Das Himmelreich in mir

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Mein ohnehin sehr gebeuteltes Selbstwertgefühl bekam durch diese zunächst harte Wahrheit einen gnadenlosen Dämpfer. Mein anscheinend immer noch schönes, ja, fast makelloses Selbstbild wurde nun endgültig zerstört. Doch ich machte weiter, ich war auf der richtigen Fährte: Immer, wenn aufgrund eines Ereignisses oder einer Situation im Alltag eine alte Wunde in mir aufbrach und damit leidvolle Gefühle in mir aufstiegen, stellte ich mich ihnen, indem ich ihnen nachspürte und mich auf sie einließ. Ich reflektierte frühere Lebenssituationen, die mich nun erneut schmerzten, weil etwas passierte, das mich daran erinnerte. Ich durchlebte noch einmal ganz bewusst, was mir jeweils in der Vergangenheit widerfahren war. Ich durchlebte es manchmal sogar ein zweites, drittes und viertes Mal, bis ich das bittere Ereignis, welches die traurigen Gefühle verursacht hatte, neutraler betrachten konnte und der Schmerz irgendwann nachließ. Mit der Zeit wurden die Erinnerungen immer schmerzfreier.

Doch mir wurde bald auch bewusst, dass das Gelingen meines Veränderungsprozesses nicht allein an meinem Bemühen und an meinem starken Willen hing. Ich spürte von innen heraus eine Art der Hilfe, die ich zuvor nie in diesem Maße wahrgenommen und erlebt hatte. Im Alleingang hatte ich ja bereits mehrfach versucht, mein Leben in den Griff zu bekommen, und hatte stets die Erfahrung machen müssen, jäh zu scheitern. Dieses Mal war es anders: Ich konnte eine innere Kraft und Hilfe wahrnehmen. Ich war endlich bereit, mit dieser Unterstützung mein Leben umzugestalten. Ich wollte ganz bewusst meinen inneren Helfer bitten, mir beizustehen. Je mehr ich dies tat, desto mehr vernahm ich einen starken, immer mächtiger werdenden Trost in mir. Meine unablässig sich stellenden Fragen, die sich darum drehten, wie ich ein erfülltes Leben führen könnte, wurden plötzlich auf irgendeine Art und Weise beantwortet. Diese Antworten konnten von überallher kommen. Es konnte ein Zeitungsartikel sein, der mich sehr berührte, oder die Aussage eines Menschen, die ich irgendwo aufgeschnappt hatte und mir zum richtigen Zeitpunkt durch den Kopf schoss. Meine zuverlässigsten Begleiter waren jedoch Bücher – sie gaben mir nicht nur Antworten, sondern dienten mir auch als praktische Hilfe in den unterschiedlichsten Lebenssituationen.

Doch trotz alledem – trotz der positiven Tendenz – fehlte mir immer noch jegliches Selbstvertrauen, und meine Selbstsicherheit schien gänzlich verloren gegangen zu sein. Sie erholte sich sozusagen nicht, obwohl ich nun bewusster mit meinen schwierigen Gefühlen umging und obwohl ich eine gewisse Reflexionstiefe erreicht hatte. Es schien, als würde meine Innenwelt, die ja genau genommen fast nur noch aus Verzweiflung und Resignation bestand, nicht mehr regenerieren. Ich wusste einfach nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Ich schien auf der Stelle zu treten. In diesem miserablen Zustand wachte ich eines Nachts auf und hörte aus mir heraus eine warme, liebende Stimme sprechen. Sie sagte: »Du bist geliebt! Du bist geliebt!« Ich schlief wieder ein, doch die Stimme gab keine Ruhe. Immer wieder weckte sie mich auf und wiederholte beharrlich dieselben Worte: »Du bist geliebt! Du bist geliebt!« Sie brannten sich förmlich in mein Gedächtnis, oder ich sollte lieber sagen, in mein Herz ein. Nun wusste ich nicht nur, dass ich geliebt bin, weil ich es gehört hatte, sondern vor allem, weil ich es fühlen durfte. Dieses Fühlen war außerordentlich intensiv! Es drang gleichzeitig tief in mein Herz ein und quoll daraus hervor – und wurde so unweigerlich zu einer absoluten Gewissheit! Ich bin geliebt! Ich bin geliebt!

Jetzt war mir plötzlich klar, dass kein Mensch nur mit Hören und Lesen allein weiterkommen könnte! Das Gehörte und Gelesene musste gefühlt werden, um wahrhaftig geglaubt werden zu können. Auch die Bewusstmachung der schlechten Gefühle reichte allein nicht aus, genauso wenig wie vorher die mentale Technik der positiven Zurede. Ohne echtes Gefühl gab es keine echte Veränderung! Deshalb war dieses wunderbare Gefühl des völligen Geliebt-Seins für mich so kostbar. Es begleitete mich einige Monate lang, um immer da zu sein und mich aufzufangen, wenn ich Zweifel in und an mir hegte. Ich erinnerte mich dann so lebhaft an diese Nacht und an den mir voll Liebe und Warmherzigkeit zugesprochenen Satz: »Du bist geliebt!«, als wäre es gerade erst geschehen. Auch wenn diese emotionale Tiefe dann nach und nach wieder verblasste in meinem Alltag, blieb ihre Wahrheit in meinem Unterbewusstsein verankert. Diese wichtigen, kraftvollen und Hoffnung spendenden Worte in jener Nacht hatten eine fundamentale Veränderung in mir angestoßen und eine tiefgreifende Verwandlung eingeläutet – hin zu Selbstannahme und Selbstakzeptanz.

Die Eingebung

Schon immer war es ein großer Wunsch von mir gewesen, einmal ein ganzes Jahr im südeuropäischen Ausland zu verbringen. Als meine Zwillinge berufstätig waren und folglich auf sich allein gestellt leben konnten, sah ich den richtigen Zeitpunkt gekommen. Ich sehnte mich nach einem warmen Ort irgendwo am Meer, wo ich nahezu das ganze Jahr über baden könnte. Ich stellte mir immer wieder vor, wie ich in meiner Freizeit täglich am Strand in der Sonne läge und im Meer schwämme. Da Italienisch die einzige Fremdsprache war, mit der ich mich halbwegs verständigen konnte, konzentrierte ich meine Recherchen zu einem passenden Arbeitsplatz fast ausnahmslos auf Italien – obwohl mir eigentlich klar war, dass das Baden in Italien gar nicht ganzjährig möglich wäre. Selbst auf Sizilien, also an der südlichsten Spitze Italiens, sinken die Wassertemperaturen im Winter bis auf fünfzehn Grad, und auch die Sonne lässt sich nicht täglich blicken.

Ich suchte nach einem Job, doch oft dachte ich, mein Traum würde sowieso wie ein Luftballon zerplatzen. Denn all meine Bemühungen brachten keinen nennenswerten Erfolg, obwohl ich bei der Auswahl der Tätigkeiten nicht anspruchsvoll war. Ich wäre bereit gewesen, praktisch fast alles zu machen, um endlich am Meer zu leben und täglich Sonne genießen zu können. Irgendwann, eines Abends im Herbst, war ich so entmutigt, dass ich mein Vorhaben aufgeben wollte. Doch am nächsten Morgen hatte ich eine starke und sehr eindringliche Eingebung – für mich waren derartige Eingebungen oder Impulse nichts Ungewöhnliches mehr, und ich war stets bemüht, ihnen beharrlich nachzugehen. Diese Eingebung betraf mein weiteres konkretes Vorgehen: Ich würde für den gesamten Mai des folgenden Jahres eine Reise nach Rhodos antreten. Außerdem würde ich genau in dem Hotel ein Zimmer buchen, in dem ich bereits ein Jahr zuvor eine Woche Urlaub gemacht hatte.

Da ich mir weder vorstellen konnte, in Rhodos einen Job zu finden, noch genug Geld hatte, um einfach einen Monat lang Urlaub zu machen, ging ich ziemlich leidenschaftslos an die Sache heran. Ich mailte meinem Reisebüro die Daten meiner gewünschten Reisezeit und dem Hotel mit der Bitte um ein Angebot, da es für die kommende Sommersaison noch keine Reiseprospekte gab. Es dauerte nicht lange, bis ich eine Antwort bekam: Die Reise, inklusive Hin- und Rückflug sowie Hotelzimmer mit Halbpension – für einen Monat! –, wurde mir für 777 Euro angeboten. Ich musste schmunzeln, denn ich ging davon aus, dass der Mitarbeiterin ein Fehler unterlaufen war. Im Jahr zuvor hatte ich fast denselben Preis für gerade mal eine Woche Aufenthalt bezahlt. Ich teilte ihr per Mail meine Zweifel an dem genannten Preis mit, doch prompt kam die Antwort: Sie wäre zwar ebenfalls sehr überrascht, aber meine Anfrage hätte exakt zu diesem Ergebnis geführt, nicht zuletzt aufgrund verschiedenster Rabatte und Sonderkonditionen. Es wäre ein Volltreffer, zu dem sie mir gratulierte.

Letztlich aber hatte ich nicht einmal diesen Betrag zur Verfügung. Nur die minimale Anzahlung konnte ich leisten. Doch ich vertraute meinem Impuls und buchte die Reise fest. Ich hatte schon so oft erlebt, dass die Lösungen für bestimmte Probleme von selbst auftauchten, wenn es so weit war. Und wie aus heiterem Himmel fiel mir im April des nächsten Jahres exakt der fehlende Restzahlungsbetrag in die Hände: Mein Ex-Mann hatte verlauten lassen, er würde gerne wieder in unsere geräumige Wohnung zurückziehen, und mich gefragt, ob ich mit einem Wohnungswechsel einverstanden wäre. Daran hing nicht nur eine Mieterleichterung für mich, sondern auch eine freiwillige Abstandszahlung für in der Wohnung verbleibende Einrichtungsgegenstände. Im Effekt bescherte mir dies sogar genügend »Taschengeld« für meine Reise nach Rhodos. Jetzt war ich wirklich bereit, die Reise anzutreten!

Einige Tage vor meinem Urlaub kamen mir jedoch erhebliche Zweifel an meinem Vorhaben. Ich grübelte: Was hat mich nur geritten, mich mit beinahe dem letzten Cent darauf einzulassen? Ich muss verrückt sein, diesem Impuls zu folgen! Es ist absurd, mich einen Monat lang mutterseelenallein auf Rhodos aufzuhalten! Was soll ich nur die ganze Zeit dort tun? Um die drohende Langweile, die mich mit Sicherheit erwarten würde, etwas einzugrenzen, ermittelte ich im Internet, welche Möglichkeiten es gab, auf irgendeine Art und Weise Anschluss zu finden. Dass ich im Hotel selbst Leute kennenlernen könnte – auf diese Idee kam ich seltsamerweise überhaupt nicht. Zunächst stieß ich auf die Homepage einer deutschsprachigen Gemeinde in Rhodos-Stadt. Unter anderem entdeckte ich eine Anzeige auf der Seite, dass zum September eine Mitarbeiterin gesucht würde. Die Stellenbeschreibung stimmte weitgehend mit dem Tätigkeitsbereich überein, in dem ich bereits jahrelang – wenn auch nur ehrenamtlich – in dem christlich-muslimischen Begegnungszentrum gearbeitet hatte. Das konnte kein Zufall sein!

Kurz nach meinem Eintreffen auf der Insel besuchte ich die Ökumenische Gemeinde und das daran angeschlossene Begegnungszentrum. Der große Gemeinderaum beeindruckte mich, denn er hatte ein interessantes zweiteiliges Innendesign: Der eine Teil wurde an Sonntagen für den Gottesdienst genutzt; darin befand sich ein schlichter Altar. Im davon abgeteilten zweiten Raum standen Tische und Stühle für verschiedene Anlässe bereit. Meist wurde hier nach den Gottesdiensten Kaffee und Kuchen angeboten.

 

Besonders zu der Vorstandsvorsitzenden verspürte ich sofort eine freundschaftliche Verbundenheit. Allerdings zeigten sich einige Mitglieder besorgt, weil sie sich bereits für eine andere Bewerberin entschieden und diese schon so gut wie zugesagt hatte. Trotz der geringen Chance verließ mich das Gefühl nicht, dass hier mein zukünftiger Arbeitsplatz wäre. Alles war genau auf meine Wünsche zugeschnitten: ein Appartement mit Blick auf das Meer und eine wöchentliche Arbeitszeit von nur fünfzehn Stunden! Was wollte ich mehr!?

*

Meine Sorgen, Langeweile und Einsamkeit vorzufinden, bestätigten sich nicht. Ich machte auf Rhodos nicht nur flüchtige Bekanntschaften, sondern gewann sogar Freunde fürs Leben: Als ich am Flughafen ankam und auf meinen Koffer wartete, fiel mir eine Frau auf – ungefähr in meinem Alter. Ich konnte nicht sagen, warum, aber sie war mir schon sympathisch, als ich sie von Weitem sah. Irgendwie zog es mich zu ihr hin, also stellte ich mich neben sie an das Gepäckrollband. Mir fiel sofort auf, dass sie ein kleines rotes Kreuz um den Hals trug; das machte sie für mich noch interessanter. Doch plötzlich zog sie ihren Koffer vom Transportband und verschwand in der Menschenmenge. Ich ging davon aus, sie nie wieder zu sehen. Einige Minuten später jedoch entdeckte ich sie wieder: Sie saß ganz vorne in dem Bus, in den ich inzwischen auch eingestiegen war, um zum Hotel zu fahren. Obwohl der Bus noch fast leer war und es zur Mentalität der Deutschen gehört, zuerst alle Einzelplätze zu besetzen, fasste ich mir ein Herz und setzte mich spontan neben sie. Sie schaute etwas verdutzt, schien jedoch damit einverstanden zu sein. Ich wartete nicht lange, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie hieß Lena und mit ihr plauderte ich bald schon so angeregt, als wären wir schon seit Langem vertraut miteinander.

Es stellte sich heraus, dass unsere Hotels nur einige Minuten voneinander entfernt lagen. Deshalb verabredeten wir uns für den darauffolgenden Tag zu einem Strandspaziergang – und aus diesem Spaziergang wurden fast zwei Wochen, die wir miteinander verbrachten. Wir besichtigten per Bus verschiedene Sehenswürdigkeiten, machten gemeinsam Radtouren und trafen uns zum Schwimmen oder abends nach dem Essen auf ein Glas Wein.

Aus dieser Urlaubsbekanntschaft, die vor fast fünfzehn Jahren begann, ist eine langjährige Freundschaft geworden. Da Lena in Deutschland nur knapp sechzig Kilometer von mir entfernt wohnt, können wir uns mehr oder weniger regelmäßig treffen. Droht uns einmal, der Gesprächsstoff auszugehen, bleibt uns immer noch unser gemeinsames Lieblingsthema: Griechenland! Wir philosophieren gern stundenlang über Land und Leute.

Doch Lena ist nicht die einzige Freundschaft, die in diesem Urlaub begonnen hat und bis heute erhalten geblieben ist: Bereits am Abend ihrer Anreise lernte ich Hanne und Udo kennen. Das Ehepaar sprach mich im Hotel an, denn die beiden hatten über Umwege davon erfahren, dass ich mich aufgrund meiner früheren Tätigkeit als Reisebegleiterin gut auf der Insel auskannte. Sie boten mir an, sie einen Tag lang zu begleiten. Wie sie mir erzählten, hätten sie zwar ein Auto gemietet, könnten sich beide aber schlecht orientieren. Erschwerend würden Straßenschilder mit altgriechischer Beschriftung hinzukommen, weshalb sie befürchteten, sich zu verfahren. Ich sagte sofort zu, und wir verbrachten schließlich viel Zeit gemeinsam – auf wundervolle Art.

*

Während meines vierwöchigen Aufenthalts auf Rhodos besuchte ich viele Veranstaltungen des Ökumenischen Zentrums und erhielt kurz vor meiner Abreise die endgültige Absage für die Stelle als Gemeindemitarbeiterin. Die andere Bewerberin hätte inzwischen fest zugesagt, und somit wäre ich aus dem Rennen! Ziemlich enttäuscht und frustriert kehrte ich nach Hause zurück. Doch es kam, wie es kommen sollte: Einige Zeit später nahm die andere Bewerberin doch noch ihre Zusage zurück. Die sympathische Vorstandsvorsitzende, die im Übrigen nie an meiner zukünftigen Mitarbeit gezweifelt hatte, teilte mir per Mail die für mich erfreuliche Nachricht mit. So würde mein Wunsch also doch noch in Erfüllung gehen: Über dreihundert Sonnentage und das tägliche Bad im Meer waren genau das, was ich mir erträumt hatte. Selbst die Sorge um meine fehlenden Fremdsprachenkenntnisse war unnötig: Auf einer Touristeninsel wie Rhodos konnte der Großteil der Bevölkerung Deutsch sprechen. Zwei Jahre blieb ich auf dieser wunderbaren Insel, dann zog mich die Sehnsucht nach meinen Kindern wieder nach Deutschland zurück.

Der Job

Bereits einige Monate vor der Episode auf Rhodos hatte ich meinen Job gekündigt, um endlich nur noch das machen zu können, was mir Spaß machte. Ich wollte dem Bürotrott endlich entfliehen und mich ausschließlich mit Menschen beschäftigen. Mein Gegenüber sollte in Zukunft nicht mehr der Computer, sondern ein Mensch sein. Im Besonderen hatte ich Freude daran, mit Kindern zu arbeiten – hatte ich doch schon einige Erfahrungen in dem christlich-muslimischen Begegnungszentrum gesammelt. Da ich allerdings von dem geringen Einkommen, das ich mit der Kinderbetreuung verdiente, nicht leben konnte und meine wenigen Ersparnisse bald aufgebraucht waren, musste ich wohl oder übel wieder auf meinen gelernten Beruf als Bürokauffrau zurückgreifen. Ein Bekannter sagte mir, dass ein Unternehmen auf dem Land eine Büroangestellte suchte. Der Tipp war jedoch inoffiziell: Der Chef, ein Kneipenfreund meines Bekannten, hatte ihm in der Kneipe gebeichtet, die Arbeit würde ihm über den Kopf wachsen. So machte ich mich, ohne einen Termin, mit meinen Bewerbungsunterlagen auf den Weg, um dem Chef einen Besuch abzustatten. Er war jedoch nicht anwesend, und die Sekretärin äußerte, sie sei sich sicher, dass keine Bürokraft gesucht würde. Ich bat sie, trotzdem meine Bewerbungsunterlagen an ihren Chef weiterzuleiten. Am nächsten Tag rief mich der Chef an und bat mich um ein Vorstellungsgespräch; schnell kamen wir überein, dass ich drei Tage auf Probe arbeiten könnte.

Das Großraumbüro, in dem ich saß, war mit Jalousien abgedunkelt; künstliches Licht erhellte den Raum. Mein Schreibtisch stand in einer Ecke; schaute ich nicht auf den Bildschirm, musste ich notgedrungen an die Wände starren. Es war einfach schrecklich! Wie sollte ich das nur aushalten – langfristig? Immer wieder verließ ich das Büro, um auf der Toilette Stoßgebete gen Himmel zu schicken. Irgendwie überstand ich die Probetage, und wir vereinbarten ein festes Arbeitsverhältnis. Zu Beginn des übernächsten Monats würde ich halbtags hier arbeiten. Um mich selbst etwas aufzumuntern, redete ich mir ein, es wäre ja nur vorübergehend.

Nun würde ich also eine Arbeit außerhalb der Stadt beginnen! Demzufolge benötigte ich auch eine Wohnung in der Nähe. Der anstehende Wechsel fiel günstig zusammen mit dem Wunsch meines Ex-Mannes, der unsere frühere gemeinsame Wohnung übernehmen wollte. Bevor ich mich jedoch nach einer Wohnung umsah, stattete ich meinem Arbeitsberater im Jobcenter einen Besuch ab, um ihn über mein neues Arbeitsverhältnis zu informieren. In diesem Gespräch erwähnte ich, auf der Suche nach einer kleinen, günstigen Wohnung in der Nähe meiner neuen Firma zu sein. Wortlos reichte er mir die Tageszeitung, die auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. Ich schlug sie auf und vertiefte mich in die Vermietungsanzeigen. Genau in diesem Moment betrat eine Frau das Büro und ging an mir vorbei auf meinen Arbeitsberater zu. Sie warf einen Blick auf die Anzeigen, die ich gerade studierte, und meinte: »Sollten Sie nicht die Stellenanzeigen lesen?« Ich war zwar verwundert, was sie das wohl anginge, doch dann klärte ich sie auf und beschrieb ihr die Gegend, in der ich eine Wohnung suchte. Interessiert hörte sie mir zu und meinte, sie kennte im Nachbardorf meiner neuen Firma einen alten Mann, in dessen Haus seit langer Zeit eine Wohnung leer stehen würde. Überraschend bot sie mir an, mit mir sofort hinzufahren. Sie würde ein gutes Wort für mich einlegen.

Gesagt, getan: Der knapp achtzig Jahre alte, aber noch rüstige Vermieter begrüßte uns herzlich. Er war anscheinend von mir angetan und zeigte mir sofort die Wohnung, die zwar in einem miserablen Zustand war, aber auf seine Kosten renoviert würde. Ich rückte mit der Wahrheit frei heraus: Mit dem Gehalt eines Halbtagsjobs würde ich mir, genau genommen, eine 80-Quadratmeter-Wohnung nicht leisten können. Daraufhin halbierte er den Mietpreis! Bereits am nächsten Tag begannen die Modernisierungsarbeiten. Georg, mein neuer Vermieter, und ich arbeiteten hart, und nach drei Wochen war sie fertig renoviert – rechtzeitig vor meinem Urlaub und dem darauffolgenden Start in der neuen Firma.

*

Nach dem Urlaub trat ich schweren Herzens meine neue Arbeit an. Die ersten Tage waren furchtbar. Immer wieder musste ich, der Verzweiflung und den Tränen nahe, meinen Schreibtisch verlassen, um Schutz auf der Toilette zu suchen und mir mit kurzen Gebeten selbst Mut zuzusprechen. Meine neuen Kollegen waren sehr angenehm und spornten mich immer wieder an: Ich sollte mich auf keinen Fall selbst unter Druck setzen, da mein Aufgabengebiet bekanntlich nicht einfach wäre. Es wäre allen klar, dass ich einige Jahre brauchen würde, um mich vollständig eingearbeitet zu haben. Einige Jahre!? Unvorstellbar!, dachte ich und war todunglücklich. Am Ende der Woche holte mich der Chef in sein Büro; der Vertrag lag

bereits auf seinem Schreibtisch. Ich müsste nur noch unterschreiben, um ein gesichertes Einkommen zu haben. Er fragte mich, wie mir meine Ein­arbeitungstage gefallen hätten. Schon platzte es aus mir heraus; ich konnte nicht mehr anders, als ihm mein elendes Befinden ehrlich mitzuteilen. Er schien nicht sehr überrascht zu sein, hielt etwas inne und sagte dann mitfühlend: »Unter diesen Umständen ist es sicherlich besser, lieber heute als morgen die Zusammenarbeit zu beenden.« Ich stimmte ihm ohne Widerrede zu, verabschiedete mich und verließ bekümmert den Betrieb. Fern der nächsten Stadt und jeder Möglichkeit auf einen anderen erreichbaren Job, hatte ich mir ein neues Zuhause geschaffen – und jetzt das!

Vollkommen niedergeschlagen trat ich den Weg nach Hause an. Georg, mein Vermieter, saß gerade auf einem Gartenstuhl im Vorgarten, als ich kam. Tränenüberströmt teilte ich ihm mit, dass ich schon wieder arbeitslos wäre. Er legte seine Hand auf meine Schulter und sprach mir beruhigend zu: »Wo sich eine Tür schließt, tut sich woanders eine auf.« Tatsächlich waren seine Worte in diesem Moment tröstlich. Als ich in meine Wohnung trat, spürte ich meine Angst, nun hier festzusitzen. Um mich etwas abzulenken, ging ich an meinen Laptop, um die eingegangenen Mails zu checken. Wie Georg noch vor wenigen Minuten vorhergesehen hatte, öffnete sich prompt eine andere Tür: Eine Nachricht aus Griechenland enthielt die rettende Botschaft: Meinem Aufenthalt auf Rhodos stände nichts mehr im Weg, denn die andere Bewerberin hätte kurzfristig abgesagt. Ich könnte also im September meine Arbeit als Gemeindemitarbeiterin beginnen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Mein Traum ging doch in Erfüllung!

Sofort rannte ich die Treppe hinunter, um Georg die gute Nachricht mitzuteilen. »Ich habe Arbeit! Ich habe Arbeit!«, rief ich ihm entgegen. Verdutzt und fragend blickte er mich an. Als ich ihm den Grund für meine plötzliche Freude nannte – ohne daran zu denken, dass dies nicht unbedingt für ihn ein Grund zur Freude sein würde, weil ich dann womöglich gleich wieder ausziehen würde –, versuchte er sofort, mir diesen »Unsinn« auszureden. Doch ich war euphorisch, mochte er mir die Idee noch so schwarzmalen. Ich erzählte ihm sogar, dass der neue Job mir nur ein geringes Einkommen bringen würde, was ihm hätte noch waghalsiger erscheinen können. Stattdessen kam er mir mit einer Reduzierung der Miete entgegen und versprach, die Wohnung in der Zeit meiner Abwesenheit nicht anderweitig zu vermieten. Besser konnte es nicht laufen: Während der Sommermonate, die ich in Deutschland verbringen würde, könnte ich so meine eigene Wohnung nutzen. Später, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, würde Georg mir sogar für den gesamten Zeitraum die Miete erlassen – einschließlich der Garage für mein Auto! So sorglos war ich schon lange nicht mehr gewesen ...

Glückseligkeit

Mit einem großen Rucksack und einem vollen Koffer landete ich auf Rhodos und wurde am Airport von einigen Gemeindemitgliedern mit herzlichen Umarmungen begrüßt. Wir fuhren direkt ins Ökumenische Zentrum, wo ich im ersten Stock untergebracht war – mein eigenes Appartement! Sie händigten mir die Schlüssel aus und hießen mich noch einmal willkommen. Dann verabschiedeten sie sich, damit ich in Ruhe ankommen konnte. Ich sah mich ein wenig um: Alles war gemütlich für mich hergerichtet, sogar der Kühlschrank war mit Selbstgemachtem und Leckereien gefüllt. Ich war so sehr begeistert von allem, was mir widerfuhr, dass ich spontan wie ein Rumpelstilzchen herumsprang. Dann lief ich die Treppe herunter, stellte im Kirchenraum die Stühle auf die Seite und schaltete den CD-Player an. Meine Glücksgefühle schäumten über und ich drehte die Musik lauter. Vollkommen losgelöst tanzte ich durch den Saal und fühlte mich überaus großzügig beschenkt!

 

Auf der kleinen Loggia, von der aus ich einen tollen Blick auf das Meer und die gegenüberliegende türkische Küste hatte, trank ich bereits ab dem ersten Morgen meinen Kaffee und sang jeden Tag das Lied »Morning has broken« von Cat Stevens. Unterdessen konnte ich die Sonne am gegenüberliegenden Taurus-Gebirge aufgehen sehen. Dies war jeden Morgen aufs Neue ein besonderes Erlebnis, da die Sonne das Gebirge rötlich färbte.

*

Es war der größte Wunsch der Gemeinde, neue, vor allem jüngere Mitglieder zu bekommen, denn in den letzten Jahren waren es immer weniger geworden. Der Kern, der blieb, bestand aus größtenteils älteren Menschen. In der Anfangszeit hatte es eine Kindergruppe gegeben, die nun wieder neu belebt werden sollte. Doch dieser Wunsch, den ich mir zur Aufgabe machen wollte, schien sich zunächst nicht so einfach erfüllen zu lassen. So begann ich meine erste Gruppenstunde mit nur einem einzigen Kind! Sowohl der Junge als auch seine Mutter, die beim ersten Mal zuschauen wollte, fanden daran Gefallen, sodass sie ihr Kind anschließend für die kommende Woche wieder anmeldete. Beim nächsten Mal fing es plötzlich wolkenbruchartig zu regnen an. Zwei vorbeikommende Mütter suchten für sich und ihre vier Kinder Schutz unter dem ausladenden Vordach unseres Gebäudes. Ich drehte drinnen gerade die Kinderlieder lauter, nach denen wir zu zweit tanzten, um das Regenprasseln zu übertönen. Die schönen Klänge drangen nach draußen, und die beiden Mütter öffneten neugierig die Tür, um zu sehen, was hier geschah. Ich bat sie, hereinzukommen und mitzumachen, wenn sie wollten. Überrascht von dem verlockenden Angebot ließen sie sich darauf ein und tanzten und machten mit ihren Kindern Bewegungsspiele zur Musik. Ich erfuhr, dass es auf ganz Rhodos keine vergleichbare Möglichkeit für Frauen mit Kindern gab – jedenfalls nicht, wie hier, auf Spendenbasis. In der darauffolgenden Woche waren wir also schon zu sechst. Bald sprach es sich auf der Insel herum und es dauerte keine zwei Monate, bis ich die immer größer werdende Kinderschar in drei Altersstufen aufteilen und somit an drei Tagen Gruppenstunden geben musste.

*

Im Baby- und Kleinkindalter meiner Zwillinge hatte ich die beiden sehr oft mit Liedern in den Schlaf gesungen. An vielen Tagen schliefen sie rasch ein, aber manchmal musste ich mein komplettes Repertoire an Liedern anstimmen, damit sie müde wurden und langsam einschlummerten. Irgendwann gingen mir dabei die Liedertexte aus und ich improvisierte nur so vor mich hin. An einem dieser Abende kam mir plötzlich eine schöne Melodie und dazu ein passender Liedtext in den Sinn:

Lieber Gott, ich danke dir für den schönen Tag.

Lieber Gott, ich danke dir, dass du mich so magst.

Lieber Gott, ich bin so froh, dass du bei mir bist,

dass du mich bei Tag und Nacht immerzu beschützt.

Dieses Dankeslied gefiel uns auf Anhieb so gut, dass wir es, über Jahre hinweg, zu unserem täglichen Abendlied erkoren. Hin und wieder hatte ich die Idee, dieses Lied könnte auch für andere Kinder ein gesegnetes Tagesabschluss-Ritual

sein. Viele Jahre später wurde diese Idee tatsächlich zur Wirklichkeit: Hier, auf Rhodos, sang ich nun am Ende jeder Kinderstunde dieses kurze Abendlied und erinnerte mich jedes Mal daran, wie ich es früher mit meinen Kindern gesungen hatte. Einige der Mütter interessierten sich dafür, wer dieses Lied wohl getextet hätte. Sie hatten bereits im Internet recherchiert, aber nichts gefunden, daher erkundigten sie sich bei mir danach. Sie erzählten, ihre Kinder würden die Melodie ständig vor sich hin summen, sodass sie als Mütter selbst dazu übergegangen wären, diese gute Gewohnheit mit ihren Kindern vor dem Schlafengehen zu pflegen. Sie baten mich, den Liedtext zusammen mit den Noten aufzuschreiben und zu kopieren, damit sie das Lied weiter verteilen könnten in ihren Bekannten- und Freundeskreisen. Ich beherrschte aber die Notenschrift nicht und musste sie leider enttäuschen. Der Gemeindepfarrer, der zufällig nebenan im Büro saß und das Gespräch mitangehört hatte, kam zu uns herüber und verkündete: »Wenn du mir das Lied vorsingst, kann ich die Noten dazu schreiben!« Gesagt, getan. So wurde mein Liedchen nach und nach immer bekannter. Über dreißig Kinder aus den Kindergruppen lernten es und sangen es wiederum ihren Müttern und Freunden vor.

Als ich einige Jahre, nachdem ich wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, einige der Mütter, die mir zu Freundinnen geworden waren, auf der Insel besuchte, erzählten sie mir, dass sie noch immer mein Lied zum Einschlafen singen würden. Und wenn wir uns nach einem Treffen voneinander verabschiedeten, sangen wir es alle zusammen aus voller Kehle. Es war eine riesige Freude für mich, zu wissen, dass mein Lied weiterhin lebendig blieb – vor allem weil Gott damit täglich gedankt wird!

Da mir selbst das Singen immer schon sehr viel Spaß gemacht hatte, trat ich auch dem Erwachsenen-Chor der Gemeinde bei. Zunächst hatte ich zwar große Bedenken, weil ich der festen Überzeugung war, meine Stimme wäre unzureichend, doch die anderen überzeugten mich schnell vom Gegenteil. Sie sollten auch recht behalten, denn im Laufe der Zeit bildete ich meine Gesangsstimme immer besser aus. Großer Chorgesang hatte mich schon als kleines Kind beeindruckt – die Stimmgewalt und die Vielstimmigkeit hatten mir imponiert. Auch wenn ich mir nie zugetraut hätte, meine Stimme halten zu können, wenn neben mir andere Tonlagen gesungen werden, machte letztlich viel Übung auch eine kleine Meisterin aus mir. Wenn ich mich auf eine der kräftigeren Singstimmen konzentrierte, konnte ich den Ton richtig halten.

In der ersten Zeit übten wir gerade Weihnachtslieder, um für einen größeren Auftritt, der auch im griechischen Fernsehen übertragen werden sollte, qualifiziert zu sein. Es war eine beeindruckende Atmosphäre, als an Weihnachten praktisch alle Chöre der Insel in den verschiedensten Sprachen ihr Repertoire in der größten Kirche von Rhodos vortrugen.

Leben auf Rhodos

Die Vielzahl der Menschen, die ich auf der Insel mittlerweile kennengelernt hatte, brachte große Abwechslung in meinen Alltag. Ich fand für meine verschiedenen Interessen stets das richtige Gegenüber, um mich über dieses oder jenes auszutauschen oder auch bestimmte Dinge zu unternehmen. So wurde mein Wunsch nach guter Gesellschaft ganz praktisch erfüllt. Beispielsweise wollte ich an den Sonntagen nicht allein essen, daher sprach ich eine Frau an, die seit Jahren regelmäßig die Gottesdienste besuchte. Sie lebte ebenfalls allein und war zudem in meinem Alter. Mit ihr verbrachte ich fortan die meisten Sonntagnachmittage. Mal lud sie mich in eine Taverne zum Essen ein, mal bereitete ich kleine Häppchen für ein Picknick vor, die wir entweder am Meer oder in den Bergen aßen. Danach machten wir stets eine Wanderung oder einen Spaziergang. Für das Lobpreis-Singen oder das gemeinsame Lesen in der Bibel traf ich mich mit einer kleinen Gruppe von Frauen ein Mal wöchentlich im Gemeinderaum. Karin, die sympathische Vorstandsvorsitzende, kam mich regelmäßig besuchen, um mit mir auf der Veranda zu sitzen und tiefere Gespräche über theologische Themen zu führen. Eine der Mütter, deren Kinder zu mir in die Kindergruppen kamen, leitete in einem Tanzstudio griechische Kreistänze an. Auf ihre Einladung hin ging ich regelmäßig zum Tanzen.

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