Fjorgaar - Der rote Vogel

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»Von deiner Mutter«, gestand Liz.

»Wunderbar.« Ben warf beide Hände in die Luft. Obwohl er mit diesen Worten gerechnet hatte, schienen sie unvermutet einen wunden Punkt in ihm zu treffen. »Du hast hinter meinem Rücken mit Margaret gesprochen. Über ein Thema, das nur mich etwas angeht. Ich habe dich den Brief lesen lassen und dir gesagt, dass ich nicht darüber sprechen will. Ich habe dir vertraut. Und was tust du? Du kannst nicht einfach … Das ist mein Leben und ich entscheide, was ich damit mache. Und wenn du dich derartig einmischt … Du weißt ganz genau, dass ich nicht hier sein will. Und du kommst noch nicht mal auf die Idee, mich zu fragen? Oder entscheidest vielmehr, mich absichtlich nicht … Verdammt nochmal, Liz!« Bens Arme hingen nutzlos an seinem Körper herab. Seine Hände wollten sich zu Fäusten ballen und doch wieder nicht, und er wünschte, er hätte etwas, an dem er sich hätte festhalten können. Reine Wut zu empfinden, wäre einfach gewesen, doch in ihm herrschte ein wildes Durcheinander.

»Okay.« Arne schob sich in Bens Blickfeld. »Was auch immer hier los ist – fangen wir nicht an, uns gegenseitig anzuschreien.«

Hatte Ben denn seine Stimme erhoben? Wenn, dann war es ihm nicht bewusst gewesen.

»Also«, fuhr Arne fort. Er mochte sich abgeklärt geben, doch seine Hände verrieten zumindest eine gewisse Unruhe. Unablässig drehte er den goldenen Ring an seinem Finger. In seiner Stimme war von dieser vermutlich unbewussten Handlung nichts zu hören. »Wie wäre es, wenn ihr mir jetzt einmal erklären würdet, was Sache ist.«

Unter dem intensiven Blick seines Freundes kam Ben sich auf einmal ziemlich dumm vor. Schon wieder war er auf dem besten Weg gewesen, seine Beherrschung zu verlieren. Noch weiter zu verlieren als ohnehin schon.

Überraschenderweise gewann er durch Arne nicht nur seine Vernunft, sondern auch ein wenig Ruhe zurück – was bei genauerer Betrachtung gar nicht so verwunderlich sein mochte. Denn Arnes Einfluss auf Ben war schon immer ein beruhigender gewesen. »Du hättest mich wirklich vorher fragen sollen, Liz.« Diese Bemerkung konnte und wollte Ben sich dennoch nicht verkneifen. Und da seine Worte nun sehr viel gefasster klangen, gewannen sie an Bestimmtheit. Liz warf ihm ein schuldbewusstes Lächeln zu, das teils als Grimasse, teils als Entschuldigung erschien.

»Vermutlich hat Liz dir vom Inhalt des Briefes erzählt, den mir mein Großvater geschrieben hat?«, wandte sich Ben mit einer gewissen Resignation an Arne. Er hätte mit Händen und Füßen dagegen ankämpfen können, das Thema auch nur im Entferntesten anzusprechen und somit weiterhin wie ein Echo aus der schlimmsten Phase seiner Kindheit gehandelt. Oder er konnte sich zusammenreißen.

Arne schüttelte den Kopf. Und während Ben eigentlich erfreut sein sollte, dass Liz diese privaten Details wohl tatsächlich mit niemandem geteilt hatte, zog ihr Schweigen doch ein Problem nach sich. Denn Ben wollte den Inhalt des Schreibens nicht wiedergeben. Aber nachdem er den Brief nun bereits angesprochen hatte, blieb ihm kaum eine andere Wahl. Es sei denn natürlich, er würde seinen Freund trotz allem weiterhin im Dunkeln lassen.

Seit seinem Geburtstag hatte Ben den Brief nicht wieder angerührt. Er lag noch immer dort, wo Liz ihn zurückgelassen hatte. Und auch wenn Ben das so harmlos anmutende Papier tagtäglich sah, hatte er sich bisher immer geweigert, seine Existenz bewusst zur Kenntnis zu nehmen.

Arne blickte Ben noch immer an und auch Liz war in eine abwartende Haltung verfallen. Und Ben traf einen Entschluss, den er noch im selben Moment wieder bereute.

Er wiederholte für Arne die Worte, die er in dem Brief gelesen hatte. Und obwohl er zu dem damaligen Zeitpunkt kaum in der Lage gewesen war, einen klaren Gedanken zu fassen, erinnerte er sich zu seiner eigenen Überraschung sehr gut an den Inhalt des Schreibens. Er sprach von der ungeheuerlichen Enthüllung, dass sein Großvater die Vergangenheit keinesfalls vergessen hatte. Er erwähnte das Amulett, welches seinem Vater gehört haben sollte und das er auch jetzt noch immer trug. Zuletzt legte Ben die Aufforderung des Großvaters offen, den Ort wieder aufzusuchen, an dem man sie vor Jahren aufgefunden hatte. Sogar die Erwähnung des »Alten Bundes« fand in seiner Schilderung ihren Platz. Das beunruhigende Detail hingegen, wie sehr diese Landschaft der aus seinem Traum glich, »vergaß« er zu erwähnen. Aber natürlich funktionierten die Instinkte von Liz wieder einmal besser als ihm lieb war.

»Kann es sein, dass du diesen Ort in deinem Traum gesehen hast?«, fragte sie und schien seinen vorherigen Unmut vergessen zu haben. Was natürlich kaum möglich war.

»Absolut nicht«, log Ben. Er musste sich nun wirklich nicht genötigt fühlen, alles zu offenbaren. »Diese Lichtung ist mir vollkommen fremd.«

»Und woher weißt du dann, wo wir uns gerade befinden?«, hakte Liz mit freundlicher Stimme nach.

In Ben stieg das unbändige, doch in dieser Vehemenz gleichermaßen nicht ernst gemeinte, Verlangen auf, Liz in den See zu schmeißen und einige Male durch den vermutlich äußerst schlammigen Untergrund zu ziehen. »Ich werde jetzt wieder gehen«, verkündete er entschlossen und bewegte sich ein paar Schritte in Richtung des Pfades.

»Du wirst dich verlaufen«, stellte Liz fest. Sie hatte sich keinen Millimeter vom Fleck gerührt. Arne stand mit auf den ersten Blick ausdruckslosem Gesichtsausdruck neben ihr, während seine Augen zwischen den beiden Freunden hin und her wanderten.

Tatsächlich war Ben sich nicht sicher, den Rückweg alleine finden zu können, aber er hatte nicht vor, noch einen Augenblick länger an diesem Ort zu verweilen. Und wenn sich Liz auf den Kopf stellte. Sie würde schon nachgeben, wenn sie sah, wie ernst es ihm war.

Doch genau das tat sie natürlich nicht. Ben hatte sich bereits einige Schritte durch das Dickicht geschlagen, als er möglichst unauffällig hinter sich schielte. Weder Liz noch Arne hatten sich vom Fleck gerührt. Durch die Baumstämme und Sträucher hindurch sah er, dass sie intensiv zu flüstern begonnen hatten. Liz hielt Arne am Arm zurück, als sich dieser in Bewegung setzen wollte, redete weiter auf ihn ein. Und zu Bens Enttäuschung ließ er sich offensichtlich überzeugen.

Was nun? Ben mochte zwar die Orientierung einer tauben Fledermaus haben, doch so groß konnte dieser Wald auch wieder nicht sein. Selbst wenn er den Pfad aus den Augen verlor, musste er irgendwann den Waldrand wiederfinden. Und von dort aus konnte es nicht weit bis zum nächsten Ort sein. Immerhin befanden sie sich hier in Deutschland. Ein zivilisiertes Land, das mit großem Eifer darauf bedacht war, selbst den letzten Rest Wildnis langsam vom Angesicht der Erde zu tilgen. Sich hier derartig zu verlaufen, dass er tagelang hilflos umherirren würde, erschien Ben äußerst unwahrscheinlich. Andererseits … Nun war er schon einmal hier, wenn auch keineswegs freiwillig. Aber wenn er diese Möglichkeit nutzte und hinter sich brachte, was nötig war, würde es vermutlich sehr viel einfacher sein, mit dem Brief abzuschließen. »Genau, Ben. Stell dich der Situation, anstatt wieder mal davonzulaufen«, meinte er Liz’ Stimme förmlich zu hören. Verärgert schüttelte Ben den Kopf – und gab sich einen Ruck.

Mit weit ausgreifenden Schritten ging er zurück zu seinen Freunden und ignorierte das triumphierende Funkeln in Liz’ Augen. Vermutlich war sie sich dessen selbst nicht bewusst und nur mit ihrem hehren Motiv beschäftigt, einem Freund zu helfen.

»Also gut, da bin ich wieder. Und nun? Bleiben wir jetzt hier, bis wir zu Staub zerfallen?«

»Aber nicht doch. Jetzt gehen wir in die Hütte. Du und dein Großvater lagt direkt davor, als man euch fand.«

Ben runzelte die Stirn. Er wollte sich der Hütte definitiv nicht weiter nähern. Doch dies konnte er nicht äußern, ohne auf seine Träume eingehen zu müssen. Also schob er, den Tadel seiner inneren Stimme übertönend, die Verstimmung über einen anderen Punkt vor. »Du weißt wirklich sehr genau über sehr viele Dinge Bescheid, die dich nichts angehen«, sagte er zu Liz.

Diese zuckte nur mit den Schultern. »Ich musste wissen, wo man euch gefunden hat. Und du hattest davon ja offiziell keine Ahnung.«

»Und natürlich liegt alle Schuld bei mir, nicht wahr?« Kurz flammte die Verärgerung wieder in Ben auf.

»Aber nicht doch, Sonnenschein«, erwiderte Liz in einem für diesen Moment unerwartet neckischen Tonfall. »Du bist wie immer unser Unschuldslamm.« Und sie grinste Ben derart unverschämt an, dass ihm kurz der Atem stockte.

»Was habe ich mir da nur für Freunde angetan«, brachte er schließlich hervor, und wundersamerweise war jede Spur seiner Wut verschwunden.

»Freunde, die um dein Wohlergehen besorgt sind«, mischte sich Arne wieder ein. Er warf Liz einen langen Blick zu. »Auch wenn sie hin und wieder dabei etwas übergriffig werden.«

»Dann also zur Hütte«, beharrte Liz unbeeindruckt und setzte sich sogleich in Bewegung, ohne zu prüfen, ob Ben und Arne ihr auch folgten. Einen kurzen Moment lang überlegte Ben, alleine aus diesem Grund stehen zu bleiben. Doch diese Reaktion hätte wohl eher einem trotzigen Kind zugestanden. Er seufzte. »Dann bekommt sie wohl mal wieder ihren Willen«, sagte er laut genug zu Arne, dass auch Liz ihn noch hören musste.

Mit jedem Schritt, der ihn der Hütte näher brachte, stieg das Unbehagen in Ben. Sein Magen krampfte sich zusammen und das Herz schlug ihm bis zum Hals. So unsinnig diese Reaktion auch sein mochte, denn dies war die Realität und kein Traum, in dem die Gefahr in jedem Schatten lauerte, konnte sich Ben doch nicht dagegen wehren. Er verbarg seine Empfindungen so gut wie möglich. Arnes zunehmend besorgtem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er damit allerdings nicht allzu erfolgreich.

Ben ging weiter, als sei alles in Ordnung, und immer weiter, und für einen kurzen Moment lang meinte er zu spüren, wie der Boden unter seinen Füßen nachgiebig wurde. Natürlich. Du läufst hier auf Waldboden und nicht etwa über einen asphaltierten Weg, rief er sich zur Ordnung und beschleunigte seine Schritte. Es war an der Zeit, diese Sache schnell hinter sich zu bringen, bevor er endgültig die Kontrolle über sich verlor.

 

Schatten huschten durch Bens Blickfeld und entschwanden, sobald er sie zu fixieren versuchte. Für einen Atemzug lang sah er den Mann aus seinem Traum vor sich stehen, die Arme flehend nach ihm ausgestreckt. Ben blinzelte und die Illusion war wieder verschwunden. Kein Grund zur Panik, redete er sich im Stillen zu. Ich bin nur etwas überspannt.

Ben fuhr sich mit der Hand durch die Haare, spürte den Schweiß auf seiner Stirn und versuchte, ihn verstohlen wegzuwischen. Ein wenig überfordert vielleicht. Zugegeben. Was ist da schon ein kleiner Streich der Sinne? Ich bewege mich hier in einem Gebiet, das mein Unterbewusstsein mit meinen Träumen verbindet.

Der immer noch nicht abgeheilte Insektenstich auf Bens Brust begann immer stärker zu jucken. Er begrüßte dieses sonst so lästige Gefühl, klammerte sich daran als verlässliche Verbindung zur Realität. Mit Sicherheit würde er über dieser ganzen Situation nicht den Verstand verlieren. Alleine die Idee erschien unsinnig. Ben lachte kurz auf, wozu sich Arne dankenswerterweise nicht äußerte.

Inzwischen waren sie der Hütte nahe genug gekommen, um Details erkennen zu können. Moos überzog die sandfarbenen Steine und Efeu überwucherte einen Großteil des Gebäudes. Auf der ihnen zugewandten Seite lugte ein winziges Fenster zwischen dem Efeu hervor, dessen vergilbte Scheibe keinen Blick ins Innere der Hütte ermöglichte. Das Dach erweckte den Eindruck, als wäre eine übermächtige Faust in einem Ausbruch der Wut darauf niedergefallen. Zersplitterte Ziegel lagen auf Dach und Boden und der Dachfirst hing gefährlich schief.

Liz war vor der Hütte stehen geblieben und wartete, bis die anderen zu ihr aufschlossen. »Sieht so aus, als könnte das Haus jeden Augenblick einstürzen«, meinte sie stirnrunzelnd und fügte sogleich hinzu: »Gehen wir mal vorsichtig rein.«

Ben schenkte ihr einen vielsagenden Blick. »Aber sonst geht es dir gut? Hast du nicht eben selbst festgestellt, dass das Ding jederzeit einstürzen könnte?«

»Falsch, mein Lieber. Ich meinte nur, es sieht so aus. Das tut es aber mit Sicherheit schon seit Jahren. Warum sollte gerade jetzt etwas passieren?«

»Warum sollte gerade jetzt nichts passieren?«, beharrte Ben und wollte ebenso wenig nachgeben wie seine Freundin.

Sie starrten sich an. »Hast du Angst?«, stichelte Liz herausfordernd.

»Glaubst du, du könntest mich mit so billigen Tricks überlisten?« Unter einem zynischen Lächeln verbarg Ben seine wahre Reaktion. Denn mit dieser offensichtlichen Provokation traf Liz nicht nur seinen Stolz, sondern kam leider auch der Wahrheit unangenehm nahe.

Arne seufzte verhalten. »Ben hat nicht ganz Unrecht. Sehen wir uns die Hütte doch erst mal von außen an«, versuchte er auch dieses Mal zu schlichten. Aber Liz hörte weder auf ihn noch auf Ben. Sie zog am hölzernen Knauf der Eingangstür.

Erst schien die Tür sich nicht öffnen zu lassen, dann gab sie mit einem bedrohlichen Knarren nach und Liz verschwand wortlos im Schatten der morschen Wände.

»Verdammt nochmal. Komm da wieder raus«, rief Ben ihr hinterher. Ohne es zu merken, hatte er wie wild an seiner Brust zu reiben begonnen, die inzwischen juckte, als sei eine ganze Horde von Stechmücken über ihn hergefallen.

»Ob es da drin überhaupt etwas Interessantes zu sehen gibt?«, fragte sich Arne laut und tat einen Schritt in Richtung Tür.

»Liz! Entweder du kommst jetzt zurück oder ich ziehe dich da an den Haaren wieder raus!«, drohte Ben mit kippender Stimme. Natürlich würde er so etwas niemals tun, doch langsam aber sicher verwandelte sich sein Unbehagen in pure Angst. Es war nicht die Einsturzgefahr, die ihn davon abhielt, die Hütte zu betreten. Etwas lauerte dort auf ihn, lauerte in der Dunkelheit. So verrückt es auch erscheinen mochte, vermutlich auch war, konnte er sich doch nicht von diesem Gefühl lösen. Jegliche Vernunft begann ihm zu entgleiten und er wollte nur noch eines: so schnell wie möglich von diesem Ort verschwinden. Ben zwang seine zitternden Hände in die Taschen seiner Jeans. Liz hatte noch immer nicht geantwortet.

»Ich gehe nach ihr sehen. Bleib du hier draußen«, entschied Arne, und Ben nickte ihm dankbar zu. Während sein Freund ebenfalls in den Schatten verschwand, wich Ben von der Hütte zurück. Einige Meter entfernt sank er auf einen morschen Baumstumpf und wartete. Er rechnete mit einer lautstarken Diskussion, doch kein Laut drang aus der Hütte zu ihm herüber. Abwesend kratzte Ben an seiner Brust und ertastete das Amulett, das er seit seinem Geburtstag nur zum Duschen abgelegt hatte. Es war ziemlich warm, das konnte er sogar durch sein Hemd hindurch spüren. Kein Wunder, wenn er es ständig über seine Haut rieb. Erschöpft ließ Ben seinen Kopf in die Hände sinken und schloss die Augen.

Wie lange wollten ihn seine Freunde noch warten lassen? Auch wenn Arne eben erst verschwunden war, schien für Ben bereits eine gefühlte Ewigkeit vergangen zu sein.

Seufzend öffnete er die Augen wieder – und erstarrte. Ein rotgefiederter Vogel saß vor seinen Füßen und blickte achtsam zu ihm auf. Mit einem erstickten Schrei fuhr Ben zurück und stürzte rückwärts von dem Baumstumpf. Sehr unsanft prallte er auf den Waldboden. Ein Stein bohrte sich schmerzhaft zwischen seine Rippen. Ben nahm es kaum wahr. Regungslos lag er auf dem Rücken, nicht in der Lage, sich zu rühren. Es war, als würden ihn eiserne Gewichte an den Boden fesseln und das Leben aus seinem Körper pressen. Keuchend rang er nach Luft. Die Baumwipfel über ihm hatten sich zu einer undurchdringlichen Barriere verschlungen und drohten auf ihn hinabzustürzen. Ein ersticktes Schluchzen kam aus Bens Kehle.

Wo blieben Liz und Arne nur? Bestimmt konnte ihnen nichts passiert sein? Der Gedanke an seine Freunde gab Ben die Bewegungsfähigkeit zurück. Er sprang auf. Sein Blick irrte hektisch umher. Der Vogel war verschwunden. Hatte sein Unterbewusstsein ihm einen Streich gespielt? Bens Knie zitterten, als er sich beugte, um den Boden vor dem Baumstumpf genauer zu betrachten. Feine Abdrücke von kleinen Vogelkrallen waren zu sehen. Ben taumelte. Fast hätten seine Knie versagt.

»Liz? Arne? Kommt ihr?«, rief er und versuchte dabei, den panischen Unterton in seiner Stimme zu unterdrücken. Keine Antwort erfolgte. Was trieben die beiden für ein Spiel mit ihm? Sie würden doch wohl kaum ohne ihn gegangen sein. Bens Gedanken flogen. Ob sie sich absichtlich versteckten, um ihn doch noch in die Hütte zu locken? Das wäre Liz zuzutrauen, nicht aber Arne. Fluchend trat Ben wieder an das halb verfallene Gebäude heran. Eigentlich sollte ich einfach von hier verschwinden und die zwei alleine lassen mit ihrem Unsinn. Doch eine unbestimmte Ahnung trieb ihn an, kämpfte mit der Furcht in seinem Herzen. Er konnte nicht einfach gehen, ohne sich zuvor davon überzeugt zu haben, dass es seinen Freunden gut ging.

Schweigend wartete die Türöffnung vor Ben, gab im einfallenden Tageslicht den Blick auf verwitterte Bodenplanken, ein leeres Regal und die Fransen eines fraglos alten Teppichs frei. Darüber hinaus konnte Ben nichts erkennen. Auch keine Bewegungen, die auf die Position von Liz oder Arne hätten hindeuten können. Oder auf …

Stopp. Genug davon, reiß dich zusammen.

»Jetzt kommt schon da raus. Ihr hattet euren Spaß«, versuchte er es erneut und lauschte auf jedes verräterische Geräusch. Das Rauschen des Windes in den Blättern, ein kleines Tier im Unterholz, sonst war nichts zu hören. In Bens Angst mischte sich eine gehörige Portion Wut. Und diese gab ihm den Anstoß, sich zu bewegen. Wild entschlossen trat er durch die Tür ins Halbdunkel der Hütte. Er würde seine Freunde aus ihrem Versteck zerren und ihnen ausführlich darlegen, was er von ihrem Scherz hielt.

Zuerst konnte Ben kaum etwas sehen außer dem Regal und dem Teppich. Das Licht von draußen reichte wahrlich nicht weit. Seine Beine drängten schon wieder zur Flucht, doch er verharrte regungslos und wartete darauf, dass sich seine Augen den Verhältnissen anpassten.

Langsam schälten sich Umrisse aus der Dunkelheit im hinteren Teil des Raumes. Durch ein Loch in der Decke drang ein schmaler Lichtstrahl und hellte die Umgebung ein klein wenig auf. Ben erkannte einen Tisch, drei Stühle, eine Holzbank an der hinteren Wand und einen umgekippten Korb. Aber Liz und Arne waren nicht zu sehen. Vorsichtig ging er ein paar Schritte vorwärts und versuchte dabei, das immer hektischere Pochen seines Herzens zu ignorieren. Er wollte und würde sich nicht die Blöße geben und jetzt die Flucht ergreifen. Angespannt von Kopf bis Fuß zwang er sich noch ein paar Schritte weiter.

In dem Augenblick, in dem ein schrecklicher Schmerz durch Bens Brust fuhr, wurde es schlagartig pechschwarz um ihn herum. Ben schrie. Gepeinigt. Angstvoll.

Noch bevor ihn das jähe Entsetzen jeglicher Selbstkontrolle beraubte, verlor er den Halt.

Der Boden verschwand unter ihm, als sei er nie da gewesen, und Ben stürzte ohne Vorwarnung in die Tiefe.

Kapitel II
Auszüge aus den Schriften des Suchers
Der Drache

»Wer die Wahrheit zu kennen glaubt, ist ein Narr, und wer nach ihr sucht, auf ewig rastlos. Ich zähle mich zu Letzteren.«

»Ich schreibe nieder, was ich für erwähnenswert halte, was bisher nur gesprochen wurde, was sich in anderen Texten wiederfindet. Ich bewahre das Wissen nach bestem Gewissen. Mit den großartigen Möglichkeiten dessen, der weit gereist und viel belesen ist, der Fragen stellt und Neugier zeigt. Mit den geringen Möglichkeiten dessen, der sich der Begrenztheit des menschlichen Verstandes wohl bewusst ist.«

Seit Anbeginn aller Zeiten lebte ein einzigartiges Wesen auf dieser Welt, das gemeinhin »Alva« genannt wird: der Drache. Diesen Namen gaben ihm die Menschen, wie auch seine Zuordnung zum männlichen Geschlecht – beides aus dem Bedürfnis heraus, das zu erfassen, was es nicht zu erfassen gab und sich keineswegs auf Wissen begründet. Körperlos, bestehend aus reiner Energie, wandelt der Drache zwischen dem Diesseits und dem Jenseits – dem Nebel – wie es sonst kein anderes Wesen vermag. Sein Bewusstsein erstreckt sich über Äonen und vermag Zusammenhänge zu erkennen, die allen anderen vernunftbegabten Wesen auf immer verborgen bleiben werden.

Bestimmten Lebensformen dient seine Energie als Quelle der Macht – den uralten und lange über die Welt herrschenden Hochwesen. Und den Menschen, deren Heimat einst eine andere war und die sich doch schnell einfanden in ihrer neuen Umgebung. Bei Weitem nicht jeder wird mit der Fähigkeit geboren, die Kraft des Drachen zu nutzen. So gibt es zahlreiche Ni’drejel, die »Nicht Sehenden« oder auch »Nicht Fühlenden«. Jene hingegen, die die Begabung erben und sich somit zu den sogenannten Nuriern zählen können, vermögen Ungewöhnliches mit der Energie zu vollbringen. Manipulationen von Materie alleine durch den Willen, Beeinflussungen unterlegener Individuen, das Erzeugen von Illusionen – die Fähigkeiten sind mannigfaltig und unterschiedlich ausgeprägt.

Der Drache ist unsterblich. Seine Energie kann niemals schwinden, sondern nur die Form verändern. Das Leben eines Sterblichen ist für ihn kaum mehr als ein schnell verlöschender Funke, der Lauf der Zeit ein eilig dahinfließender Fluss. Nur sehr selten – sei es aus Langeweile, Neugier oder einem anders gearteten Antrieb – konzentriert der Drache seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Zeitausschnitt, auf eine bestimmte Person.

Und gerade in dieser Selektivität seines Interesses, dieser sonstigen Ferne des Drachen, wird auch gemeinhin der Grund gesehen, dass er einst durch die Hand eines Verräters so sehr geschwächt werden konnte, wie es niemals jemand für möglich gehalten hätte. Denn während der Drache jedes drohende Unheil, jede Intrige und jeden geplanten Angriff hätte erkennen und abwenden können, wurde er doch niedergeworfen. Und diese Begebenheit stellt ein übermächtiges Ereignis in der Geschichte Alvas dar, welches zahllose Folgen nach sich zog.

So zum Beispiel die Spaltung unter den Nuriern und die Wandlung desjenigen, der von diesem Zeitpunkt an auf einem schmalen Grad zwischen Vernichtung und Unsterblichkeit wandelte.

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Eine Erschütterung durchlief die Welt und weckte ihn aus seinem Schlummer. Es war nur ein flüchtiges Zittern in seiner Wahrnehmung, eine neue, noch schwache Stimme im Gesang der Vielen.

 

Neu und altbekannt.

Darauf hatte er gewartet.

Mit einem Drängen, das ihm sonst fremd war.

Mit der plötzlich erwachten Sehnsucht desjenigen, für den Zeit bisher keine Bedeutung hatte.

Mit dem Groll desjenigen, der niemals hätte gestürzt werden dürfen.

Mit dem Wissen über eine verlorene Freiheit.

Tastend breitete er sich aus und nahm einen schwachen Sog wahr. Nun war es soweit. Die Dinge würden sich ändern.

-*-*-*-

Aus weiter Ferne drang eine Stimme zu Ben hindurch: »Er ist eiskalt. Wir müssen ihn irgendwie aufwärmen.« Er hörte ein leises Rascheln und das Scharren von Füßen auf steinigem Untergrund. Und da war ein Wimmern, fast wie das Winseln eines verwundeten Tieres. Er spürte einen Druck auf seinem Körper und die Stimme sagte wieder irgendetwas. Verwunderung stieg in Ben auf. Was war los? Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Sein Geist irrte umher, ohne Halt und ohne Richtung.

»Hörst du mich?«, fragte die Stimme eindringlich. »Ben? Hörst du mich?« Er wollte ihr antworten, aber es gelang ihm nicht.

Dann erkannte er auf einmal, woher das Wimmern kam: von ihm.

Nun wurde er sich auch der eisigen Kälte bewusst, die ihn fest umklammert hielt. Wenn er nur wüsste, was passiert war. Er versuchte mit dem Wimmern aufzuhören. Erfolglos. Auf einmal spürte er eine Berührung, wurde leicht angehoben und kam mit dem Kopf auf einem weichen Untergrund zu liegen. Irgendjemand strich ihm immer wieder über das Haar.

Und langsam entspannte sich Ben und das Wimmern, das ungehemmt aus seinem Mund drang, wurde leiser, bis es komplett verstummte.

»Er scheint wieder zu sich zu kommen.« Erneut erklang die Stimme, die Liz gehörte, wie Ben auf einmal erkannte.

Vorsichtig öffnete er die Augen und fand sich mit dem Kopf auf Liz’ Schoß liegend wieder. Auf seiner Brust lag Arnes Pullover, den dieser immer über seinem T-Shirt trug. Erleichterung huschte über Liz’ Gesicht, als Ben ihren Blick erwiderte. Ihre Hand strich noch immer über sein Haar. Sie beugte sich ein wenig näher zu ihm und ihr Atem streifte seinen Hals.

Dann erklang neben Ben ein Rascheln und Arnes Gesicht schob sich in sein Blickfeld. »Wie geht es dir?«, fragte er besorgt.

Ben schob Liz’ Hand beiseite und richtete sich auf. Seine Beine trugen ihn, wenn auch unsicher. »Kann mir mal bitte jemand erklären, was passiert ist?«, forderte er, doch bevor einer seiner Freunde reagieren konnte, fiel ihm schlagartig alles wieder ein.

Schwindel erfasste Ben und er setzte sich erneut auf den kühlen Boden. Ich war in der Hütte und dann – der Traum. Ich bin in die Tiefe gestürzt. Habe ich wirklich derartig die Kontrolle verloren? Dass mir mein Unterbewusstsein vorgaukeln konnte, mein Traum würde wahr?

»Ben?« Liz klang vorsichtig. Ungemein vorsichtig.

Misstrauisch blickte Ben sie an.

»Hast du dich schon einmal umgesehen?«, fragte Liz, obwohl die Antwort eindeutig war.

Ben schwieg und folgte der indirekten Aufforderung seiner Freundin.

Sie befanden sich auf einer fast völlig ebenen Wiese – nein, vielmehr einem Meer von Gras, das sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Gelbe, weiße und lilafarbene Blüten lugten zwischen den wild wuchernden kräftigen Halmen hervor. Dichte Moosflechten überwuchsen vereinzelte Gesteinsbrocken, die hier und da auf dem Boden ruhten, als habe sie dort jemand vergessen. Ebenso verloren wirkten die wenigen Bäume, allesamt niedrig und weit verästelt, mit länglichen, stockförmigen Auswüchsen, die Ben anhand ihrer grünen Färbung als Blätter identifizierte. Sie standen in der Eintönigkeit der Landschaft wie Wanderer, die ihr Ziel schon lange aus den Augen verloren und sich resigniert niedergelassen hatten.

Zu seiner Rechten sah Ben eine Ruine. Dies musste früher einmal ein großes, stolzes Gebäude gewesen sein. Oder gar mehrere? Doch von der alten Pracht war kaum noch etwas erhalten. Nur die weißen Steine, zwischen denen vereinzelt riesige Brocken aus schwarzem Granit lagen, türmten sich hier und da noch immer majestätisch auf, als wollten sie sich der Zerstörung nicht ergeben und stur ihren Platz behaupten. An vielen Stellen überzog eine dunkle Rußschicht die Steine, vermutlich Spuren eines verheerenden Brandes.

Dieser alleine konnte jedoch nicht eine derartige Zerstörung angerichtet haben. Inmitten der für eine Ruine so typischen Überreste zeichneten sich Vertiefungen ab, Krater beinahe, soweit Ben es aus seiner Perspektive sehen konnte. Und zerborstenes Gestein zeigte klaffende Wunden und gezackte Kanten, die nur teilweise von der Verwitterung weichgezeichnet worden waren. Es sah aus wie die Hinterlassenschaft gewaltiger und wütender Fäuste. Unwillkürlich fragte sich Ben, was hier geschehen sein mochte. Doch diese Überlegung geriet schnell wieder in den Hintergrund, als eine erschreckende Erkenntnis in ihm aufstieg: Wo auch immer sie sich befinden mochten – die Hütte konnte noch nicht einmal in ihrer Nähe sein, denn ein Wald war weit und breit nicht zu erkennen.

»Wo sind wir?«, gab Ben seiner Verwirrung Ausdruck. Ein ebenso zwingender wie rätselhafter Verdacht drängte sich auf. »War ich so lange ohnmächtig? Habt ihr mich hierhergeschleppt? Und … warum? Das ist … Warum?«

Arne blickte ihn auf eine schwer einzuordnende Art und Weise an, die ihm einen kalten Schauer der Vorahnung über den Rücken jagte. »Wir haben nichts damit zu tun«, erklärte der junge Mann schließlich, und seine innere Anspannung war nicht zu übersehen.

»Wir hatten gehofft, du könntest uns sagen, wo wir sind«, ergänzte Liz und blickte Arne hilfesuchend an – was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

»Wie sollte ich das wissen?« Ben deutete auf sich selbst und ignorierte jede Implikation, die Liz’ Frage in sich tragen könnte. »Ohnmächtig bis gerade eben. Schon vergessen? Und es kann ja wohl kaum sein, dass keiner von uns weiß, wie wir hierhergekommen sind.«

»Wir sind in die Hütte gegangen«, ergriff Arne wieder das Wort. »Dort war es ziemlich dunkel, man konnte kaum etwas erkennen. Aber das weißt du ja selber. Da waren ein Tisch und Stühle und auf einmal hatte ich das Gefühl, zu fallen.«

Ein eisiger Schauer ergriff Ben. Angestrengt kämpfte er die plötzlich aufwallende Panik nieder und konzentrierte sich stattdessen auf Arnes Stimme und Worte.

»Liz und ich müssen genau wie du das Bewusstsein verloren haben. Als wir wieder zu uns kamen, fanden wir uns hier an diesem Ort, beziehungsweise direkt in dieser Ruine wieder. Wir sind ein paar Schritte umhergelaufen und waren ziemlich ratlos, als wir auf einmal ein Poltern hörten. Daraufhin sind wir zurück in die Ruine gerannt und haben dich dort gefunden. Du lagst da, als seist du zu Boden gestürzt. Wir haben dich auf die Wiese geschleppt und den Rest der Geschichte kennst du.«

Während Ben zuhörte, begann er ernsthaft an der geistigen Gesundheit seines Freundes zu zweifeln – und an der seinen. Er musterte die Ruine erneut. War er tatsächlich gerade dabei, verrückt zu werden? Hatte sich der Schatten, der seit Tagen über seinem geistigen Zustand lag, nun doch in Irrsinn manifestiert?

Kurz entschlossen stand Ben auf und trat durch die Reste eines hohen Torbogens. Vor einem besonders großen Granitblock hielt er inne. Der Stein war so eben, dass Ben sich darin spiegelte. Ein gehetztes Gesicht blickte ihm entgegen. Schnell wand er sich ab und sah in der Bewegung noch, dass Liz und Arne sich ihm von hintern näherten.