Angst zeigt Gesicht

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Dann hatten wir unser Konzept besprochen. Sven sagte: „Also, Anna denk dran, bei drei hebe ich dich hoch und drehe mich dann.“ „Alles klar“, antwortete ich. Eins, zwei, drei und hoch und drehen. Mann, wir hatten es tatsächlich geschafft, Sven hatte mich hochgehoben. Aber nur ein paar Sekunden lang. Dann sagte er: „Anna, wie kriege ich dich wieder runter?“ Das hatten wir völlig vergessen zu besprechen. Ich sagte nur: „Egal, fallen lassen.“

Wir fingen an zu lachen und Sven ließ sich fallen und ich fiel mit. Laut lachend blieben wir auf dem Bauch liegen und lachten, was das Zeug hielt. Plötzlich standen unsere Eltern lachend vor uns und meinten, das wäre filmreif gewesen. Dann lachten wir alle zusammen und machten uns auf den Heimweg. Dort angekommen machten wir es uns gemütlich. Das waren Momente, die wir in uns aufsogen, denn das war Balsam für unsere Seele. Wir wünschten uns, dass es immer so sein sollte, aber leider war das nicht so.

Christopher hatte wieder eine neue Arbeit angefangen, denn er hielt es nie lange in einer Firma aus. Unsere Eltern arbeiteten auch wieder und Sven und ich gingen wieder zur Schule. Nach den Hausaufgaben und den Erledigungen im Haushalt waren wir immer unterwegs mit unseren Freunden.

Eines Tages war unsere Mutter schon sehr früh zuhause und kochte Essen, denn wir aßen alle abends zusammen, wenn unser Vater von der Arbeit kam. Sven und ich waren draußen, wollten aber kurz nachhause, um etwas zu trinken. Wir hörten schon von Weitem Geschrei und Gepolter. Wir wurden kreidebleich und rannten los in Richtung Wohnung. „Sven, was kann das sein? Papa ist doch gar nicht da und getrunken wurde auch nicht.“ An der Wohnung angekommen riss Sven die Tür auf, lief rein und ich hinterher.

In diesem Augenblick sahen wir, wie Christopher unserer Mutter die Faust ins Gesicht schlug. Sie schrie auf vor Schmerz und das Blut spritzte. Sie flog durch die Wucht des Schlages nach hinten an die Wand, wo Staubsauger und Eimer standen. Sie versuchte sich am Vorhang festzuhalten, aber der riss ab und sie flog direkt gegen den Staubsauger und mit dem Kopf an die Wand. Christopher stürzte hinterher und schlug ihr auf den Kopf. Sie schrie und weinte: „Hör auf, ich habe solche Schmerzen, hör bitte auf.“ Wir gingen dazwischen, zogen Christopher von unserer Mutter weg und stellten uns vor sie, um sie zu schützen, mit dem Erfolg, dass wir beide auch noch Schläge abbekamen.

In der Zwischenzeit waren einige Nachbarn zu Hilfe gekommen, denn die Tür stand offen und laut genug war es auch. Meine Mutter war am Boden zerstört und sie sah schrecklich aus. Christopher hatte getrunken und wir glaubten auch, er habe irgendwelche Drogen genommen und war mit Mama in Streit geraten, weil er wieder die Arbeit verloren hatte. Sie hatte ihm gesagt, er sei stinkefaul und drogenabhängig, was ja auch stimmte.

Dadurch war er komplett ausgerastet und auf sie losgegangen. Als die Nachbarn da waren, rannte Christopher aus der Wohnung und meine Mutter schrie hinterher: „Lass dich hier nie wieder blicken!“ Als mein Vater abends heimkam, wurde er sehr wütend und ich glaube, wenn Christopher da gewesen wäre, hätte er das nicht überlebt. „Mein Gott Pia“, sagte mein Vater, „Du siehst furchtbar aus, hast du noch große Schmerzen?“ „Nein“, sagte sie, „es geht schon“, aber ich weiß, dass sie große Schmerzen hatte, vor allem der seelische Schmerz muss grausam gewesen sein, vom eigenen Sohn verprügelt zu werden und das so heftig.

In dieser Nacht schliefen wir schlecht, denn wir hatten Angst, Christopher würde wiederkommen, um Randale zu machen. Aber zum Glück blieb es ruhig. Mama musste zwei Wochen zuhause bleiben, konnte nicht zur Arbeit mit dem Gesicht. Wir sprachen nicht mehr darüber, nur dass wir aufpassen sollten, wenn Christopher kam.

Und eines Tages kam er. Mir rutschte das Herz vor Angst in die Hose und mir wurde wieder total schlecht. Sven wurde kreidebleich und schrie: „Hau ab hier, du Schwein.“ Christopher antwortete nicht, stand wie ein Trottel da mit einem Blumenstrauß in der Hand und fragte: „Ist Mama da?“ Ja, sie ist da, aber sie will mit dir nichts mehr zu tun haben.“ Mama hatte gehört, was los war und öffnete die Tür. Christopher fing zu weinen an, ging auf meine Mutter zu, kniete sich vor ihr hin und bat um Verzeihung für das, was er getan hatte. Meine Mutter wurde weich, verzieh ihm und ließ ihn rein. Sven und ich waren so wütend deswegen, konnten aber nichts machen. „Kann ich bitte wieder nachhause kommen?“, fragte er. Mama stellte ein paar Bedingungen, er sollte arbeiten und das jeden Tag, keinen Alkohol trinken und keine Drogen nehmen. Er versprach alles, was sie hören wollte. „Und was wird Papa sagen?“ „Du gehst noch einmal weg und ich rede mit deinem Vater. Sei um 6:00 Uhr wieder hier und denke an dein Versprechen.“ „Ja, Mama mache ich.“

Unser Vater war wütend und wollte Christopher nicht sehen, aber meine Mutter schaffte es, ihn zu beruhigen. Als Christopher dann kam, ging er zu meinem Vater und weinte und bat auch ihn um Verzeihung mit den Worten: „So etwas passiert nie wieder.“ „Worauf Du dich verlassen kannst“, sagte Papa.

Ja, die kriminelle Laufbahn von Christopher hatte begonnen. Christopher log, betrog und klaute, hatte ständig Anzeigen am Hals, auch wegen schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung. Oft wurden Anzeigen zurückgezogen, weil die Opfer Angst hatten. Und in diesen Sog zog er nun auch Sven mit hinein und das war furchtbar.

Sven hatte auch Angst vor Christopher, genau wie ich. Ich fand es so furchtbar, dass Sven immer wie ein Hündchen hinter Christopher herlief, nicht ahnend, dass er einfach zu schwach war, sich dagegen zu wehren. Sven war doch überall beliebt. Er war freundlich und auch immer hilfsbereit. Mit zwölf oder dreizehn Jahren verdiente er schon Geld und das nicht zu wenig.

Es fing damit an, dass Sven für Apotheken den Laufburschen machte und aus diesem Job wurden dann viele. Er belieferte ja viele ältere Menschen und die freuten sich jedes Mal, wenn Sven kam. Er hatte Humor und wusste mit Menschen umzugehen. Von diesen älteren Menschen bekam er viele Trinkgelder und auch viele Geschenke. Hinzu kam, dass die Leute Sven fragten, ob er für sie einkaufen würde und zum Teil auch Kohlen in die Wohnung schleppte. Ja, er war ein richtiger Allrounder und ist es bis heute noch. Ich war immer stolz auf ihn und bin es heute noch, egal was auch immer er getan hat. Mein Vater lachte immer und war stolz. Er sagte mehrmals: „Aus dem Jungen wird mal was, der weiß, wie es geht“, und so ist es heute noch.

Ich denke, Christopher war immer neidisch auf Sven und meinte immer, Sven würde nie ein richtiger Mann werden, dafür wäre er zu weich. Christopher hänselte Sven deswegen auch immer und pflanzte ihm den Dorn: „Ein richtiger Kerl haut mal richtig zu, auch wenn es sich um eine Frau handelt, denn Frauen haben zu parieren.“

Da Christopher sehr gut aussah, hatte er auch viel Glück bei den Frauen und schleppte sie reihenweise ab. Aber er liebte sie nicht, sondern gebrauchte, benutzte, verprügelte sie und warf sie dann weg. Ich habe viele Mädchen weinen sehen, die mit Christopher zu tun hatten. Und trotzdem liebten ihn die Frauen wie verrückt und das verstand und verstehe ich bis heute nicht. Ja, doch, er konnte, wenn er einmal gut drauf war, sehr charmant und zuvorkommend sein, aber meistens nicht für lange Zeit.

Bei mir war das anders, Christopher passte auf mich auf und beschützte mich, das fand ich immer ganz toll, denn die Leute wussten, wer mein Bruder ist und wenn irgendetwas war, sagte ich nur: „Du, ich hole meinen Bruder.“ „Wer ist denn dein Bruder?“ hieß es dann. „Na, der Christopher.“ „Der Christopher aus der Kaserne?“ „Ja, genau der“ – und schon waren alle nett und freundlich zu mir.

Bei uns im Block wohnte ein polnischer Mann, er hieß mit Vornamen Dietrich und er sagte zu allen Kindern, wir sollen Onkel Dietrich und Du zu ihm sagen. Das taten wir auch. Wir alle hielten ihn für ein bisschen bekloppt, denn er warf mit Bonbons und Geld nur so um sich.

Alle Kinder standen unten im Hof unter seinem Fenster im ersten Stock und riefen: „Onkel Dietrich, wirf mal Bonbons oder Geld oder beides runter.“ Wir warteten eine Weile und das Fenster ging auf. Er hatte schwarze Haare und trug eine ziemlich starke dunkle Hornbrille. Er lächelte immer und das fand ich sehr komisch, aber alle Kinder sagten: „Er ist immer so nett.“ „Na, egal“, sagte ich, „Hauptsache er wirft was runter.“

Dann kam auch ein Schwung Süßigkeiten, eingewickelt in Papier. Etwas später warf er dann Geld herunter, eingewickelt in Zeitungspapier. Wir stürzten uns auf all die Sachen, denn jeder wollte etwas abhaben, vor allem von dem Geld. Dann sagte er: „Bis bald und besucht mich doch mal.“ Einige Tage später sagte meine Freundin: „Komm, lass uns zu Onkel Dietrich gehen, dann bekommen wir Geld und Süßigkeiten.“ Ich wollte nicht, zögerte und hatte große Angst. Meine Freundin aber schaffte es, dass ich doch mitging. Mein Herz klopfte wie wild vor Angst. Aber ich rannte nicht weg, blieb stehen. Wir klopften an die Tür und prompt wurde sie geöffnet.

„Hallo, meine lieben Kinderlein, schön, dass ihr mich besuchen kommt. Kommt doch rein.“ Meine Freundin ging vor mir rein, ich zögerte noch, aber Onkel Dietrich sagte: „Kommt rein.“ Er hatte vor der Tür einen Vorhang hängen, den er zuziehen wollte, aber ich sagte: „Der bleibt auf.“ Dann wollte er die Tür abschließen, aber auch das ließ ich nicht zu. Ich hatte so ein komisches Bauchgefühl und meine Nackenhaare stellten sich auf. Plötzlich sagte Onkel Dietrich: „Wollen wir ein Spiel spielen?“ „Und was für ein Spiel soll das sein?“, fragte ich. „Na, wir spielen Überfall.“ „Überfall?“, fragte ich. „Ja“, sagte er, „Ihr seid zwei Mädchen, die spazieren gehen und ich überfalle euch.“ Mir wurde hundeelend, denn nun bemerkte ich, dass er doch die Tür abgeschlossen hatte, aber der Schlüssel steckte noch. Er warf meine Freundin, die immer noch alles lustig fand, auf die Couch und begrapschte sie. Da fing sie an zu begreifen, dass es ein scheiß Spiel werden sollte. Er packte mich am Arm und wollte auch mich zu sich ziehen, aber ich riss mich los, fing an zu schreien, fummelte an der Tür herum, um sie endlich aufzuschließen.

 

Zum Glück schaffte ich es und lief schnell hinaus. Er schloss hinter mir sofort wieder ab, sodass meine Freundin nicht heraus konnte. Ich lief so schnell ich konnte nach oben und brüllte die langen Flure entlang: „Hilfe, der Onkel Dietrich macht bestimmt was Schlimmes mit ihr, Hilfe.“

Es öffneten sich einige Türen. Auch unsere und Christopher kam heraus. „Anna, was ist denn los?“ „Er, er hat meine Freundin, er spielt Überfall und sie kann nicht raus. Du musst ihr helfen.“ Christopher rannte mit ein paar Leuten los und schrie: „Wer ein Telefon hat, soll die Polizei rufen.“

Dann standen wir vor seiner Tür und bollerten dagegen und riefen: „Mach auf, du Schwein, lass das Mädchen raus.“ Aber es geschah nichts, Onkel Dietrich hatte viel zu viel Angst davor, verprügelt zu werden. Es dauerte ziemlich lange, bis endlich die Polizei kam. Sie klopften laut an die Tür und riefen, er solle sofort aufmachen oder sie würden die Tür aufbrechen. Endlich öffnete sich die Tür und Onkel Dietrich sagte: „Es ist doch nichts passiert, es war nur ein Spiel.“ Die Polizisten holten meine Freundin raus und nahmen Onkel Dietrich mit zur Polizeistation. Er war auch eine ganze Zeit verschwunden, um dann später bei Nacht und Nebel zu verschwinden, auf Nimmerwiedersehen.

Ich habe nie in Erfahrung gebracht, was passiert war, aber ich denke, dem Verhalten meiner Freundin nach, dass er sie vergewaltigt hatte. Meine Freundin hat nie wieder darüber geredet und ich habe nie wieder gefragt, aber sie war verändert, ängstlich und traurig.

So verging ein Tag nach dem anderen und es gab keinen Tag, an dem nichts Schlimmes passierte. Man kann nicht sagen, dass man sich daran gewöhnt hatte, aber mittlerweile lebten wir damit, so gut es ging. Wenn jetzt die Polizei angefahren kam, liefen wir schon hin und fragten, was denn passiert sei und ob wir mitgehen können zum Gucken.

Bei uns zuhause war es zurzeit ruhig und darüber waren wir nicht böse oder traurig. Es war nun wieder einmal Sommer geworden und die Schulferien hatten angefangen. Es kam wieder die Zeit, wo ich viel mit Sven und Christopher unterwegs war, zum Schwimmen und Radfahren und auch, um mit Freunden zu spielen.

Da es länger hell war, durften wir auch länger draußen bleiben, was uns sehr gefiel. Eines Tages holte mich eine Freundin zum Spielen ab. Als wir unten angekommen waren, sagte sie: „Anna, komm mal mit Gucken.“ „Was soll ich gucken?“, fragte ich. „Na, komm einfach mit. Wir kriegen eine Mark, wenn wir zugucken.“ Ich verstand immer noch nicht und wurde am Arm gepackt und mitgezogen. Ich sah eine ganze Gruppe von Kindern stehen und hörte, wie sie lachten und sich freuten, weil sie eine Mark bekommen hatten. Als wir näher kamen, sah ich einen kleinen dicken Mann da stehen, ganz in Schwarz gekleidet mit einem weiten Mantel und einer Baskenmütze auf dem Kopf.

Ich fand ihn sehr bedrohlich und Angst einjagend. „Geh hin“, sagte meine Freundin, „dann bekommst du auch eine Mark“, aber ich wollte nicht. Mein Magen drehte sich um und meine Nackenhaare stellten sich hoch, ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. „Na, dann eben nicht“, sagte meine Freundin, ging hin und holte sich ihre Mark ab. Ich verstand immer noch nicht, was los war, denn einfach nur so da rumstehen und gucken und dafür eine Mark bekommen, fand ich wirklich sehr komisch. Es dauerte aber nur kurze Augenblicke und ich verstand, worum es ging. Wir hatten es mit einem Exhibitionisten zu tun. Er öffnete seine Hose, zeigte uns sein Geschlechtsteil, rubbelte daran herum und stöhnte laut dabei. Ich war so erschrocken und voller Ekel und lief davon. Ich lief, bis ich in unsere Wohnung kam.

Verweint stotternd erzählte ich meiner Familie, die beim Kaffeetrinken saß, was geschehen war. Meine Brüder und mein Vater machten sich sofort auf den Weg, um den Unhold zu stellen, aber da ich weggelaufen war, ahnte der schon, was passieren würde. Er hatte sich sein Fahrrad geschnappt und war auf und davon.

Für mich war dieser Tag erst mal gelaufen, das musste ich erst mal verdauen. Meine Mutter tröstete mich, so gut es ging, aber ich hatte noch lange daran zu knabbern. Nach ein paar Tagen traute ich mich wieder nach draußen, um zu spielen. Sven und unsere Freunde waren für den nächsten Tag verabredet, wir wollten uns auf dem Flur an der Treppe treffen. Es war ein schöner warmer Tag und wir hatten viel vor. Meine Eltern waren arbeiten und Christopher war zuhause. Ich weiß nicht, ob er frei hatte oder aber einfach nur wieder blau machte.

Auf jeden Fall sagte Sven: „Komm Anna, lass uns raus, Eva und Jürgen warten auf uns.“ „Ja“, sagte ich, „ich komme sofort“, aber da hatte ich die Rechnung ohne Christopher gemacht. Das war der allerschlimmste Tag, den ich erlebte, den ich bis heute noch versuche zu vergessen oder zu verdrängen, aber das geht natürlich nicht.

Christopher sagte plötzlich: „Anna kommt gleich, geh du schon mal vor, sie muss mir nur kurz was helfen.“ Sven meinte nur: „Dann warte ich so lange, bis sie fertig ist.“ „Nein“, sagte Christopher, „Eure Freunde warten, ich schicke sie gleich raus.“ Ich fand das alles sehr komisch und in mir zog sich alles zusammen vor lauter Angst. Wäre ich doch bloß weggelaufen.

Ehe ich mich versah, hatte Christopher mich gepackt und auf das gelbe Sofa mit den schwarzen Punkten gedrängt. Er sagte, ich solle mich hinlegen, aber ich wollte nicht, hatte Angst und fing zu weinen an. Er hielt mir den Mund zu und schimpfte, dass ich immer stiller wurde. Dann zog er mir meine Unterhose aus und mir liefen die Tränen übers Gesicht bis in die Ohren hinein. Ich kann gar nicht sagen, was in mir vorging. Mein kleines Herz drohte mir vor Angst aus meiner Brust zu springen. Dann nahm er seine Hand von meinen Mund und ich fragte ganz leise: „Was machst du da?“ „Keine Angst“, sagte er, „es tut nicht weh, geht ganz schnell und dann kannst du wieder raus.“ „Ich will nicht, lass mich los, ich will zu Sven.“ „Halt deinen Mund, sonst versohle ich dir den Arsch, dass du nicht mehr sitzen kannst.“ Dann vergewaltigte er mich. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer noch keine Ahnung, was geschah. Ich spürte einen harten Gegenstand in mir, in meinem kleinen Körper und ich dachte, ich zerreiße, so weh tat es mir.

Ich weinte wie verrückt und bettelte, er solle aufhören, denn es tat so furchtbar weh. „Halt deinen Mund, ist gleich vorbei“, aber ich empfand es als eine irrsinnig lange Zeit. Er stöhnte genauso wie der kleine dicke Mann und machte immer hin und her und ich dachte, mein ganzer Körper würde aufgerissen werden. Dann stöhnte er richtig und ich dachte: „Warum geht er nicht auf die Toilette, wenn er mal muss, warum macht er das bei mir rein?“ Aber das war es ja nicht, er ejakulierte und ich wusste damals noch nicht, was es war, denn ich war erst neun Jahre alt, als er mich vergewaltigte. Ja, neun kleine unschuldige Jahre.

Plötzlich klopfte es an der Tür, ich wollte schreien, aber er hielt mir wieder den Mund zu. Dann hörte ich Sven rufen: „Anna, bist du da? Was ist los, wann kommst du endlich?“ Christopher antwortete für mich und sagte, ich würde gleich raus kommen. „Aber warum ist die Tür abgeschlossen?“ „Ach, das habe ich aus Versehen gemacht, nun geh, Sie kommt gleich.“ Ich lag da mit weit aufgerissenen Augen und fühlte mich wie tot. Als Christopher fertig war, ging er von mir runter und gab mir einen Lappen, damit ich mich sauber machen konnte. Er setzte mich dann dermaßen unter Druck, wenn ich irgendjemandem etwas sagen würde, würde etwas ganz Schlimmes passieren. Ich glaubte ihm, denn das, was er mit mir gemacht hatte, zeigte mir, dass er zu allem fähig war.

Ich versuchte so gut es ging, mich sauber zu machen. Ich hatte große Schmerzen und alles brannte wie Feuer. Zwischen meinen Beinen lief ein Gemisch aus Blut und einer klebrigen Masse und das ekelte mich zusätzlich sehr stark. Dann sagte er: „So Anna, nun kannst du spielen gehen und denk daran, was ich dir gesagt habe, zu niemandem ein Wort.“ Ich war nicht in der Lage zu denken, zog meine Unterhose an und ging raus.

„Na endlich Anna, was habt ihr denn da drinnen gemacht und warum war die Tür abgeschlossen?“ Ich fühlte mich wie eine batteriebetriebene Marionette, die auf Knopfdruck antwortete. „Du hast geweint, was ist denn los?“ Ich hätte es am liebsten laut herausgeschrien, aber ich hatte einfach zu viel Angst.

Ich erfand eine Geschichte (darin wurde ich immer besser), ich hätte Christopher geholfen beim Saubermachen und die Tür hatte er versehentlich abgeschlossen. Sven sah mich von der Seite an und er wusste genau, dass ich log, konnte aber nichts machen, denn ich schwieg. Nun sollte ich spielen, aber das ging doch nicht, ich war total verwirrt.

Mein ganzes Leben war durcheinandergeraten und die Schmerzen bestätigten mir immer wieder, dass es kein böser Traum war. Von dem Tag an hatte ich mich sehr verändert, ich war sehr ruhig und unruhig zugleich. Jahre später wusste ich, dass ich von dem Tag an aus meinen Kinderschuhen gerissen worden war. Wenn ich mit Christopher alleine war, verkroch ich mich so gut es ging und wäre am liebsten unsichtbar gewesen.

Dann hatte meine Mutter Waschtag. Sie rief mich zu sich und fragte: „Anna, das ist doch deine Unterhose.“ „Ja“, sagte ich, „warum?“

„Anna, hast du geblutet?“ „Ja, äh nein, ich hatte Durchfall“, kam es dann schnell wie aus der Pistole geschossen. Meine Mutter sah mich komisch an und sagte aber dann: „Na ja, dann ist ja gut.“ Ich lief davon und versteckte mich und weinte still vor mich hin. „Warum hilft mir keiner?“, dachte ich immer, „Warum nicht?“ Aber wie sollte mir jemand helfen?

Am Abend, als mein Vater von der Arbeit kam, nahm er mich in den Arm, um mich zu begrüßen, aber ich konnte diese Umarmung, die ich sonst immer wollte, einfach nicht mehr ertragen. Mein Vater sah mich ganz verwundert an und ging zu meiner Mutter. „Was ist denn mit dem Kind los?“, fragte er. „Ach, ich denke sie verändert sich körperlich und da sind Mädchen schon mal so.“ „Ja, aber sie ist auch so still geworden.“ Aber wie gesagt, meine Mutter sprach mit meinem Vater und beruhigte ihn. Hätte sie doch mal richtig hingeguckt und hingehört.

Wenn Christopher nur annähernd in meine Nähe kam, lief ich weg oder ich setzte mich woanders hin. „Was machst du da, Anna?“, fragte meine Mutter. „Läufst du vor deinem Bruder davon? Er tut dir doch nichts, er hat dich doch lieb.“

Ich wollte es erzählen, aber Christopher sah mich an und ich schwieg. Es war so grausam, alles alleine aushalten zu müssen. Dass meine Kindheit von heute auf morgen zu Ende war, begriff ich wie gesagt, erst später, nicht ahnend, dass es mich ein Leben lang begleiten würde.

Ich fing an zu überlegen, was ich falsch gemacht haben könnte, denn ich musste etwas Falsches getan haben, sonst hätte mich Christopher nicht so verletzt und benutzt. Viele Jahre suchte ich die Schuld bei mir. Heute weiß ich natürlich, dass ich nichts Falsches gemacht habe, ich war doch erst neun Jahre alt.

Ich hatte mir nun angewöhnt, immer auf der Hut zu sein und alles und jeden zu beobachten. Ich wollte nie wieder so verletzt werden und nie wieder solche Schmerzen ertragen. Manchmal hörte ich, wie die Leute von mir sprachen und sagten: „Na, das ist aber ein verträumtes Kind.“ Aber dem war nicht so, ich sah alles ganz genau, was um mich herum geschah, was die Leute an hatten und wie sie aussahen. Das ist bis zum heutigen Tage so geblieben.

Da wir Ferien hatten, wollten wir viel unternehmen, aber die erste Zeit war ich lustlos, launisch und ungenießbar. So kannte mich keiner. Diese gravierende Veränderung hätte doch irgendjemandem auffallen müssen. Aber niemand sah etwas oder guckte genauer hin. Christopher hatte auch Urlaub bekommen und ich fand es zum Kotzen, dass er nun den ganzen lieben langen Tag um uns herum war, aber ändern konnte ich es nicht.

Sven war der Einzige, der immer wieder versuchte, mit mir zu reden, warum ich denn immer so komisch sei. Er muss gespürt haben, dass etwas Schreckliches passiert war, aber er wusste nicht was. So ging ich wieder mehr raus, um mich zu beschäftigen und zu vergessen, aber vergessen war nicht möglich – egal, was auch immer ich versuchte.

Meine Mutter war eines Tages früher von der Arbeit gekommen, weil nicht so viel zu tun war. Ich war ganz froh darüber, denn so war ich sicher vor Christopher, dachte ich. Er buhlte seit der Vergewaltigung immer um mich und wollte, dass alles wieder gut ist, einfach so, aber das ging natürlich nicht.

 

Ich versuchte, so normal wie möglich zu sein, um keine weiteren Fragen wegen meines Verhaltens beantworten zu müssen. Meine Mutter hatte sich ein wenig hingelegt und sagte, wir sollen sie eine Stunde schlafen lassen, denn sie war kaputt und müde. Sven war allein unterwegs und ich wollte auch raus.

Christopher ging mit und meinte zu mir: „Anna, komm mal mit, ich will dir was zeigen.“ „Nein, ich will nicht, ich will auch nichts sehen.“ „Doch, komm mit“, wiederholte er, „ich zeige dir nur etwas.“ Ich hatte große Angst, aber wir waren auf dem Flur, also was sollte schon passieren, dachte ich, sagte aber: „Nein.“ „Ich habe eine Überraschung für Mama, die habe ich unten versteckt und wir sagen dann, das ist von uns beiden.“ Da hatte er mich dann genau da, wo ich nicht hin wollte. Ich dachte, wir würden rausgehen, gingen aber nur eine Etage nach unten, einen langen Flur entlang und blieben vor einer Tür stehen.

Er sagte: „Komm mit rein, da ist die Überraschung drin.“ „Nein, da will ich nicht rein“, sagte ich. „Da wohnt ein Freund, du brauchst keine Angst zu haben.“ Er fasste mich an die Hand, hielt mich fest und öffnete ohne zu klopfen die Tür. Zu spät erkannte ich die Falle, in die ich hineingetappt war. Ich sah für einen kurzen Augenblick einen alten eckigen Raum, der stank und dunkel war und in dem eine alte Matratze auf dem Fußboden lag.

Er zerrte mich rein und warf mich auf die dreckige Matratze. Ich fing an zu schreien, aber Christopher hatte schneller als ich gucken konnte, die Hand auf meinen Mund gepresst. Er legte sich wieder auf mich, schob meine Kleider hoch, zog mir meine Unterhose aus und vergewaltigte mich zum zweiten Mal. Ich war vor Angst erstarrt und konnte nicht einmal weinen. Ich fühlte mich wie beim ersten Mal. Das Gefühl, dass mein ganzer Körper zerrissen wurde und es brannte wieder wie Feuer. Ich konnte es nicht verstehen, was machte ich immer nur falsch, um so etwas über mich ergehen lassen zu müssen?

Als er fertig war, drohte er noch massiver als beim ersten Mal und ich stand so unter Schock, dass ich gar nicht wusste, was ich tun sollte. „Zieh dich an“, fauchte er, „und mach dich sauber. Irgendwo liegen hier ein paar alte Fetzen rum, nimm die dafür.“ Ich tat, was er verlangte. Dann öffnete er vorsichtig die Tür, sah sich um und sagte: „Raus hier.“

Es hatte uns niemand gesehen. Wie kann so ein Schwein auch noch so viel Glück haben? „Geh jetzt spielen“, sagte er, aber das wollte und konnte ich nicht. „Ich gehe nachhause zu Mama.“ „Wehe, du sagst nur ein Sterbenswörtchen“ und ich nickte nur ein Nein. Ich schleppte mich nachhause, denn jeder Schritt tat mir weh und meine kleine Seele verkrüppelte immer mehr.

Oben angekommen, ging ich zu meiner Mutter und legte mich neben sie. Sie wurde wach und sagte: „Na Anna, auch müde?“ „Ja, auch müde“, sagte ich. Sie legte ihren Arm um mich und hielt mich fest. Ich lag ganz starr da und die Tränen wollten nicht aufhören zu laufen. Da sie einschlief, bekam sie es nicht mit.

Als Christopher wieder da war, tat er wieder, als wäre nie etwas geschehen und benahm sich ganz normal. Ich fing an, ihn immer mehr zu hassen und wünschte mir, er würde für immer verschwinden und nie wieder kommen. Nachts fing ich an, wieder ins Bett zu machen und keiner konnte sich das erklären. „Ach, das gibt sich schon wieder“ hieß es dann.

Christophers kriminelle Laufbahn wurde immer länger. Eines Tages kam die Polizei zu uns und wollte mit Christopher und Sven sprechen. Meine Mutter fragte: „Warum?“ und die Polizei sagte: „Diebstahl.“ Sie wurden beide befragt, aber sie konnten beiden nichts nachweisen und gingen wieder. Es handelte sich um Kupferkabelrollen. Sie hatten diese auf einer Baustelle geklaut und abgebrannt, um an das Kupfer zu kommen und es zu verkaufen. So zog Christopher Sven immer weiter in seine Machenschaften rein. Da sich bei unseren Eltern auch nicht das Geringste geändert hatte, war das, was alles passierte, vorprogrammiert.

Ich dagegen entwickelte mich zum Streber in der Schule, denn dort bekam ich die Anerkennung, die ich brauchte und von zuhause nicht bekam. Ich kam immer mit guten Zensuren nachhause, egal in welchem Fach, ich hatte immer nur Einser und Zweier. Es wurde mit der Zeit aber sehr schlimm, denn ich setzte mich dermaßen unter Druck, ohne es zu merken. Es war so schlimm, dass ich heulte, wenn ich eine Zwei statt einer Eins bekam.

Mein Lehrer half mir in dieser schweren Zeit sehr. Er redete viel mit mir und sagte: „Du musst nichts beweisen, du bist ein hochbegabtes Mädchen, also mach dir bitte nicht so einen Druck.“ Danach ging es mir wieder besser.

Wenn ich gefragt wurde, was ich einmal werden will, dann wusste ich es schon ganz genau. Ich wollte studieren – ja, das war mein großer Traum. Ich wollte Dolmetscherin werden oder Schriftstellerin. Mein Lehrer unterstützte mich, wo er konnte und sagte immer zu mir: „Anna, du wirst mal eine großartige Schriftstellerin werden.“ Denn das war mein insgeheim größter Wunsch. Ich schrieb mit neun Jahren schon Gedichte und Geschichten, meine Aufsätze wurden immer gleich nach Abgabe vorgelesen, weil meine Klassenkameraden es so wollten. Sie waren immer ganz gespannt darauf. Mein Lehrer musste mich auch immer bremsen, denn ich konnte einfach nicht aufhören zu schreiben. Ich brachte mit meinen Geschichten Erwachsene wie auch Kinder zum Lachen oder zum Weinen.

Eines Tages kam die Polizei wieder zu uns und nahm Christopher und Sven mit. Sie sollten einen Einbruch begangen haben, stritten aber, wie beim ersten Mal, alles ab. Sie wurden lange verhört, dann aber wieder frei gelassen, da man ihnen wieder nichts nachweisen konnte, obwohl sie es getan hatten.

Sven hatte es zuhause gebeichtet. Meine Eltern waren entsetzt, behielten es aber für sich, so wie auch ich. Wir hatten uns nur gewundert, wo sie immer das viele Geld her hatten. Sven schwänzte dauernd die Schule und meine Mutter musste ständig dort antanzen. Dann hatte er eine Lehrerin, die ihn ständig wegen seiner Ohren hänselte. Sie sagte immer: „Du hast Segelohren“ und die ganze Klasse brüllte vor Lachen, bis er sagte: „Noch ein Ton und ich schlage zu.“ So verging ihnen das Lachen, denn sie hatten Angst vor ihm, denn Christopher und Sven waren mittlerweile bekannt als derbe Schläger.

Seiner Lehrerin sagte Sven: „Wenn du noch einmal was über meine Ohren sagst, leg ich dich übers Knie und versohle dir den Arsch.“ Aufgebracht und wütend wegen dieser Ansage konnte sie es nicht lassen, Sven noch einmal etwas Hässliches zu sagen.

Sie dachten nie im Leben, dass er ihr etwas tun würde. Da hatte sie aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Sven sprang hoch, schnappte sich die Lehrerin, legte sie, wie vorher angekündigt, übers Knie, zog ihr den Rock hoch und versohlte ihr wirklich den Arsch.

Seine Klassenkameraden rissen vor Schreck die Augen auf und wussten nicht, was sie tun sollten. Aber da auch sie die Lehrerin nicht so gerne mochten, machten sie gar nichts, sondern fingen an zu lachen. Ihr Geschrei hallte durch die Schule und der Direktor kam angelaufen. Er half der Lehrerin auf die Beine und Sven musste sofort die Schule verlassen, was nicht sonderlich schlimm für ihn war.