Fjorgaar - Der rote Vogel

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Schließlich gab Ben frustriert auf und schaltete den Fernseher an, in der Hoffnung, eine interessante Sendung zu finden oder zumindest irgendeine, mit der er sich die Zeit vertreiben konnte. Als endlich die Sonne am Horizont ihre Rückkehr ankündigte, hatte Ben sich etliche Male durch alle Sender gezappt und hing inzwischen mehr in seinem Sessel, als dass er saß, zu träge, um den Sender erneut zu wechseln. So kam er in den Genuss einer Dauerwerbesendung, die ihn soeben voller Begeisterung von einem unglaublich praktischen und beeindruckend einzigartigen Topfset überzeugen wollte. Ben schielte in Richtung Uhr. Die Zeiger standen auf halb sieben. Montagmorgen. Ob er zu dieser Zeit schon bei Liz auftauchen konnte? Immerhin gehörte sie zu diesen unerträglichen Frühaufstehern. Ein kleines Lächeln stahl sich auf Bens Züge. Vermutlich wäre sie sogar schockiert über sein morgendliches Erscheinen, würde mit dem anstehenden Ende der Welt rechnen und … Das Lächeln verlor sich in missmutigem Stirnrunzeln. Und sie würde ihm nicht ein Wort glauben, wenn er ihr versicherte, gerade zufälligerweise in der Gegend gewesen zu sein. Klüger wäre es, noch mindestens zwei Stunden verstreichen zu lassen. Doch damit stieg die Gefahr, wieder einzuschlafen und seine Anstrengungen der vergangenen Nacht, eben das zu verhindern, wären zunichte. Zudem würde Liz ihn darauf ansprechen, dass er eigentlich eine Vorlesung habe und warum er nicht dort sei und so weiter und so fort. Und, gut, er würde heute ohnehin nicht zur Uni gehen, aber dafür rechtfertigen wollte er sich nun wirklich nicht.

Mit fast unmenschlicher Willensanstrengung kämpfte Ben sich aus dem Sessel ins Badezimmer, wo ihn eine eiskalte Dusche qualvoll und nur ungenügend von der Trägheit befreite. Zudem tat eine Tasse Kaffee, in der die dunkle Flüssigkeit ausnahmsweise deutlich überwog, ebenfalls nicht das Ihrige.

Ben konnte sich nicht des Gefühls erwehren, schon seit unerträglich langer Zeit nicht mehr wirklich wach gewesen zu sein, und er hasste es.

Kurze Zeit später war er weder dazu bereit, die Wohnung zu verlassen, noch dazu, sich in den frühen Morgen zu stürzen. Er ging dennoch los.

Liz wohnte nur wenige Gehminuten entfernt im Keller ihrer Eltern, wo sie sich eine kleine gemütliche Wohnung eingerichtet hatte – natürlich mit eigener Haustür. Die Tatsache, dass sie, wenn auch räumlich getrennt, noch immer bei ihren Eltern wohnte, behielt Liz möglichst für sich. Auch wenn sie die deutlichen Vorzüge dieser Situation nicht von der Hand weisen konnte. Ben hingegen sah kein Problem in ihrer Wohnsituation, vor allem auch deshalb, da er durch die geringe Entfernung nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war.

Als er nach einem Fußmarsch von zehn Minuten vor Liz’ Tür stand und klingelte, wurden all seine Erwartungen übertroffen. Einige Zeit passierte gar nichts, dann hörte Ben ein Rascheln hinter der Tür, gefolgt von lautem Poltern und einem unterdrückten Fluch. Die Tür öffnete sich und Liz blickte ihm mit verschlafenem Gesicht entgegen. Es war ihm tatsächlich gelungen, sie aus dem Bett zu klingeln. Ben war hin und her gerissen zwischen Schuldgefühl und Triumph. »Einen wunderschönen guten Morgen!«, grinste er ihr trotz seiner eigenen Müdigkeit in typischer Liz-Manier entgegen und erntete einen vernichtenden Blick.

Sie trat zur Seite und ließ ihn eintreten. »Setz dich hin und benimm dich«, befahl sie und verschwand im Badezimmer.

Ben machte es sich auf ihrem Sofa bequem, legte den Kopf auf die Rückenlehne und starrte an die Holzdecke. In den Astlöchern und Maserungen ließen sich allerlei seltsame Figuren erkennen. Arne hätte seine Freude daran gehabt.

Ben strich über den samtenen Stoff der Couch und genoss das leichte Kribbeln in seiner Handinnenfläche. Seufzend schloss er die Augen. Aus dem Badezimmer drang das Geräusch der Dusche zu ihm hinüber, ein gleichmäßiges Plätschern, unterbrochen von dem Poltern einer herunterfallenden Haarshampoo-Flasche. Zumindest vermutete er, dass es sich darum handelte. Er spürte, wie die Anspannung langsam aus seinem Körper wich. Das Plätschern des Wassers hörte sich plötzlich sehr fern an und seltsam dumpf. Und hinter seinen geschlossenen Augen bewegten sich Schatten und Formen wie vergessene Bilder ohne Dringlichkeit, ohne Sinn und –

Auf einmal schreckte Ben auf. Liz saß ihm gegenüber, beobachtete ihn mit undefinierbarem Blick.

»Was …?«, verwirrt griff er sich an den Kopf, blinzelte, runzelte die Stirn, »Habe ich etwa geschlafen?«

»Ja, das hast du.«

»Oh.« Verlegen rutschte Ben auf der Couch hin und her. »Lange?«

»Etwa zwei Stunden«, erwiderte Liz und starrte ihn noch immer an. »Ben? Erst tauchst du hier frühmorgens auf, was du noch nie zuvor getan hast. Dann schläfst du auf meiner Couch ein.« Sowohl ihr Blick als auch ihre Stimme stellten all die Fragen, die sie nicht ausgesprochen hatte. Eine Erklärung war eindeutig vonnöten.

Aber Ben war nicht hier, um Reden zu schwingen oder Geständnisse abzulegen. Und mit einem Mal wusste er nicht mehr, warum er überhaupt so verrückt gewesen war, seine Wohnung zu verlassen.

»Wann musst du heute zur Arbeit?«, fragte er schließlich, um die Stille zu brechen und in der heimlichen Hoffnung, dass die Antwort: »Jetzt gleich«, lauten würde.

»Gar nicht«, sagte Liz.

»Oh, gut.« Ben wich Liz’ Blick aus. »Trifft sich ja perfekt.«

»Allerdings«, sagte Liz. Mit einem Mal schien sie so kurz angebunden zu sein wie selten.

»Dann sollten wir unbedingt was machen«, schlug Ben mit einem Enthusiasmus vor, den er nicht empfand. »Worauf hast du Lust? Sag was, und wir machen es.«

Zu seiner ungemeinen Erleichterung nickte seine Freundin. Vielleicht würde sie ihn doch mit ungebetenen Fragen verschonen.

»Okay«, unterstrich Liz ihr Nicken. »Was ich machen möchte … Reden. Ich würde gerne wissen, was mit dir los ist.«

Vielleicht würde sie ihn auch nicht verschonen. Mit einem Mal konnte Ben ihren Blick nicht mehr ertragen. Wortlos stand er auf und ging in Richtung Küche. Er trat über die Türschwelle und hätte am liebsten die Tür hinter sich geschlossen. Betont ruhig öffnete er einen der Drehschränke und nahm eine Saftflasche heraus. Er holte ein Glas, goss sich Saft ein, nahm einen Schluck. All dies geschah mit langsamen, konzentrierten Bewegungen, die nichts weiter zeigen sollten als Gelassenheit.

Dann zwang er sich dazu, sich umzudrehen. Liz war ihm nicht gefolgt. Erleichtert setzte er das Glas an den Mund und verschluckte sich prompt. Als er endlich wieder zu Atem gekommen war, stand er über die Spüle gebeugt und stützte sich mit den Händen am Rand des Beckens ab.

»Du solltest darüber nachdenken, den Saft zu trinken, anstatt ihn einzuatmen«, schlug Liz vor. Sie war an Ben herangetreten, ohne dass er sie bemerkt hatte.

Er wandte sich zu ihr um, auch wenn er dies lieber nicht getan hätte. »Eine sehr gute Idee.« Mit einem gequälten Grinsen griff er erneut nach dem Glas, ohne jedoch einen Schluck zu nehmen.

Liz beobachtete ihn noch immer. »Und jetzt?«, fragte sie. »Kommst du wieder ins Wohnzimmer rüber oder willst du dich noch ein wenig in der Küche verstecken?«

Schnaubend, als entrüste er sich über eine unsinnige Anschuldigung, drückte Ben sich an ihr vorbei, ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel, in dem zuvor Liz gesessen hatte. Diese ließ sich auf der Couch nieder. Sie stellte ihm keine Fragen mehr, starrte ihn dafür jedoch schweigend und regungslos an – was die Sache kaum besser machte.

»Jetzt hör schon auf damit«, bat Ben sie schließlich. Er drehte das Glas, welches er noch immer nicht abgestellt hatte, unablässig zwischen seinen Händen. Auch wenn er wusste, dass er dadurch seine Unruhe klar zur Schau stellte, konnte er diese Handlung doch nicht unterlassen.

»Womit?« Liz’ Miene zeigte nicht die geringste Regung.

»Mach bitte keine große Sache daraus.«

»Du machst eine große Sache daraus, indem du nicht mit mir darüber reden willst. Ist es wegen deinem Großvater?«

Ben warf ihr einen sehr bösen Blick zu und schüttelte energisch den Kopf. Dann nippte er an seinem Saft. »Ich hatte eine schlechte Nacht, das ist alles.«

»Und das wolltest du mir nicht sagen?«

»Ich hatte einen unangenehmen Traum. Nichts weiter.«

»Und deshalb hast du letzte Nacht nicht geschlafen?«, fragte Liz, als sei sie schwer von Begriff.

»Ich hatte den Traum schon häufiger. Immer in leichten Variationen, aber grundsätzlich dasselbe«, gestand Ben ein.

»Und was träumst du?«

»Das ist doch egal.«

»Offensichtlich ist es das nicht, Ben. Immerhin hast du danach nicht mehr geschlafen.«

»Ja, das Thema hatten wir schon. Und jetzt lass uns überlegen, was wir heute machen wollen.«

Liz fixierte Ben. »Du weißt, was ich will«, stellte sie trocken fest.

»Einen kleinen Eisbär mit rosarotem Fell als Haustier?«, versuchte Ben, zu scherzen, entlockte seiner Freundin aber noch nicht einmal ein Schmunzeln.

»Ben! Ich werde nicht aufhören, dich zu nerven, bis du mir antwortest«, beharrte sie.

»Antworten worauf?«

Wären Liz’ Augen in der Lage gewesen, Gift zu versprühen, wäre Ben vermutlich auf der Stelle tot umgefallen. Sie presste ihren Mund zu einer schmalen Linie zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust – vermutlich, um sich selbst daran zu hindern, ihn zu erwürgen.

Seufzend fuhr sich Ben durch die Haare, dann ließ er die Hand wieder sinken. »Vielleicht sollte ich besser wieder gehen.«

Liz schwieg und starrte.

»Komm schon, ich hatte mich auf einen schönen Tag mit dir gefreut.«

Liz schwieg noch immer.

»Wir könnten doch schon mal wegen Frankreich planen.«

 

Schweigen.

Ben nahm wieder einen Schluck von seinem Saft. »Wie du meinst …« Er stand auf. »Dann sehen wir uns irgendwann die Tage wieder.«

Erst als er beinahe bei der Haustür angelangt war, ergriff Liz das Wort: »Wenn du jetzt gehst, braucht du nicht wiederzukommen.«

Ben drehte sich nicht zu ihr um, als er antwortete: »Oh, komm schon. Aus welchem Film hast du den Spruch?«

»Ich meine es ernst.«

Ben raufte sich die Haare. Er stand unverändert vor der Haustür, wagte es aber nicht, den letzten Schritt zu tun. »Mir ist es auch ernst, verdammt. Ich will nicht darüber reden. Ich will es einfach vergessen und nicht noch sinnlos breittreten«, sagte er mit unbeabsichtigter Ehrlichkeit.

»Natürlich willst du das«, stieß Liz zwischen den Zähnen hervor. »Du willst immer alles ignorieren und unterdrücken, was dich allzu sehr belasten könnte. Solange, bis du dann wieder explodierst.« Ben wollte widersprechen, doch Liz ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen. »Wenn dir wirklich etwas an unserer Freundschaft liegt, setzt du dich jetzt augenblicklich wieder hin und redest mit mir. Ohne herumzuzicken oder davonzurennen. Ich werde es mir nicht mehr länger mit ansehen, wie du alles in dich hineinfrisst. Also, entweder du bleibst und redest oder du verschwindest und kommst nicht wieder. Deine Entscheidung.«

Bens erster Reflex war, mit einem lauten Türknallen aus der Wohnung zu verschwinden. Doch der Unterton in Liz’ Stimme hielt ihn zurück. Sie klang ungemein ernst und entschlossen. Was, wenn Liz ihre Drohung tatsächlich wahr machen würde? Aber ihm die Freundschaft zu kündigen, ginge doch bestimmt zu weit. Das würde sie nicht wirklich tun? Nicht wahr?

Bens Hand lag bereits auf der Türklinke. Es wäre so einfach, zu gehen.

Mit einem lauten Aufstöhnen, das beinahe schon ein Knurren war, wandte er der Tür den Rücken zu und ging zurück zu Liz. Ben setzte sich wieder in den Sessel.

»Ich erzähle nur von dem Traum«, stellte er mit fester Stimme klar.

Liz zeigte weder Zustimmung noch Ablehnung. »Fang an«, sagte sie.

Also schilderte Ben mit möglichst wenigen Worten und ohne Ausschweifungen die typischen Bestandteile seiner Träume. Er erzählte von dem Vogel, dem Hexenhaus, dem Gefühl des Ertrinkens und dem Mann. Für einen kurzen Augenblick hatte Ben es in Betracht gezogen, zu lügen. Er könnte einen Albtraum erfinden, etwas Grusliges, aber dennoch durch und durch Harmloses, um Liz klarzumachen, wie unsinnig ihre Besorgnis war. Doch im gleichen Moment schalt er sich innerlich einen Idioten. Ein Traum blieb ein Traum. Warum sollte er sich deshalb Umstände machen? Reichte es nicht aus, dass Liz dem eine derartige Bedeutung zumaß?

Doch obwohl Ben seine Schilderung so sachlich und detailarm wie möglich hielt, geschah etwas Beunruhigendes: Er spürte Furcht und Unbehagen in sich aufsteigen, glaubte für einen Moment gar das unglückliche Gesicht des Mannes vor sich zu sehen. Diese Reaktion behielt er wohlweislich für sich.

Liz hörte ihm aufmerksam zu, während ihre dunklen Augen sich in die seinen bohrten. Als Ben am Ende seiner Schilderung angelangt war, verschränkte sie ihre Finger ineinander, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sie angestrengt nachdachte. Oder auch, wenn sie vorgab, angestrengt nachzudenken.

»Vielleicht hat das irgendetwas mit deiner Vergangenheit zu tun«, mutmaßte Liz. Doch dieser Gedanke war ihr eindeutig kein neuer.

Ben runzelte unwillig die Stirn. »Ja, vielleicht habe ich als Kind einen schlechten Film gesehen, den mein armes Unterbewusstsein noch immer nicht verarbeiten konnte«, erwiderte er möglichst spöttisch. Diesmal war er derjenige, der Liz nicht zu Wort kommen ließ. »Ich habe dir von dem Traum erzählt. Etwas, das ich definitiv nicht tun wollte. Das ist mehr als genug.«

»Und bei Weitem nicht alles«, warf Liz dazwischen.

»Und bei Weitem alles, über das ich jetzt sprechen werde.« Ben war entschlossen, diesmal nicht klein beizugeben. Es war sein verdammtes Recht, nicht über persönliche Dinge zu sprechen, wenn er dies nicht wollte. Außerdem gab es ohnehin nichts mehr zu erwähnen. Zumindest nichts von Belang. Nicht, dass die Träume von Belang gewesen wären. »Wir können ein anderes Mal weiterreden«, schlug er vor. Natürlich ohne dieses Angebot ernst zu meinen.

»Ein anderes Mal bedeutet bei dir: nie«, hielt Liz ihm vor.

Ben schüttelte entschlossen den Kopf. »Ein anderes Mal bedeutet genau das, was es aussagt.« Das tut es natürlich nicht. »Ich habe getan, was du wolltest. Jetzt kannst du auch mal auf mich Rücksicht nehmen.« Ben hielt kurz inne, atmete durch und versuchte sich an einer anderen Taktik. »Es fällt mir zu diesem Zeitpunkt einfach verdammt schwer, darüber zu reden«, sagte er und ignorierte, wie nahe er damit der Wahrheit tatsächlich kam.

Und zu seiner tiefgehenden Erleichterung gab Liz sich tatsächlich geschlagen. Vorerst, wie sie betonte. Damit konnte Ben leben, bot es doch ausreichend Zeit, sie auf andere Gedanken zu bringen. Solange er nicht noch einmal den Fehler beging, sich allzu verletzlich zu zeigen, würde dieses Thema schon bald vom Tisch sein.

Der Rest des Tages verlief erstaunlich angenehm. Inzwischen hatte Liz mit ihrer Tante gesprochen und deren Einladung angenommen. So verbrachten Ben und Liz einen Großteil der Zeit damit, Pläne zu schmieden und im Internet über ihr Reiseziel zu recherchieren. Die Stimmung war inzwischen wieder locker und ungezwungen.

Als es draußen langsam dunkel wurde, saßen sie noch immer zusammen. Liz schlug Ben vor, die Nacht bei ihr zu verbringen. Das hatte er bereits häufiger getan, und ihre Couch war nicht nur zum Sitzen bequem.

Liz begann sogar freiwillig, das Gäste-Kopfkissen zu beziehen – mit rosafarbener Herzchenbettwäsche. Natürlich konnte Ben sich eine entsprechende Bemerkung nicht verkneifen und durfte augenblicklich das Muster des Kissens aus nächster Nähe bewundern. Liz’ Wurf kam sehr gezielt und Bens Ausweichversuch scheiterte. Trotzdem griff er gelassen nach dem Kissen und deutete eine Verbeugung an.

»Vielen Dank, die Dame. Könnte ich wohl auch noch die Bettdecke bekommen?«

Liz schnaubte wütend. »Bezieh dir die Decke gefälligst selber.«

»Willst du mich damit in dein gemachtes Bett locken?«, grinste Ben sie an.

»Na sicher, genau das hatte ich vor.« Liz griff nun doch nach Decke und Bezug. Dabei kehrte sie Ben den Rücken zu.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Ben und trat von hinten an sie heran.

»Nein, nein, lass mal. Das kann ich von einem Mann nicht verlangen.« Liz bewegte sich zwei Schritte von Ben weg und nestelte dabei noch immer an den geschlossenen Knöpfen des Bezugs.

»Und das aus dem Mund einer jungen, emanzipierten Frau, die einen Mann lieber an den Füßen über eine Grube voll giftiger Schlangen hängen würde, als für ihn das Hausmütterchen zu spielen.«

»Ich bin eben gnädig gelaunt heute.«

»Na ,wenn das so ist; bei mir zu Hause sollte dringend mal wieder Staub gewischt werden und auch die Fenster könnten einen feuchten Lappen vertragen.«

»Träum weiter!«, fauchte Liz und nun flog auch die Bettdecke in seine Richtung, erreichte ihn allerdings nicht einmal annähernd. Dafür aber den Wohnzimmertisch und die darauf stehende Obstschale. Mit der freundlichen Bitte an Ben, das wieder in Ordnung zu bringen, verschwand Liz im Schlafzimmer. Die Tür fiel mit einem lauten Knall hinter ihr zu.

****

Das erste, das Ben wieder bewusst wahrnahm, war Liz’ erschrockenes Gesicht direkt vor dem seinen und ihre Hände auf seinen Schultern. Als er ihren Blick erwiderte, setzte sie sich neben ihn auf die Couch.

»Du hast im Schlaf geschrien«, teilte sie Ben mit.

»Oh, habe ich dich etwa geweckt? Das tut mir leid.«

Liz ging nicht auf seine Frage ein. Etwas anderes schien sie brennend zu interessieren. »Hattest du wieder den Traum?«

Ben konnte ein Schaudern nicht unterdrücken und ehe er sich versah, gestand er: »Ja.«

»Willst du darüber reden?«

»Nein!«

»Möchtest du wieder schlafen oder lieber nicht?«

»Leg dich ruhig wieder hin.«

»Das war keine Antwort auf meine Frage.«

»Liz, geh wieder ins Bett. Ich komme schon zurecht.« Wenn er ehrlich zu sich selbst war, fühlte er sich weitaus weniger sicher, als er nach außen hin den Anschein erwecken wollte.

Liz’ Blick nach zu urteilen, glaubte sie ihm kein Wort. Trotzdem drang sie überraschenderweise nicht weiter auf ihn ein, sondern verschwand wortlos in ihrem Schlafzimmer. Dieses Mal ließ sie die Tür offen.

****

»Liz, da stirbt gerade irgendwas«, stellte Ben fest.

»Ja, ja. Mach du dich nur darüber lustig. Dann stehst du schneller am Straßenrand als du dich umsehen kannst.«

Lachend ließ er sich in den Sitz zurückfallen und sah aus dem Fenster.

Ben, Liz und Arne saßen in Liz’ kleinem Auto, das tatsächlich klang, als läge es in den letzten Zügen. Liz und Arne saßen vorne, Ben hatte es sich auf der Rückbank bequem gemacht. Die drei steuerten auf ein Ziel zu, das nur Liz kannte. »Lasst euch überraschen«, hatte sie gesagt, als sie am Morgen mit dem spontanen Vorschlag aufgetaucht war.

Inzwischen hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und fuhren über eine schmale Landstraße. Bäume säumten die eine Seite und auf der anderen reihte sich Feld an Feld. Frischer Landduft lag in der Luft. Auf einem Feld hoppelte ein Hase und verschwand, als sich das Auto näherte, hakenschlagend in die andere Richtung.

Einige Minuten lang blickte Ben schweigend aus dem Fenster. Dann beugte er sich wieder nach vorne, die Arme auf die Vordersitze gestützt. »Willst du uns nicht doch sagen, wohin wir unterwegs sind?«

»Nein.«

»Komm schon.«

»Nein.«

»Liz.«

»Nein.«

»Lizzylein.«

»Denk nicht mal dran.«

Seufzend wand Ben sich an Arne. »Diese Frau ist …«

»Unglaublich?«, schlug Arne vor.

»Ja, das auch.«

Wenig später bogen sie in einen holprigen Feldweg ein und fuhren noch einige Meter, bevor Liz das Auto in einer kleinen Ausbuchtung parkte.

»Aussteigen«, wies sie ihre Mitfahrer an und schwang sich ins Freie. Arne folgte ihr etwas langsamer und klappte für Ben den Sitz nach vorne, damit auch er aussteigen konnte.

Liz ließ den beiden kaum Zeit, sich umzusehen, sondern steuerte sogleich zielsicher in Richtung des Waldes, der sich von links an den Feldweg drängte und den Anschein erweckte, als wolle er ihn bald schon vollkommen in Beschlag nehmen. In der anderen Richtung erkannte Ben die Konturen eines Bauernhofes, die im Schein der Sonne fremdartig leuchteten. Klein, aber deutlich zu erkennen. Doch ihm blieb kaum Zeit, dieses Phänomen zu bewundern, da Liz keine Anstalten machte, auf ihn zu warten und Arne ihr mit schnellen Schritten folgte. Bis die beiden auf einmal vom Wald verschluckt wurden. Nach ein paar Schritten erkannte Ben einen schmalen Weg, der sich durch das Dickicht des Waldes schlängelte. Nicht gerade seine Vorstellung eines schönen Ausflugs.

Nur widerwillig folgte Ben seinen Freunden.

Äste versperrten ihm den Weg, Brennnesseln und blutgierige Dornen versuchten an seine nackte Haut zu gelangen. Ben hätte schwören können, dass sich eine Ranke absichtlich um sein Fußgelenk geschlungen hatte, um ihn zu Fall zu bringen. Fluchend riss er sich frei und rief Liz und Arne zu, dass sie auf ihn warten sollten. Verlaufen wollte er sich hier auf keinen Fall. Und die Gefahr bestand bei diesem unmöglichen Pfad, der teilweise fast vollständig im Unterholz verschwand.

»Hat Hänsel Angst, den Weg nicht zu finden?«, rief Liz spöttisch zurück, während sie und Arne stehen blieben. Ein plötzlicher Schmerz an seinem Kopf ließ Ben die zynische Antwort vergessen. Ein Ast hatte sich in seinen Haaren verfangen und mit Sicherheit mindestens die Hälfte seines Schopfes freigelegt. Seine Flüche hätten den hartgesottensten Seemann erröten lassen.

»Brauchst du jetzt eine Perücke?«, empfing ihn Liz voller Mitgefühl.

Und frische Nahrung, neues Blut

Saug ich aus freier Welt.

Wie ist Natur so hold und gut,

die mich am Busen hält!

Mit übertrieben getragener Stimme sprach Arne die Verse. »Von Goethe«, fügte er hinzu und Liz nickte, als hätte sie das gewusst.

»Da vorne kommt gleich eine wunderschöne Lichtung«, erklärte sie mit einem verdächtig sonnigen Lächeln, unter dessen Oberfläche Ben ein Zögern erkannte, welches ihn augenblicklich in Alarm versetzte. Auch wenn er nicht genau wusste, warum.

 

»Hänsel fragt sich allerdings, ob du tatsächlich den Weg kennst«, merkte er an, und Arne nickte bestätigend neben ihm. »Gretel fragt sich das auch«, fügte der junge Mann hinzu und strich sich mit einem belustigten Augenzwinkern durch das schulterlange Haar.

Ein Seufzen von sich gebend, ging Liz weiter. »Ihr seid unmöglich«, rief sie über die Schulter, und Ben hatte ihr vorheriges Zögern schon fast wieder als Sinnestäuschung abgetan.

Aber dann fragte Liz, während sich die Freunde hintereinander durchs Unterholz kämpften: »Ben. Sag mal. Kannst du dich eigentlich noch daran erinnern, wie man dich und deinen Großvater gefunden hat?«

Und dies waren Worte, die er nicht hören wollte. Ben wich einem zurückschnellenden Ast aus, der gefährlich nah an seinem Auge vorbeischlug. »Warum?«, fragte er, doch er erkannte sogleich, dass er damit die Möglichkeit zu einer Diskussion eröffnete. Bevor Liz reagieren konnte, fügte er hinzu: »Das ist weder der Ort noch der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden.«

Aber natürlich ließ sich Liz so einfach nicht von dem Thema abbringen. »Gibt es denn je einen richtigen Zeitpunkt?«

Ben kämpfte das Aufwallen unwillkommener Emotionen nieder. Eine Notwenigkeit, die im Laufe der letzten Tage wieder und wieder aufgekommen war. Nach seinem Montag mit Liz, der so desaströs begonnen hatte, war Ben darum bemüht gewesen, wieder zur Normalität zurückzufinden. Die Labilität seiner frühen Kindheit lag in der Vergangenheit. Und ebenso sollte es möglichst schnell mit dieser neuen Episode geschehen. Das war zumindest der Plan. Die Umsetzung ließ zu Bens größtem Missfallen allerding zu wünschen übrig.

Und nun musste ihn Liz schon wieder auf eben das Thema stoßen, welches er unbedingt vergessen wollte.

Sie konnte nicht wissen, wie empfindlich er zurzeit tatsächlich war, rief sich Ben zu Bewusstsein. Und sie sollte es auch keinesfalls herausfinden. So versuchte er zu scherzen: »In achtzig Jahren werde ich bei Sonnenuntergang unter den zwei Linden stehen und dem Geheul eines Wolfsjungen lauschen. Dann kannst du mich gerne nochmal darauf ansprechen.« Nur schwer gelang es ihm, die Schärfe aus seiner Stimme zu nehmen. Liz’ Frage war nicht nur unwillkommen, sondern auch sinnlos. Denn sie wusste sehr wohl, dass er sich an nichts von dem erinnerte, was geschehen war, bevor er damals im Krankenhaus aufwachte.

»Halt. Bleibt mal kurz stehen«, meldete sich Arne von hinten zu Wort und fing zwei verwunderte Blicke auf. Er deutete zu einem Ast über ihren Köpfen. »Ein Rotkehlchen«, sagte er in dem offensichtlichen Bestreben, die Anspannung zwischen Ben und Liz zu lösen.

Jetzt entdeckte auch Ben den kleinen Vogel, der mit wachsamen Augen zu ihnen hinunterblickte, ohne jedoch die Flucht zu ergreifen.

»Süß«, flüsterte Liz wie das reinste Klischee einer jungen Frau, die sich einem kleinen, flauschigen, niedlichen Tier gegenüber sah, und auf einmal musste Ben laut lachen. Aufgeschreckt verschwand der Vogel mit wenigen Flügelschlägen zwischen dem Blätterdach des Waldes.

Liz blickte Ben vorwurfsvoll an. »Jetzt hast du ihn verscheucht.«

Dieser schüttelte in gespielter Entrüstung den Kopf. »Niemals«, sagte er und nahm die Ablenkung als willkommenes Geschenk an. »Vermutlich hat er vielmehr deine Gedanken gelesen und wollte nicht als Kuscheltier in einem kleinen Käfig enden.« Ben hob tadelnd den Zeigefinger. »Ein armes Tierchen. In einem Käfig. Und das von einer Naturschützerin.«

Liz verengte ihre Augen zu zwei schmalen Schlitzen, aber die nächsten Worte kamen wieder von Arne: »Wie wäre es, wenn wir weitergehen? Ich habe da etwas von einer Lichtung gehört. Und so schön und einladend es hier im Unterholz auch sein mag …«

Liz verpasste Ben einen Schlag gegen die Hüfte und lächelte Arne an. Ihre Liebenswürdigkeit kannte wie so häufig keine Grenzen. »Also weiter«, sagte sie. Und während Ben noch darüber brütete, dass der Schlag schwach ausgefallen und eigentlich vielmehr ein Tätscheln oder Streicheln gewesen war, setzte Liz sich wieder in Bewegung.

Schließlich zwischen den eng beieinander stehenden Bäumen hervorzutreten und sich auf einer freiliegenden Grasfläche wiederzufinden, war eine Erleichterung. Doch Ben konnte diese Empfindung nur für einen kurzen Moment genießen. Dann nahm er seine Umgebung in sich auf und ihm war, als würde sein Herz von einer eisigen Faust umschlossen. Wie angewurzelt blieb Ben am Ende des Pfades stehen und starrte auf den See, die Bäume am Rand des Ufers und … Und die kleine Hütte zur rechten Seite. Dies war die Landschaft aus seinen Träumen. Der Stoff seiner Albträume.

Liz und Arne hatten den See fast schon erreicht, als sie merkten, dass Ben ihnen nicht gefolgt war. Arne setzte an, etwas zu sagen. In dem Augenblick erwachte Ben aus seiner Starre und stürzte auf Liz zu. »Du!«

»Ja?« Ihr unschuldiger Blick hätte kleine Kinder töten können.

»Was soll das?« Für einen kurzen Moment fühlte Ben sich von einem Schwindelgefühl ergriffen. »Was. Soll. Das.« Wiederholte er und betonte jedes einzelne Wort, als wolle er es packen und Liz entgegenschleudern.

Seine Brust begann zu jucken und seine Schläfen pochten unangenehm.

Nun erklärte sich die Nervosität, die Liz zuvor unbeabsichtigt hatte durchscheinen lassen. Ben fixierte seine Freundin mit einem brennenden Blick und sie wich tatsächlich einen Schritt zurück.

»Komm schon, Ben«, sagte Liz. »Ich dachte mir, dir würde das hier vielleicht helfen.«

»Dachtest du das?«

»Außerdem hast du doch gesagt, du würdest dich an nichts mehr erinnern.«

»Woher weißt du von diesem Ort?« Bens Stimme drang dumpf und aus weiter Ferne zu ihm hindurch, während er sich in den Fängen einer unwillkommenen Erkenntnis fand. Was sich ihm in seinem Traum vollkommen entzogen hatte, stand ihm nun klar vor Augen: An diesem Ort hatte man ihn und seinen Großvater aufgefunden. Ben mochte sich noch immer nicht an dieses Ereignis erinnern und doch wusste er mit erschreckender Klarheit, dass es hier stattgefunden hatte. Nicht alle Details seiner Albträume konnten der Realität gänzlich fern sein. Eine logische und gänzlich unwillkommene Einsicht. Ben schob sie so weit von sich wie möglich. Und doch schnellte sein Blick in Richtung der Bäume am gegenüberliegenden Seeufer. Hatte er dort die Schemen eines roten Vogels gesehen? Im gleichen Augenblick, in dem dieser Gedanke durch seinen Kopf schoss, wurde ihm schon klar, wie lächerlich er sich aufführte. In einem Wald waren zumeist Vögel zu finden und manchmal sah man diese auch. So zum Beispiel Rotkehlchen. Deren Kehle mochte mehr orange denn rot sein. Aber welchen Unterschied machte das schon?

Erst wenige Sekunden waren vergangen, seit Ben auf Liz zugestürmt war, doch ihm erschien es wie eine halbe Ewigkeit. Er atmete ruhig und gleichmäßig, folgte den alten Anweisungen eines noch nicht gänzlich vergessenen Arztes. Vier Sekunden einatmen, die Luft sieben Sekunden halten, acht Sekunden wieder ausatmen. Und wiederholen. Nur langsam begann sich sein Herzschlag zu beruhigen.

Arne räusperte sich neben ihm. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er, als sei die Antwort nicht vollkommen offensichtlich.

»Die gute Liz hielt es für notwendig, mich in eine Situation zu bringen, in die ich nicht kommen wollte. Ansonsten ist alles in bester Ordnung. Könnte gar nicht perfekter sein.« Nun gab sich Ben keine Mühe mehr, die Wut in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Freiwillig wärst du niemals hierhergekommen.« Mit vor der Brust verschränkten Armen musterte sie Ben, die typische Sturheit in ihrem Blick. Sie schien sich gleichermaßen im Recht und im Unrecht zu fühlen. »Du musst diesen Schritt tun, um endlich mit deiner Vergangenheit abschließen zu können«, fügte sie hinzu.

»Und selbstverständlich ist all das deine Entscheidung und nicht meine«, presste Ben zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Diesmal ließ er Liz nicht zu Wort kommen. »Woher weißt du von diesem Ort?«, hakte er zum zweiten Mal nach, auch wenn die Antwort naheliegend war und er die Frage nutzte, um von der möglichen Wahrheit in Liz’ Feststellung abzulenken.