Begegnungen mit der Wirklichkeit (E-Book)

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•ein Bildungskonzept mit didaktischer und methodischer Umsetzung verfolgt (Merkmal Bildungskonzeption),

•Lernarrangements gestaltet (Merkmal Angebotsstruktur),

•Möglichkeiten zur Vor- und Nachbereitung anbietet (Merkmal Materialien),

•umfassende Beratung/Betreuung leistet (Merkmal Personalsituation),

•geschultes Personal beschäftigt,

•die Qualität seines Personals durch kontinuierliche Schulungen oder vergleichbare Maßnahmen verbindlich fördert (Merkmal Qualitätssicherung),

•wissenschaftlich vernetzt ist,

•sich zur Evaluation verpflichtet.

Diese Merkmale können unterschiedlich ausgeprägt sein. Entsprechend variiert der Planungsaufwand der Lehrkraft, da mitunter ein geeignetes Lernarrangement selbst zu gestalten ist.

Während hier die Didaktisierung isoliert betrachtet wird, soll das vorgeschlagene Modell zur Charakterisierung von außerschulischen Lernorten die beiden Dimensionen – Kontextualisierung und Didaktisierung – zusammenführen, um die damit verbundenen Herausforderungen und Chancen für die unterrichtliche Nutzung ableiten und Handlungsbedarfe für (angehende) Lehrkräfte operationalisieren zu können. Durch die entsprechende Charakterisierung eines in Betracht kommenden Lernorts anhand dieser beiden Dimensionen lassen sich Strategien für gelungene Lernortbesuche generieren, und der notwendige Aufwand zu deren Einbettung kann differenzierter erfasst werden.

Im Gegensatz zu bekannten Modellen, die Lernorte häufig nur über dichotome Merkmale charakterisieren (siehe Tab. 2.1), werden durch die gestufte Erfassung von Kontextualität und Didaktisierung Lernortspezifika stärker differenzierbar. Das Modell erhebt nicht den Anspruch, alle relevanten Faktoren zu erfassen, sondern konzentriert sich bewusst auf zwei für die unterrichtliche Planung besonders zentrale Faktoren.

Das Modell wird im Folgenden zunächst beispielhaft zur Charakterisierung des Staatlichen Museums für Archäologie Chemnitz (smac) genutzt, bevor im Anschluss vier Typen und die mit ihnen verbundenen Herausforderungen für Lehrende vorgestellt werden.6

Charakterisierungsbeispiel: smac

Das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz (smac) präsentiert im Rahmen seiner Dauerausstellung unter dem Titel «In die Tiefe der Zeit» auf drei Etagen etwa 280 000 Jahre sächsische Regionalgeschichte – von der Ur- und Frühgeschichte bis zur Zeit der frühen Industrialisierung. Daneben bietet es auf jeder Ebene in sogenannten Erkerausstellungen Einblicke in die Geschichte des Gebäudes und temporäre Sonderausstellungen zu wechselnden Themen (vgl. Wolfram, 2014). Seitdem das Museum im Mai 2014 seine Türen geöffnet hat, stellen Schülerinnen und Schüler beziehungsweise Kinder und Jugendliche mit circa 35 Prozent der Besucherzahlen eine wesentliche Besuchergruppe dar (vgl. smac 2015, 2). Dafür stellt das smac verschiedene museumspädagogische Angebote bereit, beispielsweise Führungen für Schulklassen, Suchblätter zur selbstständigen Erkundung der Dauerausstellung oder Aktionsprogramme zum Thema «Leben in der Steinzeit».

Abbildung 2.5:

Panorama der pleistozänen Umwelt sowie Vitrinen auf der ersten Etage der Dauerausstellung im smac (Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz, Foto: Michael Jungblut)


Kontextualität: Da die Ausstellungsobjekte in einem Archäologiemuseum präsentiert werden, befinden sie sich nicht mehr im originären (räumlichen) Kontext – dem Fund- beziehungsweise Ausgrabungsort. Die archäologischen Objekte wurden aus ihrem originalen Primärzusammenhang (Entstehung/Verwendung, Fund) entnommen und in einen musealen Sekundärzusammenhang gebracht (Ausstellung/Arrangement). Die szenografische Gestaltung der Ausstellungsinhalte, zum Beispiel in Form eines Panoramas zur pleistozänen Umwelt und einem Arrangement von Replikaten zur Flora und Fauna sowie Werkzeugen aus dem Paläolithikum (siehe Abb. 2.5), lässt sich folglich als inszenierte (äußere) Kontextualisierung auffassen. Da zudem viele Exponate Replikate sind, ist eine originale Begegnung mit archäologischen Lerngegenständen nur bedingt möglich.

Aufbauend auf den Konzeptionen der szenografischen Gestaltung (inszenierter Kontext), ergeben sich Anknüpfungspunkte für fächerübergreifende Problemstellungen, wodurch die innere Kontextualität erhöht werden kann, zum Beispiel: «Welche Entwicklungsschritte führten von der Natur- zur Kulturlandschaft?»

Didaktisierung: Die Charakterisierung der Didaktisierung folgt den oben genannten Merkmalen: Angebotsstruktur, Bildungskonzeption, Materialien, Personalsituation, Qualitätsmanagement.

Zur Unterstützung unterrichtlicher Nutzungsvarianten des smac werden verschiedene museumspädagogische Angebote bereitgestellt. Dabei handelt es sich zumeist um geführte Programme, die bestimmte Perspektiven auf unterschiedliche Ausstellungsteile vorstellen. Ebenso gibt es Phasen des gemeinsamen Austauschens und selbsttätiger Arbeit unter Nutzung von Repliken.

Die Bildungskonzeption des smac spiegelt dessen grundlegende Ausrichtung als (musealer) Lernort wider. Als Museum für alle bietet es Besucherinnen und Besuchern unterschiedliche Möglichkeiten an, das smac kennenzulernen und seine Exponate zu erschließen. Dabei sind die Bildungsangebote nach Schularten (Grundschule, Oberschule und Gymnasium sowie Berufs[fach]schulen) differenziert und auf die Lehrpläne des Freistaats Sachsen abgestimmt.

Bei einigen Programmen bietet das smac bereits entsprechende Materialien zur unterrichtlichen Vor- und Nachbereitung von Museumsbesuchen mit Lerngruppen als Handreichung an.

Der Bereich «Bildung und Besucherservice» des smac konzipiert und realisiert die musealen Vermittlungsangebote gemeinsam mit dem museumspädagogischen Fachpersonal. Die Angebote werden dann von Ausstellungsmoderatorinnen und -moderatoren durchgeführt. Eine bedarfsorientierte Bereitstellung von individualisierten Lernangeboten findet hingegen nur bedingt statt, ebenso wie eine umfassende Beratung zu den bestehenden Varianten.

Die Ausstellungsmoderatorinnen und -moderatoren verfolgen konzeptionelle Vorgaben, werden hospitiert und nehmen an regelmäßigen Weiterbildungen teil. Ferner ist das smac mit verschiedenen Fachvertreterinnen und Fachvertretern aus assoziierten Wissenschaftsdisziplinen in Kontakt, um die Angebote wissenschaftlich aktuell zu halten. Jedoch stößt die Umsetzung neuer Erkenntnisse häufig an die Grenzen einer Dauerausstellung. So bedürfen Eingriffe in die Ausstellungskonzeption der Genehmigung der verantwortlichen Kuration.

Lehrkräfte können davon ausgehen, dass sie am smac ein qualitativ hochwertiges Programm buchen, das von geschulten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern konzipiert, durchgeführt und betreut wird. Herausfordernd ist die Tatsache, dass die derzeitigen Angebote nur wenig auf Individualisierungsanforderungen eingehen können und nur begrenzt Materialien zur Verfügung stehen. Deshalb ist es für eine gelungene Vor- und Nachbereitung empfehlenswert, das jeweilige Angebot im Vorfeld zu hospitieren oder gegebenenfalls in einer Fortbildung kennenzulernen.

Zieht man die zweite Dimension des Modells, die Kontextualität, hinzu, wird ersichtlich, dass Lehrkräfte für die unterrichtliche Nutzung des smac als außerschulischer Lernort Folgendes berücksichtigen sollten: Sie sollten erstens mithilfe einer geeigneten Problem- oder Fragestellung die innere Kontextualität erhöhen und zweitens das vorhandene museumspädagogische Angebot durch Materialien erweitern, um die Lernenden bei der Erschließung des Lernorts zu unterstützen. Dies bietet die Chance einer optimalen Integration in den Schulunterricht und individualisiert den Lernortbesuch. (Konkrete Berücksichtigung finden diese Anforderungen in der studentischen Konzeption für diesen Lernort in Kapitel 13 dieses Buches.)

Typen außerschulischer Lernorte

Das Modell, das heißt eine Betrachtungsweise, die Kontextualität und Didaktisierung verbindet, kann Lehrerinnen und Lehrern helfen, Aufgabenbereiche für die Planung außerschulischer Lernvorhaben und deren sinnvolle Vernetzung mit schulischen Lernprozessen aufzuzeigen. Dies reicht von der Einschätzung notwendiger zusätzlicher Kontextualisierungsleistungen bis zur gezielten didaktisch-methodischen Aufbereitung für eine optimale Einbettung in den Regelunterricht. Sehr stark didaktisierte Lernorte, wie Schülerlabore, bergen eher Herausforderungen für die Einbettung einer meist sehr engen Angebotskonzeption in den Unterricht; offene (natürliche) Lernorte wie der Wald erfordern hingegen eine Kompensation der fehlenden Didaktisierung.

Werden beide Dimensionen in ein zweidimensionales Koordinatensystem übertragen, kann die Charakteristik eines außerschulischen Lernorts visualisiert werden. Aus dem Modell lassen sich verschiedene Cluster ableiten, die ähnliche Planungsmuster beziehungsweise -aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern verlangen (siehe Abb. 2.6). Dabei handelt es sich um Lernorte,

•die schwach kontextualisiert und kaum didaktisiert (Typ A),

•schwach kontextualisiert, aber stark didaktisiert (Typ B),

•stark kontextualisiert und schwach didaktisiert (Typ C) oder

•stark kontextualisiert und stark didaktisiert (Typ D) sind.

Die sich dadurch ergebenden Cluster ermöglichen es, die Lernorte spezifischer und vor allem aus der Perspektive des schulischen Lernens zu betrachten. Da das smac in beiden Dimensionen eine mittlere Ausprägung hat, gehört es nicht zu einem dieser vier spezifischen Cluster, sondern nimmt – auch in den Planungsanforderungen – eine Zwischenstellung ein.

 

Abbildung 2.6:

Ableitung von vier Typen außerschulischer Lernorte


Die einzelnen Lernorttypen und die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen werden nachfolgend knapp charakterisiert.

Typ A – schwach kontextualisiert und kaum didaktisiert: Lernorte dieses Typs sind eher selten, da außerschulische Lernorte per se einen Wirklichkeitsausschnitt eröffnen und damit grundsätzlich ein gewisses Maß an Kontextualität bieten. Die Frage ist nur, inwieweit dieser Kontext den ursprünglichen Wirklichkeitszusammenhang der dargebotenen Lerngegenstände/Inhalte abbildet.

Sind beide Dimensionen, Kontextualität wie Didaktisierung, am außerschulischen Lernort gering ausgeprägt, bedarf es eines entsprechenden didaktischen Konzepts: Die äußere Kontextualität kann durch die Einbindung der Inhalte in räumliche und zeitliche Wirklichkeitsausschnitte inszeniert werden, während die innere Kontextualität durch geeignete Problemstellungen erzeugt werden muss (zur Umsetzung siehe Kap. 11). Zudem sollten Materialien bereitgestellt werden, die eine vertiefte und kognitiv anregende Auseinandersetzung der Lernenden mit dem Lernort strukturieren und unterstützen. Daraus ergibt sich ein vergleichsweise hoher Vorbereitungs- und Planungsaufwand.

Allerdings bieten Lernorte, die offen für verschiedene Zugänge sind, meist größere Freiheiten hinsichtlich der Einbindung in ein schulisches Lehr-Lern-Setting. Damit kann ein Besuch dieser Lernorte optimal in die rahmende Unterrichtseinheit eingepasst werden.

Ein Beispiel für diesen Lernorttyp ist das Erlebnisland Mathematik in Dresden. Dort werden Phänomene dargestellt, die so in der Umwelt nicht sichtbar sind und nur mittels idealisierter, modellierter Objekte beobachtbar werden. Die Konzeption ist sehr offen und auf forschendes Lernen ausgelegt, dementsprechend gibt es nur wenige Hinweise oder Informationen für die Besucherinnen und Besucher. Ein anderes Beispiel ist die Historische Farbstoffsammlung der TU Dresden, in der Farbstoffproben aufbewahrt und ausgestellt werden.

Typ B – schwach kontextualisiert und stark didaktisiert: Lernorte vom Typ B sind vornehmlich solche Museen, deren Bildungsangebote durch museumspädagogische Konzeptionen untersetzt und ausgebaut sind, die ihre Objekte aber nicht in authentischen Kontexten präsentieren. Es ist aber eine szenografische Darstellung der Exponate möglich, die die äußere Kontextualität erhöht, wie zum Beispiel im smac.

Aufgrund der vorhandenen Lernangebote sind diese Lernorte für Lehrkräfte attraktiv, da sich der didaktisch-methodische Vorbereitungsaufwand reduziert. Es bleibt jedoch Aufgabe, die äußere Kontextualisierung zu thematisieren und die Lerngegenstände in ihren authentischen Wirklichkeitszusammenhang einzubinden. Die didaktischen Angebote sind folglich auf ihre sinnstiftende Einbettung für die Lernenden (innere Kontextualität) sowie auf ihre Eignung für das avisierte Unterrichtssetting zu prüfen.

Typ C – stark kontextualisiert und kaum didaktisiert: Bei diesem Typ ist der authentische Kontext der dargebotenen (Lern-)Inhalte prägend, wie zum Beispiel in Gedenkstätten, Unternehmen oder an natürlichen Lernorten, wie im Wald. Für die unterrichtliche Einbindung reduziert sich der Kontextualisierungsaufwand für Lehrerinnen und Lehrer, die Herausforderung besteht nun darin, den dargebotenen äußeren Kontext entsprechend zu nutzen. Es gilt, die jeweils gegebenen Lernpotenziale zu erkennen und didaktisch-methodische Konzepte zu erarbeiten, die auch die innere Kontextualität sichern. Hinsichtlich der didaktischen Gestaltung ergeben sich die gleichen Notwendigkeiten, wie sie bereits zu Typ A erörtert wurden. Großes Potenzial bergen diese Lernorte häufig für die Lebens- und Arbeitswelt oder die Berufsorientierung der Schülerinnen und Schüler.

Typ D – stark kontextualisiert und stark didaktisiert: Lernorte mit starker Kontextualität und Didaktisierung reduzieren den Vorbereitungs- und Planungsaufwand für Lehrerinnen und Lehrer erheblich. Hier sind vor allem Schülerlabore zu nennen, die ein hohes Maß an Authentizität erreichen, wenn sie ausschnitthaft der realen Arbeitswelt nachempfunden sind beziehungsweise diese inszenieren.

Die von geschultem Personal in Schülerlaboren umgesetzten Angebote fokussieren häufig auf bedeutungsvolle Problemstellungen und bieten eine Fülle von Materialien für die Problemlösung. Die Zusammenhänge zu den curricularen Vorgaben der Fächer werden in der Regel explizit ausgewiesen. Schülerlabore erfreuen sich dementsprechend größter Beliebtheit und werden stark frequentiert.

Das sehr konkrete Gerüst lässt den Lehrkräften jedoch nur sehr wenig didaktischen Spielraum. Im Gegenzug ist die Einbettung in den Unterricht anspruchsvoll, denn die (vor- und nachbereitenden) Unterrichtsstunden sollten möglichst genau auf die entsprechenden Lerninhalte des außerschulischen Lernorts ausgerichtet sein. Das umfassende Angebot sollte nicht dazu verleiten, sowohl die Lernenden als auch die eigene Lehrerrolle abzugeben. Vielmehr sollten Lehrkräfte sensibilisiert und befähigt sein, die Angebote so vor- und nachzubereiten, dass der Besuch des außerschulischen Lernorts als bedeutsames Element des schulischen Lernens erfahrbar wird.

2.5Fazit

Diese Ausführungen sollten einen Einblick in die vielfältigen Potenziale geben, die mit dem Lernen an außerschulischen Lernorten verbunden sind, und zugleich darauf hinweisen, dass sich außerschulische Lernorte in didaktisch relevanten Dimensionen unterscheiden. Diese gilt es bei der Auswahl der Lernorte zu bestimmen und bei der Planung von unterrichtlichen Lehr- und Lernprozessen zu berücksichtigen. Das vorgestellte Analysemodell, das durch die beiden Dimensionen Kontextualität und Didaktisierung gekennzeichnet ist, soll dabei helfen, die Analyse der infrage kommenden außerschulischen Lernorte zu unterstützen. Die aus dem Modell abgeleiteten vier Typen von außerschulischen Lernorten verdeutlichen, dass die Herausforderungen, die sich für die Lehrenden in der Vor- und Nachbereitung sowie in der Durchführung des Lernortbesuchs ergeben, sehr unterschiedlich gelagert sind. Zudem zeigt sich, dass der Lehrperson große Verantwortung zukommt, wenn die Potenziale der außerschulischen Lernorte möglichst umfassend für die unterrichtlichen Lernprozesse ausgeschöpft werden sollen.

Ein Potenzial ist in diesem Kapitel dabei immer wieder angeklungen: Indem außerschulische Lernorte Begegnungen mit authentischen und damit komplexen Phänomenen ermöglichen, legen sie fächerübergreifende Zugänge nahe beziehungsweise eröffnen die Möglichkeit, fächerübergreifenden Unterricht zu praktizieren. Warum fächerübergreifende Unterrichtskonzepte verstärkt Berücksichtigung finden sollten, auch wenn sie Fachunterricht nicht ersetzen können, wird im folgenden Kapitel dargestellt.

3Fächerübergreifender Unterricht

Dorothee Wieser

3.1Einleitung – zum Aufbau des Kapitels

Das Lernen in Schulfächern ordnet den Wissens- und Kompetenzerwerb, begrenzt ihn aber auch. Das ist kein neuer Befund, und auch die damit verknüpfte Forderung nach einem die Schulfächergrenzen überschreitenden Unterricht ist nicht neu (vgl. Huber & Effe-Stumpf, 1994, 72–79; Tenorth, 1999). Die Begründungen für einen fächerübergreifenden Unterricht, seine konzeptionellen Ausrichtungen und Zielsetzungen variieren jedoch in den konkreten Unterrichtsvorschlägen. Viele Fragen zur Umsetzung im schulischen Kontext sind nach wie vor offen. Dieses Kapitel soll deshalb einen Einblick in die Diskussion um Schulfächer geben, aber auch danach fragen, welche spezifischen Perspektiven und Anfragen an die fachliche Ordnung des Wissens sich mit Blick auf die sich stetig verändernde Wissensgesellschaft ergeben. Vor diesem Hintergrund werden die aktuellen bildungstheoretischen und didaktischen Begründungen und Zielsetzungen des fächerübergreifenden Unterrichts dargestellt. Dabei geht es auch darum, vorliegende Systematisierungen zu sichten und Forschungsdesiderata zu markieren.

3.2Lernen in Fächergrenzen: Notwendigkeit und Kritik

Schulunterricht ohne Schulfächer, das ist zumindest für den Unterricht der Sekundarstufen kaum vorstellbar. So sehr der Unterricht in Fächergrenzen immer wieder in die Kritik gerät, so unabweisbar sind doch die Vorteile beziehungsweise sogar die Notwendigkeiten eines nach Fächern strukturierten Lernens in schulischen Kontexten. Tenorth (1999) differenziert verschiedene Funktionen von Schulfächern für den Wissenserwerb und für die Organisation des Lernens, von denen die folgenden drei zentral sind:

•«das Schulfach definiert die Form, in der Phänomene, Gegenstände und Probleme der außerschulischen Welt zu Inhalten schulischen Lernens werden können, und es ermöglicht erst die Engführung, die aus Inhalten Themen für das Lernen macht; […]

•Schulfächer sind daher als eigenständiger kognitiver Zugang zur Welt qualifizierbar; denn über das Schulfach wird nicht nur – sachlich – der Bezug zum Wissen und letztlich auch zu den Wissenschaften ermöglicht, sondern zugleich auch – personal – die Erschließung der Welt für den Lernenden eröffnet; […]

•Schulfächer [repräsentieren] auch die spezifische kulturelle Funktion von Schule: Sie überformen und validieren die Alltagserfahrung, führen in das historisch-gesellschaftlich geforderte und verfügbare Wissen ein – als systematische Einheit und zeitlich-sachliche Sequenz von Initiation und Reflexion.» (Tenorth, 1999, 192 f.)

Die Struktur der Schulfächer ermöglicht den Lernenden also einen kategorialen Zugriff auf die Welt und damit den Anschluss an eine wissenschaftliche Betrachtung der Phänomene, das heißt eine Neuordnung ihrer Alltagserfahrungen, und gibt diesem Zugriff eine geordnete Form. Zugleich ermöglichen Schulfächer die planbare Vermittlung gesellschaftlich notwendigen Wissens.

Neben diesen Ermöglichungsfunktionen der Schulfächer, die auch für die Lehrerbildung prägend sind, ist aber ebenso bedeutsam, dass die Schulfächer in den verschiedenen Schulformen stets Spiegel einer historisch-gesellschaftlichen Struktur sind. Mit der Konzeption und Ausrichtung von Schulfächern werden jeweils bestimmte bildungspolitische Ziele verfolgt. Sehr eindrücklich zeigt dies ein Vergleich von Elementarschulen und höheren Lehranstalten (Gymnasien) im 19. Jahrhundert:

«Während die einen [die Lehrpläne im Gymnasium, Anm. d. Verf.] sich in der letztlich wissenschaftspropädeutischen Funktion relativ früh um Fachgruppen und dann um Fächer konstituieren, die schon im frühen 19. Jahrhundert lehrplanförmig sichtbar werden, bildet sich der andere [der Lehrplan der Elementarschulen, Anm. d. Verf.] eher um Kulturtechniken, wie Schreiben, Lesen, Rechnen und um indoktrinierend-doktrinäre Wissensbestände, wie Religion oder staatsbürgerliche Erziehung. Sowohl in der Erwartung an den Schuleffekt – die Bildung und die Reife zum Studium bzw. die Erziehung, volkstümliche Bildung und soziale Kontrolle – wie in den explizit-impliziten Konstruktionen der Adressaten – ‹bildungsfähig vs. erziehungsbedürftig› – unterscheiden sich Institution und Curriculum eindeutig.» (Tenorth, 1999, 197; vgl. auch Criblez & Manz, 2015)

Schulfächer sind keine verkleinerten Abbilder des wissenschaftlichen Fächersystems (vgl. Duncker, 1997, 125), sondern sie stellen historisch gewachsene und sich stetig verändernde Wissenssammlungen dar, die neben der Orientierung an den Wissenschaften auch utilitaristischen Zwecken folgen: «Schule war und ist aber immer auch eine Institution, über die gesellschaftliche Probleme bearbeitet werden sollen und in der das künftige Personal der Wirtschaft qualifiziert werden soll. Schulisches Wissen wird deshalb zwar nicht nur, aber immer auch funktional bestimmt: vom Nutzen für Gesellschaft und Wirtschaft her» (Criblez & Manz, 2015, 205). Die Ordnung der Fächer ist deshalb auch hierarchisch strukturiert (vgl. Tenorth, 1999, 196; Oelkers, 2004, 202), und Schulbücher spiegeln den jeweiligen Stand der Sammlung und sichern die geregelte Vermittlung (vgl. Oelkers, 2004).

 

Das Verdienst von Schulfächern für die unterschiedlichen Formen der Welterschließung und des strukturierten Lernens steht außer Frage. Problematisch erscheinen Schulfächer dann, wenn aus dem Blick gerät, dass sie «Raster für die Wahrnehmung der Wirklichkeit» (Duncker, 1997, 123) darstellen, wenn also die historisch-kulturell bedingte Ordnung und die dadurch bedingten Wahrnehmungsgrenzen von Lehrenden und Lernenden nicht reflektiert werden (vgl. Tenorth, 1999, 199). Dies gilt aber nicht nur aus einer wissenschaftspropädeutischen und erkenntnistheoretischen Perspektive heraus und somit nicht nur für die Frage, welche Erkenntnisse durch die Raster der Fächer möglich werden und wo blinde Flecken entstehen. Auch aus bildungstheoretischer Perspektive erweist sich das (gegenwärtige) vorrangig an den Wissenschaften ausgerichtete schulische Fächersystem als begrenzt:

«Als Konsequenz der Spezialisierung und Ausdifferenzierung von Wissenschaften der Moderne sind Erkenntnisanspruch und Bildungsambition, Forschungsinteressen und Handlungsbezug der Wissenschaften unumkehrbar auseinandergetreten. Die Kriterien der Wissenschaftlichkeit sind nicht mehr uno actu als Kriterien der gesellschaftlichen Orientierung, sozialer Verantwortung und individueller Persönlichkeitsbildung zu entfalten und zu begründen. Von Bildungsansprüchen aus führt andererseits auch kein gerader Weg mehr zur Ordnung der Praxis von Wissenschaften.» (Tenorth, 1999, 201)

Die Kritik an den Schulfächern ist folglich zum einen auf verschiedenen Ebenen zu verorten – «lebensweltlich wie wissenschaftstheoretisch, didaktisch wie gesellschaftstheoretisch und geschichtlich» (ebd.) –, zum anderen ist die Diskussion um die Fächerstruktur der Schule trotz ihrer langen Geschichte keineswegs beendet, sondern wird im Gegenteil mit immer neuen Fragen konfrontiert. Einige dieser Entwicklungen im Kontext der gegenwärtigen Wissensgesellschaft, aus denen sich Fragen bezüglich der schulischen Fächerordnung ableiten lassen, sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden.