Angst zeigt Gesicht

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Er war sehr stolz und freute sich und war am Anfang sehr fleißig und zuverlässig. Es muss Anfang Januar gewesen sein, als wir wieder mal mit dem Schiff zu den Großeltern gefahren sind. Wir hatten wieder einen wunderschönen Tag und hofften und beteten, dass er auch so ausklingen möge.

Meine Eltern hatten auf der Heimfahrt einige deutsche Monteure kennen gelernt, mit denen sie dann auch ordentlich feierten. Wir bekamen es wieder mit der Angst und versuchten, unseren Eltern zu sagen – nein, zu bitten – nicht zu trinken und nicht zu streiten. Sie lachten und sagten nur: „Nein, keine Sorge. Es ist alles gut und wir werden nicht wieder streiten.“

Diese deutschen Monteure hatten mit ihrem Gerede unsere Eltern schnell eingelullt und tranken fleißig. Wir hörten nur so ein paar Bruchstücke wie „Deutschland“ und „Arbeit“. Damals konnten wir nichts damit anfangen, da wir kein Deutsch verstehen oder sprechen konnten, auch unsere Mutter nicht. Nur mein Vater verstand alles und übersetzte es unserer Mutter. Wir hatten das Gefühl, dass er ihr etwas ganz Tolles erzählt hatte, denn sie machte ein dermaßen glückliches und fröhliches Gesicht, dass wir uns einfach nur freuten, denn wir dachten nun wirklich, der Tag würde endlich mal ohne Zoff ausklingen.

Als unser Schiff anlegte, luden unsere Eltern die Monteure zu uns nachhause ein und wir waren entsetzt, denn so fing es ja meistens an, mit allem.

Als wir dann zuhause waren, wurden wir an den Gesprächen beteiligt – aber nicht, um irgendetwas mit zu entscheiden, sondern um die fertige und beschlossene Story zu hören. Die Monteure hatten meinem Vater gesagt, dass Leute wie er händeringend in Deutschland gesucht würden und auch in der Firma, in der sie arbeiteten. Er würde sehr viel Geld verdienen können, bekäme sofort eine tolle Wohnung und vieles mehr. „Und Kinder, was sagt ihr dazu?“, fragte unser Vater.

Wir fingen an zu weinen und bekamen eine Riesenportion Angst. „Papa hat doch hier so eine gute Arbeit und wir können sogar jeden Tag hingehen und ihn besuchen.“ Unser Vater hatte zu der Zeit eine gute Stellung im Hafen bei einer großen Firma, wo er sich wohlfühlte, gutes Geld verdiente und super mit allen Kollegen auskam. Also wozu das alles aufgeben? Um irgendwo in der Fremde, wo wir nicht hin wollten, neu anzufangen? Außerdem hatten wir eine superschöne und große Eigentumswohnung, das war doch unser Zuhause und nicht irgend so eine blöde neue Wohnung in Deutschland.

Meine Mutter hatte einen tollen Job in einem der größten Hotels unserer Stadt, wo auch Christopher gerade eine Lehrstelle bekommen hatte. Alles war auch gut so, warum alles kaputt machen und stehen und liegen lassen? Wir verstanden die Welt nicht mehr. Die Trauer, die Angst, alles wühlte in uns. Sogar Christopher weinte wie verrückt mit uns zusammen. Wenn wir drei zu dem Zeitpunkt gewusst hätten, wo wir landen und was alles auf uns zukommen würde – ich glaube, wir wären weggelaufen oder Christopher und Sven hätten sich etwas angetan. Ich war noch zu klein, um das ganze Ausmaß zu erkennen.

Ich wollte aber auch nicht fort. Weg von allen Menschen, die mir wertvoll waren – Tante, Onkel, Cousinen, alle unsere Freunde, meine Musikschule, alles, was mir wichtig war. Die Angst wuchs und ließ uns in eine Panikstimmung gleiten, die wir weder verstehen, noch bewältigen konnten. Was sollen wir denn in Deutschland?

„Wir können kein Deutsch und kennen dort niemanden“, riefen wir alle drei aufgeregt durcheinander, aber hörte uns jemand zu? Nein, die lachten und sagten: „Das lernt Ihr dann doch alles.“

Die Ereignisse an diesem Abend überschlugen sich. „Kann ich mein Klavier mitnehmen und bekomme ich in Deutschland Unterricht?“, fragte ich. Das war so wichtig für mich und man sagte mir: „Aber natürlich, Kind. Alles, was du willst.“ Aber mein Inneres bebte und ließ mich zittern, und ich spürte schon damals all die Lügen. Die Jungs hatten auch viele Fragen und Christopher wollte ja weiter lernen und auch Musik machen und auch sie bekamen das Gleiche zu hören.

Aber wir wollten doch nicht weg aus der geliebten Heimat, warum auch, wir hatten doch alles – Sven die Schule, wo ich bald mit ihm zusammen hingehen würde und ich mich schon darauf freute, unsere ganzen Spielsachen – alles ging uns durch den Kopf, aber es nutzte uns nichts, denn die Großen hatten es schon beschlossen.

An diesem Abend gingen ich und auch die Jungs völlig zerknittert und aufgelöst zu Bett. Wir quatschten noch eine Weile und dann ging ich in mein Bett. Ich hatte meinen Teddy wie immer mit dabei. Ihm, meinem Nalle, wie ich ihn nannte, erzählte ich die ganze Misere und auch Nalle war unglücklich über diesen Entschluss. Ich weinte mich in den Schlaf, denn ich hatte wieder große Angst vor dem, was alles auf uns zukommen würde. Irgendwann schlief ich ein.

Dann wurde ich plötzlich wach, schoss aus dem Bett, rannte auf dem Flur und kotzte wieder, dass man meinen könnte, alle Organe kämen mit raus. Dieses Mal waren es nicht die Eltern, die sich prügelten – nein, dieses Mal bekam Christopher von meinen Eltern Prügel, dass ich dachte, das überlebt er nicht. Sven und ich schrien vor Angst und Christopher wurde immer stiller. Er ließ es nicht zu, dass man ihm den Schmerz, der ihm zugefügt wurde, ansah. Wir wussten nicht, was passiert war, hörten nur, wie die Monteure immer redeten und meine Eltern zur Vernunft und Ruhe bringen wollten. Als sie es endlich geschafft hatten, schickten sie Christopher ins Kinderzimmer und sagten, er solle sich nicht ohne Erlaubnis rauswagen.

Christopher ging mit gesenktem Kopf an uns vorbei und wir sahen seine Tränen. Das tat uns so furchtbar leid. Wir fragten unsere Eltern, warum sie ihn so verprügelt hatten und bekamen zu hören: „Hoffentlich habt Ihr gut hingeguckt, denn diese Strafe bekommt man, wenn man anderen Leuten Geld stiehlt.“ Ja, Christopher hatte geklaut und wurde erwischt. Die Monteure fanden es nicht so tragisch, aber meine Eltern verloren wieder einmal die Kontrolle. Es war so furchtbar, Christopher hatte einen Hilferuf ausgesandt, aber nicht damit gerechnet, dass unsere Eltern so ausrasten würden. Wir wollten doch nur, wie Christopher auch, zuhause bleiben, wo wir hingehörten.

So verging dann die Zeit und der Umzug stand vor der Tür. Als es so weit war, Abschied von allen lieben Menschen und der gewohnten Umgebung zu nehmen, das war einfach nur schrecklich. Wir weinten alle und klammerten uns an die Menschen, die wir liebten und nicht verlassen wollten.

Es war so furchtbar und wir hatten uns in dem Moment, wenn auch unbewusst, geschworen: „So etwas tun wir, wenn wir selber einmal Kinder haben, nicht.“ Erwachsene wissen einfach nicht, was man Kindern damit antut. Die Großen sehen es nur aus ihrer Sicht, mit den Worten: „Das sind Kinder, die gewöhnen sich schnell um und lernen schnell mit der Situation fertigzuwerden.“

Nur weil die Erwachsenen das schaffen, müssen das die Kinder nicht. Das sind zwei verschiedene Ansichten, die man in keiner Weise vergleichen kann. Wenn ich heute mit Leuten spreche, die irgendwo anders hinziehen wollen, frage ich immer, ob die Kinder das auch wollen und sich freuen. Wenn ich dann dieselben Worte höre wie wir damals, platzt mir der Kragen und ich sage es den Leuten dann auch, was mit den Kinderseelen passieren kann. Viele sind dann erstaunt, weil sie mich so nicht kennen und sprechen mit ihren Kindern und deren Ängsten. Viele waren entsetzt über das, was die Kinder zu sagen hatten.

Also, Ihr Großen, denkt erst nach, sprecht mit Euren Kindern und handelt dann bitte erst.

Aber es nutzte uns nichts, wir gingen. Als wir im Zug Richtung Deutschland saßen, waren wir sehr still, denn unsere Angst und die Verzweiflung waren einfach zu groß. Dann kamen wir auf das Schiff und unserer Heimat entfernte sich immer mehr. Danach hatten wir einen Zwischenstopp in Hamburg und meine Mutter sagte: „Mensch, lasst uns hierbleiben, es gefällt mir.“ Aber mein Vater sagte: „Nein, ich habe in Braunschweig zugesagt und da fahren wir auch hin.“ Wir waren traurig, denn Hamburg erinnerte uns ein wenig an unser Zuhause in Schweden, so mit Hafen und so. Aber nichts, unser Vater blieb dabei und wir fuhren nach Braunschweig.

Es war Juni 1961, als wir dort ankamen. Wir waren traurig und entsetzt. Die Stadt empfanden wir als alt, schmutzig und einfach nur furchtbar. Dann kam die Hiobsbotschaft – die Wohnung, die wir sofort bekommen sollten, gab es noch gar nicht. Das war ein Schlag ins Gesicht. Da unsere Eltern in Schweden alles verkauft hatten, war ein gutes Startkapital vorhanden, um neu anfangen zu können. Das heißt Einrichtung und so weiter. Und ich glaubte zu der Zeit noch, dass ich ein neues Klavier bekäme, aber welch ein Irrglauben, genau wie mit der Wohnung, April, April. Wir kamen erst mal in einem Hotel unter.

Ein Zimmer für uns alle, das war sehr hart. Man fühlte sich eingezwängt und irgendwie komplett abgeschoben. Es war einfach die Hölle. Nun saßen wir dort, fünf Personen, ein Zimmer. Mein Vater hatte sich in seiner neuen Firma vorgestellt und wurde zu unserem Erstaunen auf Montage geschickt und das nach Schweden. Wir wollten mit, nicht hierbleiben, einfach heraus und nachhause, aber das wurde nichts. Unser Vater fuhr auf Montage und wir saßen alleine mit unserer Mutter in einem fremden Land, der Sprache nicht mächtig, allein und verlassen da. Sechs lange Wochen sollten wir so hausen. Es war widerlich. Abends fühlt unsere Mutter sich wohl sehr alleine, denn sie ging nun immer weg. Wir bekamen oft ein Eis im Becher und wurden dann um 18:00 Uhr eingeschlossen.

Es war noch hell draußen und warm und aus dem Fenster sahen wir Kinder auf den Straßen spielen. Wir waren traurig und weinten viel, denn es war niemand da, mit dem wir reden konnten, außer uns selber. Es war wie im Gefängnis, eingeschlossen und allein gelassen.

 

Wenn wir uns bei unserer Mutter beschwerten und weinten, gab es keine Gespräche, sondern nur Stress, sie brüllte uns an und drohte uns mit Schlägen. Schnell waren somit auch die Ersparnisse meiner Eltern verbraucht, meine Mutter hatte wohl sehr gut gelebt.

Nach sechs Wochen bekamen wir immer noch keine Wohnung, sondern wurden mit den Worten „vorübergehend“ in einer ehemaligen Militärkaserne untergebracht. „Oh, mein Gott“, dachten wir nur, „das kann doch nicht wahr sein.“

So etwas Schreckliches wollten wir nicht erleben und mussten es doch. So etwas wünscht man niemandem, nicht mal dem ärgsten Feind und schon gar nicht seinen Kindern. Wir hatten doch ein wunderbares Heim mit allem, was man sich wünschen konnte. Wir bekamen zwei Zimmer mit einem Ofen darin und einem Waschbecken. Die Toiletten waren auf dem Flur, gegenüber unseren Zimmern. Das war so furchtbar, denn so etwas kannten wir bisher noch nicht.

In der Kaserne lebten verschiedene Menschen – Russen, Polen, Zigeuner, Deutsche und auch Italiener. Man kann sich nicht vorstellen, was da immer los war. Schlimmer kann kein Horrorfilm sein, was wir in natura erlebten. Jeden Tag etwas Neues, aber so schlimm, dass wir heute noch Albträume davon haben.

Da unser Vater meist nur kurz da war, um zu sehen, wo wir geblieben sind, waren wir wieder auf uns allein gestellt. Die Sprache konnten wir auch immer noch nicht, denn so lange waren wir noch nicht in Deutschland und es kümmerte sich auch niemand um uns. Wir kannten ja auch niemanden und ein Telefon hatten wir auch nicht mehr.

Es war zum Kotzen. Zum Tagesablauf kamen aber noch andere Dinge dazu, Gewaltexzesse und Vergewaltigungen. Was wir dort zu sehen bekamen und miterlebten, kann sich ein normaler Mensch gar nicht vorstellen. Unsere Mutter hatte einige Gelegenheitsjobs. Die erste Zeit arbeitete sie meistens bei einem Bauern. Sie wurde, wie auch andere Frauen, in der Früh vom Bauern mit dem Traktor und Anhänger abgeholt und auf das Feld gefahren, wo sie alle ihre Arbeit verrichteten.

Da Sven noch Ferien hatte und meine Einschulung ja auch erst bevorstand, hatten wir den ganzen Tag Zeit, um uns herumzutreiben. Christopher hatte Arbeit gefunden, der er auch erstmals nachging. Wir hatten ja keine andere Wahl, als herumzustreunen.

Einige Zeit später lernten wir auf dem gleichen Flur in der Kaserne eine Familie kennen, die auch drei Kinder hatte. Der Älteste war Tim, so alt wie Christopher, Eva war so alt wie Sven und Jürgen so alt wie ich. Obwohl wir uns nur mit Händen und Füßen verständigen konnten, klappte es einigermaßen. Sven, Eva, Jürgen und ich liefen immer die Flure auf und ab, die in den Kasernen ja ellenlang sind.

Wir turnten an den Treppengeländern herum und erkundeten alles, bis runter in die Kellerräume. Es war alles so dunkel, dreckig und stinkig, dass ich nur noch raus wollte. Aber das ging so schnell nicht, denn wir hatten uns in den ganzen Kellerräumen, die da waren, verlaufen. Ich hatte furchtbare Angst.

Dann kam ich in einen Raum, der ein ziemlich großes Fenster hatte und man einigermaßen Licht hatte und ich schrie entsetzt laut auf und konnte nicht aufhören zu schreien. Die anderen Drei kamen zu mir gelaufen und fragten, was denn passiert sei und ich konnte nur mit den Fingern in die Richtung zeigen auf das, was ich sah. Die drei schrien genauso entsetzt wie ich, denn das, was wir dort sahen, trieb uns fast in den Wahnsinn. Irgendjemand hatte sechs Katzen getötet und sie am Schwanz auf eine Wäscheleine gehängt. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Es war grauenvoll und wir vier weinten zusammen und liefen schnell fort. Wir nahmen uns alle an den Händen und suchten den Ausgang, den wir dann endlich auch fanden. Dort setzten wir uns auf den Rasen und weinten alle eine Weile.

Als wir uns endlich beruhigt hatten, wollte ich nachhause, damit meine ich unsere „gemütliche“ Zwei-Zimmer-Kaschemme, die nun mal unser Heim war. Unsere Mutter war gerade vom Feld heimgekommen und sah unsere verweinten Gesichter. „Was ist denn passiert?“, fragte sie uns. Wir erzählten, was wir erlebt hatten und sie versuchte, uns zu trösten, so gut es ging, aber man spürte, dass sie von der Feldarbeit völlig kaputt war und zudem noch einen schrecklichen Sonnenbrand auf dem Rücken hatte.

Sie hatte uns etwas zu essen gemacht und legte sich dann auf das Sofa, um sich auszuruhen, denn sie war schon um 4:30 Uhr in der Früh abgeholt worden. Sven und ich aßen dann schnell und wollten wieder raus, denn wir waren es gewohnt, immer draußen zu sein und hier war es draußen allemal besser, als drinnen. Wir aßen in unserer Schlafküche.

Wenn man in das erste Zimmer kam, musste man rechts in das zweite Zimmer gehen. An der rechten Seite war ein Vorhang, dahinter war das Waschbecken, dort standen der Staubsauger und ein Plastikeimer. Der Eimer diente dazu, dass man in der Nacht sein kleines Geschäft machen konnte, denn nachts raus über den Flur und dort auf die Toilette zu gehen, wäre nie etwas geworden, eher wäre ich vor Angst gestorben.

An der Querwand stand ein alter Ofen und es gab eine Nische, wo man die Kohlen lagern konnte. So etwas kannten wir auch nicht, denn daheim in Schweden hatten wir eine Zentralheizung. Dann stand da ein Bett, an der gleichen Wand wie der Ofen, in dem Christopher schlief. An der linken Wand stand ein Klappsofa, auf dem Sven und ich schlafen mussten. Zwischen Bett und Sofa war ein Fenster, davor stand ein Tisch, den man ausziehen konnte und darin befanden sich zwei Emaille-Schüsseln, in denen man den Abwasch machen konnte. Es war alles so primitiv, dass wir heute manchmal unsere Witze darüber machen.

Was ich fast vergessen hätte – zwischen Ofen und Bett an der gleichen Wand – hatten wir noch einen Küchenschrank, ein Oberteil und ein Unterteil mit herausziehbaren Fächern für Zucker, Mehl und Salz. Zu dem Tisch gehörten noch drei oder vier Stühle. Im Wohnschlafzimmer stand an der rechten Wand ein Wohnzimmerschrank.

Dann kam der Fernseher daneben, und in der Mitte, wie auch nebenan, war ein Fenster, vor dem stand ein Sofa mit schräger Kopfstütze. Man konnte ohne Kissen darauf schlafen. Dieses Sofa war gelb und hatte schwarze Punkte und wird mir für immer im Gedächtnis bleiben. An der linken Wand standen ein Klappsofa und davor ein Wohnzimmertisch und ein Sessel.

Auf dem Sofa schliefen meine Eltern. Ja, das war wirklich nicht so prickelnd. Wir hatten auch eine Hündin, die wir Susi nannten. Als diese trächtig wurde, hatten wir sechs oder acht Welpen. Wir hatten ihr eine Kiste gebaut und Decken hineingelegt, damit sie in Ruhe ihre Jungen zur Welt bringen konnte. Eines Abends war es dann soweit und ein Welpe nach dem anderen erblickte das Licht der Welt. Es klappte alles perfekt, Susi hatte die Ruhe weg und das war gut so. Als die Welpen dann alt genug waren, wurden sie an Leute abgegeben, die wir ausgesucht hatten, denn die Kleinen sollten gut untergebracht sein.

Einen Welpen wollten wir selber behalten und zwar den frechsten. So hatten wir dann Mutter und Sohn – Susi und King. Wir bauten King aus Pappe eine Hundehütte und meine Brüder klopften immer darauf herum und ärgerten King, nicht ahnend, dass sie ihn dadurch sehr scharf und bissig machten.

Als meine Mutter eines Abends mit King schimpfte, warum auch immer, drehte er sich um und biss ihr in die Wade, dass es blutete. Meine Mutter hatte gerade eine Salami in der Hand, drehte sich um und haute sie King um die Ohren, dass er quiekend davon lief. Damit wusste er nun, wer Chef im Haus war.

Am nächsten Tag, Sven und ich waren wieder alleine, überlegten wir, was wir denn so tun könnten. Nach dem Frühstück rannten wir einfach um den Kasernenblock herum und versuchten, uns die Zeit zu vertreiben. Als wir eine Weile so rumgingen, hörten wir plötzlich, wie Glas zerbrach und sahen nach oben. Man mag es kaum glauben, aber aus dem dritten Stock kam eine Frau geflogen und landete zu unserem Glück nicht auf uns, sondern vor unseren Füßen. Sie schrie sehr laut vor Schmerzen und lag ganz verdreht da. Sven und ich verloren nicht nur die Farbe aus dem Gesicht, sondern auch die Kontrolle über uns. Wir rannten schreiend und auf Schwedisch „Hilfe“ rufend um den Block, in der Hoffnung, dass jemand kam. Dann kamen Leute und irgendjemand rief auch den Krankenwagen.

Wir kannten diese Frau, die von ihrem Mann aus dem dritten Stock durch das geschlossene Fenster geworfen wurde. Es waren Leute aus Polen. Auch sie hatten drei Kinder, die das mit ansehen mussten. Die Frau kam mit mehreren schweren Knochenbrüchen ins Krankenhaus, wo sie einige Monate blieb. In der Zwischenzeit hatte meine Mutter eine Frau aus der Kaserne kennen gelernt, die sieben oder acht Kinder hatte von verschiedenen Männern und zurzeit mit einem Ausländer zusammenlebte. Da mein Vater immer noch auf Montage war, ging meine Mutter viel zu dieser Frau und lernte auch wieder andere Männer kennen, mit denen sie dann auch immer wieder zusammen war.

Es gab jeden Tag Schlägereien, Messerstechereien und Prügeleien. Es war einfach an der Tagesordnung, dass die Polizei immer wieder kam. Am schlimmsten war es an den Wochenenden, danach konnte man die Uhr stellen. Wir hatten ja nun viele andere Kinder kennen gelernt, mit denen wir auch spielten. Aber am liebsten spielten wir mit Eva und Jürgen, wie auch an dem Tag, als wir wieder etwas ganz Furchtbares und Schreckliches erlebten.

Es war Sommer und recht warm und seit Tagen roch es auf unserem Flur so übel, dass es einem schlecht wurde. Die Leute sagten immer: „Das muss beim Fischer sein, wir haben ihn schon länger nicht gesehen.“ Irgendjemand rief die Polizei, die dann auch kam, um die Tür aufzubrechen. Meine Mutter war auch da und die Kinder standen natürlich in der ersten Reihe, um zu sehen, was passiert war. Hätten wir nur geahnt, was wir zu sehen bekämen, dann wären wir davongelaufen. Als die Tür auf war, schlug uns ekelerregender Geruch entgegen. Dann sahen wir ihn, den Herrn Fischer, er hatte sich erhängt und faulte schon. Es stank bestialisch und der Polizist wollte das Seil durchschneiden, damit Herr Fischer, wie sie dann sagten, runtergenommen werden konnte. Aber der Polizist lief hinaus und übergab sich dermaßen, dass wir dachten, da kommt der Magen mit hoch. Man hörte nur: „Oh Gott, oh je“ und so weiter. Da niemand in der Lage war, das Seil durchzuschneiden, schnappte sich meine Mutter ein Messer und einen Mann, ging hinein und schnitt das Seil durch und der Mann legte den Leichnam auf den Boden. Ich wusste bis dahin nicht, wie knallhart meine Mutter war. Wir Kinder rannten nach draußen, denn auch so etwas hatten wir noch nie gesehen.

Von da an hatten wir panische Angst, an dieser Tür vorbei zu gehen. Wir rannten immer wie die Blöden daran vorbei. Unser Leben und unsere Gefühle änderten sich täglich und auch die Angst, was wieder kommen und passieren würde oder was wir wieder mit ansehen mussten, war sehr groß.

Ich hatte mich in dieser Zeit sehr verändert, war sehr nervös und unausgeglichen geworden. Ich zuckte immer mit meinem Kopf, das hatte ich mir irgendwie angewöhnt. Meine Mutter schimpfte mit mir und schrie mich an: „Hör auf damit, sonst knallt es, bis du das vergisst, deine ewige Zuckerei.“ Ich weiß heute, dass es die ganze Situation war, die mich so reagieren ließ.

Eines Tages stand ich mit meiner Mutter in unserer Schlafküche an unserem tollen Abwaschtisch und half ihr beim Spülen. Ich nahm mir ein Geschirrtuch und fing an, das Geschirr langsam aus der Emaille-Schüssel zu nehmen. Wie immer sah ich dabei verträumt aus dem Fenster.

Ich war mit meinen Gedanken sehr weit weg, als es plötzlich laut wurde. Meine Mutter brüllte mich dermaßen an, dass ich vor Schreck den Teller fallen ließ und meine Hände schützend über meinen Kopf legte. Aber es nutzte nichts. Ich bekam ein paar Ohrfeigen, dass ich dachte, der Schnellzug sei durchgefahren. Es pfiff und dröhnte in meinem Kopf. Sie schrie mich an: „Ich habe dich gewarnt! Hör auf mit deiner Zuckerei oder es knallt.“ Ich weinte wieder still in mich hinein, denn ich hatte Angst, sie noch mehr zu verärgern. „Heb die Scherben auf und bring sie in den Mülleimer. Und jetzt hör auf zu heulen und zu träumen und trockne weiter ab.“

Es verging wieder einige Zeit und alles lief normal. Was wir jetzt als normal empfanden, empfanden Menschen, die wirklich normal lebten, als schrecklich. Wir waren den ganzen Tag draußen, denn nur dort war es möglich, nicht immer an schreckliche Dinge erinnert zu werden und mal ausgelassen und fröhlich zu sein. In dieser Zeit begann auch die kriminelle Laufbahn meiner Brüder.

Meine Mutter hatte sich mit einer Nachbarin getroffen, denn es war Wochenende und sie hatte frei und wohl auch Langeweile. Wir Kinder hatten zu Abend gegessen und ferngesehen. Wir wussten ja, dass unsere Mutter nur ein paar Türen weiter war und hatten keine Angst, dass irgendetwas passieren könnte. Christopher war nun mehr außer Haus als zuhause. Er hatte eine Clique gefunden, die uns allen nicht so gefiel. Das waren Typen, die gewalttätig waren, vor kaum etwas Halt machten und Alkohol und Drogen konsumierten.

 

Sven und ich gingen zu Bett und alberten noch herum. Da wir alleine waren, konnten wir ja ruhig laut sein. Sven war ein Komiker, wie er im Buche stand und brachte mich, egal, wie schlecht gelaunt ich war, immer zum Lachen. Also hatten wir unseren Spaß, tobten uns richtig aus, bis wir hundemüde einschliefen.

Irgendwann stand meine Mutter bei uns im Zimmer und weckte mich. „Anna, steh auf“, sagte sie, „komm ins Wohnzimmer, ich will dir etwas zeigen.“ „Kannst du mir das nicht morgen zeigen, Mama?“, fragte ich verschlafen. „Ich bin so müde.“ „Nein, morgen ist es zu spät.“ Also stand ich auf, ging mit rüber und erschrak ganz furchtbar. Da standen drei fremde Männer (es waren Italiener) in unserem Zimmer und lachten mich an.

Ich verstand es nicht und sah verschlafen und völlig verwirrt meine Mutter an. Sie sagte zu mir: „Anna, geh hin und suche dir einen Mann aus, der dein neuer Papa sein soll.“ Meine Augen wurden so groß, dass ich dachte, sie fallen mir aus dem Kopf. Schlagartig war ich hellwach.

„Mama, ich habe doch einen Papa, was soll ich denn mit noch einem Papa?“ Meine Mutter wiederholte noch einmal, dass ich mir einen neuen Papa aussuchen sollte. Ich bekam Angst und um endlich wieder meine Ruhe zu haben und endlich wieder schlafen zu können, ging ich auf einen Mann zu und sagte nur: „Den da.“ Dann lief ich schnell aus dem Zimmer, zurück in mein Bett. Ich weinte, denn ich schämte mich wie verrückt und verstand überhaupt nichts mehr. Ich hörte, wie die Männer und meine Mutter lachten und die Männer sagten: „Ist das ein hübsches und liebes Mädchen.“

Aber mir war das egal, mir war einfach nur schlecht, denn ich hatte jetzt auch noch Angst, dass mein Vater nicht mehr zurückkäme. Am nächsten Morgen wurde ich wach und erschrak fürchterlich. Ich erinnerte mich an die schreckliche Nacht. Ich saß eine Weile im Bett und lauschte, aber es war alles ruhig. Leise öffnete ich die Tür und sah ins Wohnzimmer hinein. Die Angst, die fremden Männer wären noch da, drehte mir den Magen um. Aber zum Glück waren sie weg.

Meine Mutter war auch schon wach und ich fragte sie: „Wo sind die Männer?“ „Ach, die sind schon wieder weg.“ „Mama“, fragte ich, „muss ich jetzt einen neuen Papa haben?“ „Ach, Quatsch“, sagte sie einigermaßen schlecht gelaunt, „vergiss es, es war nur Spaß und es wird nicht mehr darüber geredet. Hast du verstanden, Anna?“ „Ja“, sagte ich leise und dachte: „Ja, Anna hat verstanden, wie immer.“

Ich fühlte so eine Leere und eine große Traurigkeit in mir, war aber gleichzeitig froh, nicht plötzlich einen neuen Vater zu bekommen. Wir waren ja alle in dem Sog drin und konnten da alleine nicht raus. Aus unserer alten Heimat waren wir es gewohnt, unsere Freizeit draußen zu verbringen. Das war auch etwas, was wir in Deutschland nicht ändern wollten, denn das gab uns die Möglichkeit, all die schrecklichen Dinge zu verdrängen. Somit kamen wir natürlich auch auf nicht ganz so schöne Ideen.

Es war ein Tag, an dem es kalt war, sehr stark regnete und auch sehr stürmisch war. Wir hatten einen Jungen kennen gelernt, der einige Jahre älter war als Sven und ich. Hinter einem Kasernenblock stand ein Lkw-Anhänger. Der Junge, circa sechzehn Jahre alt, hielt sich in dem Anhänger auf. Er rief uns zu sich und sagte: „Kommt doch hier rein.“ Sven und ich kletterten dann auch auf den Anhänger. „Und was wollen wir jetzt machen?“, fragten wir.

Der Junge, dessen Namen ich vergessen habe, sagte: „Wir machen ein Feuer.“ „Aber wir dürfen kein Feuer machen“, sagten wir. „Ach habt ihr etwa Angst, seit ihr feige?“ Natürlich hatten wir Angst und natürlich waren wir auch feige, aber das wollten wir dem Jungen nicht zeigen. Also fragten wir: „Was sollen wir tun.“ Er schickte uns hinaus, um Dinge zu sammeln, mit denen man Feuer machen konnte. Wir sammelten alles, was wir fanden und brachten es dem Jungen. Dann gingen wir wieder raus, um noch mehr brennbares Zeug zu holen. Unter anderem fanden wir auch Dachpappe. Als wir alles abgeliefert hatten, standen wir alle in dem Lkw-Anhänger und sahen uns an. Der Junge hatte alles brennbare Zeug auf einen Haufen gelegt, um es anzuzünden.

Wir hatten ja keine Ahnung, wie schnell Dachpappe brannte. Dass wir nicht mit verbrannten, grenzt wirklich an ein großes Wunder. Der Junge zog die Streichhölzer raus und steckte den Haufen in Brand. Es machte nur einmal Puff und alles stand in hellen Flammen.

Innerhalb von Minuten brannte der Lkw-Anhänger komplett ab. Wir sprangen schnell aus dem Anhänger, um uns in Sicherheit zu bringen. Wie gesagt, wir hatten großes Glück, dass wir es schafften, heil davon zukommen. In kürzester Zeit kamen Männer auf uns zugelaufen und schrien: „Ihr verdammten Kinder, was habt ihr da angestellt?“

Wir rannten bis uns der Schweiß von der Stirn lief. Ich verlor im Matsch noch einen Schuh, aber das war mir egal, die Angst, gefasst zu werden, war zu groß. Wir rannten nachhause zu unserer Mutter. Sie sah uns an, dass etwas ganz Fürchterliches passiert sein musste. Wir erzählten wild durcheinander, was geschehen war, aber unsere Mutter verstand nicht so recht, denn durch die Angst erzählten wir in keinerlei Reihenfolge, sondern alles nur wirr durcheinander.

Plötzlich klopfte es an der Tür und unsere Mutter ging hin, um zu öffnen. Dort standen die Männer, die uns bis nachhause gefolgt waren. Sie erzählten meiner Mutter, was geschehen war. Sie fing an zu weinen und musste sich erst einmal hinsetzen, denn das war wohl ein ziemlich großer Schlag in die Magengrube. Natürlich bekamen wir auch eine Anzeige, das heißt unsere Mutter bekam sie, denn Eltern haften für ihre Kinder. Auch den Jungen hatte man gefunden, der uns dazu angestiftet hatte. Es war ein erheblich großer Schaden entstanden, ich weiß heute gar nicht mehr, wie viel es war.

Dann kam es zur Gerichtsverhandlung. Meine Mutter musste natürlich hin, dazu war sie aufgefordert worden. Wir hatten aber alle sehr, sehr großes Glück, denn meine Mutter musste für den Schaden nicht aufkommen, da man ihr nicht nachweisen konnte, dass sie ihre Aufsichtspflicht verletzt hatte. Sven und ich hatten ja auch keine Streichhölzer und kein Feuerzeug gehabt. Da wir noch klein waren, das heißt jung, hatten wir wirklich Glück, und da der andere Junge schon viel älter war als wir und uns dazu benutzt hatte, ihm zu helfen, sah die Strafe da ganz anders aus. Er hätte wissen müssen, was passiert. Aber da die ganzen brennbaren Sachen überall so herumlagen, wertete man das auch bei der Strafe aus.

Dieses Erlebnis steckte uns noch viele, viele Jahre in den Knochen. Unsere Mutter achtete von da an nun noch mehr darauf, dass keine Feuerzeuge oder Streichhölzer herumlagen. Sven und ich wurden von unserer Mutter sehr hart bestraft. Wir bekamen Stubenarrest, aber erst im Sommer, als es sehr warm war und wir Ferien hatten. Unsere Freunde kamen vorbei und fragten, ob wir zum Schwimmen kommen, aber das war leider nicht möglich, da wir im Zimmer eingeschlossen waren.