Begegnungen mit der Wirklichkeit (E-Book)

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3.3Notwendigkeit transdisziplinärer Forschung in der Wissensgesellschaft

«Beobachter», so Knorr-Cetina (2002), «sind sich heute größtenteils dahingehend einig, dass westliche Gesellschaften in dem einen oder anderen Sinn durch Wissen bestimmt werden» (ebd., 15). Auch wenn der Begriff der Wissensgesellschaft aufgrund der terminologischen Unschärfen und auch des sehr positivistischen Wissensbegriffs, der die sozialen Entstehungszusammenhänge von Wissen ausblendet, kritisiert wird (vgl. Knorr-Cetina, 2002, 18; Knoblauch, 2010, 261 f.), ist doch relativ unbestritten, dass die Entstehung und Nutzung von Wissen in der Gegenwart massiven Veränderungen unterworfen ist.

So hat sich zum Beispiel die Zugänglichkeit von Wissen durch das Internet stark verändert. In dieser Entwicklung wird, beispielsweise mit Blick auf Wikipedia, auch eine Demokratisierung des Wissens gesehen, da das Verfügen über Wissen nicht mehr an Geld und Macht gebunden ist. Allerdings ist die Vorstellung einer Demokratisierung des Wissens wohl zu relativieren, da sich das Machtgefüge nur verschoben hat: Es geht zunehmend weniger um den Zugang zu Informationen, sondern vielmehr um das Gewinnen von Aufmerksamkeit für neues Wissen auf der Seite derjenigen, die das Wissen verbreiten, und um Strategien der Filterung von Wissen aufseiten derer, die es nutzen:

«Entsprechend ambivalent kann man die Auswirkungen der allseitigen Verfügbarkeit von Informationen auf die demokratische und offene Gesellschaft betrachten. Einerseits wird Wissen durch seine Verfügbarkeit im Internet allgemein zugänglicher: Nicht nur Eliten haben Zugang zu Forschungsergebnissen, sondern auch immer weitere Teile der Bevölkerung. […] Auf der anderen Seite – und darüber kann auch die Open-Access-Bewegung nicht hinwegtäuschen – werden aber Techniken zur Systematisierung und Filterung von Wissen aufgrund der Informationsfülle immer wichtiger.» (Christoph, 2016, 27)

Neben dem Umgang mit der Wissensflut ist zudem der Umgang mit dem Nicht-Wissen und der Bewertung von Risiken, die sich aus den sich rasant vermehrenden Forschungsergebnissen ergeben, eine Herausforderung der gegenwärtigen Wissensgesellschaft (vgl. Stehr, 2003, 7). Die Risiken der Forschung, zum Beispiel im Bereich der Gentechnik oder der künstlichen Intelligenz, werden zu einem neuen Gegenstand der Forschung, die als «reflexive Verwissenschaftlichung» bezeichnet wird (Knoblauch, 2010, 285). Die Abschätzung solcher Risiken kann aber nicht aus der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin heraus erfolgen, sondern erfordert transdisziplinäre Kooperationen. Als ebenso notwendig erweisen sich transdisziplinäre Kooperationen bei der Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Problemfeldern. Dabei zeigt sich, dass

«die heute hoch spezialisierten wissenschaftlichen Disziplinen angesichts drängender und überaus komplexer Problemfelder wie etwa Multikulturalität, Ökologie und Gentechnologie natürlich nicht verzichtbar [sind], aber eine rein fachliche Gliederung des Wissens und damit einhergehende Spezialisierungen […] so umfassende Probleme nicht mehr bewältigen [können]» (Paule, 2014, 828).

Das Gelingen transdisziplinärer Kooperationen ist jedoch keineswegs gewiss, und zwar nicht nur aus organisatorischen Gründen, sondern vor allem aufgrund der Schwierigkeiten, die sich aus der notwendigen Integration der Forschungsperspektiven ergeben:

«Ein grundsätzliches Defizit entsprechender Forschungsprojekte besteht demnach darin, dass es den Beteiligten häufig nicht gelingt, die notwendige Integrationsleistung zu erbringen. Stattdessen verbleiben Projekte mit einem inter- oder transdisziplinären Anspruch zu oft auf der Ebene der Multidisziplinarität, auf der verschiedene disziplinäre Ansätze lediglich nebeneinandergestellt werden und jeder Teilnehmer sein ‹eigenes Süppchen› kocht […].» (Waag, 2012, 28)

Die zunehmende Ausdifferenzierung der Forschungsdisziplinen erschwert die Verständigung und die Zusammenführung der Perspektiven. Nicht nur die jeweiligen Fachsprachen erweisen sich hier als Verständigungshemmnis; die wissenssoziologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat darauf aufmerksam gemacht, dass die jeweiligen Forschungsgemeinschaften von spezifischen Wissenskulturen geprägt sind, die bestimmen, wie Wissen erzeugt, wie es kommuniziert und bewertet wird:

«Eine Wissensgesellschaft ist nicht nur eine Gesellschaft von mehr Experten, mehr technologischen Spielereien oder mehr Spezialistenmeinungen. Sie ist vor allem eine Gesellschaft von Wissenskulturen, also der ganzen Bandbreite von Strukturen, Mechanismen und Arrangements, die der Erzeugung des Wissens dienen und sich mit ihnen artikulieren.» (Knorr-Cetina, 2002, 18) Soll transdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen, ist es also notwendig, diese Wissenskulturen zu reflektieren und die blinden Flecken der eigenen und fremden Forschungszugänge aufzudecken. Golecki formuliert mit Blick auf den schulischen Unterricht schon 1999, dass eine «wohlverstandene» Wissenschaftspropädeutik in der gymnasialen Oberstufe «mit einer Offenheit und Neugier auch für andere Bereiche und Perspektiven, mit einer gegenseitigen Sensibilisierung und einem Bewusstsein der Begrenztheit und der Ergänzungsbedürftigkeit des eigenen Fachs, mit der Fähigkeit und der Bereitschaft zu einem Diskurs mit Vertretern anderer Fachrichtungen und auch mit Laien» (ebd., 28 f.) verbunden sein müsse. Damit ist angedeutet, dass Schule – und keineswegs nur in der gymnasialen Oberstufe – sich den gegenwärtigen Herausforderungen der sich wandelnden Wissensgesellschaft stellen muss. Fächerübergreifender Unterricht kann hier eine, wenn auch sicher nicht die einzige Antwort sein.

3.4Fächerübergreifender Unterricht als Antwort auf die aktuellen Herausforderungen?

Im Folgenden soll ein Überblick über Zielsetzungen und Begriffsbestimmungen, aber auch über empirische Studien zum fächerübergreifenden Unterricht gegeben werden, um das in Teilen unübersichtliche Forschungsfeld zu strukturieren, aber auch, um offene Fragen aufzuzeigen.

3.4.1Ziele und Begründungen fächerübergreifenden Unterrichts

Fächerübergreifender Unterricht wurde und wird immer wieder gefordert, in den Erziehungswissenschaften und den Fachdidaktiken intensiv diskutiert und natürlich vor allem in unterschiedlichen Schulformen von Lehrenden erprobt. Von einer breit geteilten theoretischen und konzeptionellen Fundierung kann hingegen nur bedingt gesprochen werden (vgl. Labudde, 2009, 335; Henkel, 2013, 70). Es lassen sich aber zentrale Begründungen festhalten, die im Zusammenhang mit dem fächerübergreifenden Lernen immer wieder angeführt werden (vgl. Labudde, 2009, 333).

Als ein erstes Ziel sind das Aufbrechen und Reflektieren der durch die Schulfächer gesetzten Grenzen des methodischen wie thematischen Zugriffs auf Phänomene zu nennen:

«Es sind die Grenzlinien der Schulfächer selbst, die im fächerübergreifenden Lernen mitthematisiert werden können und die als Zusatzthema zu den Inhalten, die in oder zwischen den Fächern liegen, aufgreifbar sind. Insofern enthält fächerübergreifendes Lernen den Anspruch, die Ordnungen der Themen und deren Rückwirkung auf die Lerninhalte zu reflektieren und daraus Einsichten in die Gliederungen der Welt im Spiegel von Schulfächern zu gewinnen.» (Duncker, 1997, 119, Hervorh. im Orig.)

Mit dem fächerübergreifenden Unterricht wird angestrebt, «gewohnte Sichtweisen aufzubrechen und zu erweitern» (ebd., 126). Dabei soll (zumindest in einem ersten Schritt) auch wieder stärker an die Alltagserfahrung der Lernenden angeknüpft werden, die in der Regel nicht schon fachlich vorstrukturiert ist (vgl. ebd.).

Die fächerübergreifende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Schlüsselproblemen ist ein zweites Ziel, das an das didaktische Konzept von Wolfgang Klafki anschließt:

«Angesichts der Tatsache, dass gesellschaftliche Problemlösungen nicht allein in fachspezifischen Expertisen begründet sein können, da gesellschaftliche Schlüsselprobleme, wie z. B. die Umweltfrage, die Frage nach kulturellen Differenzen, das Friedensproblem oder die Bekämpfung von Krankheiten, zu komplex, zu variabel und zu vielschichtig für rein fachliche Lösungen sind, müssen diese aus verschiedenen, miteinander zu vernetzenden Blickwinkeln betrachtet werden […]. Kritische Urteilsfähigkeit gegenüber einem komplexen Phänomen kann nur entstehen, wenn sich die Lernenden in Distanz zum Fachlichen setzen und das ins Auge gefasste Phänomen aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln betrachten und dessen Ergebnisse miteinander vernetzen und abwägend beurteilen.» (Moegling, 2012, 87, Hervorh. im Orig.)

Auch wenn durchaus kritisch diskutiert werden muss, was als Schlüsselproblem bestimmt werden kann beziehungsweise soll (vgl. Golecki, 1999, 23), ist die Notwendigkeit einer transdisziplinären oder zumindest mehrperspektivischen, das heißt einer verschiedene fachliche Zugänge vergleichenden und abwägenden Auseinandersetzung mit den komplexen Herausforderungen unserer Gesellschaft ohne Zweifel auch schon in der Schule anzubahnen.

Insbesondere mit Blick auf die gymnasiale Oberstufe wird schließlich als drittes Ziel des fächerübergreifenden Unterrichts eine zeitgemäße Wissenschaftspropädeutik genannt. Die Schülerinnen und Schüler sollen dazu befähigt werden, «sowohl im Rahmen einer selbstgewählten Spezialisierung in elementarer Form gemäß den Methoden und Gütekriterien selbst wissenschaftlich zu arbeiten […] als auch an dem Austausch und der Verständigung zwischen unterschiedlichen ‹Fachkulturen› und mit Nichtexperten teilzunehmen» (ebd., 30 f., Hervorh. im Orig.). Dies setzt ein Bewusstsein der «fachspezifische[n] Konstruktion von Wirklichkeit» und auch der «historischen, sozialen, ökonomischen und philosophischen Bedingtheiten der Wissenschaften» (ebd., 31) voraus.

 

Dabei herrscht eine grundlegende Einigkeit darüber, dass sich Fachunterricht und fächerübergreifender Unterricht ergänzen müssen (vgl. Kranz, 2013, 41): «Fachunterricht ohne fächerübergreifenden Unterricht bleibt fragmentarisch, fächerübergreifender Unterricht ohne Fachunterricht steht auf tönernen Füßen» (Labudde, 2009, 331). Dies betont auch Moegling (2012): Fachunterricht und fächerübergreifender Unterricht «sollen allerdings nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern es soll die historische und kulturelle Bedeutung des Disziplinären, des zu den Fächern Geordneten anerkannt werden, die Fachlichkeit [soll] häufig sogar als Ausgangspunkt fachlicher Überschreitung angesehen werden» (ebd., 85; vgl. auch Tenorth, 1999, 205).

Dies gilt es auch mit Blick auf die aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen zu bedenken: Die Einführung der Bildungsstandards und die bildungspolitische wie wissenschaftliche Fokussierung auf die in den Fächern zu erwerbenden Kompetenzen scheinen die eben entfalteten Perspektiven und Zielsetzungen des fächerübergreifenden Unterrichts zu vernachlässigen (vgl. Moegling, 2012, 82 f.). Dies gilt es kritisch zu verfolgen, wobei die Funktion der Bildungsstandards berücksichtigt werden muss: Sie beziehen sich auf die Kernbereiche des jeweiligen Fachs und wollen das Erreichen dieser als zentral erachteten Kompetenzen sichern. Sie stehen somit dem fächerübergreifenden Lernen nicht entgegen (vgl. Henkel, 2013, 70), lassen aber die Diskussion der Ziele und Realisierungsmöglichkeiten fächerübergreifenden Unterrichts umso notwendiger erscheinen.

3.4.2Begriffsbestimmungen

Die Diskussion um den fächerübergreifenden Unterricht wird allerdings teilweise dadurch erschwert, dass eine eindeutige Begriffsdefinition bis heute fehlt: «Das Begriffswirrwarr bezüglich fächerübergreifenden Unterrichts und Interdisziplinarität ist gewaltig», stellt Labudde (2014, 14) fest, und Moegling (2012) ergänzt: «Häufig wird zwischen fächerübergreifendem, fächerverbindendem, fächerüberschreitendem, fächerintegrierendem etc. Unterricht unterschieden, ohne letztendlich eine inhaltlich vertretbare und trennscharfe Unterscheidung zu treffen» (ebd., 84). Die Notwendigkeit fächerübergreifenden Unterrichts wird zwar «inzwischen durch die Verankerung in zahlreichen Lehrplänen und Richtlinien unterstrichen» (Kranz, 2013, 41), gleichzeitig wird jedoch mit zum Teil unterschiedlichen Begrifflichkeiten operiert (vgl. auch Reinhold & Bünder, 2001, 334).

Im Folgenden soll auf die Begriffsbestimmung von Moegling (2012) Bezug genommen werden, da sie aus einer allgemeindidaktischen Perspektive heraus eine Rahmung für unterschiedliche Formen des fächerübergreifenden Unterrichts bietet, zugleich aber auch differenzierte Kriterien benennt, die sowohl eine Abgrenzung von anderen Konzepten als auch eine Einschätzung von Realisierungen fächerübergreifenden Unterrichts ermöglichen. Nach Moegling ist fächerübergreifender Unterricht:

«der didaktische Oberbegriff für alle Unterrichtsversuche, bei denen verschiedene Fachperspektiven systematisch zur Lösung eines Problems so miteinander vernetzt werden, dass ein thematisch-inhaltlicher Zusammenhang erkennbar wird, eine mehrperspektivische Analyse und Beurteilung gefördert werden und eine handlungsorientierte Problemlösung oder handlungsorientierte Problemlösungsalternativen aus verschiedenen Blickwinkeln heraus entwickelt werden können. Hierbei findet eine bewusste Reflexion von Fachperspektiven statt. Im Unterschied hierzu ist der Begriff des Überfachlichen auf Wissensbestände, Methoden und Fähigkeiten, die mehreren Fächern gemeinsam sind, wie z. B. Lesekompetenz oder Kooperationsfähigkeit, bezogen.» (Ebd., 85; Hervorh. im Orig.)

Damit ist eine sehr anspruchsvolle Bestimmung fächerübergreifenden Unterrichts vorgenommen worden, wie sich im Vergleich mit anderen Systematisierungsversuchen zeigt (vgl. auch Metzger, 2010; Labudde, 2003 und 2014). So unterscheidet Labudde (2003, 2009, 2014) in Anlehnung an Huber und Effe-Stumpf (1994) drei Typen des fächerübergreifenden Unterrichts, die sich vor allem auf unterrichtsorganisatorischer Ebene voneinander abheben (siehe Tab. 3.1).

Tabelle 3.1:

Typen von fächerübergreifendem Unterricht (angepasste Darstellung nach Labudde, 2009, 334)

Im fachüberschreitenden Unterricht liegt das unterrichtlich thematisierte Problem im Erkenntnisinteresse des Einzelfachs. Erkenntnisse anderer Fächer werden dabei als Ausgangspunkt oder zur Lösung des Problems herangezogen. Entscheidend ist vor allem, dass für die Lösung des Problems kein fachlicher Perspektivenwechsel notwendig ist. Fachüberschreitender Unterricht eignet sich insbesondere, um punktuell die Notwendigkeit des Einbezugs anderer Fächer sichtbar zu machen.

Bei fächerverbindenden Konzepten wird eine unterrichtliche Thematik / ein unterrichtlicher Aneignungsgegenstand zeitgleich in verschiedenen Fächern behandelt. Der gemeinsame Aneignungsgegenstand wird somit durch einzelfachliche Bearbeitungsstränge aus verschiedenen Perspektiven erschlossen. Aus diesem Grund eignet sich fächerverbindender Unterricht in besonderer Weise, um die Erkenntnis zu einem unterrichtlichen Thema zu vergrößern oder um für die Notwendigkeit der fächerübergreifenden Betrachtung zu sensibilisieren. Außerdem können hierbei gezielt Chancen und Grenzen einzelfachlicher Betrachtung aufgezeigt werden. Schließlich zeichnen sich fächerkoordinierende Unterrichtskonzepte dadurch aus, dass Ausgangsprobleme gewählt werden, die sich nicht (eindeutig) dem Erkenntnisinteresse eines einzelnen Fachs zuordnen lassen. Für die Lösung des Problems ist somit die Bearbeitung aus unterschiedlichen Fachperspektiven essenziell. Im Prozess der Problembearbeitung nehmen die Schülerinnen und Schüler gezielt unterschiedliche fachliche Perspektiven ein und setzen diese zueinander in Beziehung. Die reflektierte Relationierung der einzelnen fachlichen Erkenntnis für die gewählte Problemstellung wird zur zentralen Herausforderung für die Lernenden. Der Lösungsprozess eines fächerkoordinierenden Unterrichts verdeutlicht somit die Relevanz der beteiligten Fachperspektiven für komplexe Probleme der Lebenswelt. Zugleich sind die Herausforderungen eines solchen Vorgehens aufgrund der fachlichen wie fachübergreifenden Problemlöseprozesse, die zudem immer reflektiert erfolgen sollen, nicht zu unterschätzen. Sowohl die Wahl des Ausgangsproblems als auch die Entscheidung für die einzubeziehenden fachlichen Perspektiven sollten den Schülerinnen und Schülern eine zielführende Bearbeitung ermöglichen und beispielsweise zu viele nicht aufzulösende Widersprüche vermeiden, um Frustrations- und Überforderungserlebnisse zu verhindern.

Für die Beschreibung der Art und Weise, wie verschiedene Fachperspektiven systematisch vernetzt werden können, ist die Systematisierung Hubers (2000) hilfreich:

•«instrumentell: die Begriffe und Methoden eines Faches werden als bloße Hilfsmittel im anderen benutzt; insofern profitiert die Arbeit in diesem von Kenntnissen aus jenem. Beispiele: Hilfswissenschaften; Mathematik in vielfachen Varianten;

•komplementär: eine Sicht oder Erfahrung ergänzt die andere, z. B. wissenschaftliche und ästhetische Erfahrung;

•konzentrisch: mehrere Sichtweisen richten sich auf einen gemeinsamen Gegenstandsbereich (z. B. Raum, Epoche) oder einen Problembereich (z. B. Verkehrsplanung, Gesundheitsförderung, Umweltpolitik);

•kontrastiv oder dialogisch: eine Sicht oder Erfahrung widerspricht der anderen, relativiert sie; es geht um gegenseitiges Verstehen oder Übersetzen;

•reflexiv: mit Hilfe anderer Sichtweisen, die bewusst als solche eingenommen werden, wird die des anderen Faches (philosophisch, historisch, soziologisch) reflektiert» (Huber, 2000, 192).

Insbesondere die letzten beiden Formen entsprechen der Definition von fächerübergreifendem Unterricht nach Moegling (2012), da hier die Fächer und ihre spezifischen Perspektiven auf die zu erschließenden Phänomene reflektiert in Beziehung gesetzt werden. Es ist aber natürlich auch denkbar, dass die von Huber beschriebenen Formen innerhalb eines Unterrichtsverlaufs aufeinander folgen, das heißt, dass die zunächst aperspektivische, nichtreflexive Verknüpfung der Fächer mit der dann folgenden perspektivischen Verknüpfung gezielt verbunden wird. Dies kann sich gerade angesichts der oben angedeuteten Herausforderungen fächerkoordinierender Unterrichtsprojekte als sehr sinnvoll erweisen.

3.4.3Empirische Befunde: Herausforderungen und offene Fragen

Die begrifflichen und konzeptionellen Unbestimmtheiten des fächerübergreifenden Unterrichts wirken sich auch auf dessen empirische Erforschung aus, weil diese die Vernetzung und Vergleichbarkeit der Studien und ihrer Ergebnisse erschweren. Zudem liegen bisher nur wenige empirische Befunde zu Wirkung, Akzeptanz und Verlaufslogiken fächerübergreifenden Unterrichts vor. Zur Akzeptanz des fächerübergreifenden Unterrichts bei Schülerinnen und Schülern halten Herzmann et al. (2011) in einem Forschungsüberblick fest, dass einerseits in der Studie von Stübig et al. (2008; vgl. auch Stübig et al., 2006) die Lernenden in ihrer Selbsteinschätzung angeben, «durch die Kombination von mindestens zwei Fächern eine deutlichere Sicht auf die Problemzugänge und Arbeitsweisen der beitragenden Fächer erhalten zu haben» (Herzmann et al., 2011, 27). Zudem gehe aus der inhaltsanalytischen Auswertung der Gruppeninterviews hervor, dass die Schülerinnen und Schüler fächerübergreifenden Unterricht als bedeutsam erachten, weil er zu vertieftem Lernen sowie zu besseren Beziehungen innerhalb der Klasse, aber auch zu den Lehrenden führe (vgl. ebd.).

Andererseits konnte Rabenstein (2003) in einer Interviewstudie zum fächerübergreifenden Unterricht in der gymnasialen Oberstufe aufzeigen, welche Anforderungen fächerübergreifender Unterricht an die Lernenden stellt und wie unterschiedlich sie diesen Anforderungen begegnen:

«Während für die Schülerinnen und Schüler des Schülertypus A insbesondere die Diskussion fachlicher Perspektiven das hervorstechende Merkmal fächerübergreifenden Projektunterrichts ist, ist es für die Schülerinnen und Schüler des Schülertypus B primär wichtig, dass sie im fächerübergreifenden Projektunterricht lebensweltlich bedeutsamen Themen nachgehen können. Erst im zweiten Schritt haben sie die Unterschiedlichkeit der Fächer im Blick. Den Schülerinnen und Schülern des Schülertypus C hingegen gelingt es kaum, die Anforderungen an selbstständiges und fächerübergreifendes Arbeiten umzusetzen. Die Besonderheit dieser Unterrichtsform nehmen sie deswegen nicht wahr.» (Herzmann et al., 2011, 30; vgl. auch Rabenstein, 2003)

Die Untersuchung der spezifischen und differierenden Anforderungen an Schülerinnen und Schüler in fächerübergreifenden Lernarrangements ist folglich als eines der zentralen Forschungsdesiderate zu betrachten.

Hinsichtlich der Verlaufslogiken fächerübergreifenden Unterrichts resümieren die Autorinnen, dass «ein hohes Maß an Vielfalt und möglicherweise auch Unübersichtlichkeit der Umsetzungsformen fächerübergreifenden Unterrichts [zu] konstatieren» (ebd., 31) sei. Einblicke in die Umsetzung des fächerübergreifenden Unterrichts in der gymnasialen Oberstufe gibt die bereits erwähnte Studie von Stübig et al. (2008), in der 299 Lehrende von 117 gymnasialen Oberstufen in Hessen mittels eines Fragebogens Auskunft über Umfang, Gestaltung und die Herausforderungen der von ihnen realisierten fächerübergreifenden Unterrichtseinheiten gaben. Auffällig ist, dass bei den beteiligten Fächern der Schwerpunkt im gesellschaftswissenschaftlichen und sprachlich-künstlerischen Bereich lag (vgl. Stübig et al., 2008, 384) und dass «23% aller fächerübergreifenden Unterrichtseinheiten von nur einer Lehrperson durchgeführt [wurden]» (ebd., 383). Hinsichtlich der von den Lehrenden benannten Probleme bei der Realisierung von fächerübergreifendem Unterricht zeigt sich folgendes Bild:

 

«Mit Abstand am häufigsten (28 % der Nennungen) wird über organisatorische Probleme berichtet (z. B. hinsichtlich der Stundenplangestaltung, des Kurssystems, der Klausurtermine oder mangelnder Unterstützung durch die Schulleitung). Weitere oft genannte Schwierigkeiten – hier in absteigender Nennungshäufigkeit aufgeführt – sind:

•der hohe zeitliche Vorbereitungsaufwand (auch in Verbindung mit der generellen Erhöhung der Arbeitszeit) (14 %),

•die mangelnde Teamfähigkeit und Innovationsbereitschaft der Kollegen (11 %),

•der Zeitmangel, insbesondere fehlende Unterrichtszeit (verursacht etwa durch Stoff- und Prüfungsdruck, häufige Klausurtermine oder Kürzungen in der Stundentafel) (10 %).» (Ebd., 386)

Trotz dieser Herausforderungen wird der fächerübergreifende Unterricht aber von den befragten Lehrerinnen und Lehrern auch und besonders im Vergleich mit dem Fachunterricht geschätzt: «Die Behauptung eines Zuwachses an überfachlichen Kompetenzen für Lernende im Vergleich zum Fachunterricht erfährt durchschnittlich moderate bis starke Zustimmung (M = 3,4). Ein gängiges Vorurteil gegenüber fächerübergreifendem Unterricht wird jedoch nicht bestätigt, dass nämlich im Vergleich zum Fachunterricht überfachlicher Kenntniszuwachs mit geringeren Fachkompetenzen erkauft würde (M = 2)» (ebd., 391).

Dass die Herausforderungen für fächerübergreifenden Unterricht in der Hauptschule sehr ähnlich gesehen werden, zeigt die Studie von Maier (2006), in der 21 Lehrerinnen und 18 Lehrer an Hauptschulen in der Region Schwäbisch Gmünd befragt wurden:

«Im Vordergrund einer kritischen Reflexion über fächerübergreifenden Unterricht stehen unterrichtsorganisatorische Schwierigkeiten und Probleme bei der kooperativen Planung. Dass die chronische Zeitknappheit auch in diesem Zusammenhang häufig erwähnt wird, mag ebenfalls nicht verwundern. Interessant und bedenklich ist, dass lernmethodische und didaktische Problemstellungen von den Hauptschullehrkräften kaum angesprochen werden. Gerade die entscheidende Frage nach der Vernetzung von Lerninhalten aus unterschiedlichen Fachperspektiven stellen sich nur die wenigsten Hauptschullehrkräfte.» (Maier, 2006, Abs. 53)

Die von Maier formulierte Kritik, dass die Frage nach der didaktischen Gestaltung fächerübergreifenden Unterrichts und insbesondere nach den Möglichkeiten der Vernetzung verschiedener fachlicher Perspektiven von den Lehrenden tendenziell ausgeblendet werde, verweist aber auch auf ein Forschungsdesiderat: Während für die gymnasiale Oberstufe insbesondere im Kontext des Bielefelder Oberstufen-Kollegs didaktische Modelle erarbeitet und diskutiert wurden und dabei vor allem die Zielsetzungen im Bereich der Wissenschaftspropädeutik eine Konkretisierung erfahren haben (vgl. z. B. Huber & Effe-Stumpf, 1994; Golecki, 1999), fehlen entsprechende didaktische Modelle für die Sekundarstufe I (vgl. Herzmann et al., 2011, 40).

Aufgrund der differenten Gegebenheiten in der Sekundarstufe I, in der die Schülerinnen und Schüler zunächst die jeweils fachspezifischen Zugänge kennenlernen, und angesichts der anderen lebensweltlichen und kognitiven Entwicklungsphase können die für die gymnasiale Oberstufe entwickelten Modelle nicht einfach übertragen werden. Eine offene Frage in diesem Zusammenhang ist beispielsweise die, «ob es zur Reflexion der zusammengeführten Perspektiven eines eigenen Forums bedarf, wie es insbesondere für den fächerübergreifenden Unterricht in der Sekundarstufe II in wissenschaftspropädeutischer Absicht gefordert wird […]» (ebd., 24). Aber auch die Funktion der Produktorientierung im fächerübergreifenden Unterricht der Sekundarstufe I ist zu diskutieren (vgl. ebd., 40).

Gerade angesichts der skizzierten Entwicklungen der gegenwärtigen Wissensgesellschaft erscheint die Überschreitung und Vermittlung fachlicher Horizonte als unabdingbar. Zugleich gilt es aber zu bedenken, welche Rahmungen Lernen in den Sekundarstufen jeweils braucht, bevor diese durchbrochen werden können:

«Im Alltag wird deshalb Behutsamkeit eher als Emphase die Richtschnur für die Arbeit an der Transzendierung des Fachlichen abgeben; die Sequenz von Initiation und Reflexion lässt sich nicht einfach oder leicht umkehren. Zumindest zur systematischen Struktur wissenschaftspropädeutischen Lernens gehört aber beides, die Disziplinierung des Denkens durch das Fach und die reflexive Vergewisserung über die Grenzen, die solches Denken kognitiv wie sozial und individuell mit sich führt.» (Tenorth, 1999, 205)