Fjorgaar - Der rote Vogel

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»Tatsächlich? Und was wäre das?«

Normalerweise hätte Ben nun in gespielter Entrüstung die Augen verdreht und nach einer hanebüchenen Ausrede gesucht, die ganz offensichtlich völliger Unsinn gewesen wäre. Liz hätte aus dieser Übertreibung gelesen, dass er sie nicht aus bösem Willen loswerden wollte, sondern einfach ein bisschen Zeit für sich brauchte. Dies war an sich nicht ungewöhnlich.

Jene Fassade schien Ben nun jedoch nicht errichten zu können. Die Anspannung in ihm stieg weiter an und seine Hand, die zuvor die Tasse gehalten hatte, begann zu zittern. Oder vielleicht hatte sie das auch schon die ganze Zeit getan.

»Ben …« Liz ließ nicht locker und sah aus, als erwarte sie eine Antwort.

Er wich einen Schritt vor ihr zurück. »Lass mich!«, brach es aus ihm hervor. Seine erzwungene Ruhe glitt ihm langsam aber sicher aus den Fingern.

Doch was andere vielleicht als Warnhinweis wahrgenommen hätten, so wie Ben es zwischen all den wirbelnden Emotionen tat, schien Liz nur weiter anzuspornen. Ihr Blick fand den am Boden liegenden Brief und sie ging in die Knie. »Was hat dir deine Mutter geschrieben?«, fragte sie. Ihre Hand bewegte sich dem Brief entgegen, und noch bevor Ben sich seines Handelns bewusst war, hatte er Liz unter den Achseln gepackt und zurück in eine stehende Position gezogen. Für einen kurzen Moment war sein Griff weder zurückhaltend noch vorsichtig, und er wollte Liz schütteln. Sie gab ein Geräusch des überraschten Protestes von sich. Bens zuvor so diffuse Wut loderte weiter auf, konzentrierte sich nun auf ihr neues Ziel und …

Stopp.

Ebenso plötzlich, wie er Liz gepackt hatte, gab Ben sie wieder frei. Er zuckte zurück, starrte seine Freundin an und sah nun auch Arne. Dessen große Gestalt erhob sich wie ein Schutzengel hinter Liz, während die Miene des jungen Mannes angespannte Vorsicht in sich hielt und auch den Hauch einer Drohung.

Als sei ich eine Gefahr für meine Freunde. So gerne Ben diesen Gedanken auch als lächerlich bezeichnet hätte, konnte er sich doch nicht gegen die Wahrheit sperren. Er war Liz körperlich angegangen. Worte der Entschuldigung lagen auf seiner Zunge, doch sie fanden keinen Weg ins Freie. Und während Ben sich seinen Freunden auf unangenehmste Art und Weise gegenüber fand, schien er innerlich zu zerfallen. Er wusste, wie irrational er sich verhielt. Wie übertrieben. Und warum reißt du dich nicht endlich zusammen? Was bist du? Ein großes Baby? Er spürte, wie sich seine Wut nach innen richtete und nach außen, tobend nach allem greifen wollte, was erreichbar war. Sind wir darüber nicht schon längst hinweggekommen? Aber warum sollte er sich überhaupt zusammenreißen? Warum musste er immer …

Warum hatte ihn sein Großvater belogen? Aber das ist noch nicht alles, nicht wahr? Du weißt …

Du warst schon immer ein Wrack. Schon als Kind. Kannst dich noch nicht einmal erinnern, warum. Warum, warum, warum. Wunderschönes Wort, nicht wahr?

Liz und Arne standen noch immer regungslos da, taten nichts weiter, als ihn anzusehen. Was es wohl war, das sie vor Augen hatten? Was glaubten sie zu erkennen oder nicht zu erkennen? Ben fühlte sich entblößt. Und als Liz schließlich dazu ansetzte, etwas zu sagen, ließ er sie nicht zu Wort kommen. »Geht bitte«, stieß er hervor.

Trotzdem wollte Liz sich ihm wieder nähern, wurde dieses Mal jedoch von Arne zurückgehalten. Eine stille Hand auf ihrer Schulter war ausreichend, ihre Bewegung in Richtung Ben zu unterbrechen. Und diese Tatsache alleine ließ eine erneute Welle aufwühlender Emotionen in ihm aufsteigen.

Liz gab zu schnell auf. Ließ ihn zu einfach alleine.

Und auch wenn Ben alleine sein und niemanden hören, niemanden sehen wollte, erschien ihm die plötzliche Kluft zwischen ihm und seinen Freunden wie ein schmerzhafter Stich in die Brust.

»Geht!«, wiederholte er. Diesmal mit deutlich lauterer Stimme. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Die Spannung in seinen Fingern mochte schmerzhaft sein, doch bot sie ihm einen Anker, an den er sich klammern konnte.

»Raus!«

Liz und Arne traten in nahezu perfektem Einklang einen Schritt zurück. Und war das nicht wunderschön?

Na los, lasst mich alleine. Was habt ihr hier schon zu suchen? Selbst mein Großvater wollte sich nicht mit meiner Anwesenheit quälen und mit meinen lästigen Fragen und diesen lästigen Lügen, die er mir immer wieder auftischen musste.

In einer fernen Ecke seines Geistes wusste Ben, wie unsinnig es war, seinem Großvater dessen Tod zum Vorwurf zu machen. Doch diese Stimme der Vernunft war allzu leise.

»Raus!«, stieß Ben erneut hervor, als sei dies das einzige Wort, das ihm verblieben war.

Und dieses Mal folgten seine Freunde der Aufforderung tatsächlich. Sie taten es langsam und zögerlich, und Liz verharrte im Flur vor der Wohnung als überlege sie, wieder hereinzukommen. Doch dann schloss sie die Tür mit einem sanften Klicken.

Das Geräusch füllte den Raum, obwohl es so leise war. Es hallte in Ben wider und verlor sich, bis nichts mehr zu hören war außer seinem hektischen Atem.

Ben ging zur Tür, die ihn nun stumm anzublicken schien. Und plötzlich, mit voller Wucht, trat er gegen sie. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Fuß. Er trat erneut zu.

Der Schmerz entflammte eine grimmige Zufriedenheit in Ben, die er noch nie zuvor empfunden hatte. Dann riss der letzte Faden seiner Selbstbeherrschung. Ben trat gegen die Tür und die Wand und gegen Möbel. Er schlug um sich, prügelte auf seine Zimmereinrichtung ein, als sähe er sich seinen schlimmsten Feinden gegenüber. Die Spannung in ihm entlud sich in einer gewalttätigen Explosion, angefeuert von all den greifbaren Emotionen wie Zorn und Verletzung und jenen Gefühlen, die tiefer verborgen waren.

Bücher fielen zu Boden, gefolgt von Zeitschriften und Stiften und Zimmerpflanzen und anderen Dingen. Eine Vase zersplitterte. Sie war ein Geschenk von Margaret gewesen. All diese wunderbaren Geschenke für deinen Sohn. Ist das nicht toll? Ben trat nach einer der größeren Scherben, seine Hände wiederholt zu Fäusten geballt, und dann verlor er gänzlich den Blick für das Geschehen. Es war, als senke sich Dunkelheit über seine Sinne.

Und Ben hörte Stimmen. Fern und unverständlich, wie von einem schweren Schleier gedämpft. Jemand weinte. Es war ein Geräusch, welches Ben verzweifelt auszuschließen versuchte. Doch selbst als er mit den Händen seine Ohren verschloss, durchdrang ihn das Schluchzen. Es war außerhalb und es war in ihm. »Lass mich in Ruhe!« Während er diese Worte eben erst seiner besten Freundin entgegengeschleudert hatte, fielen sie nun von seinen Lippen in die Dunkelheit hinein. Nur dass die Dunkelheit nicht mehr vollkommen war. Ben stand am Fuße eines Krankenbettes und darin lag ein verschwommener Schatten. Es war sein Großvater. Es musste sein Großvater sein. »Ben«, sagte der alte Mann mit bis zu diesem Moment vergessener Stimme. Hinter dem Bett hing ein schwerer Vorhang. Er bewegte sich sanft in einem Luftzug, den Ben nicht spüren konnte.

»Ben«, wiederholte der alte Mann. Die schattenhafte Kontur seiner Hand deutete in Richtung des Vorhangs. »Willst du es wissen, mein Junge?«

Bens Blick folgte der Geste und blieb in der Betrachtung tiefen Blaus und weichen Stoffes hängen. Es fühlte sich gut an und vertraut. Wie ein Geheimnis, das niemandem gehörte als einem selbst. Der Stoff ruhte unter seinen Fingerspitzen, auch wenn er ihn nicht berühren mochte.

»Willst du es wissen?«, fragte der Großvater. Er konnte nicht mehr als ein Traumbild sein. »Du verfluchst mich, weil ich dir die Wahrheit vorenthalten habe.«

Der Vorhang bewegte sich noch immer wie von Geisterhand. Dies war ein typisches Motiv aus Geschichten, die Furcht hervorrufen sollten. Geschichten, die Angst schürten und nährten und dies vollbrachten, indem der Vorhang nicht gelüftet wurde. Dies war die Furcht vor dem, was man erahnte und nicht vor dem, was man wusste. »All die grausigen Möglichkeiten, die im Stocken deines Atems lauern und in den dunklen Ecken deines Geistes«, flüsterte Ben wie zu sich selbst. »All die schweigsamen Dinge, die zwischen deinen Worten ausharren und die ihre Kraft aus dem schöpfen, was sie nicht sind.« Sie sind nicht greifbar.

Ben wusste, dass dieser Moment nichts weiter sein konnte als ein Traum, weshalb er sich die extravaganten Anwandlungen seiner Gedanken erlaubte.

»Willst du wissen, was ich dir vorenthalten habe?«, fragte der Großvater.

Dies war nur ein Traum, doch Bens Erfahrung mit Träumen war nicht die beste. Die Furcht, von der er eben noch so abstrakt gesprochen hatte, lastete schwer auf ihm. Und gleichermaßen erschien sie anders. Es war nicht der Vorhang, vor dem er Angst hatte, nicht das Geheimnis, welches hinter ihm lauern mochte. Oder vor ihm.

Weicher, blauer Stoff umschmeichelte Ben, hielt den Geruch von Alter und Frische gleichermaßen in sich. Es fühlte sich an wie die Umarmung einer vertrauten Erinnerung. Ben war in Sicherheit. Nichts würde ihm hier passieren. Und er lachte das schelmische Lachen eines kleinen Kindes, das aus seinem Versteck heraus die Welt der Erwachsenen beobachtet und sich unbesiegbar glaubt.

Ben fürchtete nicht das, was sich hinter dem Vorhang verbarg. Denn dies war er selbst. Er fürchtete den Blick auf die andere Seite.

»Willst du es wissen?«, fragte sein Großvater. »Ich kann dir nicht vorenthalten, was schon immer in dir lag«, sagte der alte Mann. »Und du wütest und schreist und kämpfst und dabei müsstest du nur deine Hand ausstrecken und deine Augen öffnen. Alle Antworten liegen in dir.«

Ben stand in der Umarmung des Vorhangs. Und er wartete und wartete und rührte sich nicht vom Fleck.

Die vorherige Dunkelheit umschloss ihn wieder. Sein Atem klang harsch in seinen Ohren, doch ansonsten war es still. Die Stimme seines Großvaters ertönte nicht erneut. Ben fühlte sich verlassen, auch wenn sein Großvater niemals wirklich bei ihm gewesen sein konnte. Er war schon lange tot und Ben träumte und auf einmal durchzuckte ein brennender Schmerz seine linke Hand.

 

Er riss die Augen auf und starrte auf die Scherbe, die blutrot aus seiner Handfläche ragte und seine Haut zu einem hässlichen Wulst zerrissen hatte. Auf der Scherbe war eine Blüte abgebildet, doch nur noch ein Bruchteil von ihr war erhalten. Margarets Geschenk. Ben erinnerte sich, wie er die Vase zerbrochen und nach den Überresten getreten hatte. Und dann …

Eine vorsichtige Berührung an seiner Schulter ließ Ben erschrocken herumfahren. Vor ihm stand Liz.

»Zweitschlüssel«, sagte sie mit einem reichlich misslungenen Lächeln und ließ besagten Gegenstand zwischen den Fingern baumeln. Ben blickte sie schweigend an.

»Wenn du willst, kann ich wieder gehen«, seufzte Liz und Ben überraschte sich selbst mit einem amüsierten Schnauben. Du bist nicht unbedingt gut darin, zu tun, was man dir sagt. Beinahe hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen, neckend und leicht, aber diese Form der Normalität trug einen seltsamen Beigeschmack mit sich.

Ben war Liz körperlich angegangen, hatte sie nahezu aus seiner Wohnung gedrängt, wenn auch dies nur mit Worten und Blicken. Doch sie war zurückgekommen, war offensichtlich um ihn besorgt. Und er sollte sich bei ihr entschuldigen.

Stille formte sich zwischen ihnen, bis Liz schließlich auf Bens Hand deutete. »Lass mal sehen«, sagte sie, und er folgte der Aufforderung.

Die Wunde war schmerzhaft, nun viel schlimmer sogar, da er sie wieder bewusst wahrnahm.

Liz legte ihre Finger vorsichtig unter die seinen. »Du standest ziemlich lange regungslos da«, sagte sie, während sie Bens Hand musterte.

»Tatsächlich?« Ben erinnerte sich an seinen Wutausbruch, erinnerte sich daran, wie er völlig die Kontrolle verloren hatte. Und dann musste der Unfall mit der Scherbe passiert sein. »Ich war in Gedanken«, log Ben. Zumindest fühlte es sich an, als würde er lügen. Was genau war passiert, nachdem er die Vase zerbrochen hatte? Ein unbehagliches Gefühl begleitete diese Frage, und Ben lenkte seine Gedanken wieder in eine andere Richtung.

»Kannst du den Splitter herausziehen?«, fragte er und widerstand dem Drang, seine Hand schützend hinter seinem Rücken zu verbergen.

»Die Frage ist vielmehr, ob ich es tun sollte.« Liz legte ihren Daumen auf Bens Finger, so dass sie seine Hand nun in einem vorsichtigen Griff hielt. »Ich will es nicht versehentlich schlimmer machen«, stellte sie fest.

Und war dies nicht ein Satz, den sie häufiger für sich verwenden könnte? Ben entzog ihr seine Hand und trat einen Schritt zurück.

»Was hast du vor?«, fragte sie sofort.

»So schön es auch sein mag, einen Glassplitter aus der Handfläche ragen zu haben …«

»Ben …«

Er ignorierte ihren Einwurf. »Irgendjemand muss das Ding entfernen und ich werde es bestimmt nicht selbst tun.« Ungebeten entfaltete sich das Bild von Liz’ umweltschützendem Superman vor Bens Augen. Der Kerl mochte gesichtslos sein, hatte jedoch die Ausstrahlung ungemeiner Attraktivität und vor allem Heldenhaftigkeit, während er eine klaffende Wunde in seiner sonst perfekten Haut zunähte. Selbstverständlich tat er dies mit einer stumpfen Nadel.

Ben schüttelte den Kopf und vertrieb die Vorstellung, die in einen schlechten Actionfilm gehörte. Nicht in seine Fantasie und schon gar nicht in die Realität.

»Ich gehe zum Arzt«, sagte er und machte sich daran, zu gehen.

Liz folgte ihm nicht nur, sondern war vor ihm an der Tür. »Ich komme mit.«

Während Ben ihr nachkam, war er sich nicht sicher, was genau er empfinden sollte. Auf jeden Fall schien ihm Liz sein vorheriges Verhalten vergeben zu haben, auch wenn er sich nicht entschuldigt hatte. Ich sollte es dennoch tun, dachte er und wollte an sich nur vergessen, was geschehen war, und am besten nie darüber sprechen.

****

Liz davon abzuhalten, ihn nach dem Arztbesuch wieder nach Hause zu begleiten, wäre Ben vermutlich kaum möglich gewesen. Aber er wollte, wenn er ehrlich war, auch erst gar nicht den Versuch unternehmen.

So, wie der akute Schmerz in seiner Hand einem langsamen, dumpfen Pochen gewichen war, schien auch seine vorherige Aufgebrachtheit in die Ferne gerückt zu sein. Ben war sich absolut sicher, keine Beruhigungstablette zu sich genommen zu haben, doch er fühlte sich, als hätte er es getan.

Und das war in Ordnung. Sein momentaner Zustand erschien ihm sehr viel angenehmer als das Bedürfnis, seine Wohnungseinrichtung in Kleinteile zu zerlegen. Wenn nur nicht die Müdigkeit gewesen wäre, die nun an ihm zerrte.

»Hey«, sagte Liz aus dem Nichts heraus und gab Bens Schulter einen Stoß mit der ihren. Sie stand schon seit geraumer Zeit neben ihm inmitten seines Wohnzimmers, wurde ihm auf einmal bewusst. Ben musste in Gedanken versunken gewesen sein. Was seltsam war, denn er konnte sich an keine spezifischen Gedankengänge erinnern.

»Wenn du willst, kannst du ihn lesen«, hörte Ben sich selbst sagen.

Liz fragte nicht, ob er von dem Brief spreche. »Bist du dir sicher?«, hakte sie stattdessen nach, als sei dies die Frage mit einer weniger offensichtlichen Antwort.

Klar. Warum auch nicht. Die Worte lagen auf Bens Zunge. Ebenso wie: Nein, ich bin mir nicht sicher. Keine Ahnung, warum ich es dir überhaupt angeboten habe.

»Lies ihn«, sagte er schließlich. »Aber ich werde nicht darüber sprechen.« Bitte belasse es dabei.

Liz schürzte die Lippen. »Irgendwann wirst du darüber reden müssen.«

»Oder du kannst auch einfach wieder gehen.« Ben gab seine ohnehin grundlose Position in der Mitte des Wohnzimmers auf, stieg über die Scherben der Vase hinweg und ließ sich auf das Sofa fallen. Seine Wortwahl hätte eine Drohung oder eine Anschuldigung in sich tragen können, doch, ehrlich gesagt, wusste er selbst nicht, was er hatte ausdrücken wollen. Mit einem Zucken seines Mundwinkels gab er Liz ein vorsichtiges Lächeln.

Und sie bückte sich wortlos nach dem Brief und hob ihn auf.

Ben legte den Kopf auf die Rückenlege des Sofas. Er schloss die Augen. Müdigkeit hielt ihn unverändert umschlossen, doch er glitt nicht in einen kurzen Schlaf hinüber. Stattdessen erschien die Gestalt seines Großvaters vor seinem inneren Auge.

Abgemagert war der alte Mann kurz vor seinem Tod gewesen. Alt und zerbrechlich, die Haut wie dünnes Pergament. Der Geist immer wirrer und die Augen verschleiert vom Grauen Star, hatte er Tag um Tag im Krankenbett gelegen.

Manchmal hatte er seinen Enkel erkannt, manchmal nicht und der leere Blick des Großvaters war Ben unerträglich gewesen.

Niemand hatte damals die ausschlaggebende Ursache für das Sterben des alten Mannes benennen können. Es hatte keine zugrunde liegende Krankheit gegeben. Vielmehr hatte sein Körper den Anschein erweckt, als altere er mit unnatürlicher Geschwindigkeit.

»Ich will nicht, dass du stirbst«, hatte Ben seinem Großvater einmal gesagt. »Ich hasse dich!«, hatte er ihm ein anderes Mal entgege geschleudert.

Letztendlich hatte niemand, schon gar nicht Ben, das Unvermeidliche abwenden können. An einem Abend hatte sein Großvater nur noch mit starrem Blick, mit rasselndem Atem und dem Keuchen einer zerstörten Lunge dagelegen. Am darauffolgenden Tag war er tot gewesen.

Auch als das Sofa unter dem Gewicht eines zweiten Körpers nachgab, hielt Ben seine Augen weiterhin geschlossen.

»Ich bin fertig«, hörte er Liz’ Stimme neben sich.

»Ich auch.«

In seinem Wortspiel klang offensichtlich kein Amüsement mit und Liz’ Antwort ließ untypischerweise einige Zeit auf sich warten. Ben spürte die Unruhe seiner Freundin in den leichten Bewegungen der Sofasitzfläche.

»Soll ich bleiben, oder wärst du lieber alleine?«, fragte sie schließlich.

»Ja.«

»… was –«

»Alleine klingt gut«, stellte Ben klar. Auch wenn er sich nicht gänzlich sicher war, ob diese Antwort der Wahrheit entsprach.

Vielleicht würde er sich nun einfach hinlegen und versuchen, etwas Schlaf zu finden.

****

Bevor Ben zu Bett ging, legte er sich aus einem plötzlichen Impuls heraus das Amulett um den Hals. Es hat meinem Vater gehört.

Wenige Momente später versuchte er, es wieder abzunehmen, aber der Verschluss rutschte immer wieder aus dem Griff seiner Finger. Ben fluchte lauthals, riss an der Kette und fluchte erneut, als sie in die empfindliche Haut seines Halses schnitt. Tief einatmend zwang er sich zur Ruhe, widmete sich noch einmal dem Verschluss. Und auch als in ihm das irrationale Gefühl, ersticken zu müssen, aufstieg, zwang er sich dazu, nicht schon wieder die Kontrolle zu verlieren. Letztendlich dauerte es nicht lange, bis Ben Erfolg hatte und das Amulett mitsamt Kette zu Boden fiel. Er bückte sich danach, nahm es in die Hand und hielt inne. Mit dem Daumen strich er über das Blau des gemalten Kreises und über den gleichfarbigen Edelstein, spürte den Widerstand und die minimalen Übergänge von glatt zu uneben und wieder zurück zu glatt.

Ben blieb in der Hocke, bis seine Beine zu schmerzen anfingen. Dann stand er auf und legte sich das Amulett wieder an. Und mit dem ungewohnten Gewicht um den Hals ging er zu Bett.

****

Erneut fand Ben sich am Ufer des silbern schimmernden Sees wieder, blickte auf die Bäume und spürte den Wind auf seiner Haut. Auch der Vogel war da. Doch diesmal saß der direkt vor Bens Füßen und blickte mit schräg gehaltenem Kopf aufmerksam zu ihm auf. Tiefschwarze Augen blitzten aus dem roten Gefieder. In ihnen lag ein Schimmer, der der unwirklichen Oberfläche des Sees glich. Der schmale, filigrane Schnabel des Tieres krümmte sich in einem schwungvollen Bogen nach unten. Am auffälligsten jedoch war der weiße Fleck auf seinem Kopf, dessen scheinbar willkürlich ausgebildete Form in Ben an einem Gefühl rührte, das er nicht zuzuordnen wusste.

Gebannt betrachtete Ben den Vogel, der ihm fremd und vertraut zugleich erschien. Und als er sich vorsichtig zu ihm hinunterbeugte, schoss dieser mit einem lauten Kreischen in die Luft, verschwand mit schnellen Flügelschlägen hinter den Baumwipfeln. Vor Schreck war Ben einen Schritt zurückgewichen und dabei mit der Ferse an einer hervorstehenden Wurzel hängen geblieben. Mit den Armen rudernd, versuchte er sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, doch die Schwerkraft gewann.

Mit dumpfem Knall landete Ben auf dem Boden. Der Aufprall drückte ihm jäh den Atem aus der Lunge und ließ ihn keuchend nach Luft schnappen. Dabei fiel sein Blick auf ein kleines Gebäude zu seiner Rechten, das etwas entfernt auf einer Lichtung stand. Es erinnerte verblüffend an ein altes Hexenhaus, wie es in Märchen beschrieben wird, und hätte jedem Geschichtenerzähler zweifellos Freude bereitet. Das Gefühl, etwas Entscheidendes vergessen zu haben, nagte an Ben.

Er rappelte sich auf und ging in Richtung des Häuschens. Doch mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer, sich fortzubewegen. Verbissen kämpfte er gegen eine unsichtbare Wand, die ihn immer stärker zurückdrängte, seinen Körper lähmte. Bald schon bewegte Ben sich nur noch in Zeitlupe voran, im Nacken das Gefühl einer zunehmenden Bedrohung. Verzweifelt versuchte er seine Glieder wieder unter Kontrolle zu bekommen, musste jedoch zu seinem Entsetzen feststellen, dass er mit diesen Bemühungen genau das Gegenteil erreichte. Je intensiver er sich anstrengte, desto langsamer schien er sich zu bewegen. Höhnisch und lockend zugleich blickte ihm das Hexenhaus entgegen. In einer letzten, verzweifelten Anstrengung warf er sich mit dem gesamten Gewicht seines Körpers in Richtung des Hauses, als auf einmal der Boden unter seinen Füßen verschwand. So plötzlich stürzte Ben ins Nichts, dass ihm der Schrei im Hals stecken blieb.

Er wusste nicht zu sagen, ob er fiel oder schwebte, wusste nicht, wo oben war und unten. Es herrschte Finsternis, undurchdringlich und absolut. Er tastete um sich, ohne Halt zu finden, lauschte und hörte noch nicht einmal sich selbst. Nur eines wusste er mit instinktiver Sicherheit: Er war nicht alleine. Ben spürte die Gefahr wie eine kühle Berührung auf seiner Haut. Eine alles beherrschende Bedrohung, die ihn bis ins Innerste erschauern ließ. Sein Atem ging schnell und flach, das Herz hämmerte, als wolle es aus seiner Brust springen.

Dann sah er auf einmal etwas: Das verzweifelte Gesicht eines Mannes. In den Augen einen Ausdruck unbeschreiblicher Trauer starrte er Ben an und zugleich durch ihn hindurch. Höhnisches Gelächter brach die Stille und das Gesicht des Mannes zerfiel zu Staub. Entsetzt wollte Ben dorthin eilen, wo der andere eben noch gewesen war, doch unsichtbare Hände griffen brutal nach ihm und zogen ihn nach unten.

 

Ben schlug um sich, wollte schreien und brachte keinen Ton hervor. Erbarmungslos dröhnte das Gelächter in seinem Kopf. Ungekannte Angst und Hoffnungslosigkeit ergriffen Ben, zerrissen ihm die Seele. Völlig unkontrolliert liefen Tränen über sein Gesicht. Lautes Schluchzen mischte sich mit dem Lachen zu einer schrecklichen Symphonie.

Und auf einmal war es still. Sehr still. Die Hände gaben Ben frei. Er fiel. Haltlos und blind raste er in die Tiefe. Immer weiter und weiter, und die Finsternis um ihn herum wurde zunehmend kühler. Beklemmende Feuchtigkeit legte sich auf seine Haut, hinterließ einen ekelhaft fauligen Geschmack auf seiner Zunge. Und auf einmal umgab ihn Wasser. Sehen konnte er es nicht, aber spüren. In einem erschütterten Keuchen öffnete Ben den Mund und schnappte nach Luft. Eisige Wogen drangen in seine Lunge, schmerzhaft, endgültig. »Gleich habe ich dich«, flüsterte es an Bens Ohr und ein brennend heißer Finger drückte sich schmerzhaft auf seine Brust.

****

Schweißgebadet schreckte Ben hoch und wäre in einem panischen Aufbäumen beinahe aus dem Bett gefallen. Es dauerte einige Sekunden, bis er erkannte, wo er war und erleichtert aufatmete. Nur ein Traum. Es war nur ein Traum gewesen. Wenn auch sehr intensiv und erschreckend real. Er fuhr sich mit der Hand über die Wange. Sie war tränennass.

Erschöpft ließ sich Ben auf die Matratze zurückfallen. Dem schwachen Lichtschein hinter den Rollladen zu urteilen, war es bereits Morgen – zum Glück. Ben hatte nicht das geringste Bedürfnis, jetzt noch einmal einzuschlafen. Faszinierend. Ein kleiner Albtraum und schon stehe ich freiwillig auf.

Seine ersten Schritte führten ihn ins Badezimmer, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, das unerbittlich seinen Weg über die Brust zum Bauch hinunter suchte. Unangenehm, aber durchaus effektiv. Beim Blick in den Spiegel entdeckte er etwas Seltsames auf seiner Brust: eine kreisrunde Rötung. Genau dort hatte ihn der Finger in seinem Traum berührt. Ben erschauderte. Unwillkürlich spürte er wieder den Druck auf seiner Haut und mit ihm ein erneutes Aufflammen der Furcht. Eine unsinnige und lästige Reaktion. Ben schüttelte den Kopf, schob das Unbehagen von sich und rief sich selbst zur Vernunft. Vergiss den Traum. Und was die Rötung angeht – das war ein Moskito oder sowas Ähnliches. Damit trocknete er sich ab und schlüpfte in seine Kleidung.

Den morgendlichen Kaffee in der Hand rief Ben bei Arne an. Sie redeten über nichts im Bestimmten, schon gar nicht über den vergangenen Tag. Worte einer Entschuldigung brachte Ben nicht über die Lippen, denn diese schienen alleine in seinem Geist schon so Vieles mit sich zu bringen, das er nicht genauer betrachten wollte. Trotzdem schien Arne zumindest einen Teil dessen, was nicht ausgesprochen wurde, zu hören. Zwischen dem Beginn des Telefonats und dem Ende gewann die Unterhaltung deutlich an Leichtigkeit, und als Ben das Telefon schließlich wieder auf die Ladestation zurückstellte, lächelte er. Er wusste nicht, ob Liz inzwischen mit Arne gesprochen hatte, ob dieser vielleicht sogar den Inhalt des Briefes kannte. Und er wollte es auch gar nicht wissen.

Ben würde sich nicht länger mit dem gestrigen Tag beschäftigen. Er würde die Albträume hinter sich lassen, und um den seltsamen Wunsch seines Großvaters konnte er sich irgendwann später kümmern. Wenn überhaupt.

An diesem Abend ging er zuversichtlich ins Bett. Bald schon würde er sich an diesen unliebsamen Zwischenfall nur noch mit einem müden Lächeln erinnern.

****

Wieder sah Ben das Gesicht des Mannes und er war hilflos gegen den Drang, dessen Züge zu mustern und jedes Detail in sich aufzunehmen. Freundliche blaue Augen, umgeben von zahlreichen Lachfältchen, eine unglaublich gerade Nase, schmale Lippen und ein kräftiges Kinn formten das Antlitz eines selbstbewussten, sympathischen Mannes mittleren Alters. Er wirkte auf seltsame Art und Weise vertraut. Fremd und doch wieder nicht. Mit dem Gefühl großer Nähe streckte Ben die Hand aus, um ihn zu berühren. Er spürte Nässe. Warm und klebrig. Blut. Es war überall. Entsetzt starrte Ben auf seine roten Finger.

Und plötzlich stürzte er wieder, um sich herum Wasser und den quälenden Druck des Ertrinkens. Ben schloss die Augen, obwohl er sowieso nichts sehen konnte, kämpfte angestrengt gegen den Drang an, nach Luft zu schnappen. Er hielt durch bis zu dem Punkt, an dem glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, und darüber hinaus. Immer noch einen Moment, und noch einen danach. Sein Körper schrie nach Sauerstoff, der Kopf dröhnte und das Blut rauschte unerträglich laut in seinen Ohren.

Und schließlich konnte er einfach nicht mehr anders. Ben öffnete den Mund, sog gierig Luft in seine Lunge, bis sie beinahe platzte. Er atmete und keuchte und atmete und …

Langsam nur wurde ihm klar, dass er nicht ertrunken war, dass ihn noch nicht einmal mehr Wasser umgab.

Zögernd öffnete Ben ein Auge und fand sich in seinem Bett wieder. Der Mond schien durch das Fenster und tauchte das Zimmer in ein beinahe höhnisch sanftes Licht.

****

Wenig später, es war noch immer tiefste Nacht, saß Ben auf dem Boden seines Zimmers und war konzentriert mit dem Schreiben einer Facharbeit beschäftigt. Eine freiwillige Betätigung, die sein Dozent zwar angeregt, nicht aber gefordert hatte. Eigentlich zählte sich Ben keineswegs zu denjenigen, die einen Großteil ihrer Energie darauf verwendeten, sich bei den Lehrkräften beliebt zu machen oder danach strebten, der Beste unter den Besten zu sein. Ebenso wenig gehörte er zu jenen, die überhaupt ein nennenswertes Interesse an ihrem Studium zeigten. Ben war schon immer ausgesprochen gut im Lösen mathematischer Probleme gewesen und für jeden, der ihn kannte, hatte es außer Frage gestanden, für welche akademische Karriere er sich entscheiden würde. Und tatsächlich hatte Ben auch nicht einen Moment lang gezögert, sich für ein Mathematikstudium einzuschreiben. Was sonst hätte er tun sollen? Es war der nächste logische Schritt in seinem Leben.

Bestimmt würde es ihn irgendwann auch weniger Überwindung kosten, die Vorlesungen aufzusuchen, sich auf Prüfungen vorzubereiten und Hausarbeiten zu schreiben. Dieser Tag war definitiv noch nicht gekommen, auch wenn der Anschein ein anderer sein mochte. Ben brauchte schlichtweg eine Möglichkeit, sich abzulenken.

Um ihn herum lagen etliche geschlossene, teilweise auch aufgeschlagene und achtlos zur Seite gelegte Bücher, die er sich in einem spontanen Entschluss aus der Stadtbibliothek geholt hatte. Dazwischen lugte das eine oder andere Blatt Papier hervor. Zerknüllte, mehr oder weniger beschriebene Zettel zierten das Chaos, als wären sie soeben aus den Wolken gefallen. Dass sie jedoch nicht von dort, sondern aus Bens Hand kamen, bewies sich in diesem Augenblick, als ein neues Papierknäul seinen Platz zwischen den Büchern fand. Verärgert griff Ben nach einem leeren Blatt. So sehr er sich auch anstrengte, voranzukommen, gelang es ihm doch noch nicht einmal, eine halbwegs vernünftige These zu formulieren. Alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Immer wieder verschwammen Wörter, Formeln und Zahlen vor seinen Augen und vermischten sich zu einem unkenntlichen Wirrwarr, das mit dem Chaos in seinem Zimmer beinahe gleichzusetzen war. Gähnend griff Ben erneut mit der rechten, unverletzten Hand nach seinem Kuli und startete einen erneuten Versuch. Doch wieder entzogen die Zahlen sich ihm und vergingen sich in unsinnigen Possen und Narreteien.