn anspricht?“ Ich erzählte meiner Mutter, dass mich unsere Nachbarin auf den Krach angesprochen hatte. „Das kläre ich gleich ab“ und meine Mutter verschwand. Augenblicke später kam sie wieder rauf und sagte nur: „Erledigt.“

Christopher heulte immer noch wegen seiner Schallplatten und ich sah ihn von der Seite an. „Danke“, sagte er, als er mich sah, „dass du mir beigestanden hast, kleine Schwester.“ „Ja, ja“, sagte ich, „ist schon gut.“ Ich hatte ihm ja gar nicht beigestanden, sondern wollte einfach nur Ruhe, da ich wieder große Angst hatte, es würde wieder in einem Blutbad enden. Das sagte ich Christopher aber nicht, in der Hoffnung, er würde mich nun endlich zufriedenlassen. Von nun an ging er erst mal wieder geregelt zur Arbeit und ich war froh, wenn er morgens verschwunden war.

Aber es hielt nicht lange so an, wie ich es mir gewünscht hatte. Er hatte den Streit mit meiner Mutter schon wieder vergessen, denn es interessierte ihn nicht sonderlich, was sie tat oder dachte. Das Einzige, was ihn verletzt hatte, waren seine kaputten Schallplatten.

Dann war es eines Morgens mal wieder so weit, ich musste wieder herhalten. Er kam wieder mit seinem steifen Penis zu mir, während ich frühstückte, und berührte mich damit wieder überall, auch an meinem Mund und fasste mir an die kleinen, noch unreifen Brüste (Er nannte sie immer zwei schöne Spiegeleier.) und lachte wieder wie der Teufel persönlich. Es war so widerlich und Sven konnte nicht helfen, er hätte wieder nur den Kürzeren gezogen. Sven sagte nur: „Christopher, hör doch auf damit“, aber der dachte nicht daran, für ihn war das wohl ein großer Spaß, mich derart zu quälen.

Ich schrie und weinte und schlug um mich. „Du Drecksau, ich mach dich tot, du Schwein.“ Je mehr ich schimpfte, je mehr freute Christopher sich und lachte. Dann sah ich die große Schere auf dem Tisch liegen. Ich schnappte sie mir und drohte, Christopher damit abzustechen. Ich fuchtelte damit rum und verzog mich ins Bad.

Wieder fing ich an mich zu waschen und mir die Zähne zu putzen, bis mein Zahnfleisch blutete. An diesem Morgen verletzte ich mich das erste Mal selber und ganz bewusst. Ich hatte so einen riesigen Druck, mit dem ich nicht wusste, wohin damit. Christopher klopfte nach einer Weile an die Tür und sagte: „Anna, komm raus jetzt, ich muss ins Bad.“ „Nein“, schrie ich, „ich komme nicht raus, ich bringe mich jetzt um“, sagte ich. Christopher erschrak und rief: „Komm raus oder ich trete die Tür ein und hol dich da raus.“ Dann hörte ich Sven sagen: „Anna, bitte komm raus, mach keinen Blödsinn.“ Ich schloss die Tür auf und Christopher kam rein. Er sah mich an und schrie auf: “Bist du denn verrückt geworden? Was hast du gemacht?“ Ich sah ihn ganz ruhig an, wie in Trance, und sagte: „Jetzt geht es mir gut.“ Ich hatte mir die Schere ganz tief in die Hand gestochen und sie steckte noch drin, als Christopher rein kam. Ich war blutverschmiert und es tropfte schon auf den Fußboden. Sven schrie: „Christopher, hol das Verbandszeug! Anna hat sich die Schere in die Hand gejagt (habe heute noch die Narbe) und blutet wie verrückt.“

Das war das erste Mal, dass ich anfing, mich bewusst oder unbewusst zu verletzen. Ich spürte den Schmerz zuerst gar nicht – im Gegenteil, es ging mir gut und als ich das Blut sah, ließ der große unmenschliche Druck nach.

Christopher war verzweifelt, denn damit hatte er nicht gerechnet. Er zog mir die Schere aus der Hand, wusch mir das Blut ab und machte einen Verband. Ich war immer noch wie in Trance, hatte das Gefühl, neben mir zu stehen und zuzuschauen. An diesem Tag ging ich nicht zur Schule, ich wäre nicht in der Lage gewesen, dort hinzugehen oder irgendwelche Fragen zu beantworten.

„Mensch, Anna“, sagte Christopher, „warum hast du das gemacht?“ Ich schrie ihn an: „Weil du dreckige Sau mich nicht in Ruhe lässt!“ „Ach, Anna, das ist doch alles nur Spaß, stell dich doch nicht so an.“ „Nicht so anstellen“, brüllte ich, „Du bist das größte, ekelhafteste Arschloch, was es gibt“ sagte ich ihm, rannte in mein Zimmer und knallte die Tür zu.

Christopher kam hinterher und sagte: „Hör auf jetzt mit deiner Anstellerei, es ist doch gar nichts los.“ „Ach, lass mich einfach zufrieden und verschwinde aus meinem Zimmer.“ „Und was wollen wir Mama und Papa erzählen?“ „Ach, so“, sagte ich, „mach dir keine Sorgen, das ist in der Schule beim Basteln passiert.“ Nun war Christopher zufrieden und ging raus.

Sven kam kurz rein und fragte: „Anna, kann ich dich alleine lassen? Oder muss ich mir Sorgen machen?“ „Nein“, sagte ich, „geh zur Arbeit, ich komme schon klar und Christopher wird mich für heute in Ruhe lassen.“ „Er ist so ein Schwein“, sagte Sven, „aber eines Tages, das verspreche ich dir, zahle ich es ihm heim.“ Er küsste mir die Stirn und ging.

Christopher kam immer wieder und fragte: „Anna, kann ich was für dich tun?“ „Ja“, sagte ich, „kannst du – lass mich einfach zufrieden und verpiss dich aus meinem Leben.“ Er ging raus und ließ mich in Ruhe für den Rest des Tages. Als am Abend unsere Eltern von der Arbeit kamen, fragte meine Mutter: „Anna, was hast du gemacht, warum ist deine Hand verbunden?“ Christopher sah mich voller Angst an, aber ich verriet ihn auch dieses Mal nicht, die Angst war einfach zu groß. „Ach“, sagte ich, „ist nicht so schlimm, wir hatten Basteln in der Schule und ich habe mich mit der Schere verletzt.“ „Na ja“, war die Antwort, „dann ist ja gut“ und das Thema war vom Tisch – schnell und verlogen wie immer.