Angst zeigt Gesicht

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Unsere Mutter und Christopher hatten uns etwas zu trinken hingestellt, aber zu essen bekamen wir nichts. Uns knurrte den ganzen Tag der Magen vor lauter Hunger. Christopher hatte seine wahre Freude daran, uns so leiden zu sehen. Als es Abend wurde, kam unsere Mutter ins Zimmer und brachte uns etwas zu essen. Sie sagte nur: „Ich hoffe, ihr habt daraus gelernt und werdet diese Strafe niemals vergessen.“ „Nein, das werden wir sicherlich nie.“ und wir versprachen unserer Mutter, so etwas Schlimmes niemals wieder zu tun.

Es gab aber dann eine große Freude für Sven und mich, denn unser Vater hatte geschrieben und gesagt, er hätte Urlaub genommen und wir sollten für acht Tage mit unserer Mutter nach Schweden kommen.

Sven und ich waren ganz aus dem Häuschen vor Freude. Da Christopher schon alt genug war und schon seiner Wege ging, blieb er in Deutschland. Sven und ich konnten es kaum erwarten, endlich wieder nachhause zu kommen, auch wenn wir in einer anderen Stadt waren, aber es war unser Heimatland. Es gab so viel zu besprechen zwischen Sven und mir. Ach, was wir nicht alles tun wollten.

Einige Tage, bevor es dann losgehen sollte, war ich mit Sven wieder draußen. Er sagte zu mir: „Ich gehe kurz nach oben. Ich habe Durst und will etwas trinken. Willst du mit oder willst du hier auf mich warten?“ „Ich warte hier auf dich, aber beeile dich, denn ich habe Angst, wenn du zu lange weg bist.“ „Nein, ich mache ganz schnell.“ Es dauerte aber doch eine Weile, bis er wieder kam. Als er endlich da war, sah ich, dass er wütend und verletzt war und geweint hatte. Ich fragte: „Sven, was ist passiert? Hat Mama mit dir geschimpft?“ „Geschimpft“, schrie er, „geschimpft? Sie ist mit einem anderen Kerl im Bett, einem Spaghetti-Fresser“ (Sorry, wir wussten nicht, was das heißt und hatten es mal aufgeschnappt).

Dieses Wort hatten wir im Zusammenhang mit Italienern gehört. Ich sah Sven total verstört an und weinte mit ihm. Ich fragte: „Sollen wir es Papa sagen?“ Sven erzählte mir dann genau, was vorgefallen war. Er hatte unsere Mutter erwischt mit einem fremden Kerl. Sie sagte zu Sven: „Nun hast du ja gesehen, was du sehen wolltest und kannst es ja deinem Vater erzählen, wenn wir ihn in vier Tagen besuchen.“ „Das werde ich auch tun“, sagte Sven, drehte sich um und lief davon. Sven war immer derjenige, der die Wahrheit sagen wollte und auch musste. Das hat er schon immer getan und tut es noch.

Am Abend kam dann Christopher und holte Sven und mich rüber in das Zimmer, in dem wir schliefen. Er hatte mit meiner Mutter gesprochen und sie sagte ihm, er solle sich Sven mal vorknöpfen. Wahrscheinlich hatte er wieder Schweigegeld und längeren Ausgang bekommen. Sven und ich gingen rüber, ich musste mich auf das Sofa setzen und Sven musste in der Mitte stehen bleiben. Christopher holte dann die Hundeleine und drosch dermaßen heftig auf den Rücken von Sven ein, dass er brüllte wie ein Tier. Ich schrie und weinte und machte mir vor lauter Angst in die Hose, sagte es aber nicht, sondern ließ die Hose an meinem Körper trocknen. Christopher sagte beim Schlagen: „So ergeht es allen, die petzen.“

Als er endlich aufhörte, brach Sven fast zusammen vor Schmerz, aber auch diese Geschichte mussten wir für uns behalten, aus Angst, noch mehr leiden zu müssen.

Sven weinte und ich versuchte, ihn zu trösten. Ich sah mir seinen Rücken an und leise und still liefen mir die Tränen über das Gesicht. Ich versuchte, mit einem kalten nassen Tuch seine Schmerzen zu lindern.

Dann kam endlich der Tag, an dem wir fahren sollten. Sven ging es etwas besser, das heißt, die Schmerzen waren weniger geworden, aber sein Rücken sah noch ganz böse aus. Er funkelte in allen Farben. Sven und ich waren unbeschreiblich aufgeregt, denn endlich wieder heimzukommen, war für uns das Größte. Endlich wieder mit allen Menschen in der Sprache sprechen, die uns so viel bedeutete. Wir waren gut gelaunt, nur unsere Mutter hielt nicht allzu viel von unserer guten Laune. Im Gegenteil, sie prägte uns immer wieder ein, was wir unserem Vater zu erzählen hatten. „Habt ihr zwei das verstanden?“, sagte sie wieder zu uns und wir sahen uns an und bejahten es. Unsere Laune wollte auch schon in den Keller kriechen, aber dann kamen wir auf das Schiff und fühlten uns unserem alten Zuhause so nah wie schon lange nicht mehr. Wir liefen herum, hielten unsere Nasen hoch in die Luft, um die gute und langersehnte Seeluft zu schnuppern und einzuatmen. Dann waren wir endlich da und freuten uns sehr, unseren Vater wiederzusehen. Er fragte: „Na Kinder, wie geht es euch?“ Unsere Antwort konnte ja nur lauten: „Gut Papa, wir sind endlich wieder zuhause.“ Wenn ich heute mit Sven darüber spreche, erinnern wir uns daran, dass wir Tränen in den Augen unseres Vaters sahen.

Unsere Mutter war ziemlich ruhig und das fiel natürlich unserem Vater auf. Er fragte: „Ist was passiert oder warum bist du so ruhig Pia?“ „Nein, nein, es ist alles in Ordnung, bin nur etwas müde von der Reise.“ „Na ja, lass uns in meine Wohnung fahren, da kannst du ein wenig ausruhen oder schlafen.“ Als wir dort ankamen, trugen wir unsere Sachen rein und stellten sie ab und fragten gleich: „Dürfen wir raus? Gucken, ob Kinder da sind, mit denen wir spielen können?“ „Ja, geht nur“, sagten unsere Eltern und schon waren wir auch weg.

Wir fanden dann auch gleich ein paar Kinder, mit denen wir spielten. Es war so toll und wir fühlten uns seit langer Zeit wieder richtig wohl und waren glücklich. Als wir später rein mussten, saßen wir zusammen am Tisch und aßen Abendbrot. Wir erzählten wie wild durcheinander, weil wir immer noch sehr aufgeregt waren. Nach dem Essen durften wir noch fernsehen, da liefen ja die Programme, die wir kannten und auch mochten. Ja, wir waren rundherum glücklich. Wir flüsterten und Sven machte wieder seine Faxen, dass ich aus dem Lachen nicht mehr rauskam. Dann war es Zeit fürs Bett. Wir waren müde und machten uns ohne große Meckerei zum Schlafengehen fertig.

Als Sven dann seinen Pullover auszog, sagte er: „Aua, das tut noch so weh“, und meine Mutter, wie auch ich erschraken, denn nun wurde unser Vater hellhörig und fragte, was denn los sei. „Ach, nichts“, sagte Sven, „alles in Ordnung.“ Aber unser Vater hatte mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Er zog Svens Pullover hoch und ich sah sein entsetztes Gesicht. „Um Gottes willen, Junge! Was ist denn mit dir passiert?“ Sven und ich fingen an zu weinen, denn es steckte uns noch tief in den Knochen, was da passiert war.

Meine Mutter kam schnell dazu und sagte: „Ja, so sehen Brüder aus, wenn sie sich streiten.“ Mein Vater sah mich an und fragte: „Stimmt das, Annalena?“ „Ja“, stotterte ich vor Angst und Aufregung, mich zu verplappern. „Und was sagst du dazu, Sven?“, fragte er. Einen Moment lang sah es so aus, als würde Sven die Wahrheit sagen, aber er entschied sich doch für die Lügengeschichte.

Meine Mutter hielt für Augenblicke den Atem an und war sichtlich erleichtert, als Sven doch zur Besinnung kam. Mein Vater fragte aber noch einmal nach, denn diese Striemen auf dem Rücken erschütterten ihn doch sehr. Sven erzählte dann, dass er sich mit Christopher gezankt hätte. „Und die Striemen?“, fragte Papa. „Die habe ich von seinem Gürtel, aber Christopher sieht auch nicht besser aus, das kannst du mir glauben.“ „Na ja“, sagte Papa, „aber so etwas will ich nicht noch einmal erleben“ und wir waren froh, als das Thema endlich vom Tisch war. Zu groß war die Angst, dass die Wahrheit doch noch herauskäme.

Bevor Sven und ich zu Bett gingen, rief unser Vater uns zu sich ins Wohnzimmer. „Setzt euch nochmal hin, ich habe euch etwas zu sagen.“ Wir sahen ihn alle ganz erstaunt an und Sven und ich dachten und hofften, er würde uns jetzt sagen, dass wir wieder nachhause ziehen, nach Schweden.

Aber nichts dergleichen. Er sagte uns: „Wenn der Urlaub hier vorbei ist, dann dauert es nicht mehr lange und ich komme für ganz nachhause und arbeite in Deutschland. Aber es wird noch drei bis vier Monate dauern. Dazwischen komme ich nachhause, denn ich bekomme noch Urlaub. Und, freut Ihr euch?“ fragte Papa. Ja, wir freuten uns wirklich, denn das Leben in der Fremde ohne Vater, der Sprache nicht mächtig, war schon sehr schwer. Dann gingen wir schlafen.

Die Tage in Schweden vergingen wie im Fluge und wir waren wieder unendlich traurig, zurück zu müssen. Aber ich sollte ja eingeschult werden und Sven musste auch zur Schule. Als wir wieder in der Kaserne waren (Wir nannten es nicht unser zuhause.), fragte Christopher meine Mutter gleich, ob wir dicht gehalten hätten und sie sagte: „Ja, alles ist gut gegangen.“

Dann kam der Tag der Einschulung und ich verstand so wenig, dass ich am liebsten weggelaufen wäre. Mein Klassenlehrer kam auf mich zu, gab mir die Hand und sprach mit mir. Da ich ihn nicht verstand und meine Mutter auch nicht, war es keine schöne Einschulung. Ich fühlte mich verraten, verkauft und unendlich verloren. „Mama“, sagte ich, „ich will heim, heim nach Schweden.“ Aber sie sagte: „Hör auf, jetzt sind wir hier und bleiben hier.“ Damit war das Thema beendet.

Ich war von der Schule genauso wenig begeistert wie Sven. Ihm ging es nicht anders als mir. Ich saß die ersten sechs Monate in der Klasse, um die Sprache richtig zu lernen, was dann auch gut klappte. Zuhause sprachen wir aber immer schwedisch, denn wir sollten und wollten es ja nicht verlernen. Dann meldete Papa sich zu seinem letzten Urlaub an und von da an war Mama wie ausgewechselt.

Sie schien unruhig und nervös. Heute wissen wir, dass sie Angst hatte. Angst davor, wenn unser Vater heimkam, denn er wollte ja wissen, was noch an Geld übrig war vom Startkapital.

Meine Mutter hatte aber so ziemlich alles verjubelt, das bekamen wir später mit. Nun gingen Sven und ich jeden Tag zur Schule und mit der Zeit gewöhnte ich mich daran. Für Sven war es nicht so leicht.

 

Dann kam der Tag X. Meine, nein unsere Mutter, war spurlos verschwunden. Wir drei saßen ganz schön in der Scheiße, denn niemand war für uns da, kein Geld, nichts. Ein paar Nachbarn halfen uns fürs Erste mit Essen und anderen Dingen über die Runden. Dann hatte jemand das Jugendamt eingeschaltet, und ehe Sven und ich uns versahen, landeten wir im Kinderheim. Das war der absolute Albtraum für uns, denn nun wurden wir beide auch noch getrennt. Er im Jungenzimmer, ich im Mädchenzimmer. Wir bekamen Heimklamotten und Schuhe, die mir drei Nummern zu groß waren.

Ich weiß bis heute nicht, warum das passierte. Ich hatte ein schönes rosafarbenes Kleid an, mit einer rosafarbenen Glasbrosche, das nahm man mir gleich weg. Ich weinte, schrie und rief nach Sven. Er schlug um sich und brüllte: „Lasst mich zu meiner kleinen Schwester, ihr Idioten. Sie ist noch zu klein, um alleine zu sein, ohne mich.“

Aber egal, was wir machten, es half nichts, wir wurden getrennt. Die halbe Nacht weinte ich still vor mich hin, bis ich irgendwann einschlief. Am nächsten Morgen wurden wir alle geweckt und schlagartig wurde mir bewusst, wo ich war. Wir mussten uns alle in einem großen Waschraum waschen und unsere Zähne putzen. Viele Mädchen tuschelten über mich und lachten, weil ich so eine komische Sprache sprach und nicht alles richtig verstand und vor allem, weil ich so viel weinte. Aber mir war so ziemlich alles egal, ich wollte nur zu Sven. Dann gingen wir in einen großen Saal, wo alle Kinder ihr Frühstück bekamen.

Dann sah ich Sven und rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her, zu ihm. Er nahm mich in die Arme und tröstete mich. Wir durften sogar zusammensitzen und frühstücken. Dann wurde mir auf einmal ganz schlecht, denn eines der Mädchen, das in den Speisesaal kam, hatte mein rosafarbenes Prinzessinnenkleid an und ich stürzte mich auf sie, um es mir wiederzuholen. Aber eine Heimmitarbeiterin kam sofort angelaufen und zog mich zur Seite. Sie schimpfte mit mir und sagte, ich solle mich doch nicht so anstellen, ich würde das Kleid ja wieder bekommen, aber im Heim würde man teilen.

Das war mir so egal, ich schrie und weinte wie verrückt, dass ich aus dem Speisesaal in mein Zimmer gebracht wurde. Sven kam mit und ließ sich nicht abwimmeln. Unterwegs verlor ich dann auch noch einen Schuh, denn die alten Galoschen waren ja, wie gesagt, viel zu groß für mich.

Heute denken wir mit Grauen an die Zeit zurück. So verging eine lange Zeit und wir dachten, wir müssten für immer in diesem Heim bleiben. Christopher war alt genug gewesen und hatte sich aus dem Staub gemacht.

Es war an einem Sonntag, wir mussten Mittagsschlaf halten, da hörten wir im Flur lautes Geschrei: „Ich will auf der Stelle meine Kinder haben, sonst passiert hier was.“ Ich erkannte die Stimme meines Vaters. Er hatte Bescheid bekommen und war sofort zur Stelle, um uns da rauszuholen. Er hatte sich zur Hilfe meinen Großvater aus Dänemark mitgebracht, der sollte die erste Zeit auf uns aufpassen. Ich war nun nicht mehr zu halten, stürmte aus dem Zimmer und rannte schreiend, weinend und auch lachend zu meinem Vater und Großvater. Auch Sven war schon da, denn auch er hatte das Geschrei gehört. Wir umarmten uns alle und weinten wie verrückt. „So“, sagte Papa zu uns, „jetzt fahren wir nachhause.“

Wir waren unendlich glücklich. Als ich mich anziehen wollte, sagte mein Vater: „Was habt ihr denn für Lumpen an?“ Ich weinte und erzählte ihm die ganze Geschichte. Er schnappte sich eine der Damen und sagte nur ganz leise: „Auf der Stelle bekommen meine Kinder ihre Sachen wieder.“ Sie rannten los und holte alles, was uns gehörte. „Endlich, endlich“, sagte ich, „mein Prinzessinnenkleid und meine Schuhe, die passen.“

Mann, waren wir nach langer Zeit wieder glücklich. Unser Großvater konnte gar nicht aufhören zu weinen, so verzweifelt war er. Denn es war ja seine Tochter, also unsere Mutter, die spurlos verschwunden war und niemand wusste, wohin. Wir wussten auch nicht, ob sie noch lebte. Diese Angst war sehr groß, aber darüber sprachen wir nicht. Nur Sven und ich redeten über alles Mögliche.

Als wir fast zuhause waren, sahen wir schon von Weitem die Kasernenblöcke und Sven und ich sagten: „Endlich wieder zuhause.“ Das war das erste Mal, dass wir diesen furchtbaren und grausamen Ort unser Zuhause nannten. Aber es war wirklich tausendmal besser als das Kinderheim.

Als wir dann in der Wohnung waren, fing mein Großvater wieder zu weinen an und sagte: „Was ist denn das für eine Unterkunft, wo seid ihr denn geblieben? Um Gottes willen Rudi, was ist das hier?“ Auch mein Vater war unendlich traurig und weinte. Da saßen wir vier nun so wie ein Haufen Elend und wussten nicht, wie es weitergehen sollte.

Da das Jugendamt eingeschaltet war, war auch schon eine Vermisstenanzeige wegen meiner Mutter gemacht worden. Aber mein Vater musste nochmal zur Polizei und auch noch eine Vermisstenanzeige machen. Das alles war so furchtbar – die Ungewissheit, wo unsere Mutter war und ob sie noch lebte und die Frage, warum sie sich nicht meldete.

Mein Großvater blieb vier Wochen bei uns, damit mein Vater in der Firma arbeiten konnte und abends zuhause bei uns sein konnte. Sven und ich gingen wieder zur Schule und unser Großvater versorgte uns und den Haushalt.

Christopher war nun auch wieder aufgetaucht und er ging sogar arbeiten. Alles wäre gut gewesen, wenn wir nur etwas von Mama gehört hätten. So verging die Zeit wie im Fluge und unser Großvater musste wieder zurück nach Dänemark. Wir waren alle unendlich traurig und weinten sehr viel. Aber es nutzte nichts, er musste heim. Meine Großmutter wartete auf ihn. Er fuhr schweren Herzens, vor allem die Ungewissheit über das Verbleiben seiner Tochter machte ihm schwer zu schaffen.

Mein Vater setzte sich am Abend mit uns zusammen und besprach, wie es weitergehen sollte, denn irgendwie musste es ja weitergehen. Die Hoffnung, mal von unserer Mutter zu hören, hatten wir auch noch nicht aufgegeben. „Also“, sagte unser Vater, „Ihr müsst euch morgens den Wecker stellen, aufstehen, frühstücken und zur Schule gehen und du Christopher gehst zur Arbeit. Schafft ihr das, kann ich mich darauf verlassen? Das muss einfach klappen, sonst kommt das Jugendamt wieder und dann müsst ihr wieder ins Heim.“ Aber das wollten wir auf gar keinen Fall. Wir würden zusammenhalten und es schaffen.

Es funktionierte dann auch alles sehr gut. Jeden zweiten Tag fuhr Papa zur Polizei und fragte, ob sie schon etwas gehört hatte, aber er bekam immer wieder die gleiche Antwort: „Nein, noch nicht. Aber wenn wir etwas hören, dann verständigen wir Sie sofort.“

Der Alltag hatte uns nun wieder, obwohl wir täglich daran erinnert wurden, wie schmerzlich es war, einen Menschen zu vermissen und nicht zu wissen, wo er ist. Aber wir lebten und kämpften täglich weiter. Dann, nach circa drei oder vier Monaten, bekamen wir einen Brief aus der damaligen DDR. Wir staunten nicht schlecht, denn wir kannten dort niemanden. Papa öffnete den Brief und fing an zu lesen. Nur Augenblicke vergingen und Papa fing wie verrückt zu weinen an. Wir waren erschrocken, denn wir dachten, es wäre etwas ganz Schlimmes mit Mama passiert.

Er sah uns an, denn wir fragten alle auf einmal, was denn los sei. Er sagte nur kurz und leise: „Mama lebt.“ „Was, wo ist sie, wie geht es ihr?“ Fragen über Fragen und wir überschlugen uns fast. „Ganz ruhig“, sagte Papa, „ich erzähle es euch gleich.“ Nachdem er den Brief zu Ende gelesen hatte, sah er uns an und schüttelte den Kopf. „Ich kann es einfach nicht glauben“, sagte er, „das ist einfach zu viel.“ „Was ist zu viel, Papa?“, fragten wir. „Bitte sag doch endlich, was los ist.“

Dann erzählte er uns, was passiert war. Unsere Mutter hatte ja nun die ganzen Ersparnisse verjubelt und versuchte, mit viel Arbeit wieder etwas auf die hohe Kante zu legen. Aber das war ihr gründlich missglückt. Als unser Vater dann noch erzählte, er würde bald für immer nachhause kommen und nicht mehr auf Montage gehen, bekam sie große Angst, er würde völlig ausflippen und wieder gewalttätig werden.

Da fasste sie einen fast unwiederbringlichen Plan. Sie fuhr in die Stadt, setzte sich in eine Kneipe und trank sich Mut an. Nachdem sie nun genug Mut hatte, fuhr sie zum Bahnhof, kaufte sich eine Fahrkarte in die DDR, setzte sich in den Zug und fuhr dann los, ohne irgendjemandem etwas zu sagen. In der DDR angekommen, wurde sie erst mal verhört, was sie denn dort wollte und so weiter. Es muss ganz schrecklich gewesen sein. Nach ein paar Wochen plagte sie das Heimweh und sie versuchte, wieder zurückzukommen, aber das war gar nicht so einfach. Sie hatte alles in dem Brief berichtet und bat nun um unsere Hilfe, denn nur wir als Familie könnten helfen, dass sie wieder nachhause kam.

Wir sollten an Herrn Walter Ulbricht schreiben und ihn bitten, unsere Mutter wieder nachhause zu lassen. Wir setzten uns sofort hin und schrieben, was das Zeug hielt, denn wir wollten unsere Mutter wieder haben. Unser Vater ging am nächsten Tag zur Polizei, um dort den Brief unserer Mutter zu zeigen. Nach unserem ersten Brief an Herrn Ulbricht bekamen wir erst einmal ein: „Nein, so einfach geht das nicht.“ Wir waren verzweifelt und hatten Angst, unsere Mutter niemals wiederzusehen.

Es vergingen einige aufreibende Monate mit viel Schriftverkehr, bis wir endlich den erlösenden Brief bekamen, dass man unsere Mutter frei lassen würde. Wir waren alle völlig aufgeregt, froh, verzweifelt, aber auch voller Angst. Wie würde es werden, nach so langer Zeit und was wir alles durchgemacht haben.

In zwei Tagen sollte es dann so weit sein. Die Aufregung wurde fast unerträglich. Papa hatte sich für den Tag frei genommen und auch wir blieben der Schule fern, denn wir wollten alle zusammen zum Bahnhof, um unsere Mutter in Empfang zu nehmen. Dann war es soweit, wir standen am Bahngleis und sahen den Zug, indem hoffentlich unsere Mutter sitzen sollte, langsam einfahren.

Der Zug hielt, die Bremsen quietschten und unsere Herzen schlugen so laut, dass man meinte, jeder müsste es hören. Dann stand der Zug und die Sekunden zogen sich endlos lange in. Die Türen gingen auf und dann sahen wir sie, wie sie langsam, zaghaft und voller Angst ausstieg.

Mir war jetzt alles egal, ich rannte laut rufend auf sie zu: „Mama, Mama, liebe Mama“, umklammerte sie und wollte sie nie wieder loslassen. Sie hielt mich fest, weinte mit mir und sagte mir, wie glücklich sie sei, mich endlich wieder in den Armen zu halten. Ich war so unbeschreiblich glücklich in diesem Moment.

Mittlerweile waren auch mein Vater und meine Brüder da und wir standen alle eng umschlungen zusammen und weinten. Dann hörte ich, wie Papa sagte: „Pia, tu uns so etwas bitte nie wieder an, denn das waren die schlimmsten Monate, die wir durchleben mussten. Ich liebe dich“. So etwas sagte er sehr selten und eigentlich auch nie, wenn wir Kinder dabei waren. Meine Mutter versprach uns, so etwas nie wieder zu tun und wir glaubten ihr – wie blöd von uns.

Aber in diesem Augenblick war die Welt wieder schön und auch völlig in Ordnung. Mein Vater sagte: „Kommt jetzt, lasst uns gehen. Wir fahren in die Stadt, gehen schön zusammen essen und fahren dann nachhause, um zu reden. Seid ihr alle einverstanden?“ Wir sagten alle ja, denn wir waren alle so glücklich.

Meine Mutter sah uns immer wieder an und lächelte. Als wir zuhause ankamen, setzten wir uns alle zusammen hin und besprachen die ganze Sache.

Es wurde eine lange Nacht, aber eine schöne lange Nacht, denn es wurde nicht geschrien, nicht geschlagen, nur viel geweint. Aber es waren Tränen der Erleichterung. Ich hatte mich auf den Fußboden gesetzt, zu den Füßen meiner Mutter, lehnte mich an ihr Bein und hielt sie fest. Ich genoss ihre Nähe und auch ihren Geruch – ein Geruch, den ich bis heute nicht vergessen habe. Es war ihr Parfüm und der Geruch, den nur eine Mutter haben kann, denke ich.

In dieser Nacht konnten wir alle nach langen schweren Monaten endlich wieder gut schlafen. Da Wochenende war, konnten wir ausschlafen und den Tag in Ruhe beginnen. Wir frühstückten ganz gemütlich und es war so schön, die ganze Familie zusammen vereint. Unsere Großeltern waren ja nun auch informiert und überglücklich, dass ihre Tochter wieder gesund daheim war.

Ich sah meine Mutter immer wieder an und tätschelte ihre Hand. In diesem Augenblick war ich das glücklichste Kind der Welt. Ich denke sogar, wir waren die glücklichste Familie auf der ganzen Welt.

Das Jahr war fast um und es kam die Adventszeit. Wir hatten schon lange Ruhe, da unsere Eltern in dieser Zeit nicht tranken und davor die Zeit war ruhig, da schon genug Unheil gewesen war.

Unsere Eltern hatten sich zu der Zeit gut im Griff und unsere Mutter war auch nicht so unruhig, wie sonst. Sie hatte wohl erst mal genug, denn die Monate in der DDR hatten Sie geprägt. Sven und ich tobten wieder ausgelassen mit unseren besten Freunden umher.

 

Mittlerweile hatten wir uns an diese schreckliche Wohnanlage und an die hässliche Gegend gewöhnt. Nein, gewöhnt ist das falsche Wort, wir arrangierten uns damit. Es kam der erste Advent und pünktlich zu diesem Tag fiel auch der erste Schnee. Ich sah meiner Mutter beim Kochen zu und schaute immer wieder aus dem Fenster. „Mama“, sagte ich, „glaubst du, es wird bald schneien?“ „Ja“, sagte sie, „ich glaube schon. Es ist kalt genug, der Himmel ganz grau und es riecht nach Schnee.“ Ich lachte und fragte: „Wie kann man Schnee riechen, Mama?“ „Das sagt man nur so“, meinte sie dann. Ich sah wieder aus dem Fenster und da fielen die ersten weißen Flocken vom Himmel. „Mama“, rief ich ganz aufgeregt, „guck mal raus, es fängt gerade an zu schneien.“

Ich liebte diese Zeit so sehr, zuhause war Frieden und unsere kleinen Seelen konnten sich erst mal wieder ein wenig erholen. Es roch in dieser Zeit immer so gut daheim, unter anderem das leckere Essen, was unsere Mutter zubereitete oder vom Backen der Kekse.

Dann roch es auch immer nach Tanne und ich liebte diesen Geruch so sehr. Plötzlich wurde es mir wieder ganz schwer ums Herz, denn diese Zeit zu zuhause, daheim in Schweden, fehlte mir so sehr und nicht nur mir.

Ich rief nach Sven und sagte: „Schau mal, es fängt an zu schneien.“ Er freute sich genauso wie ich, denn wir liebten es, zu rodeln oder Schlittschuh zu laufen.

Unsere Skier hatten wir nicht mehr und auch nicht unseren Spark, das ist ein Schlitten mit langen Kufen und einem Sitz. Man kann toll damit fahren, auch auf der Straße oder auf Fußwegen. Einer sitzt darauf und einer steht auf den Kufen und mit einem Bein gibt man Schwung, wie beim Roller fahren. Es machte so viel Spaß. In Deutschland hatten wir nur den ganz normalen Schlitten, mit dem wir uns nun zufriedengeben mussten. Da aber noch kein Schnee lag, brauchten wir den Schlitten ja auch noch nicht.

So verging dann ruhig und wunderschön die Adventzeit und Weihnachten rückte immer näher. Wir waren schon sehr aufgeregt. Da wir Ferien hatten, durften wir länger aufbleiben und konnten auch etwas länger schlafen.

Eines Morgens sagte Sven zu mir: „Anna, komm und lass uns die Weihnachtsgeschenke suchen.“ „Nein“, sagte ich, „das will ich nicht. Ich will nicht wissen, wie die Pakete aussehen. Womöglich weiß ich dann, was ich bekomme.“ „Ja, aber das ist doch auch der Sinn der Sache“, sagte Sven und öffnete den Wohnzimmerschrank. „Guck mal, ich habe sie gefunden.“ Ich wurde wütend und brüllte Sven an, er solle damit aufhören und mich in Ruhe lassen. Aber er lachte nur, wie immer. Dann hörten wir unsere Eltern kommen, sie waren Einkaufen gefahren und hatten noch die restlichen Geschenke für uns gekauft. Sven räumte alles schnell wieder ein, machte den Schrank zu und kam in die Wohnküche und tat so, als würde er mit mir spielen.

Gerade noch rechtzeitig, denn die Tür ging auf und unsere Eltern kamen rein. „Na, habt ihr wieder was gesucht? Oder seid ihr brav gewesen?“ fragte sie und lachte. „Anna“, rief sie, „hat dein Bruder wieder Geschenke gesucht?“ „Nein“, sagte ich, „heute war er ganz artig.“ „Na ja“, sagte sie zu Papa, „das kann glauben, wer will. Ich nicht, ich kenne doch Sven, und wenn ich so um die Ecke gucke und seine Ohren sehe, wie rot die sind, dann weiß ich Bescheid.“ Sven bekam nämlich immer feuerrote Ohren, wenn er log, und das hat sich bis heute nicht geändert.

Nun war es endlich Heiligabend. Der Tannenbaum war klein, aber schön geschmückt. Wir hatten ja nicht so viel Platz. Es war noch recht früh, aber Sven und ich waren schon so aufgeregt, dass wir nicht mehr schlafen konnten. Also brabbelten wir, was das Zeug hielt. Christopher wurde wach und war stinksauer auf uns, er wollte noch schlafen und sagte, wir sollten endlich unsere Klappe halten, sonst würde er uns ein paar Ohrfeigen verpassen. Da aber unsere Eltern da waren, hatten wir keine Angst und lachten nur.

Unsere Mutter stand auch ziemlich früh auf, denn wir wollten in Ruhe frühstücken und dann das Essen vorbereiten. Es gab Gans mit Kartoffeln und Rotkohl. Es roch so lecker, dass uns das Wasser im Munde zusammenlief.

Als das Essen auf dem Tisch stand, fand ich, es war alles perfekt. Wir aßen in aller Ruhe und erzählten und lachten. Dann wurde abgeräumt und abgewaschen. Nun war es endlich soweit, Bescherung und wir waren so aufgeregt. Wir bekamen immer die gleiche Menge an Paketen. Ich machte meins auf und hatte neue Schlittschuhe bekommen, denn aus den alten war ich herausgewachsen. Dazu bekam ich noch eine schöne warme Mütze und ein Druckerspiel. Das war aufregend, denn man musste die Buchstaben sortieren und in einen Stempel drücken. Dann konnte man es in das Stempelkissen drücken und hatte dann, wenn man den Stempel auf Papier drückte, ein Wort stehen. Es war für mich sehr spannend, ich spielte von nun an immer Sekretärin.

Sven hatte auch neue Schlittschuhe bekommen und auch eine Mütze und ein Monopoly-Spiel. Ich erinnere mich noch wie heute, denn wir probierten es am gleichen Abend aus. Christopher hatte die neusten Schallplatten bekommen, an mehr erinnere ich mich nicht, habe es wohl verdrängt, weil es mir nicht so wichtig ist.

Wir spielten alle drei Monopoly, aber mit Christopher zu spielen, war einfach die Hölle. Wenn ich nicht schnell genug rechnete oder vorlesen konnte, brüllte er mich immer gleich so an, dass ich nur noch zusammenzuckte und weinte. Dann machte er sich auch noch lustig darüber, dass ich weinte und äffte mich nach. Ich sprang auf und rannte ins Nebenzimmer, denn ich konnte es nicht ertragen. Das verletzte mich immer sehr, denn es war ja nicht das erste Mal.

Mein Vater schimpfte mit Christopher und sagte, er solle sofort damit aufhören und sich bei mir entschuldigen. Das tat er, aber nur sehr ungern, denn er hatte sich in der Zeit, als wir in Deutschland lebten, so sehr verändert, dass einem Angst und Bange wurde. So verging dann der Heiligabend und zu guter Letzt war ich trotzdem glücklich.

Die Weihnachtsfeiertage waren wir alle viel draußen mit unseren Freunden. Wir waren alle gewappnet mit Schlitten, dicken Mützen und Handschuhen, denn es hatte tagelang geschneit, was uns Kindern sehr gefiel.

Als nun der Silvester-Abend kam, hatten es sich unsere Eltern so richtig gemütlich gemacht, zusammen mit den Eltern unserer besten Freunde. Da auch sie keinen Alkohol tranken an Silvester, passte alles gut und wir Kinder waren froh, denn wir durften lange aufbleiben und spielten zusammen und um 0:00 Uhr stießen wir alle mit Limonade und Kaffee an, was uns sehr gefiel.

Am Neujahrsmorgen schliefen wir alle lange. Christopher hatte außer Haus gefeiert bei Freunden. Nach dem Frühstück waren Sven und ich nicht mehr zu halten, wir wollten Schlittschuh laufen, was wir dann auch taten. Was wir nicht wussten war, dass unsere Eltern spazieren gingen (machten sie selten), um uns zu beobachten, denn wenn Sven und ich erst mal so richtig loslegten, waren wir nicht mehr zu halten. Wir zogen unsere Schlittschuhe an und liefen über das Eis, als hätten wir nie etwas anderes gemacht. Nach einiger Zeit wurde es für Sven zu langweilig, einfach übers Eis zu gleiten. Er sagte: „Anna, wollen wir Kilius und Bäumler spielen?“ „Au ja“, sagte ich sofort, „so mit Hochheben und so?“ „Ja klar“, sagte Sven, „auch mit Hochheben.“ Gesagt, getan liefen wir nebeneinander her und besprachen, wie wir es anstellen sollten. Angst hatte ich nicht, denn ich vertraute Sven und wusste, er würde mich nicht einfach so fallen lassen.