Fjorgaar - Der rote Vogel

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Wir haben auch schon versucht, einen Weg zurückzufinden. Hier ist nichts«, sagte Arne.

Ben musterte ihn verständnislos. »Einen Weg zurück?«

»Arne hat die Theorie, dass wir durch eine Art Tor in eine andere Welt gewechselt sind oder zumindest an einen anderen Ort.« Liz klang, als könne sie selbst nicht glauben, was sie aussprach. Zu Recht. Diese Theorie war der größte Schwachsinn, den Ben jemals gehört hatte. Sein Blick musste ziemlich genau zeigen, was er dachte, denn Arne ereiferte sich sofort: »Hast du denn eine andere Idee, was passiert sein könnte?«

Die ehrliche Antwort wäre »nein« gewesen. Zumindest wenn es darum ging, glaubwürdige Erklärungen zu finden.

»Ich träume«, sagte Ben und wusste im selben Atemzug, dass dem keineswegs so war. Es wäre einfach gewesen, nun die Augen zu schließen und auf eine Methode seiner Kindheit zurückzugreifen, mit der er sich manchmal aus Albträumen hatte befreien können. Nur, dass er damit nicht mehr erreicht hätte, als sich lächerlich zu machen.

Vermutlich hatte Bens Stimme bereits verdeutlicht, wie wenig er selbst seine Aussage ernstnahm, denn weder Liz noch Arne antworteten darauf.

»Es klingt sehr, sagen wir mal: unwahrscheinlich«, gestand Liz stattdessen ein und hörte an diesem Punkt leider nicht auf, zu sprechen. »Aber wenn wir alle ehrlich sind …«, fuhr sie fort. »Ich meine, du hast es doch auch gespürt, Ben. Nicht wahr? Den Übergang?«

Ben wollte mit Sicherheit nicht genauer auf das eingehen, was er wahrgenommen hatte. Er versuchte seine Gedanken in eine ungefährliche Richtung zu lenken, doch diese zu finden, schien im Moment kaum möglich. Nicht nur die Frage danach, wo sie waren und wie sie hierher hatten kommen können, drängte sich auf. Da war auch noch das nicht minder angenehme »warum«.

Ben könnte Liz vorwerfen, dass sie nur wegen ihr die Hütte betreten hatten. Hinter diesen Worten läge jedoch eine andere Wahrheit: Sie waren der Aufforderung von Bens Großvater gefolgt. Und ohne Ben hätten weder Liz noch Arne jemals überhaupt von der Existenz dieser Hütte erfahren, und wenn man Schuld bei irgendjemandem suchen wollte …

Stopp. Er weigerte sich, weiter in diese Richtung zu denken.

Für einige Momente herrschte Schweigen. Auch wenn sich Liz und vor allem Arne verhältnismäßig ruhig geben mochten, meinte Ben dies hauptsächlich als tapfere Fassaden zu erkennen. Es wäre auch seltsam, wenn seine Freunde die Situation vollkommen gelassen hinnehmen würden.

Ben seufzte sehr leise, während die Stille der fremden Umgebung in ihm widerhallte. Wie ein Schrei, den niemand hören konnte. Diese Vorstellung, dieses Bild, fühlte sich unnötig dramatisch an, aber zugleich sehr treffend. Der Glanz eines größtenteils unter Stein und Gras begrabenen Gegenstands zog Bens Blick auf sich. Es war ein Teller aus Metall. Einst vollständig bemalt vielleicht, doch inzwischen nur noch von abblätternden Farbflecken überzogen. Mehr noch als die Ruine selbst, schien dieses einsame Überbleibsel von Verlust zu sprechen. Und von einem Leben, welches hier ganz offensichtlich nicht mehr zu finden war. Unwillkürlich zuckte Ben zurück. Die Stille wurde ihm unerträglich, und er hätte sie gebrochen, wäre Liz ihm nicht zuvorgekommen.

»Wir sollten irgendetwas tun«, sagte sie. »Unsere Situation wird sich durch tatenloses Herumsitzen nicht verändern.«

Die Vorstellung, die Ruine hinter sich zu lassen, erschien Ben ungemein verlockend. Dennoch … »Wir können nicht einfach von hier fortgehen«, gab er zu bedenken. Die nächsten Worte, die ihm schon auf der Zunge lagen, brachte er dennoch nicht hervor. Was, wenn sich das Portal wieder öffnet und wir sind nicht hier?

Arne räusperte sich. »Wir wissen nicht, was hier noch passieren wird und ob sich das Tor überhaupt jemals wieder zeigen wird. Zumindest nicht ohne die Hilfe einer Person, die weiß, was zu tun ist.«

Offensichtlich musste Ben in diesem Fall seine Bedenken nicht äußern, um sie deutlichzumachen.

»Wir haben weder Essen noch Trinken bei uns«, fuhr Arne fort. »Es könnte gefährlich sein, hier allzu lange auszuharren. Am klügsten wäre es, nach der nächsten Stadt oder dem nächsten Dorf zu suchen. Wo auch immer wir hier sind, irgendwo müssen auch Menschen zu finden sein. Und die können uns vielleicht weiterhelfen. Wir gehen einfach los und orientieren uns an der Sonne. So können wir sicher sein, nicht im Kreis zu laufen. Was meint ihr?«

Ben war zwiegespalten. Aber er widersprach nicht, als Liz Arnes Vorschlag zustimmte.

Gerade als die drei Freunde sich auf den Weg machen wollten, hielt Liz noch einmal inne. Sie deutete auf Bens Brust.

»Du blutest.«

Tatsächlich färbte sich sein Hemd rot. Genau dort, wo sich auch das Amulett unter dem dünnen Stoff abzeichnete.

»Das ist nichts. Nur ein aufgekratzter Mückenstich«, beschied Ben. Damit war das Thema für ihn beendet. Dennoch kam er in den darauffolgenden Stunden nicht umhin, immer wieder unauffällig den Blick zur Brust zu wenden. Und jedesmal empfand er Erleichterung, dass der Blutfleck nicht größer geworden war, sondern langsam, aber sicher trocknete.

****

Irgendwann verließ Ben sein Zeitgefühl vollständig. Er wäre nicht mehr in der Lage gewesen, anzugeben, wie lange sie bereits unterwegs waren, schätzte jedoch ein bis zwei Jahrtausende.

Die Schatten wurden langsam länger und der leichte Wind, der schon seit Stunden über das Land blies, kühler. Wieder und wieder suchten Bens Augen den Horizont ab.

Die Landschaft hatte sich inzwischen kaum geändert. Schier unendlich erstreckte sich das Grasmeer in alle Richtungen, grün und kräftig reckten sich die Halme empor wie die Stacheln eines Igels. Kurz zu Boden gedrückt durch jeden Schritt, richteten sie sich sogleich wieder auf, als sei nie ein Mensch über sie hinweggegangen. Eine Landschaft, die ihnen nicht gestattete, Spuren zu hinterlassen.

Einzig eine neue Pflanzenart hatte Ben während ihres Marsches entdecken können: hochgewachsene Bäume mit Ästen, die zu Boden hingen wie die einer Trauerweide, und Lianen, die sich in dem dichten Blätterkleid wanden. In kleinen Gruppen standen sie beieinander, zusammengedrängt wie ängstliche Kinder in einer feindseligen Umgebung.

Das, wonach Ben sehnsüchtig suchte, blieb ihm verwehrt. So angestrengt er auch in die Ferne blickte, konnte er keine Stadt, kein kleines Dorf, noch nicht einmal ein einsames Haus entdecken. Der Gedanke, bei Anbruch der Dunkelheit noch immer keinen Unterschlupf gefunden zu haben, behagte ihm keineswegs.

Inzwischen hatte der Himmel eine sanfte rote Färbung angenommen, die beständig intensiver wurde. Eine einzelne Wolke zog an der Sonne vorbei und erstrahlte kurzzeitig in hellem Licht. Von diesem Zwischenspiel abgelenkt, traf Ben der Ellbogen in seiner Seite völlig überraschend.

»Sieh mal, dort.« Liz war stehen geblieben und gab auch Arne einen Stoß. Sie deutete auf einen Hasen, der einige Meter von ihnen entfernt im Gras saß. Den kleinen Körper angespannt und zur Flucht bereit, blickte er zu den Menschen auf. Die Muskeln unter seinem gelblichbraunen Fell zuckten kaum merklich. Einige Sekunden vergingen, dann wandte sich der Hase wieder dem Grashalm zu, den er zwischen den Vorderpfoten hielt und eifrig daran knabberte. Sehr vorsichtig, um den Hasen nicht zu erschrecken, ging Liz in die Knie. »Wie süß«, flüsterte sie entzückt und erweckte den Anschein, als wolle sie das kleine Tier am liebsten sofort adoptieren.

An die Begegnung mit dem Vogel im Wald zurückdenkend, kam Ben nicht umhin, mit einem amüsierten Schnauben die Augen zu verdrehen. Manchmal war Liz’ Reaktion nun wirklich allzu berechenbar. Ein stilles Lächeln stahl sich auf seine Lippen. In einem kurzen Moment der Leichtigkeit fühlte er sich bewegt, seine Freundin in gewohnter Manier zu sticheln. Aber ebenso schnell, wie dieser Gedanke aufgekommen war, stürzte die Realität wieder auf Ben ein. Er seufzte und warf einen Blick zum Himmel. »Lasst uns weitergehen. Wir haben keine Zeit für so was. Es wird bald dunkel.« Und dann fügte er doch noch hinzu: »Klischee.« Dieses Wort sandte er mit einem übertriebenen Flüstern zu Liz. Ihren empörten und zugleich funkelnden Blick ignorierend, setzte er zum ersten Schritt an, als über ihren Köpfen plötzlich ein schriller Schrei ertönte. Ben erstarrte mitten in der Bewegung.

Der Hase hielt noch immer den Grashalm zwischen seinen winzigen Zähnen, hatte jedoch aufgehört, an ihm zu knabbern. Er sah aus, als sei er zu Stein erstarrt, die Augen weit aufgerissen, den Körper zur Flucht angespannt und doch hilflos gefangen. Erneut ertönte der durchdringende Schrei und Ben sah etwas vom Himmel fallen. Erst war es nur ein kleiner Punkt, dann, innerhalb von Sekundenbruchteilen, erkannte Ben einen Vogel – ein gewaltiges Tier mit einer Flügelspanne von mindestens drei Metern. Mit ungebremster Geschwindigkeit raste der dem Boden entgegen, schlug seine Krallen in den Hasen und glitt in einer fließenden Bewegung mit seiner Beute wieder in Richtung Himmel. Mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen beobachtete Ben das Geschehen. Für einen kurzen Moment fragte er sich, was wohl geschehen würde, wenn solch ein Tier Hunger auf ein Stück saftiges Menschenfleisch entwickeln würde. Mach dich nicht lächerlich. Und denk schöne Gedanken.

Nach diesem Ereignis konnte Ben sich nicht den einen oder anderen ängstlichen Blick in Richtung Himmel verkneifen. Manchmal entdeckte er einen Vogel, doch keiner war auch nur annähernd so groß wie der, den sie bei der Jagd beobachtet hatten. Die Sonne berührte inzwischen rotglühend den Horizont und überzog die Landschaft mit einem purpurnen Schleier. Zur gleichen Zeit erhob sich der Mond am Himmel, trat mit der Sonne in einen Wettstreit, der schon bald vorüber sein würde. Dieser nächtliche Himmelskörper erschien Ben außerordentlich groß, doch er hatte kaum die Energie, dieses Phänomen angemessen zu würdigen. Seine Füße protestierten schon lange gegen die ungewohnte Beanspruchung, seine Glieder waren müde und erschöpft. Trotzdem wollte er auf keinen Fall um eine Pause bitten. Jede Minute, in der sie sich nicht fortbewegten, bedeutete eine Minute länger in der freien und keineswegs gnädigen Natur, wie sie vorhin sehr eindrucksvoll präsentiert worden war.

 

So gingen sie schweigend nebeneinander her, während es zunehmend dunkler und kühler wurde.

****

Als es zu regnen begann, hatte der Mond bereits das erste Viertel des Himmels erklommen. Erst war es nur ein Schleier, der sich vor die Sterne legte, doch innerhalb kürzester Zeit verschwanden sie gänzlich. Der Wind pfiff erbarmungslos durch Bens Kleidung, als sei sie nicht vorhanden, und vertrieb die letzte Wärme.

Und dann fing es plötzlich an. Mit einem Mal stürzten Wassermassen auf Ben und seine Freunde herab, bildeten einen dichten Vorhang aus großen kalten Tropfen.

Liz verlieh ihrem Unmut geräuschvoll und äußerst unfein Ausdruck: »Scheiße!«

Damit traf sie exakt den Kern von Bens Empfindungen. Seine Instinkte rieten ihm, schnellst möglichst einen trockenen Unterschlupf zu suchen und dort das Ende des Unwetters abzuwarten.

Innerhalb kürzester Zeit war er bis auf die Unterhose durchnässt. Bei jedem Schritt spürte Ben das Reiben des nassen Jeansstoffes auf seiner Haut. Wasser quoll beim Auftreten zwischen seinen Zehen hoch und jeder Windstoß verwandelte sich in eisige Kälte. Zu allem Überfluss grollte es in einiger Entfernung drohend und in zunehmend kürzeren Abständen erhellten Blitze die Landschaft. Noch war das Gewitter nicht direkt über ihnen, was hoffentlich auch nicht geschehen würde.

Verbissen kämpfte Ben gegen den dichten Regenschleier an. Als der nächste Blitz die Dunkelheit durchbrach, fiel sein Blick auf eine Baumgruppe, die mit ihrem dichten Blätterkleid bestimmt den prasselnden Tropfen standhielt. Ohne darauf zu achten, ob ihm jemand folgte, stürmte er los. Sein einziger Gedanke war, vor dem Wetter Schutz zu finden.

Schnell hatte Ben die Bäume erreicht. Der Wind schlug ihm einen Ast ins Gesicht. Fluchend wischte er sich über die brennende Wange. Ein Vorhang aus Lianen hing vor ihm von den Ästen herab. Sie würden einen hervorragenden Schutz vor den schräg getriebenen Tropfen abgeben. Erneut traf ihn etwas schmerzhaft, diesmal am Arm. Doch davon würde er sich nun nicht aufhalten lassen. Aus der Ferne rief Liz irgendetwas. Ben drehte sich nicht um. Sie und Arne würden ihm schon folgen.

Entschlossen schlängelte er sich zwischen den Lianen hindurch. Schon sah er das schützende Trocken zum Greifen nah, als ihm auf einmal ein kräftiger Ruck die Beine unter dem Körper fortriss.

Haltlos stürzte Ben zu Boden. Eine Welle heftigen Schmerzes breitete sich blitzartig von seiner Wade auf den ganzen Körper aus. Er öffnete den Mund zu einem qualvollen Schrei, doch nur ein heiseres Krächzen verließ seine Lippen. Der Atem stockte in seiner Kehle und so sehr seine Lungen nach Luft gierten, konnte er doch keine in sich aufnehmen. Das Blut rauschte in seinen Ohren, mischte sich mit dem wilden Hämmern seins Herzens. Ein letztes Aufbäumen.

Dann wurde es schwarz um ihn.

Und auf einmal waren alle Schmerzen und jede Qual verschwunden. Ben fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Entspannung und Gelassenheit ergriffen ihn. Mit absoluter Klarheit erkannte er, dass nun alles gut war.

Ohne Angst schlug Ben die Augen auf. Er lag in seinem Bett. Alles um ihn war bekannt, unverändert. Die Kleiderhaufen auf dem Stuhl und dem Boden, die Flasche mit abgestandenem Wasser neben seinem Bett, die Spinnweben, die er schon seit Wochen hatte entfernen wollen. Es war still im Zimmer, angenehm still. Der Wecker auf seinem Nachttisch zeigte sieben Uhr an. Das erste Licht des nahenden Tages lugte durch die Ritzen der Jalousie. Erleichtert atmete Ben aus. Eine unendlich schwere Last fiel von ihm. Es war alles nur ein Traum gewesen, ein schrecklich realer Traum, dem er endlich entkommen war.

Ben setzte sich auf, rieb den Schlaf aus seinen Augen und schwang sich aus dem Bett. Es mochte äußerst untypisch für ihn sein, freiwillig zu dieser Uhrzeit aufzustehen. Aber die Gefahr, erneut in den Traum zurückzufallen, war ihm zu groß. In einiger Zeit, wenn Gras über die Sache gewachsen war, würde er sich vielleicht an ein interessantes Abenteuer zurückerinnern. Aber momentan wollte er es sich einfach nur auf seinem Sofa bequem machen und eine Tasse Kaffee mit viel Milch genießen.

Auf dem Weg in die Küche glitt er mit den Fingerspitzen an der Wand entlang, spürte die raue Oberfläche der Tapete. Ein scharfer Schmerz im Daumen ließ ihn zurückschrecken. Das musste ein Nagel von einem alten Bild gewesen sein, den er dort vergessen hatte. Er würde sich später darum kümmern. Jetzt war erst einmal anderes wichtig.

Ben trat an die Kaffeemaschine und wurde von einem plötzlichen Schwindelanfall überrascht. Instinktiv stützte er sich an der Küchentheke ab, um nicht zu stürzen. Dann war der Spuk auch schon wieder vorbei. Anscheinend hatte ihn dieser Traum doch stärker mitgenommen als gedacht. Ben legte ein Kaffeepad in die Maschine ein und füllte Wasser nach. Später würde er Liz und Arne anrufen. Bestimmt würden sie sich sehr amüsieren, wenn er ihnen von seinem Traum erzählte. Endloses Wandern in einer fremdartigen Welt ohne Orientierung, ohne Ziel oder die sichere Hoffnung auf Rettung. Ben wischte die Erinnerung beiseite und beobachtete den Kaffee dabei, wie er aus der Düse tropfte.

Im Wohnzimmer stellte er die Tasse ab, warf sich auf das Sofa. Er griff nach der Fernbedienung des Fernsehers und stockte mitten in der Bewegung. Seit wann war sein Tisch dunkelblau? Völlig perplex strich Ben über die Holzplatte. Hatte er seine Umgebung bisher tatsächlich derart unaufmerksam behandelt? Anscheinend musste er lernen, genauer hinzusehen. Ben schaltete den Fernseher ein – und das Bild explodierte. Tausende scharfkantige Splitter fuhren in seine Haut und die Lunge, rissen tiefe Wunden. Keuchend krümmte Ben sich zusammen, versuchte verzweifelt, Luft zu holen. Tränen traten in seine Augen, liefen die Wangen hinunter wie flüssiges Feuer. Blut strömte aus den Verletzungen.

Hilflos spürte Ben seine Sinne schwinden. In einem letzten Aufbegehren versuchte er, zum Telefon zu gelangen. Doch er hatte keine Chance. Kaum einen Schritt vom Sofa entfernt fiel er in sich zusammen. Den harten Aufschlag seines Körpers auf dem Boden nahm er schon nicht mehr wahr.

-*-*-*-

Entspannt saß Arun auf der Brüstung des Balkons vor seinem Zimmer und ließ die Beine frei in der Luft baumeln. Sein Blick ging nicht in die Tiefe des Abgrunds, der sich unter ihm auftat, sondern in den abendlichen Himmel hinauf. Die Zwillingsgestirne trugen ihren uralten Kampf um die Vorherrschaft aus. Oder tanzten sie nur einen unendlichen Reigen? Momentan ließ die Pracht des weißen Mondes seinen Bruder fast zur Unkenntlichkeit verblassen. Doch bald schon würde er sich wieder erheben, um mit leuchtendem Rot seinerseits das Weiß in den Hintergrund zu drängen. Die Bauern des Landes glaubten, dass dort am Himmel zwei mächtige Urwesen einen nicht enden wollenden Kampf ausfochten. Mit abergläubischer Beharrlichkeit fürchteten sie den Moment, in dem sich der Kampf entscheiden mochte. Dann solle es Blut vom Himmel regnen und die Sonne würde ihr Antlitz verbergen, auf dass die Nacht ewig andaure.

Arun erkannte diese Prophezeiung als eine der vielen Legenden, die sich das Volk aus Angst vor dem Unbekannten erschaffen hatte. Eine Geschichte, der der Hauch des Unbegreiflichen anhaftete. Schön zu hören und die Fantasie schweifen zu lassen, doch nicht mehr. Es gab Legenden, die trugen ein Körnchen Wahrheit in sich, es gab welche, die mochten näher an der Realität liegen, als sich manch einer träumen ließ, und es gab solche, die dem Aberglauben des einfachen Volkes entsprangen.

Auch wenn Arun nicht dem Haus der Gelehrten, sondern dem der Krieger angehörte, hatte er sich im Verlauf seines jungen Lebens doch schon ausreichend Wissen angeeignet, um das beurteilen zu können. Ein umfassendes geschichtliches Wissen mochte für einen nurischen Krieger der Fjor nicht typisch sein, wurde von vielen sogar als unschicklich angesehen. Aber Arun hatte noch nie viel auf das gegeben, was andere für falsch oder richtig hielten – und kaum jemand nahm es ihm übel. Als Sohn des Ratsältesten ruhten große Erwartungen auf seinen Schultern, aber zugleich billigte man ihm Freiheiten zu, die anderen nicht gegeben waren. Nichts, worum er gebeten hätte, ganz im Gegenteil sogar. Welchen Wert hat schon das Ansehen, das man aufgrund der Taten eines anderen erlangt? Er war gut in dem, was er tat. Das wusste Arun. Talentiert genug, all das zu erreichen, was er anstrebte. Und sei es, die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Dazu waren natürlich noch einige Schritte nötig. Denn erben konnte das Amt des Ratsältesten niemand.

Die Ersten eines jeden Hauses bildeten seit jeher den Grauen Rat und erwählten einen von ihnen zum Anführer. Dieser konnte jederzeit wieder abgesetzt werden, wenn er sich seiner Aufgabe als unwürdig erwies. Doch dieses Schicksal hatte schon seit Langem keinen Ältesten mehr ereilt und würde auch Aruns Vater nicht treffen. Allseits beliebt und geachtet füllte er sein Amt besser aus als jeder andere vor ihm. Und auch nach ihm? Dieser Mann hinterließ große Spuren, in die zu treten nicht einfach sein würde.

»Arun«, hörte er die Stimme des Mannes hinter sich, dem seine Gedanken eben noch gegolten hatten. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, ohne dabei von der Brüstung aufzustehen, und erblickte seinen Vater zwischen den wallenden Vorhängen zu seinem Gemach. Er trug eine dunkelblaue, seidene Robe, deren einzige Verzierung eine weiß-graue Stickerei am rechten Ärmel war – das Zeichen eines jeden Ersten.

Und gerade durch die Schlichtheit seiner Kleidung erstrahlte die stille Kraft und Autorität des alten Mannes in atemberaubender Intensität. Er trug eine Stärke in sich, die weit über seine körperliche Erscheinung hinausging. Schon oft hatte Arun beobachtet, wie sein Vater mit leiser Stimme Bitten aussprach, denen anstandslos gefolgt wurde, als seien es Befehle. Tatsächlich war es äußerst schwer, sich seinem Willen zu widersetzen – und in den meisten Fällen auch unsinnig, da er fast immer Recht behielt. Jeder, der ihn erblickte, musste unweigerlich erkennen, wie gut Aruns Vater, Aheres dy’Sarunfjor, Erster des Hauses Sarunfjor – des Hauses der Krieger – sein Amt ausfüllte. Ein unnachgiebiger, kluger und seinen Pflichten ergebener Mann. Seinen Sohn hatte er immer mit fürsorglicher Strenge behandelt. Es gab keine Vergebung für Schwäche und doch immer eine helfende Hand.

»Du solltest zum Fest kommen, mein Sohn. Unsere Gäste sind schon längst eingetroffen.« Der Vater war zu Arun auf den Balkon getreten und stützte sich neben ihm an der Brüstung ab. Der Schein des weißen Mondes spiegelte sich auf seinem glatt rasierten Kopf, von dessen höchstem Punkt sich eine letzte Haarsträhne in den Nacken des Mannes ergoss. Diese Frisur zeichnete ihn, wie auch die Verzierung seiner Robe, als Erster des Hauses und Mitglied des Rates aus.

Allen anderen männlichen wie auch weiblichen Nuriern von Fjor war es hingegen freigestellt, ihre Haartracht nach eigenen Wünschen zu gestalten. Nur das Zeichen der Ersten durfte niemand unrechtmäßig tragen.

Aruns tiefschwarzes Haar ergoss sich in seidigen Strömen über seinen Rücken. Während eines Kampfes fasste er es immer zu einem Knoten zusammen, doch so nicht jetzt.

Gedankenverloren zupfte er am rechten Ärmel seiner Robe. Die Stickerei, die sich dort dem Auge offenbarte, leuchtete in dem Blau eines Adepten. Grün trugen die einfachen Schüler und schwarz … Schwarz war das Zeichen der Meister. Schon bald sollte auch Arun diese Farbe tragen. Wenn er denn die Prüfungen bestand.

Zwei Adepten wurden jeden Sommer vom Rat erwählt, um sich dieser Herausforderung zu stellen. Nur einer von ihnen konnte am Ende zum Meister werden. Manchmal gelang es auch keinem der Anwärter, sämtliche Prüfungen zu bestehen – und eine zweite Chance gab es nicht. Die Entscheidung des Rates, Arun zu erwählen, war äußerst ungewöhnlich. Mit seinen achtundzwanzig Sommern galt er unter den Nuriern als verhältnismäßig jung. Denn deren Leben konnte sich über einen deutlich längeren Zeitraum erstrecken als das eines normalen Sterblichen. Auch hier zeigte sich die Fähigkeit, die Energie des Drachen zu nutzen, als äußerst gefällig. Nicht wenige Nurier zählten zweihundert Sommer, bis auch sie den Tod fanden. Vor langer Zeit, als die Macht der Energie noch rein und ungebrochen war, mochte selbst dies ein verfrühtes Ende gewesen sein. Es gab Bücher, die sich mit dieser Vergangenheit beschäftigten, doch niemand las darin; zumindest nicht öffentlich. Natürlich hatte Arun dem nicht widerstehen können – ein weiterer Tabubruch, über den selbst er nicht zu sprechen wagte. Die Spaltung des Drachen war ein Thema, das man mied wie den tödlichen Biss der Angorisschlange.

 

Arun schob seine Gedanken beiseite. »Die Gäste werden sich auch ohne meine Anwesenheit köstlich amüsieren, Vater«, erwiderte er endlich und verlieh seiner Stimme einen freundlichen Klang. Festen und Feierlichkeiten war er grundsätzlich nicht abgeneigt, jedoch bevorzugte er eine ungezwungenere Gesellschaft. Nur zu gerne tanzte er am Mittsommer durch die Straßen, eine schöne Frau in jedem Arm, oder er betrank sich mit Freunden in den Kneipen von Lingard.

Dies hier jedoch war eine offizielle Veranstaltung. Zu seinen Ehren zwar, da er zur Meisterprüfung berufen worden war und doch ging es nicht wirklich um seine Person. In den Räumen seines Vaterhauses tummelten sich die Würdenträger und Wohlhabenden des Landes, tauschten Höflichkeiten aus zwischen kaurischen Käsespießchen und edlem Wein. Hier galt es, sich von der besten Seite zu zeigen oder vielmehr von der, die als schicklich empfunden wurde.

Die Fjor waren ebenso stolz auf ihre Sitten wie auf ihr Reich. »Bei uns gelten Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als oberstes Gut«, pflegten sie bei jeder Gelegenheit hervorzuheben – immer mit einem herablassenden Seitenblick auf Gaar, welches neben der Iffif-Wüste, der lebensfeindlichen Heimat der Enj’shar, das dritte, wenn nicht gar mächtigste Land auf dem Kontinent des Drachen darstellte. Einst die Heimat aller Nurier, bildete es nun das mit Misstrauen und Verachtung beäugte Gegenstück zu Fjor. Waren es zu Beginn nur ideologische Differenzen gewesen, die ein Volk auseinander trieben, herrschten inzwischen noch viel grundlegendere. Ein Drache für jede Seite – für Fjor und Gaar. Je ein Wesen, das Teil des ursprünglichen, des Einen Drachen war. Jedes für sich mächtig, aber unvollkommen. Geformt aus Energie und umgeben von dieser lebens- und machtspendenden Kraft, doch gerade in ihr auch unterschiedlich voneinander.

Es war verpönt, in sogenannter »anständiger Gesellschaft« über die Spaltung des Drachen zu sprechen. Vergessen war jenes Ereignis, mochte es auch noch so weit in der Vergangenheit liegen, jedoch keineswegs. Generation für Generation brachte man es sogar über sich, die jungen Nurier von Fjor über jenen Vorfall aufzuklären. Sich nach Details zu erkundigen, war hingegen nicht zu empfehlen, wie Arun schon früh hatte lernen müssen. Zum Glück für ihn gab es alte Bücher und heimliche Ecken in der Bibliothek der Gelehrten.

Wahrlich verstehen würde es Arun niemals, wie man einem derartigen Thema generell ignorant gegenübertreten konnte. Denn die Folgen der Spaltung, die den Einen Drachen in drei unterschiedliche Teile zerrissen hatte, waren bis heute zu spüren.

Ob sie sich anders anfühlte, die Energie der Gaar? Wie jedem Fjor war es Arun unmöglich, die Macht der anderen Seite zu spüren, geschweige denn zu nutzen – ebenso wie es den Gaar andersherum erging.

Den Einen Drachen zu zähmen, wäre niemandem gelungen. Doch ein Großteil dessen, was von ihm blieb, ruhte nun in den Hauptstädten der Nurier. Auf immer gefangen, um eine schwächere dafür aber sichere Quelle der Macht zu sichern. Kein vernünftiger Nurier würde es anstreben, die Spaltung rückgängig zu machen – selbst wenn die Unmöglichkeit vollzogen werden könnte. Alleine der Gedanke daran war unvorstellbar. Wozu eine Bestie erwecken, die man über Tausende von Sommern hinweg benutzt und gefangen hat? Warum die Energie zu alter Macht vereinen, wenn man sie dann nicht mehr beherrschen könnte?

Arun verzog die Mundwinkel in der Andeutung eines spöttischen Lächelns. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Eine Heuchelei, die sich auf die Macht der Unterdrückung stützte – und sei es nur das Leid eines einzigen Wesens.

Und vor allem, wenn es darum ging, die Gleichheit aller zu betonen, straften sich die Würdenträger Fjors der Lüge.

Wir mögen vorgeben, dass die Ni’drejel, jene, die die Energie nicht nutzen können, weder als unterlegen angesehen noch behandelt werden. So wie wir auch den Armen, den Kranken, den Machtlosen, Rechte zugestehen, die sie in Gaar niemals erhalten werden. Doch all das ist in Wahrheit ein trügerischer Schein.

Arun lauschte auf die fernen Geräusche des Festes. Verhaltenes Lachen, immer kontrolliert von der eigenen Vorsicht. Das eintönige Raunen zahlreicher schmeichelnder Stimmen.

Ihr lügt, betrügt und schmiedet Intrigen wie es auch jeder Gaar tun würde. Immer darauf bedacht, das Beste herauszuholen für euch und eure Familien. Arun war im Umgang mit den Mächtigen des Landes ebenso gewandt wie mit der scharfen Klinge eines Schwertes. Trotz seiner Abneigung gegen solches Verhalten beherrschte er die Kunst des Schmeichelns und des richtig gewählten Wortes. Und auch wenn es ihm zumeist missfiel, nutzte er diese Fähigkeit, wann immer sie ihm von Vorteil war.

»Nun, mein Sohn. Sie alle sind gekommen, dich zu sehen. Diese Freude wirst du ihnen doch sicherlich nicht verwehren wollen«, sprach sein Vater wieder. Auch er wählte einen ausgenommen freundlichen Tonfall.

Mit einem leichten Gefühl der Übelkeit nickte Arun ihm zu. »Wie Ihr wünscht, Vater.« Elegant schwang er sich von der Brüstung und ging ins Innere des Gebäudes. Sein Unbehagen schwand ebenso schnell wie es aufgetaucht war.

Kaum traten der Ratsälteste und sein Sohn aus der Tiefe der Empore, richtete sich alle Aufmerksamkeit auf die beiden Männer. Der eine alt, der andere jung, und doch schon so ähnlich in Ausstrahlung und Autorität standen sie am Absatz der eindrucksvollen Marmortreppe des herrschaftlichen Hauses, blickten hinab in die Empfangshalle zu den erwartungsvollen Gästen. Gleichmütig betrachtete Arun die hell gepuderten Gesichter unter prachtvollen, mit Edelsteinen und Diamanten gezierten Frisuren und lauschte dem Rascheln wertvoller Stoffe, kunstvoller Gewänder in allen vorstellbaren Farben und zahlreichen Formen – mal provozierend eng anliegend und tief ausgeschnitten, mal betont zurückhaltend, traditionell oder in gekonnter Kombination verschiedener Stile.

Einzig einer der Gäste fiel Arun sofort ins Auge: Timos. Sein Gegner bei den bevorstehenden Prüfungen. Auch er war noch verhältnismäßig jung. Gerade fünf Sommer lagen zwischen ihnen.

Als der Rat Arun zur Meisterprüfung berufen hatte, schien es den meisten Nuriern folgerichtig, ihm jemanden gegenüberzustellen, der nur unwesentlich älter und erfahrener war. Diese Sichtweise jedoch wurde Timos Fähigkeiten keineswegs gerecht. Arun wusste sehr wohl, dass dieser ein würdiger Gegner sein würde.

Er fing den Blick des blondgelockten, hochgewachsenen Mannes auf und erwiderte sein spöttisches Lächeln.

Aheres dy’Sarunfjor hob indes beide Hände, als gelte ihm nicht schon längst die allgemeine Aufmerksamkeit. »Meine lieben Freunde, ich freue mich, Euch in meinem Haus begrüßen zu dürfen. Und dies auch noch zu solch einem wundervollen Anlass.« Der Ratsälteste legte einen Arm um Aruns Schultern. »Meinem Sohn wurde die Ehre zuteil, zur Meisterprüfung gerufen zu werden. Und wie jeder Vater bin ich erfüllt von Stolz. So feiert mit mir, genießt diesen Abend und die köstlichen Speisen, die meine Köche für Eure Gaumen bereitet haben. Und natürlich den Wein, dieses erquickende Laster.« Mit diesen Worten löste Aheres dy’Sarunfjor seinen Arm von Aruns Schultern und nahm ein Weinglas aus der Luft, das er mit einem leichten Energiestrahl hatte heranschweben lassen. Er hob es seinen Gästen zum Gruß.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?