Das Leben ist schön, von einfach war nicht die Rede

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Das Leben ist endlich

Sicherlich gibt es viele betroffene Mütter und/oder Väter, die sich wünschen, erst einen Tag nach ihrem besonderen Kind sterben zu dürfen. Am liebsten sogar gleichzeitig mit ihm!

Das war jahrelang auch meine Wunschvorstellung.

Es ist nicht so, dass ich mir konkret ausgemalt hätte, wie wir zusammen zu Tode kommen. Ich habe also kein Unfallszenario vor meinem inneren Auge abspulen lassen, obwohl in Anbetracht der Tatsache, dass das Leben lebensgefährlich sein kann, genügend Stoff dazu abrufbar sein dürfte. Es ist vielmehr das Ergebnis, das sich vor meinem inneren Auge abspielt: Unser beider Leben geht zu Ende. Dabei ist es nicht gleichgültig, auf welche Weise, denn natürlich hätte ich gerne einen sanften und weisen Tod. Wir fassen uns an den Händen und gehen gemeinsam den für uns angelegten Weg. Wir erleben einen angenehmen Wechsel; man macht uns den Abschied leicht und wir werden gemeinsam im Drüben empfangen. Unsere Hände lassen sich die ganze Zeit nicht los – erst, wenn wir dort sind, am Ziel angelangt, dann kann ich Tina getrost loslassen. Sie braucht mich nun nicht mehr.

Eine Vorstellung, die beruhigt, sogar glücklich macht. Aber eben nur ein Wunschtraum.

Jetzt weiß ich, dass Tina in fortgeschrittenem Alter in die Seniorenwohnung einzieht. Sie ist gleich neben ihrer jetzigen Wohngruppe und also unter demselben Dach. Tina muss sich nicht großartig umgewöhnen. Die alten Leute von nebenan sind für sie keine Unbekannten. Die jahreszeitlichen Feste wie Sankt Martin, Nikolaus, Weihnachten, Ostern, die Frühlingsfeier oder das Sommerfest werden mit allen gemeinsam begangen. Kann auch sein, dass Tina eines Tages in ein Wohnheim zieht, das nicht so weit weg ist von unserem Zuhause und dem ihrer großen Schwester. In dem Fall wäre es schön, wenn sie mit ihren Mitbewohnern zusammen alt werden könnte, ohne noch einmal umziehen zu müssen.

Das ist nicht selbstverständlich, weil es lange Zeit durchaus üblich war, dass die Bewohner, wenn sie ins offizielle Rentenalter kommen, den Wohnort wechseln müssen, um in eine Art Pflegewohnheim für behinderte Rentner zu ziehen. Keine angenehme Vorstellung für die alternden Eltern, weil sie nicht in Ruhe sterben können mit der Frage, was eines Tages aus ihren Kindern wird. Die eigene Phantasie spielt einem da so manchen Streich und man sieht sein armes, verlassenes Kind, mittlerweile selbst schon in fortgeschrittenem Alter, alleine in der Stadt umherirren und nach Fixpunkten suchen, die es vielleicht irgendwo schon einmal gesehen hat und denen es eine Bedeutung zuordnen kann. Es ist also für uns Eltern eine sehr grundlegende Frage, wie und wo die von Behinderung betroffenen Menschen im Alter leben werden und ob sie sich in einer neuen Umgebung mit bis dahin unbekannten Betreuern und Pflegern eingewöhnen können. Hier wäre mehr Planungssicherheit für uns Eltern wünschenswert, weil man gerne alles geregelt hätte, bevor das eigene Leben zu Ende geht. Zum Glück haben die Elternräte in der Lebenshilfe dieses Thema wiederholt aufgegriffen, so dass die Bewohner inzwischen immer häufiger bis zu ihrem Tod in ihren Einrichtungen bleiben können.

Eine andere Variante wurde mir erst neulich zugetragen. Auch diese Begebenheit ist wie so viele Geschichten im Zusammenhang mit den von Behinderung Betroffenen ungewöhnlich bis makaber: Manchen Eltern fällt es schwer, ihre besonderen Kinder loszulassen, auch wenn diese längst dem Jugendalter entwachsen sind. Wenn der Lebenspartner eines Tages verstorben ist, kann es sehr schön sein, das Dasein als Witwe oder Witwer mit dem geistig behinderten Sohn oder mit der besonderen Tochter zu teilen, denn Zusammen ist man weniger allein, wie es der Titel eines anrührenden französischen Spielfilms so schön auf den Punkt bringt. So kann es passieren, dass eines Tages ein 60-Jähriger ausgehungert neben seiner toten Mutter hockt und die Welt nicht mehr versteht. Er ist in einem erbarmungswürdigen Zustand, denn schon seit 24 Stunden hat ihn niemand an den Toilettengang erinnert, unter die Dusche gestellt und frisch eingekleidet. Und warum er entgegen sonstiger Gewohnheit absolut nichts zu essen und, weitaus schlimmer, nichts zu trinken bekommt, bleibt ihm völlig unbegreiflich.

So geschehen zu Jahresbeginn – und wie mir der Mann von der Koordinationsstelle der Lebenshilfe aus meinem Wohnort berichtete, sei dieses Szenarium leider gar nicht so einmalig. Nun muss der verstörte 60-Jährige unmittelbar in ein Wohnheim der Lebenshilfe einquartiert werden. Eine absolute Notlage, zu der es keine Alternative gibt. Auch wenn der Mann nicht in die Gruppe passt, wo man für ihn auf die Schnelle notdürftig einen Platz einrichtet – zu Hause kann er nicht bleiben, denn sein bisheriges Zuhause gibt es ab sofort nicht mehr. Die Wohnung, in der er mit seiner Mutter oder dem Vater gelebt hat, wird aufgelöst, die Geschwister, falls welche vorhanden sind, haben Lebensentwürfe, in die sie ihn nicht einbeziehen können oder wollen. Schon gar nicht von jetzt auf gleich.

Erstaunlich, dass sich das etliche Eltern nicht bewusst machen beziehungsweise ihren eigenen Tod konsequent verdrängen. Ihrem längst erwachsenen Kind tun sie damit keinen Gefallen. Man muss ehrlicherweise daraus schließen, dass hier ein gewisser Egoismus zugrunde liegt: Der auf die Betreuung angewiesene Mensch füllt die Lücke der Einsamkeit. Ein hartes Wort – aber der oben geschilderte Ablauf rechtfertigt zumindest im Ansatz diesen Schluss.

Ich kenne Eltern, die dermaßen eng mit ihrem ebenfalls bald im Rentenalter befindlichen Kind verbunden sind, dass die Katastrophe vorprogrammiert ist. Sie haben keinerlei Vorkehrungen getroffen: Weder nimmt der Sohn an Aktivitäten von Gruppen zum Beispiel der Lebenshilfe oder der Caritas teil, noch fährt er mit anderen besonderen Menschen zusammen in Urlaub. Dabei gibt es gerade auf diesem Sektor viele Angebote, die nach Alter, Selbstständigkeitsgrad und Interessen gestaffelt sind. Genau genommen verhindern solche Eltern, dass ihr Sohn/ihre Tochter ein gewisses Maß an Flexibilität entwickeln kann. Ein nicht wieder gut zu machendes Versäumnis – vor allem, wenn ein behinderter Mensch auf sehr feste Abläufe angewiesen ist, wie zum Beispiel Tina. Wenn wir sie niemals mit einer Gruppe hätten reisen lassen, ihr nicht ein Leben in einem Wohnheim zugemutet hätten, wäre sie aufgrund ihres Autismus weitestgehend unbeweglich und fiele bereits jetzt unter das Motto: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Man darf nicht vergessen, dass es vielen Menschen mit Behinderung wie beispielsweise meiner Tochter schon schwer fällt, ein fremdes Haus überhaupt zu betreten …

Ein anderer Aspekt mit denselben möglichen Folgen liegt darin begründet, dass der Betreuer unter Umständen auf das Pflegegeld angewiesen ist. Jahrelang hat er den Angehörigen gepflegt, auf dem freien Arbeitsmarkt keinen Beruf ausgeübt, könnte wahrscheinlich auch nicht in den Beruf zurück, da das ohne Weiterbildung schwierig sein dürfte. Wie leicht hat man den Anschluss an den Stand der Technik verloren! Er hat sich in dem seit vielen Jahren gelebten Status Quo endgültig eingerichtet. Eine für den zu Betreuenden fatale Perspektive ist auch hier vorprogrammiert: Dank der guten medizinischen Versorgung in unserem Land haben die meisten der besonderen Mitbürger die Option auf ein normales Alter. Und dann kann es unter den geschilderten Umständen zu einer wie oben beschrieben abrupten und schmerzhaften Umstellung kommen, die ganz einfach dem Sachzwang unterliegt. Der plötzlich alleinstehende, behinderte Mitbürger ist auf sofortige Fremdunterbringung und Versorgung angewiesen mit allem, was dazugehört. Neue Umgebung, Personen, die er nie zuvor gesehen hat, die räumliche Umorientierung, veränderte Rituale im Einnehmen von Mahlzeiten und bezüglich der Schlafgewohnheiten, um nur wenige Dinge aufzuzählen, die auch für uns Normalos einiges an Flexibilität erfordern, denkt man sich zum Beispiel einmal in einen Krankenhausaufenthalt hinein. Wieviel schwerer muss ein solch abrupter Bruch in der Biografie für besondere Menschen wiegen, denen sich für so manches keine einleuchtende Erklärung erschließt?

Eltern müssen unter diesem Aspekt dringend durch frühzeitige Information aufgeklärt und sogar gewarnt werden, denn auch für das Personal einer Einrichtung ist eine solche Situation nicht zumutbar.

Anfang des Jahres gefiel es dem Tod in unserer Straße. Jedenfalls deutete alles darauf hin, als vier liebe, langjährige Nachbarn innerhalb weniger Monate abberufen wurden. Alle hatten die Diagnose Krebs. Drei von ihnen haben die medizinischen Angebote angenommen und damit den Kampf gegen die Krankheit angetreten. Ein Mann hat die lebensverlängernden Maßnahmen abgelehnt. Er wollte den qualvollen Krankheitsverlauf nicht durch eine Therapie in die Länge ziehen. Er war bereit zu sterben. Nachdem alle beerdigt waren und wir im Nachbarkreis über den Kummer der nächsten Angehörigen und ihren Umgang mit dem Verlust diskutiert hatten, fragte ich abends beiläufig meinen Mann, was für ihn das Schlimmste sei, wenn ich stürbe. Er musste nicht lange überlegen. »Am schlimmsten wäre es für mich, wie ich es Tina beibringe, dass du nicht mehr da bist.«

Ich verstand vollkommen – bei allem Kummer und eigenem Verlustempfinden würde es mir genauso gehen, wenn er stürbe.

Wie bringt man jemandem den Tod seiner allernächsten Bezugsperson bei, wenn es keine Erklärung gibt, die er begreifen kann? Nun ist der Tod ja an sich schon etwas Unbegreifliches – jedenfalls, wenn man so unmittelbar mit ihm konfrontiert wird. Wieviel schwerer muss es für einen besonderen Menschen wie Tina sein, zu begreifen, dass ich nicht mehr kommen kann?

Auf einer Fortbildung in Marburg für Eltern besonderer Kinder war eine Familie, deren Sohn das Down-Syndrom hatte und dessen engste Bezugsperson der Großvater war. Wie gewohnt, ging der Junge eines Tages nach nebenan, um den Großvater zu sehen, mit ihm einkaufen zu gehen, zu spielen – eben all die Unternehmungen mit seinem Opa anzupacken, die er gewohnt war. Doch nun war der Großvater gestorben. Es mag ein wenig schauerlich klingen, aber die Eltern haben folgendermaßen gehandelt: Der Junge durfte den toten Opa in die Leichenhalle begleiten. Er durfte ihn anfassen, damit er spürte, dass sich der alte Mann kalt anfühlte und dass er ihn noch so feste anstoßen konnte, er aber nicht aufwachte. Der Junge stand auch daneben, als man seinen Großvater in den Sarg legte, den Deckel darauf befestigte, indem man ihn annagelte. Er durfte sogar selbst mit Hilfe einen Nagel einschlagen. Natürlich erlebte der Junge zwei Tage später mit, wie der Sarg zuerst in der Kirche stand, wo man sang und betete, und wie der Sarg mit dem Opa drin in die Erde gelassen wurde. Sein geliebter Opa war nun unter der Erde – ganz wörtlich – und der Junge hatte den gesamten Vorgang begleitet. Es war für ihn die einzige Möglichkeit, den Großvater so zu verabschieden, dass er es begreifen konnte. Nun musste er lernen, sich auf andere Mitmenschen zu konzentrieren – mit jemand anderem einkaufen zu gehen und zu spielen. Nach einiger Zeit hat er sich umgewöhnt.

 

Man liest immer mal wieder, dass der Tod früher weniger tabuisiert worden sei. Dass der Sterbende von seiner Familie bis zum Schluss begleitet wurde, was auch häufig Stoff der Literatur ist. So wird in Thomas Manns berühmten Roman Die Buddenbrooks fast ausschließlich zu Hause gestorben.

Für besondere Menschen wie den oben beschriebenen Jungen gibt es im Grunde keine Alternative, um ihnen den Tod anschaulich zu machen.

Vielleicht ein Tipp für jedermann? Denn der Tod gehört nun einmal zum Leben dazu. Längst haben wir aber alles getan, um ihn aus unserer Nähe zu verbannen …

Meine besondere Tochter lehrt mich, dass das eine Dummheit ist.

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Inklusion

oder: Die deutsche Gründlichkeit

Tina ist dem Schulalter entwachsen. Trotzdem soll das Thema hier einen vergleichsweise breiten Raum einnehmen, weil ich als erfahrene Mutter eines anderen Kindes vielfältige Einblicke in diese sehr aktuelle und heiß diskutierte Materie gewinnen konnte und weil auf der Hand liegt, dass die Inklusion Auswirkungen auf kommende Biografien haben wird – sowohl der besonderen Mitmenschen selbst als auch die ihrer Eltern. Ich habe festgestellt, dass letztere Gefahr laufen, aufgrund ihres innigen Wunsches nach Inklusion den – realistisch betrachtet: eng gesteckten – Rahmen des Machbaren und Sinnvollen nicht wahrhaben zu wollen.

Jessica geht in die achte Klasse – ach nein: sie fährt in die achte Klasse, denn Jessica sitzt im Rollstuhl. Jeden Tag wird sie von ihrer Mutter oder einem Taxi zur Schule gebracht und anschließend wieder abgeholt. Sie hat Glasknochen, ist also wörtlich genommen sehr zerbrechlich, dazu klein und schmal und unglaublich forsch, um nicht zu sagen: frech.

Jessica geht – schon wieder vertan: fährt aufs Gymnasium, und an der Tatsache, dass ich andauernd ihre für meine Schule ungewöhnliche Fortbewegung vergesse, können Sie ablesen, dass das Mädchen integriert ist. »Inkludiert« heißt das heutzutage – aber ich möchte für Jessica den anderen Ausdruck gebrauchen, weil ihr Aufenthalt in meiner Klasse einzigartig war – zu einer Zeit, als sich die sogenannte Inklusion noch gar nicht in den Startlöchern befand. Als Klassenlehrerin hatte ich mit ihr besondere Aufgaben – dachte ich jedenfalls, aber dem war nicht so. Die immer cool gekleidete Lady war dermaßen selbstbewusst, dass es gar nichts machte, dass sie, äußerlich unfassbar zart und klein, in einem Kinderrolli saß. Perfekt geschminkt und mit auffällig gestylten Fingernägeln machte sie was her – und die Mitschülerinnen und Mitschüler behandelten sie völlig normal. Dabei war sie bereits deutlich reifer als ihre Mitschülerinnen.

Als in der achten Jahrgangsstufe – es ist die pubertärste Phase, die Kids sind nämlich zwischen 13 und 14 Jahre alt – die Mode aufkam, anlässlich von Geburtstagen so ziemlich die ganze Klasse einzuladen, gerne mit Vollverpflegung von Seiten der geforderten Eltern und mit Übernachtung quer durch die Wohnung – war Jessica mit im Boot, äh, mit in der Wohnung, denn sie gehörte in den Kreis der »ziemlich besten Freunde«. Dort bewegte sie sich auf dem Bauch robbend völlig eigenständig. Die Mitschüler haben sich darüber amüsiert. Aber nicht hämisch oder in irgendeiner Weise fies, sondern einfach nur, weil’s so ungewöhnlich und lustig aussah. Und Jessi? Die hat mitgelacht.

Schräge Sachen habe ich mit ihr erlebt. Zum Beispiel fuhr sie, wenn sie wütend war, mit Karacho ihrem Opfer ohne Vorwarnung in die Waden. Und wenn die Klasse Kunstunterricht hatte, packten zwei Jungs den Rollstuhl samt Jessica rechts und links und machten sich einen Sport daraus, so schnell wie möglich im Kunstraum anzukommen. Der liegt im Keller und der Aufzug reicht nur bis ins Parterre. Ein Alptraum, wenn sie das Mädel fallen gelassen hätten. Wie oft ich geschimpft, gedroht, gewarnt habe, weiß ich nicht mehr. Man kann als Lehrer nicht genug Augen haben. Es ist aber zum Glück nie etwas passiert – außer, dass Jessica kreischte: »Ihr lahmen Enten. Geht’s nicht flotter?«

Bei Feueralarm dann das: Der den Probealarm überwachende Feuerwehrmeister hatte den Fahrstuhl abgeschaltet. Man darf ihn ja im Brandfall nicht benutzen. Kurzschlussgefahr – Sie wissen das: Man bleibt stecken und sitzt in der Falle.

Alles stürmte bei dem unangenehm lauten Tuten hinaus und stellte sich ordnungsgemäß an den für solche Fälle bestimmten Stellen außerhalb der Schule auf – und Jessi? Die saß im dritten Stock einsam und verlassen in ihrem Rolli auf dem Flur und schimpfte durchs Treppenhaus, ob man sie da oben eigentlich einfach verbrennen lassen wollte …

Im O-Ton: »Soll ich hier abfackeln, verdammt noch mal?«

Dumm gelaufen. Wir, also meine Schüler und ich, haben sie anschließend ganz doll getröstet und geschworen, dass wir sie im Ernstfall natürlich um jeden Preis mit nach unten ins Freie bugsiert hätten. Die Klasse versicherte, dass sie sich nur nicht getraut hätte, weil doch der Kommandant von der Feuerwehr so streng geguckt habe. Und in Anbetracht der die Treppe hinunter rasenden Meute sei das ja auch viel zu gefährlich. Aber im Ernstfall sei das egal – da ginge es ja ohnehin um Leben und Tod. Und da hätten sie Jessi auf alle Fälle mitgenommen.

»Und wenn ich dich untern Arm geklemmt hätte«, sagte Lukas.

Leider hatte Jessi keine Böcke auf Mathe, bekam ganz reell ihre Sechs verpasst und blieb sitzen. Und weil sie keine Lust hatte, das Schuljahr zu wiederholen, wechselte sie zur Gesamtschule, wo sie eine kleine Matheprüfung absolvierte, mit Bravour, und dort nahtlos in die Neun durfte.

Claudia ist blind. Sie hat schon diverse Operationen hinter sich und eine künstliche Linse. Immerhin kann sie hell und dunkel wahrnehmen. Auch sie ging aufs Gymnasium, und ich hatte mit ihr Deutschunterricht. Einmal in der Woche besuchte uns eine Blindenlehrerin. In einem Nebenraum des Lehrerzimmers stand die im Vergleich zu heute riesige Blindenschriftschreibmaschine. Die Fachfrau übersetzte Claudias Hausaufgaben in unsere Schrift und die Aufgaben der Klassenarbeiten in ihre. Das war aber auch schon der einzige Aufwand, der für Claudia getrieben werden musste.

Für den konkreten Unterricht im Klassenraum galten allerdings andere Regeln, seit Claudia bei uns war. Die Lehrer mussten alles laut mitsprechen, vor allem, wenn etwas an die Tafel geschrieben wurde. Und wehe, ein Kollege redete zu leise oder – noch schlimmer! – vergaß, mitzusprechen, dann brüllte die Klasse erbarmungslos laut im Chor: »Claudia sieht nix!«

Schüler können fürchterlich streng sein.

Als ich in der Pause auf dem Schulhof Aufsicht hatte, beobachtete ich Claudia beim Kästchen-Hüpfen. Eine Freundin schob sie exakt bis an die Linie, von der man losspringen musste. Vor Claudias Füßen lag ein dicker Schlüsselbund. Sie hüpfte exakt von Kästchen zu Kästchen, indem sie stets den Schlüsselbund bei ihren flach gehaltenen Hüpfern anstieß. Sie hörte, wie weit sie sprang und wie kräftig sie beim nächsten Mal, wenn sie zwei Kästchen überwinden sollte, abspringen musste.

Kinder wie Jessica und Claudia sind gut zu integrieren. Für die Klasse sind sie ein Segen, denn quasi nebenbei lernen die Schüler den Umgang mit ihnen, entwickeln besondere Rücksicht und vor allem umsichtiges Verhalten, weil sie für jemand anderen mitdenken und mitorganisieren – jedenfalls ist das meine Erfahrung (die Sache mit dem Probealarm vergessen wir besser ganz schnell). Es weckt für Lehrer und Schüler Neugier, zu erleben, wie Dinge funktionieren (können), wenn jemand ein Handicap hat. Und – allen Ernstes – es macht Spaß, damit umgehen zu lernen. Und ein bisschen stolz ist man außerdem.

Auch und vor allem für Eltern wie die von Jessica und Claudia, die ihre Kinder und natürlich auch die Lehrer in allem unterstützt haben, ist es eine tolle Anerkennung für ihren großen Einsatz. Ich habe sie als überaus aufbauende Menschen kennengelernt, denn sie haben entscheidend dazu beigetragen, dass wir Lehrer in den Umgang mit ihren besonderen Kindern hineingewachsen sind.

Fazit: Körperliche Handicaps müssen für ein gemeinsames Lernen, für freundschaftliches Miteinander kein Problem sein. Vor allem Jessica hat das bewiesen – sie ist eine toughe Person und, objektiv betrachtet, vom Schicksal recht schwer gezeichnet. Aber eben nur körperlich.

Nun also grundsätzliche Gedanken zu der Inklusion, zu der sich Deutschland seit 2009 verpflichtet hat, und das bei einem hochgradig leistungsdifferenzierten Bildungssystem, das in der Welt vergeblich seinesgleichen sucht. Der Widerspruch ist vorprogrammiert. Wirkliche Inklusion kann nur in einem Lernumfeld stattfinden, in dem alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden, was flächendeckende Gesamtschule oder Einheitsschule bedeuten würde. Alles andere erscheint unlogisch.

Wir vergegenwärtigen uns: Wenn Menschen wie Claudia und Jessica sich in ihrer Klasse wohlfühlen, ist das für alle Beteiligten in der ersten Zeit wie eine tolle Belohnung. Wir haben es geschafft, dass sich unsere Mitschülerin wohlfühlt. Wir können was! Bald gehören die behinderte Schülerin oder der besondere Schüler zur Normalität, es ist also Alltag geworden. Genau das ist es, was eine funktionierende Inklusion ausmacht: Der Alltag ist eingekehrt.

Wie aber sehen die aktuellen Bemühungen zur Inklusion aus? Ist bereits ein Alltag im positiven Sinn in Sicht?

Ich habe mal herumgefragt: Zwei gute Freundinnen und meine älteste Tochter arbeiten an einer Gesamtschule, meine Nichte ist Grundschullehrerin. Alle vier unterrichten auch geistig behinderte Schüler.

Schon bei meiner Frage: »Wie läuft es bei euch so mit der Inklusion?« entgleisten sämtliche Gesichtszüge in Richtung Fußboden. Das häufigste Wort war schrecklich gefolgt von gar nicht. Im Verlauf meiner Arbeit an diesem Buch habe ich etliche weitere Lehrerinnen (Männer gibt’s ja kaum noch in diesem Betätigungsfeld) nach ihren Erfahrungen gefragt – und die Reaktionen waren weitgehend identisch.

Laura zum Beispiel ist so ein Fall, der einfach unzufrieden macht, wie eine der Befragten sagte. Laura ist dreizehn Jahre alt und besucht eine Gesamtschule, in der meine schulerfahrene Freundin Margot arbeitet. Das Mädchen kann einfache Sätze sprechen – die meisten gehen kaum über fünf Wörter hinaus – und ein Buch für Erstleser langsam lesen. Im Rechnen bewegt es sich in einem Zahlenraum bis 20. Laura sitzt im GU, was Gemeinsamer Unterricht bedeutet, und hat für einige Stunden in der Woche ein Anrecht auf eine zweite Lehrerin in ihrer Klasse (die Anzahl der zur Verfügung gestellten Stunden im Rahmen der Inklusion variiert in den einzelnen Bundesländern), die eine besondere Ausbildung in Förderunterricht hat. »Ich habe kaum Zeit, mich um Laura zu kümmern, denn in meiner Klasse sitzen noch fünf andere, die meine komplette Aufmerksamkeit brauchen, weil sie sonst außer Rand und Band sind«, schildert Margot die Situation. »Ich bin total überfordert mit der Klasse und Laura hat nichts vom Unterricht, weil die paar Stunden, in denen ihr eine zweite Lehrkraft zusteht, ein Witz sind!«

Margot tut mir leid. Und Laura auch.

»Es genügt ja nicht, Laura besondere Aufgaben zu geben«, schimpft Margot weiter. »Sie benötigt jemanden, der ganz für sie da ist. Immer mal wieder kümmert sich eine Mitschülerin um sie. Gar nicht mal schlecht – aber als Dauerlösung ist das total ungeeignet, denn die anderen Schüler brauchen viel Zeit für sich selbst, damit sie ihr Pensum schaffen können.«

 

In diesem Zusammenhang gibt es aus jedem Bundesland zahlreiche Berichte von Lehrern und vor allem Lehrerinnen, die sich wie Hilferufe ausnehmen. Hier ein willkürlich gewähltes Beispiel aus Niedersachsen:

»Neben Max muss sich die Sonderpädagogin allein in seiner Klasse um fünf weitere Inklusionskinder kümmern. Und ihre Zeit mit den Schülern ist streng begrenzt: Gerade einmal 1,6 Stunden hat sie durchschnittlich je Förderkind zur Verfügung – pro Woche. Den Rest der Zeit ist Klassenlehrerin Inga Lehmann mit den sechs Inklusionskindern und den restlichen 18 Schülern allein.« 1

Anne, ebenfalls gestandene Lehrerin, sagt, man müsse dringend den Begriff Förderlehrer unter die Lupe nehmen. »In welchem Bereich der Förderlehrer ausgebildet ist, spielt für den behördlichen Verteiler nämlich keine Rolle«, erklärt sie, »denn es wird überhaupt nicht unterschieden, ob die Lehrkraft ihre Referendarzeit in einer Gehörlosenschule, einer Schule für Geistig Behinderte, einer Blindenschule oder wo auch immer absolviert hat.«

Aha! Ich schließe messerscharf: Lediglich der Status Sonderschulpädagogin ist entscheidend. Mit anderen Worten: »Jede Förderlehrerin kann gefälligst selbst zusehen, wie sie mit dem Schüler klarkommt, dem sie zugeteilt wird«, schimpft Anne.

Eine andere Kollegin, die für den GU an einer Gesamtschule verantwortlich ist, teilt mir schonungslos mit: »Fakt ist, dass die zugeteilten Förderlehrer, die man aus ihrer bisherigen Schule einfach abberufen hat, meist wenig Lust haben, in einem für sie unbekannten Terrain eingesetzt zu werden. Viele von ihnen denken: Ich war bisher in einer Schule für Hörgeschädigte – und von entwicklungsverzögerten oder geistig behinderten Kindern habe ich keine Ahnung. Ich bin hier falsch.«

Tja – der viel gerühmte und geschmähte Beamtenstatus zeigt an dieser Stelle seine Tücken. Beamte darf man einfach so versetzen!

Auch hierzu ziehe ich ein Fazit: Für die gelegentliche Antihaltung mag neben der ohnehin hohen Belastung des Lehrerdaseins verantwortlich sein, dass man gut funktionierende Fördereinrichtungen abbaut und gestandene Kollegen und Kolleginnen sich neu orientieren müssen, obwohl sie sehr gerne und mit beachtlichem Erfolg an ihrem bisherigen Arbeitsplatz waren. Man muss das verstehen: Sie haben mit Sicherheit gute Arbeit geleistet – und nun soll das alles nichts mehr wert sein, weil die Inklusion über die Republik hereinbricht und wirksame Systeme abwickelt wie eine Bad Bank. Entsprechend fällt auf, dass alle an Regelschulen unterrichtenden Förderlehrer, die ich befragt habe, im Zusammenhang mit den Vorgaben für die Inklusion ihre Sätze beginnen mit: Wir sollen, wir müssen, man verlangt von uns.

Gar nicht gut. Frustration war noch nie ein Motivator.

Zurück zu Anne, einer meiner Hauptinformantinnen. »Wir haben inzwischen dermaßen viele ADS-Kinder und andere Schüler mit enormen Verhaltensauffälligkeiten. Die alleine reichen schon aus, um den Unterricht nur noch an der äußersten Grenze des Möglichen hinzukriegen.«2

Und Annes Kollegin setzt nach: »Von den besonders Begabten spricht hier schon gar keiner mehr. Sie müssen ganz einfach funktionieren. Was sollen die Lehrer eigentlich noch so alles managen?«

Ordnet man die Aussagen der Lehrerinnen in das bundesdeutsche Schulsystem ein, lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Die deutsche Schule baut wie in keinem anderen Land auf leistungsunterscheidender Mehrgliedrigkeit auf. Ausgerechnet dieses System soll diejenigen einschließen, die den größten Förderbedarf haben. Dabei hat man folgendes vergessen: Lehrer können nicht alles möglich machen.

Lauras Eltern sind übrigens ebenfalls unzufrieden, erfahre ich. Auch sie haben sich Inklusion ganz anders vorgestellt: In der gesamten Unterrichtszeit ist eine Lehrkraft mit dem Schwerpunkt Förderunterricht anwesend und kann sich um die zu inkludierenden Kinder und Jugendlichen kümmern. So dachten sie jedenfalls.

Fehlanzeige.

Auch haben sich Laura und vor allem ihre Eltern vorgestellt, dass Laura, inzwischen 15 Jahre alt, von ihren Mitschülern mehr integriert wird. Dass sie sich in den Pausen mit ihr befassen, sie zu Geburtstagen einladen, sie ins Freibad mitnehmen, sich nachmittags mit ihr verabreden und für das Wochenende Laura mit für den Kinobesuch einplanen. Schließlich gehört sie doch dazu.

Es mag Kinder und Jugendliche geben, bei denen das so ist. Ich habe mich vielfach umgehört: Es ist eher die Ausnahme. Je älter die Schülerinnen und Schüler sind, umso mehr gehen sie ihrer eigenen Wege. Das bedeutet: Gleich und gleich gesellt sich gern… – und Laura ist nun einmal anders. Man sieht ihr an, dass sie geistig behindert ist – am Gesichtsausdruck, an ihrer Statur, an ihren Bewegungen. Die Schülerinnen und Schüler, die zum Beispiel in der Grundschule mit behinderten Kindern im Gemeinsamen Unterricht zusammen waren, haben zugegeben, dass sie keinerlei Kontakt mehr mit ihren besonderen Klassenkameraden von damals haben. Daniel aus meinem Leistungskurs, 17 Jahre, sagte: »Das hört spätestens in der Pubertät auf. Man will sich – entschuldigen Sie, dass ich das jetzt so sage – doch nicht lächerlich machen, wenn man mit so jemandem irgendwo aufkreuzt.«

Daniel bringt es auf den Punkt: Inklusion ist der moralisch am höchsten zu bewertende Ansatz. Harte Realität ist: Er hat nur Bestand in seiner Papierform.

Nicht dass Sie jetzt denken, ich sei gegen Inklusion – mitnichten! Aber diese Ahnungslosigkeit, die mit dem Voranbringen des Gesetzes zu besagter Inklusion einhergeht, lässt mich am Verstand derjenigen, die entsprechende Entscheidungen treffen, zweifeln. Wie naiv, wie unwissend muss man sein, damit man die Förderschulen und auch die Unterbringung in Wohnheimen vom Schreibtisch aus zusammenstreicht, was exakt zurzeit passiert. Haben die verantwortlichen Gremien schon einmal ein Förderzentrum mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (früher: »Schule für Geistig Behinderte«) besucht? Haben sie sich in einer Werkstatt der Lebenshilfe einen Einblick verschafft, was Vielfalt von Mensch zu Mensch bedeuten kann? Und haben sie die Eltern darüber aufgeklärt, dass ihr besonderer Sohn, ihre andere Tochter, sollte sie eine Art von Hauptschulabschluss schaffen, sich unter Umständen auf dem freien Arbeitsmarkt behaupten muss? Schließlich hat ihr Kind ja einen Schulabschluss! Und ist den Eltern eigentlich klar, dass ihr behindertes Kind, mittlerweile erwachsen, mit Schulabschluss, und sei dieser noch so bescheiden, nicht unbedingt zeitnah Anrecht auf einen Wohnheimplatz hat? Bei diesen Fragen besteht noch dringend Klärungsbedarf.

Und ist den Eltern bewusst, dass es schon schwer genug ist, einen sogenannten »normalen« Hauptschulabsolventen z. B. in einem Betrieb unterzubringen, in dem er eine Lehre machen darf, geschweige denn ihr besonderes Kind?

Es gibt mittlerweile gut geförderte Jugendliche mit Behinderung mit einfachem Hauptschulabschluss, die ohne berufliche Perspektive zu Hause leben. Sie werden nicht eingestellt – es gibt qualifiziertere Azubis im Angebot. Sie haben unter Umständen keinen Platz im Wohnheim, denn es gibt dringendere Fälle, die eine Unterbringung notwendig machen, und die Wartelisten sind lang. So leben sie weiterhin und auf unbestimmte Zeit bei den Eltern, da sie alleine nicht zurechtkommen.

Betrachtet man das Anliegen der Eltern, die die Lebenshilfe aus der Taufe gehoben haben, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Inklusion in der oben gezeigten Umsetzung ein Rückschritt bedeuten kann.

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