Fjorgaar - Der rote Vogel

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»Deine Post«, erklärte Liz wie selbstverständlich und Ben runzelte die Stirn.

»Aha. Und warum ist die nicht in meinem Briefkasten?«

»Ist mir zugeflogen. Was denkst du denn?«

»Ich denke, dass meine Brieftaube nicht sehr zuverlässig ist, wenn sie jedem x-Beliebigen meine Post gibt.«

»Bin ich etwa jede x-Beliebige?«, empörte sich Liz.

»Für den Postboten schon.«

»Ich sehe aber vertrauenswürdig aus!«

»Äußerlichkeiten können täuschen.«

In dem Moment räusperte sich Arne klar vernehmlich und unterbrach Liz, noch bevor sie zu einer gepfefferten Antwort ansetzen konnte. Auch Ben folgte der unausgesprochenen Aufforderung seines Freundes. »Okay, okay. Also. Wie wär’s mit einem Stück leckeren Kuchen?«, schlug er vor und versuchte dabei, versöhnlich und nicht etwa spöttisch zu klingen.

Liz schnaubte und warf ihr langes braunes Haar mit einer ruckartigen Kopfbewegung über die Schulter. »Du weißt doch noch gar nicht, wie er schmeckt«, grollte sie. »Außerdem will ich jetzt lieber in den Park gehen. Das Wetter ist viel zu schade, um den ganzen Tag drinnen herumzusitzen.«

»Ich sitze aber gerne drinnen rum«, beeilte Ben sich, klarzustellen »Außerdem …« Aber noch bevor er auf seine Sonderrechte als Geburtstagskind pochen konnte, unterbrach ihn Liz, wie sie es so häufig tat.

»Interessiert keinen. Wir gehen raus und du kommst mit. Arne?«

Der Angesprochene nahm einen letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse und enttarnte sich als hinterhältiger Verräter, indem er mit den Schultern zuckte.

Dann sprach er mit andächtiger Stimme:

Die Sonne lacht

Zu dir hinunter.

Auf dich herab.

Gib Acht, mein Kind. Gib Acht.

Es war ein Vers, der ihm vermutlich soeben erst in den Sinn gekommen war.

Ben räusperte sich. »Arne?«

»Hm?«

»Muss man das verstehen?«

»Du musst gar nichts im Leben.«

****

Ben kniff die Augen zusammen und blickte einem unangenehm großen Schäferhund hinterher, der, wie es schien, unbeaufsichtigt umhertollte. Bis zum Glück doch ein scharfer Ruf ertönte und das Tier mit beeindruckender Geschwindigkeit in der Ferne hinter einer Ansammlung von Bäumen verschwand.

Wie es zumeist der Fall war, hatte Liz ihren Willen durchgesetzt, und nun schlenderten die drei Freunde durch einen kleinen, aber liebevoll angelegten Stadtpark.

Die Sonne war unerwartet warm auf Bens Haut. Er hatte die Ärmel seines Hemdes bis zu den Oberarmen hinaufgeschoben. Hin und wieder glaubte er sogar, er könne bald ins Schwitzen kommen, doch dann trugen kühle Böen die Hitze wieder mit sich fort. An- und abschwellend rauschte der Wind in den Ästen kahler Bäume, beinahe so, als trügen sie schon ein dichtes Blätterkleid. Oder vielleicht würde dies auch gänzlich anders klingen? Ben ließ seine Gedanken nicht bei jener Frage verweilen. Für einen winzigen Moment nur dachte er an die Geräusche des Waldes in seinem Traum. Dann atmete er tief durch.

Die Luft war frisch. Frühlingshaft, wie man es erwarten mochte und realer, als Bens Vorstellungskraft es sich hätte ausmalen können. Jedes Jahr stellte er aufs Neue fest, wie sehr er den Frühling tatsächlich schätzte. Nur, um es in der darauffolgenden Zeit wieder zu vergessen.

Und um es wieder neu entdecken zu können, hob Ben in Gedanken hervor und lächelte, als eine stärkere Windböe über ihn hinwegfegte. Sie griff nach seiner Kleidung und seinem Haar. Es fühlte sich beinahe neckisch an, spielerisch.

Noch größere Freude schien der Wind mit Liz’ dunkler Mähne zu haben. Er hob sie an, zerzauste sie und blies sie wieder und wieder ins Gesicht der jungen Frau. Liz schien sich nicht weiter daran zu stören. Sie ging neben Ben dahin, summte leise vor sich hin. Und zwischen wilden Strähnen hindurch lächelte sie ihm zu. Er erwiderte diesen Ausdruck fast automatisch.

Liz zwinkerte schelmisch, als wolle sie hervorheben, wie gut ihre Idee, ins Freie zu gehen, gewesen war. Daraufhin warf Ben ihr einen bösen Blick zu, jedoch lag keine Ernsthaftigkeit dahinter. Genauso gut hätte er mit einem Grinsen antworten können.

Eine besonders starke Windböe kam heran und trug das leise Fluchen von Arne mit sich. Dieser hatte wie immer einen kleinen Zeichenblock bei sich, in dem er alle möglichen Situationen und Dinge – existent oder auch nicht – skizzierte und Gedankenfetzen notierte, die später zu Gedichten werden sollten. Jener Gewohnheit folgend, war er schon zu Anfang des Spaziergangs hinter Ben und Liz zurückgefallen. Die beiden kannten seinen Wunsch, beim kreativen Schaffen nicht gestört zu werden und gingen langsamen Schrittes voraus.

Erneut atmete Ben tief durch und schloss mit einem zufriedenen Seufzen die Augen. Nur für einen Moment. Doch lange genug, um prompt über etwas zu stolpern, das vor ihm auf dem Boden gelegen haben musste. Statt sich nach dem Übeltäter umzusehen, versuchte Ben, seine Würde zu bewahren und weiterzugehen, als sei nichts geschehen. Wie zu erwarten, hörte er Liz neben sich kichern und verdrehte schicksalsergeben die Augen.

Liz war nun schon seit Jahren eine seiner besten Freunde, von denen er nicht viele hatte. Genau genommen zählte er nur sie und Arne dazu. Eine Tatsache, die Ben keineswegs störte. Denn er tendierte nun einmal nicht dazu, fremden Leuten unverdient Vertrauen zu schenken, und brauchte umso länger, enge Beziehungen aufzubauen. Arne kannte er schon seit der fünften Klasse im Gymnasium und hatte ihn anfangs als zurückgezogenen Sonderling betrachtet, der wenig sprach und in seiner eigenen fernen Welt lebte.

Eine Erinnerung, die Ben immer wieder zu einem stillen Lächeln verleitete, da ihm sehr wohl klar war, dass ihn selber seine Mitschüler damals mit ähnlichen Augen gesehen hatten. Auch die Bezeichnung arrogant war schon gefallen, doch damit konnte er sich nicht identifizieren. War es denn so überheblich, seine Zeit nicht mit jedem dahergelaufenen Idioten verschwenden zu wollen?

Nachdem Arne und er damals unfreiwillig für eine Schulaufgabe Zeit miteinander hatten verbringen müssen, stellten sie überrascht fest, wie gut sie miteinander auskamen und waren von dem Tag an nicht mehr zu trennen gewesen. Zwei Jahre später hatte sich eine vorlaute und doch liebenswerte Fünftklässlerin in ihre verschworene Gemeinschaft geschlichen, indem sie sich einfach zu ihnen setzte und feststellte: »Ich bin Liz. Eigentlich Eliza, aber wenn ihr mich so nennt, werfe ich euch aus dem nächsten Fenster.«

Während Ben in der Vergangenheit schwelgte, setzte er weiterhin einen Schritt vor den anderen, hörte das Knirschen des Kiesweges unter seinen Schuhen. Erst unbewusst, dann immer klarer, als seine Wahrnehmung in die Gegenwart zurückkehrte. Er spürte die Bewegung seiner Beine, das regelmäßige An- und Entspannen seiner Muskeln, und in ihm breitete sich eine kuriose Mischung aus Wachheit und Erschöpfung aus. Zumindest aber fühlte er sich nicht mehr, als sei er gerade eben erst aus dem Schlaf gerissen worden. Als läge der Moment, in dem er schweißgebadet aufgeschreckt war, nicht bereits in der Vergangenheit. Aufgeschreckt aus …

»Ben?«, unterbrach Liz unvermittelt die Stille.

Erleichtert ließ er sich von ihrer Stimme aus seinen Gedanken reißen. »Hm?«, brummte er, denn seine wahren Empfindungen mussten nicht allzu offensichtlich sein.

»Weißt du schon, was du diese Semesterferien machen willst?«

»Keine Ahnung. Nichts Bestimmtes. Warum?«

»Kann ich mich nicht dafür interessieren, was mein bester Freund in seinen Ferien geplant hat?«

»Nicht, wenn du so fragst. Du willst auf irgendetwas hinaus.«

Und Liz warf ihm einen bösen Blick von der Seite zu, woraufhin Ben nicht widerstehen konnte, ihr verschwörerisch zuzuzwinkern. Oder schelmisch. Oder – irgendwie. Der Akt des Zwinkerns fühlte sich aus unerfindlichen Gründen seltsam an, doch Ben tat sein Bestes, diese Wahrnehmung zu überspielen. Er griff nach einem herabhängenden Ast eines nahen Baumes, riss ein Blatt, welches den Winter überdauert hatte, vom Zweig und reichte es Liz mit einer leichten Verbeugung. »Entschuldige bitte mein unsensibles Verhalten. Nimmst du dies als ein Zeichen meiner Demut an?«

Liz riss ihm das Blatt aus der Hand und steckte es sich ins Haar. »Demut? Ha!«

Nachdem sie etwa eine Minute wieder schweigend nebeneinander hergegangen waren, stupste Ben Liz in die Seite. »Was wolltest du mich denn nun fragen?«

»Ach, auf einmal?« Liz strich sich mit der linken Hand durch ihr langes dunkles Haar und korrigierte den Sitz des Blattes. »Du kennst doch noch meine Tante Susan?«

»Die Tante, die nach Frankreich ausgewandert ist, weil ihr die deutschen Männer ausgegangen sind?«

Liz verdrehte die Augen »Ja, genau die. Sie will mit ihrem aktuellen Lebensgefährten nach Italien fahren und hat mir angeboten, solange auf ihr Haus aufzupassen. Ich könnte für den Zeitraum Urlaub nehmen.«

Anders als Ben, der inzwischen Mathematik studierte, und Arne, welcher sich für ein Geschichtsstudium entschieden hatte, leistete Liz momentan ein freiwilliges soziales Jahr ab. Etwas, dem sich ihrer Meinung nach niemand entziehen sollte.

»Okay. Klingt gut«, kommentierte Ben ihre Ferienpläne lächelnd.

»Ja, es ist wunderschön dort. Aber alleine werde ich mich bestimmt zu Tode langweilen.« Liz zögerte kurz. »Du könntest mitkommen?«

»Wäre das deiner Tante denn recht?«

»Die hat damit bestimmt kein Problem. Außerdem kennt sie dich ja.«

Ben musste unwillkürlich daran denken, wie Liz’ Tante einmal versucht hatte, ihm schöne Augen zu machen. Der zwischen einem gequälten Grinsen und peinlicher Berührung schwankende Gesichtsausdruck seiner Freundin verriet, dass wohl auch ihr der Zwischenfall gerade in den Sinn gekommen war.

 

»Und was ist mit Arne?«, fragte Ben.

»Der geht doch zu seinen Eltern.«

»Hm, stimmt ja. Aber doch nur für drei Tage?«

Liz verschränkte energisch die Arme vor der Brust. Völlig aus dem Nichts heraus, wie es Ben vorkam, schien sie verärgert zu sein.

»Es zwingt dich niemand dazu, mit mir nach Frankreich zu kommen!«

»Habe ich das gesagt?«

»Was auch immer.«

»Liz. Komm schon. Ich werde dich da unten doch nicht alleine versauern lassen.«

»Wer versauert wo?« Arne hatte seine Skizze fertiggestellt – kleine Ausschnitte des Kiesbodens, über den sie gerade gingen – und war nun wieder zu ihnen aufgeschlossen.

»Liz und ich fahren für ein paar Tage nach Frankreich.«

»Vielleicht«, fügte Liz hinzu, beschleunigte ihre Schritte und ließ die zwei jungen Männer ohne weitere Worte hinter sich zurück.

»Was ist denn jetzt los?« Arne blickte zwischen Liz’ Rücken und Ben hin und her.

Ben seufzte und zuckte mit den Schultern. Schon längst hatte er sich darauf eingestellt, Liz’ plötzliche Launen einfach auszusitzen. Und im häufigsten Fall beruhigte sie sich auch sehr schnell wieder.

Die beiden jungen Männer gingen weiterhin in dieselbe Richtung wie ihre Freundin, hielten jedoch die bisherige Geschwindigkeit.

Liz war inzwischen ein ganzes Stück vor ihnen bei einer Holzbank im Schatten einer Mauer angelangt und setzte sich. Dabei zog sie die Beine an den Körper und überkreuzte die Füße in einer Sitzposition, die Ben und Arne schon des Öfteren zu Beileidsbekundungen für ihre armen, geschundenen Gelenke verleitet hatte. Liz’ Reaktion bestand dann meistens darin, mit einem scheinbar unbeteiligten Gesichtsausdruck ihr rechtes Bein hinter den Kopf zu legen.

Diese Foltermeisterin des eigenen Körpers wandte sich nun wieder in Richtung ihrer Freunde, die noch immer nicht bei ihr angekommen waren, und winkte ihnen zu. »Nun kommt schon. Warum auf einmal so langsam? Habt ihr einen Eimer voll Schnecken verschluckt?«

Ben und Arne wechselten einen leidgeprüften Blick, um daraufhin schnelleren Schrittes zu Liz und der Bank zu gelangen.

Einige Zeit saßen die drei Freunde schweigend nebeneinander, doch es war kein unangenehmes Schweigen. Ben streckte seine Beine weit von sich und ließ die Gedanken schweifen, ohne bei etwas Bestimmtem zu verweilen, und spürte eine angenehme Schläfrigkeit in sich aufsteigen.

Die Mauer in ihrem Rücken hielt den Wind größtenteils fern, sodass die Wärme der Sonne ungestört walten konnte.

Ben gestattete es seinen Augen, sich zu schließen.

Die Geräusche von Arnes Bleistift, der mal sanft und dann wieder hart über Papier strich, entfernten sich, als sinke ein dämpfender Vorhang über Bens Ohren. Er driftete, schwebte in einer Welt zwischen bewusster und unbewusster Wahrnehmung, zeitlos, und für einen schemenhaften Augenblick glaubte er wieder, am Ufer des silbernen Sees aus seinen Träumen zu sein. Etwas berührte seine Wange wie eine herabfallende Feder und ein dunkler Schatten zog über ihn hinweg.

Erschrocken riss Ben seine Augen auf. Inzwischen hatte sich der Wind etwas gedreht, spielte in den Blättern der immergrünen Sträucher neben ihm und verfing sich nun wieder in Liz’ Haar. Wenn auch sanfter als zuvor. Eine besonders freche Strähne gab dem Wind allzu übermütig nach und flog in das Gesicht der jungen Frau. Erst strich sie nur über die Backe, verirrte sich dann jedoch in Richtung Nase und rief ein lautes Niesen hervor.

Ben räusperte sich, zwang sich wieder vollends in die Realität zurück. »Gesundheit«, sagte er und Liz grinste ihn an.

»Danke, die habe ich.« Zum Glück schien sie Bens Aufschrecken nicht bemerkt oder zumindest nicht als seltsam eingestuft zu haben. Ansonsten hätte sie nicht davon abgelassen, ihn mit Fragen zu löchern.

Und noch während Ben seine eigene Erleichterung wahrnahm, verbat er sich, über deren Ursprung auch nur einen weiteren Gedanken zu verlieren. Was hätte es auch gegeben, das ihn zum Grübeln hätte verleiten können?

Auf Arnes Zeichenblock war inzwischen das Abbild einer Birke entstanden, auf deren Ästen sich kleine, zarte Wesen geschäftig bewegten. Ben konzentrierte sich darauf und musste unwillkürlich schmunzeln. Arnes Vorliebe für solche Spielereien war stark ausgeprägt und hatte schon die eine oder andere halbwahre Zeichnung hervorgebracht. Zumindest war sich Ben absolut sicher, keine nackte Frau auf dem Kopf zu beherbergen, wie ein Portrait von ihm weismachen wollte.

Als Arne Bens Blick bemerkte, sah er von seiner Zeichnung auf. »Das sind Kobolde.«

»Bist du sicher, dass sie es gerne sehen, wenn du sie zeichnest?«

»Ich glaube, es gefällt ihnen. Der kleine hier wirft sich ganz schön in Pose.«

»Ähm … ja. Kann man nichts dagegen sagen.« Tatsächlich hätte Ben einiges dagegen sagen können. Allem voran, dass er Arnes Motivwahl nicht nachvollziehen konnte. Doch da dies ohnehin bereits allgemein bekannt war, ließ er sich nur noch zu einem: »Sieht realistisch aus« hinreißen.

Arne grinste sein schiefes Grinsen und zeichnete ungerührt weiter.

****

Wenig später, zurück in Bens Wohnung, fand sich ein Thema, das Ben ebenso wenig diskutieren wollte wie … Anderes.

Dieses Thema war Liz’ neuentdeckte Begeisterung für den Umweltschutz. Oder vielmehr für eine örtlich ansässige Umweltschutzgruppe und im Speziellen für ein gewisses männliches Mitglied jener Gruppe.

Und auch wenn Ben den jungen Mann nur aus endlosen und grauenvoll langweiligen Erzählungen kannte, war er ihm vom ersten Wort an unsympathisch erschienen.

Ein Pseudoaktivist, der versucht, besonders gefühlvoll zu erscheinen, indem er mit Bäumen kuschelt und arme Fröschlein über die Straße trägt.

»Das könnte auch was für dich sein, Ben«, sagte Liz. Seit einigen Minuten balancierte sie nun schon ein und dasselbe Kuchenstück auf ihrer Gabel und führte es zwischen Mund und Teller hin und her. Sie war mehr mit Schwärmen beschäftigt denn mit Essen.

Dies wiederrum bedeutete, dass Ben ihr schon seit einigen Minuten nicht mehr zugehört hatte. »Äh, was?«

Liz legte ihre Gabel auf dem Teller ab und das Kuchenstück kippte unelegant zur Seite. »Hast du auch nur ein einziges meiner Worte gehört?«, fragte sie.

»Das eine oder andere.« Ben zuckte mit den Schultern und korrigierte sich: »Nicht wirklich.«

»Du bist schon den ganzen Tag irgendwie so seltsam.« Zielsicher steuerte Liz das Gespräch von einer Sache, über die Ben nicht sprechen wollte, zur anderen.

»Irgendwie bin ich das so gar nicht«, stellte er klar und wurde in der Hoffnung enttäuscht, dass Liz auf seine Wortwahl reagieren könnte. Ben warf Arne einen hilfesuchenden Blick zu. Doch dieser war gerade dabei, den Kuchen mit einem Heißhunger zu verschlingen, als habe er seit Tagen keine Nahrung mehr zu sich genommen.

Arne schob sich einen übergroßen Bissen in den Mund und hob seine linke Augenbraue in Richtung Ben. Dieser las klar und deutlich aus der Geste und Mimik des Freundes: »Offensichtlich willst du über irgendetwas gerade nicht reden. Und Liz wird nicht aufhören, dich zu nerven. Aber ich habe gerade absolut keine Lust, mich einzumischen. Such dir eine andere Ausweichmöglichkeit. Tut mir fast leid.«

Ben antwortet mit einem Stirnrunzeln, das kommunizieren sollte: »Verräter. Ich hasse dich. Mögest du dich auf alle Ewigkeit in der Sahara verlaufen. Weil ich genau weiß, wie schlecht du Hitze verträgst.«

Arne grinste und kaute gemütlich weiter. Offensichtlich hatte er Bens wortlose Antwort verstanden.

Liz schnippte ihre Finger vor Bens Gesicht. »Ey!«

Resigniert drehte Ben sich wieder zu ihr.

»Bisher dachte ich ja, du wärst einfach nur müde«, sagte Liz. »Aber du versuchst ganz eindeutig, mir auszuweichen. Das ist verdächtig.« Und triumphierend fügte sie hinzu: »Also kannst du mir auch gleich sagen, was los ist. Früher oder später finde ich es sowieso heraus.«

Er hätte ihr antworten können und zugleich nicht. Er war müde, er hatte einen unangenehmen Traum gehabt. Nichts davon war aufsehenerregend oder ungewöhnlich.

Abrupt stand Ben vom Tisch auf und ging zum Küchentresen hinüber. »Muss mal meine Post durchsehen«, warf er über die Schulter zurück. »Margaret hat mir bestimmt wieder einen Brief zum Geburtstag geschrieben.«

Tatsächlich bestand Margaret, Bens Adoptivmutter, darauf, ihm regelmäßig handgeschriebene Briefe zu schicken. E-Mails hatte sie schon immer als furchtbar unpersönlich angesehen.

Wie erwartet lag zwischen Geburtstagsglückwünschen seines Friseurs und Werbung ein großer Umschlag aus fester Pappe. »Für meinen Sohn«, stand über der Sendeadresse geschrieben. Und wie so häufig empfand Ben einen kurzen Moment der Verärgerung. Margaret schien es nicht unterlassen zu können, wieder und wieder darauf hinzuweisen, dass Ben ihr Sohn sei. Hatte daran, seit sie den damals neunjährigen Ben adoptiert hatte, irgendein Zweifel bestanden? Sicherlich mochte es die entfernte, äußerst unwahrscheinliche Möglichkeit geben, dass seine Eltern noch irgendwo ihr eigenes Leben lebten. Unter Umständen gab es sogar noch Verwandte, von denen er nichts wusste.

Und vielleicht hatte Ben früher häufiger darüber nachgedacht. Denn in der Fantasie eines kleinen Jungen scheint Vieles möglich zu sein. Vor allem, wenn jener kleine Junge keinerlei Erinnerung an die Zeit vor seinem achten Lebensjahr hat, und wenn dessen ebenfalls unter Amnesie leidender Großvater die einzige Verbindung zu seiner Vergangenheit darstellt. Oder darstellte.

Konnte man es Ben also übel nehmen, wenn er gewisse Anpassungsschwierigkeiten gehabt hatte? Daraus musste nicht zwangsläufig folgen, dass er Margaret nicht dankbar sei. Oder dass er sie nicht liebte. Sie war immer für ihn da gewesen. War immer geduldig und liebevoll, und auch wenn Ben sie mit ihrem Vornamen ansprechen mochte, war sie für ihn immer die Frau, die ihn großgezogen hatte.

Ben drehte den Umschlag mit der Beschriftung nach unten, bevor er ihn aufriss.

Zu seiner Überraschung fand er darin nicht nur einen dicht beschriebenen Bogen Briefpapier, sondern zudem ein unbeschriftetes, verschlossenes Couvert sowie ein Schmuckstück. Letzteres war das größte Rätsel, da Ben grundsätzlich keinen Schmuck zu tragen pflegte.

Er nahm die Kette in die Hand. Die zarten silbernen Glieder lagen angenehm kühl auf seiner Haut. Damit hätte er sich vielleicht noch anfreunden können. Doch an der Kette war ein Anhänger befestigt. Ein etwa handtellergroßer, runder Anhänger. Golden und unverhältnismäßig schwer. Ein blauer Kreis mit fünf Unterbrechungen war auf die Oberfläche gemalt und in der Mitte saß ein ebenfalls blauer Edelstein. Das Schmuckstück sah aus wie ein mythisches Amulett, für das sich vielleicht Arne hätte begeistern können.

Ben hingegen wusste nun wirklich nichts damit anzufangen.

Mit einem Schulterzucken legte er die Kette samt Anhänger beiseite. Vielleicht hatte Margaret irgendwelche sentimentalen Gründe für dieses Geschenk und würde in ihrem Brief darauf eingehen.

Ben warf einen kurzen Blick zu Liz und Arne hinüber. Seine Freunde schienen nun tief im Gespräch versunken zu sein, waren aber nur allzu offensichtlich darum bemüht, nicht in seine Richtung zu blicken. Sie wollten ihm also etwas Freiraum geben.

Mit einem stillen Lächeln wandte Ben sich Margarets Brief zu. Die üblichen Floskeln bezüglich seines Wohlbefindens gingen über in die gewohnten Beschreibungen von teilweise sogar amüsanten oder interessanten Ereignissen. Entweder war Margaret in letzter Zeit sehr viel aktiver gewesen als Ben oder sie nutzte ihre lebendige Fantasie.

Vermutlich war beides der Fall.

Die Kette fand erst am Ende des Briefes Erwähnung. Und als Ben die Worte las, wünschte er, er hätte den Umschlag niemals geöffnet. »Sie gehörte deinem Großvater«, stand dort. »Du solltest sie zu deinem zweiundzwanzigsten Geburtstag erhalten. Zusammen mit einer Nachricht an dich.«

Unwillkürlich fiel Bens Blick auf das unbeschriftete Couvert und er schloss die Augen.

Schon seit Langem hatte jeder Gedanke an seinen Großvater ein vorzeitiges Ende gefunden. Er ist tot. Denk an was anderes, kam immer an die Oberfläche. Denk. An. Was. Anderes. Auch jetzt erging es Ben nicht anders.

Dreizehn Jahre mochten in der Wahrnehmung anderer Menschen ausreichend Zeit sein, schlimme Ereignisse zu verarbeiten. Aber es war Bens Recht, anders zu empfinden! Und es war sein verdammtes Recht, schmerzliche Erinnerungen zu meiden. Schmerzliche Erinnerungen sowie das Fehlen einer Vergangenheit.

 

Und nun war es sein Großvater selbst, sein toter Großvater, der Bens Gedanken in eine unwillkommene Richtung zwingen wollte.

Ben ließ Margarets Brief auf den Tresen sinken.

Er öffnete die Augen und starrte wieder auf das Couvert. Es wäre einfach, es nicht zu öffnen, es wegzuschmeißen oder zu verbrennen. Einfach oder unmöglich.

Denn auch wenn sich alles in Ben dagegen sträuben mochte, war ihm doch klar, dass er die Nachricht seines Großvaters würde lesen müssen. Und sei es nur, um die ganze Angelegenheit danach wieder vergessen zu können.

Bens Hände zitterten, als er das Couvert aufriss.

In seiner Kindheit hatte Margaret ihn dazu gezwungen, einen Therapeuten auszusuchen. Verdrängte Gefühle und Erinnerungen, Stimmungsschwankungen und unkontrollierte Emotionsausbrüche hatte man ihm damals unterstellt. Und dies, wenn er ehrlich mit sich war, auch nicht zu Unrecht.

Inzwischen ging es Ben deutlich besser.

Nun jedoch fühlte er sich mit einem Mal, als sei er wieder ein kleiner Junge, der sich gleichermaßen verkriechen und wild um sich schlagen wollte. Das waren keine beruhigenden Anzeichen. Sollte er den Brief wirklich lesen?

Wie aus großer Ferne starrte Ben auf die Schrift seines Großvaters hinunter. Zittrige Buchstaben reihten sich aneinander wie windschiefe Zaunpfosten. Es musste dem alten Mann sehr schwer gefallen sein, den Stift mit seinen von Gicht geplagten Fingern zu führen. Offensichtlich hatte er sich davon nicht aufhalten lassen. Seine altmodisch anmutende Schrift füllte in extravaganter Rechtschreibung das gesamte Papier.

Und obwohl Ben sich nicht sicher war, ob er dies wollte oder doch lieber nicht, begann er zu lesen. Wörter verschwammen vor seinen Augen, Zeilen verschoben sich ineinander, als verlöre er jeden Fokus. Ben nahm vereinzelte Sätze und Bruchstücke auf und mit jedem Wort, das es in seinen Verstand schaffte, wurde es schwerer und schwerer, weiterzulesen.

Es gibt so viles, das du noch erfaren und lernen musst.

… kannst dich nicht erinnern, was passirt ist, bevor man uns im Wald gefunden hat. Das ist gut so.

Ich habe meyne Erinnerung nimals verloren. Es tut mir leid. Ich habe gelogen.

… solltest unbeschadet aufwachsen. Du warst noch so jung.

… muss das von dir verlangen, was du nicht versten wirst. Und vermutlich auch nicht tun willst.

Du musst dorthin zurückkeren, wo man uns gefunden hat! Zurück zu der Holzhütte.

… wirst Fragen haben, aber bitte vertraue mir.

Vermutlich wirst du eyne unerklärliche Müdigkeit verspüren. Auch deshalb MUSST du zurückkeren.

… bist nun in dem Alter.

Nimm das Amulett mit dir.

Es gehörte deynem Vater.

… sey vorsichtig und traue nimandem. Doch wende dich an den Alten Bund.

Ben trat ruckartig vom Küchentresen zurück. Der Brief des Großvaters entglitt seinem Griff und schwebte unbeachtet zu Boden.

»Nimm das Amulett mit dir. Es gehörte deinem Vater.«

Unfähig, länger ruhig zu stehen, wankte Ben einen Schritt vor und zurück und vor, verharrte für wenige angestrengte Atemzüge und setzte sich wieder in Bewegung.

»Ich habe meine Erinnerung niemals verloren.«

»Ich habe dich angelogen und dir das vorenthalten, was dir wichtiger gewesen wäre als alles andere.«

Ben fand sich vor dem Spülbecken seiner kleinen Küchennische wieder und nahm eine der ungewaschenen Tassen, von denen mehrere vor ihm standen, in die Hand. Diese Geste trug keine Bedeutung in sich, so wie in diesem Augenblick nichts wichtig oder real zu sein schien. Nichts, außer den Gedanken, die in Bens Kopf dröhnten.

»Es gehörte deinem Vater und ich habe dich angelogen und nun bin ich tot und kann auf keine deiner Fragen mehr antworten.«

Es war noch ein wenig abgestandener Tee in der Tasse. Versunken ließ Ben das Gefäß kreisen und starrte auf die Flüssigkeit, die sich, hin und her schwappend, seinen Bewegungen ergab. Oder sich ihm widersetzte. Denn war Ben in Kontrolle oder vielmehr die Schwerkraft? Und warum verschwendete er seine Zeit mit derartig sinnlosen philosophischen Überlegungen? Was könnte unwichtiger sein als abgestandener Tee? Der sich, verdammt nochmal, einfach nicht zu einer gleichmäßig fließenden Bewegung verleiten lassen wollte.

Kann doch nicht so schwer sein.

Mit seltsam abwesender Intensität nahm Ben die Schwere seines Atems wahr und die Anspannung in seinem Körper, und der Tee und die Tasse verschwammen vor seinen Augen ineinander. Und für einen Moment atemloser Stille erstarrte Ben innerlich und äußerlich, bis sich die Anspannung in plötzlich aufflammender Gewalt in seiner Hand entlud und Ben die Tasse samt Tee von sich schleuderte. Sie prallte gegen die Wand und zersprang mit einem antiklimatisch leisen und dumpfen Geräusch. Tee sog sich in Flecken und Spritzern und Streifen in das Weiß des Putzes, und Ben dachte mit ferner Belustigung, dass diese neue Wanddekoration wie ein sich übergebendes Nashorn aussah.

Nach diesem kleinen Ausbruch hätte es ihm besser gehen sollen. Dem war allerdings nicht so. Ben schloss die Augen und versuchte, sich gegen seine Gedanken zu sperren und gegen die Emotionen, die an ihm zerrten.

Es ist gut. Alles ist gut. Atme einfach weiter und denke an nichts. Alles ist gut. Dieses Mantra trug den Beigeschmack seiner Kindheit.

»Alles in Ordnung, Ben?« Liz war neben ihn getreten, was kaum eine Überraschung darstellen sollte. Sie klang besorgt. Mitfühlend, obwohl sie nicht wissen konnte, was es war, das sie mit ihm hätte fühlen können.

Ben wollte sich ihr zuwenden, wollte lächeln und ihr versichern, dass sie sich keine Sorgen machen müsse. Gleichzeitig wünschte er, sie möge einfach den Mund halten und ihn in Ruhe lassen. Er war zwiegespalten, hin und hergerissen zwischen Vernunft und einer brennenden Wut, die sich gegen seinen Großvater richtete. Und gegen Anderes, das Ben nicht benennen konnte. Es war jene altbekannte Empfindung, die kein greifbares Ziel finden konnte und sich deshalb in alle möglichen Richtungen entlud.

Bens Augen waren noch immer geschlossen. Er rieb seine schmerzenden Schläfen. Bleib ruhig. Atme.

Er hatte wirklich gedacht, diese Folgen seiner verlorenen Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben. Auch wenn er hin und wieder zu launischem Verhalten neigen mochte.

Atme.

Liz legte eine Hand auf seine Schulter. Die Berührung war vorsichtig und gut gemeint. Ben schüttelte sie ab, noch bevor er die bewusste Entscheidung dazu getroffen hatte.

»Alles in Ordnung«, stieß er hervor. »Ich habe nur …« Und dann fand er keine Worte, mit denen er diesen Satz hätte beenden können.

»Schlechte Nachrichten?«, hakte Liz nach, ohne explizit oder missbilligend darauf hinzuweisen, dass ganz offensichtlich nicht »alles in Ordnung« sei. Und gerade in dieser Zurückhaltung erkannte Ben die Sorge seiner Freundin. Warum auch musste sie immer so aufmerksam und so hilfsbereit sein?

Willst du ihr das wirklich zum Vorwurf machen?, fragte Bens innere Stimme. Aber wenn er nur für ein paar Augenblicke seine Ruhe hätte, könnte er sich wieder unter Kontrolle bringen. Er könnte diese überzogene Reaktion auf einen Brief hinter sich lassen. Auf einen Brief. Auf eine verdammte, vernichtende Lüge und …

Ben atmete erneut tief durch, was zumindest seinem Tonfall zu helfen schien, als er sagte: »Ich denke, wir sollten unser Treffen für heute beenden.« Er fand, dass er ruhig klang, vernünftig und erwachsen.

Aber natürlich war Liz nicht so einfach von einem einmal eingeschlagenen Pfad abzubringen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich lasse dich jetzt ganz sicher nicht alleine.«

Genau das war es jedoch, was sie tun sollte, befand Ben. Er wollte alleine sein. Oder etwa nicht?

»Ich muss noch … was machen«, behauptete er, zu aufgewühlt, um eine glaubwürdige Lüge zu finden.