Das Himmelreich in mir

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Mit Valeria, einer Teilnehmerin, die in meiner Umgebung wohnte, bildete ich eine Fahrgemeinschaft. Wir traten von nun an die Fahrten zu den Lehrgängen an den Wochenenden mit dem Auto gemeinsam an und befreundeten uns. Eines Tages fragte sie mich, was ich denn ständig während der Seminarzeiten akribisch mitschreiben würde – vor dem Hintergrund, dass wir doch stets ausführliches Material zum Nachlesen erhielten. So las ich ihr einige meiner Notizen vor. Verwundert schaute sie mich an und meinte, ich würde mit meinen Aufzeichnungen den Nagel auf den Kopf treffen. Außerdem würde ich aus dem Reden der Referentinnen vieles heraushören, was ihr selbst verschlossen bliebe. Sie wollte wissen, was ich mit diesen Aufzeichnungen machen würde, und ich antwortete ihr, dass ich schon seit einigen Jahren Seminare und Vorträge besuchen würde und mein Schreibtisch voll wäre mit derartigen Aufzeichnungen. »Darüber musst du ein Buch schreiben!«, rief sie spontan aus. Diese Äußerung ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Da ich gerade arbeitslos war, fing ich an, meine Notizen zu strukturieren.

Um das Schreiben dieses Buches zu ermöglichen, setzte ich jedoch drei Dinge voraus, die ich selbst nicht in der Hand hatte, die allerdings notwendig waren, damit ich mit dem Schreiben beginnen konnte: Die erste Bedingung war ein gebrauchter Laptop; ich war bereit, bis zu hundert Euro dafür zu zahlen. Bereits ein paar Tage später las ich in der Tageszeitung, dass jemand in der Nähe meines Wohnortes ein sehr gut erhaltenes Notebook für hundert Euro anböte. Ich kaufte es! Die zweite Bedingung, die ich stellte, war ein ruhiger Platz zum Schreiben. Auch diese Forderung wurde mir prompt erfüllt: Eines Tages kam mein Mann nach Hause und verkündete, im nächsten Monat gemeinsam mit seinem Cousin in der Stadt ein kleines Geschäft für seine Immobilienfirma zu eröffnen. Aus diesem Grund würde er sein Büro in unserer Wohnung räumen. Nun hatte ich einen eigenen Raum zum Schreiben! Die dritte Bedingung bestand darin, dass mein Sohn, der arbeitslos war, weil sein Ausbildungsbetrieb Konkurs angemeldet hatte, wieder einen Job fände. Zum Schreiben benötigte ich absolute Ruhe! Ich machte mir natürlich Sorgen um die berufliche Zukunft meines Sohnes. Er war zwar in praktischen Dingen sehr geschickt, doch seine Schulnoten, die meiner Meinung nach ausschlaggebend für einen Betrieb sein würden, ihn als Auszubildenden zu beschäftigen, ließen sehr zu wünschen übrig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er noch einmal das Glück hätte, mit seinem eher mittelmäßigen Zeugnis einen Arbeitgeber zu finden. Außerdem schien er mit dem »passablen Taschengeld«, welches er monatlich vom Arbeitsamt erhielt, zunächst sehr zufrieden zu sein. Mit seinen fünfzehn Jahren reichte ihm dieses Auskommen, und ich hatte die Befürchtung, er würde dieses »dolce va niente« langfristig leben wollen. Immer wieder trieb ich ihn dazu an, sich doch endlich um einen Ausbildungsplatz zu bemühen, doch er reagierte nicht. Mein Mann forderte mich auf, einfach mal »einige Wochen ins Land gehen zu lassen«. Er meinte, ich sollte Antonio etwas Zeit lassen, er wäre sich sicher, meinem Sohn würde dieses Leben auf Dauer zu langweilig werden.

So war ich bestrebt, meinen Mund zu halten, was mir wirklich sehr schwerfiel. Im Grunde wusste ich ja aus meinen Erfahrungen, dass mein Reden stets eher das Gegenteil von dem bewirkte, was ich erreichen wollte. Mein Mann sollte recht behalten: Nach zirka zwei Wochen »mündlicher Abstinenz« hatte Antonio einen Ausbildungsvertrag bei einer großen Auto- und Industrie­lackiererei, ganz in der Nähe. Ich konnte durchstarten und war tatsächlich bereits ein Vierteljahr später mit meinem zweiten Werk fertig: »Lebe dein Leben«7. Es behandelte in der Hauptsache eine Aussage von Jean-Paul Sartre: »Der Mensch ist nichts anderes, als was er selbst aus sich macht.« Anhand von Beispielen zeigte ich auf, wie äußere Lebensumstände von unseren Gedanken und Gefühlen bestimmt werden und wie wir uns durch Achtsamkeit und Verantwortlichkeit zu mehr Glück und Zufriedenheit verhelfen können.

Die »Goldene Regel«

Nach all den vielen Inspirationen und schriftstellerischen Eingebungen trat jetzt eine Flaute ein. Es war, als wäre der Draht zu meinen intuitiven Ideen gekappt worden. Was mir in dieser trostlos erscheinenden Phase blieb, waren die Begegnungen mit Menschen der verschiedensten christlichen Glaubensgemeinschaften; meine Kontakte beschränkten sich fast ausnahmslos auf Menschen aus religiösen Kreisen. Ich wurde Mitglied eines Hauskreises, in dem sich einige Christen zum Bibel-Lesen und Singen trafen.

Allerdings ging das Eintauchen in die biblischen Texte auch diesmal mit einer eher negativen Entwicklung einher. Genau genommen fühlte ich mich umso schlechter, je öfter ich zur Bibel griff. Bestimmte Verse, wie beispielsweise: »(...) Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.« (Mt 5,39) oder »(…) Liebt eure Feinde (…)« (Mt 5,44), versuchte ich zwar, in meinem Leben umzusetzen, doch gerade deshalb lösten sie auch eine steigende Selbstkritik aus. Die geschilderten Geschichten und Gleichnisse versetzten mich in andauernde, große Bedrängnis. Immer mehr Selbstzweifel machten sich in mir breit, und ich betrachtete mich von Tag zu Tag kritischer. Ich stellte mir immer häufiger die Frage: Bin ich so, wie ich bin, überhaupt okay? Einerseits hatte ich damit zu kämpfen, wenn meine Umsetzungsversuche scheiterten, andererseits konnte ich beim besten Willen nicht nachvollziehen, weshalb es gut und richtig sein sollte, mich ohne Gegenwehr erst auf die rechte und dann noch auf die linke Wange schlagen zu lassen. Außerdem konnte ich mir einfach nicht vorstellen, jemals meine Feinde lieben zu können. In mir sträubte sich etwas gegen diese Grundregeln, und zwar gewaltig! Es konnte doch nicht der Sinn meines christlichen Glaubens und Lebens sein, mir widerstandslos alles gefallen zu lassen, was andere Menschen mir antaten!? Irgendetwas in mir wehrte sich rigoros gegen diese Haltung des Alles-über-sich-ergehen-Lassens. Schließlich hieß es ja auch: »(…) Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« (Mt 19,19) Eine wehrlose, nur duldende Haltung hatte meiner Meinung nach nichts mit Eigenliebe zu tun, sondern lief auf Selbstverachtung und Entwürdigung hinaus.

Ich steckte in einem Zwiespalt: Einerseits war ich gewillt, mir das beispielhafte Verhalten Jesu zu eigen zu machen und seinen Empfehlungen zu folgen, andererseits haderte ich damit und hegte allergrößte Zweifel daran, dass mir das jemals gelingen würde. Wenn ich ehrlich war, konnte ich all diese »Anforderungen« nicht mit ganzem Herzen erfüllen. Doch mir war nicht klar, dass ich ein falsches Verständnis in Bezug auf Forderungen hatte. Aufgrund meines täglichen Nachsinnens über »Richtig« und »Falsch« wuchsen meine Zweifel zu einer tiefen inneren Zerrissenheit an, und das wiederum brachte eine große Lebenskrise in Gang.

Während ich unzählige Überlegungen über mein »richtiges Verhalten« anstellte, kam mir irgendwann die »Goldene Regel« in den Sinn: »Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu.« Diese ist eine logische Umkehr-Schlussfolgerung aus der Regel in Matthäus, Kapitel 7, Vers 12: »Alles, was ihr von den Mitmenschen an guten Taten erwartet, das tut ihnen.«8 Unsere Kinder hatten sie einige Jahre zuvor in unserer Familie eingeführt. Die Zwillinge waren acht Jahre alt gewesen, als von der evangelischen Kirche in unserem Wohnort eine einwöchige Kinder-Zelt-Freizeit angeboten wurde. Da sie solche Aktivitäten mochten, hatte ich sie angemeldet. Während sie im Zeltlager waren, hatten wir keinen Kontakt mit ihnen. Erst eine Woche später sahen mein Mann und ich sie zum Abschlussgottesdienst im Camp wieder. Die kurze Predigt bezog sich auf die »Goldene Regel«, und wir erfuhren unter anderem, dass dieser Leitsatz praktisch in jeder Weltreligion zu Hause wäre. Auf dem Nachhauseweg erzählten die Kinder von ihren Erlebnissen in der vergangenen Woche. Immer wieder tauchte dabei die »Goldene Regel« auf; sie schien sich tief in ihr kindliches Bewusstsein eingebrannt zu haben. Wochen, ja, Monate danach blieb sie Thema in unserem Haus, und so wurde unser Tun und Reden beständig unter dem Licht dieser »Goldenen Regel« betrachtet. Die Kinder kritisierten uns Eltern sofort, wenn sie der Meinung waren, wir würden gegen sie verstoßen.

*

Ich weiß nicht mehr, wann das ständige Tadeln durch unsere Kinder aufgehört hatte. Doch diese Regel musste in mir offenbar Wurzeln geschlagen haben, denn jetzt, da ich so große Selbstzweifel hatte und mein Selbstwertgefühl auf dem Nullpunkt angekommen war, wurde sie wieder zum festen Bestandteil meines Denkens und Handelns. Nun fragte ich mich beinahe ununterbrochen, wie ich mich in den verschiedensten Situationen verhalten sollte. Das Allerschlimmste war jedoch, dass ich aufgrund meiner negativen Sicht auf mich selbst auch automatisch meine Umwelt und die Menschen in meiner Umgebung fortwährend als negativ betrachtete. Binnen kurzer Zeit hatte ich an so gut wie allem etwas zu kritisieren. Egal, wer mir begegnete oder wen ich auch nur beobachtete, ich fand stets Gründe, an der Person herumzunörgeln. Ich war zu einer »Richtenden« geworden – zu jemandem, der sich selbst und andere ausschließlich skeptisch und mit Ablehnung betrachtete. Ich war allmählich dazu übergegangen, alles in einem schlechten Licht zu sehen.

Mit dieser Verdrehung meiner inneren Haltung begann in meinem Leben eine große Leidenszeit. Letzten Endes würde sie zwar auch den Anstoß für eine umfassendere Wandlung geben, doch bis dahin versank ich erst einmal in große Betrübnis. Dieses bekümmerte Dasein war ausschlaggebend dafür, dass sich lange Zeit alles nur noch um mich drehte. Wie hätte es auch anders sein können, da ich nicht zu begreifen vermochte, was genau das Leid und die Traurigkeit in mir auslöste. Ich war durch und durch erfüllt von einer starken Trostlosigkeit. Mein Denken und Handeln rotierte unablässig und ausnahmslos um mich und mein Verhalten. Ich vergaß wirklich alles um mich herum und sorgte nur noch dafür, mir meine ständigen und drängenden Fragen wieder und wieder aufs Neue zu stellen: Was ist richtig? Was ist falsch? Was ist gut und was ist schlecht? Diese und viele andere Fragen bestimmten mein Leben vollkommen, und es schien keinen Ausweg aus diesem Teufelskreis zu geben.

 

Reisen in den Süden

So vergingen Jahre, in denen ich in einer beständigen Unzufriedenheit und immer stärker werdenden Negativität mir und anderen gegenüber verharrte. Tröstlich war nur, dass ich in dieser Zeit Gottes Fürsorge immer beständiger und auch in praktischer Hinsicht erleben durfte – die kleinen und großen Wunder, die ich als Ausdruck seiner Liebe zu mir erfuhr. Trotzdem forderten die negativen Gedanken und auch die damit einhergehenden negativen Gefühle ihren Tribut. Meine Beziehungen litten sehr unter meinem lang anhaltenden Stimmungstief, insbesondere meine Partnerschaft. Ich spürte deutlich, dass nun auch meine zweite Ehe kurz vor dem Aus stand, denn immer wieder sprachen wir von Trennung.

Mit Blick auf unseren baldigen zehnten Hochzeitstag wollte ich noch einmal versuchen, das Ruder herumzureißen; eine Reise in den Süden sollte die Wende bringen! Mein Mann und ich hatten vor Monaten einen Dokumentarfilm über das Leben auf Sizilien im Fernsehen gesehen: Strahlender Sonnenschein und blühende Zitronen- und Orangenbäume in den Monaten Februar und März hatten uns ins Schwärmen geraten lassen. In der Tageszeitung fand ich die Anzeige eines Tourismusanbieters für eine Rundreise, die ich spontan buchte, in der Hoffnung, dieser Aufenthalt im warmen Süden könnte unsere Herzen wieder füreinander erwärmen und unsere Ehe erneut in Schwung bringen.

Leider erwischten wir den kältesten März seit Jahrzehnten – wie uns zumindest berichtet wurde –, mit Temperaturen um die acht Grad, kaltem Wind und Schnee auf dem Ätna. Wir hatten uns auf Frühling eingestellt und erlebten überraschend einen italienischen Winter. Die Stimmung unter den Mitreisenden war dementsprechend getrübt. Obendrein regnete es während der täglichen Ausflüge in den Bus hinein, in dem auch die Heizung nicht funktionierte. Wir saßen stundenlang in Kälte und Feuchte; es war ein Albtraum! Die Reisebegleiterin des in Deutschland ansässigen Reiseunternehmens zeigte sich bald schon überfordert und unfähig, uns bei guter Stimmung zu halten und für einen anständigen Ersatzbus zu sorgen.

Da ich mich auf meine Art für die Verbesserung unserer Lage einsetzen wollte, nutzte ich meine wenigen Italienischkenntnisse und bat den Busfahrer, während der Fahrten CDs mit landestypischer Musik – möglichst schöne und fröhliche – für seine Gäste einzulegen. Er ließ sich gerne darauf ein, und so brachten wir an so manchem Tag gemeinsam mit »Marina, Marina, Marina …« und anderen bekannten italienischen Liedern den ganzen Bus in Stimmung. Ich stiftete den Reiseleiter dazu an, vor Ort gute Landweine zu besorgen für die Pausen. Bald ließen sich auch noch die mürrischsten Gäste von dem fröhlichen Gesang und der ausgelassenen Stimmung mitreißen.

Am Ende des Urlaubes bedankten sich viele Gäste für meinen Einsatz und meinten, ich würde eine gute Reisebegleiterin abgeben. Und ich bat sie, diese Empfehlung an das deutsche Reiseunternehmen weiterzusagen – ohne mir etwas Bestimmtes dabei zu denken. Doch ein paar Tage nach unserer Rückkehr aus Italien erhielt ich einen Anruf von der Chefin des Tourismusbüros. Sie hätte einige überaus angenehme Anrufe von Gästen erhalten, die mich – als »Reisebegleiterin« – hoch gelobt hätten. Sie lud mich spontan zu einem Vorstellungsgespräch ein, um mir ein Arbeitsangebot zu machen. Das eigentliche Anliegen dieser Reise, meine Ehe aufzupeppen, war zwar gescheitert, doch die Aussicht auf einen neuen Nebenjob brachte mir einen kleinen persönlichen Aufschwung. Der Job brachte mich buchstäblich mehrmals im Jahr ins europäische Ausland, und ich lernte viele verschiedene Menschen dabei kennen. Ich hatte großen Spaß an der Aufgabe. Glücklicherweise unterstütze mich mein Mann, indem er sich um die Kinder kümmerte, wenn ich abwesend war.

*

Eine meiner »Exkursionen« führte mich nach Portugal an die schöne Algarve­küste. Nach den Ausflügen mit der Reisegruppe zog es mich fast täglich ans Meer, um für mich allein zu sein und Spaziergänge zu machen. Auf einer meiner frühabendlichen Touren hatte ich auf dem Rückweg ins Hotel ein wundersames Erlebnis: Ich lief direkt oberhalb des Strandes an der Steilküste entlang, als ich einen seltsam gekleideten Radfahrer bemerkte, der mich auffällig langsam überholte. Als er an mir vorbeifuhr, warf er mir einen durchdringenden Blick zu, bei dem es mir sehr unwohl wurde. Ich fragte mich, ob es nicht besser wäre, ein Stück weiter die Treppe zum Strand hinunterzusteigen, weil sich dort wenigsten noch einige Menschen aufhielten. Plötzlich vernahm ich innerlich eine Stimme, die mir sagte: »Ich bin mit dir, fürchte dich nicht!« Dieser Zuspruch gab mir augenblicklich meinen Frieden zurück, und so ging ich den oberen Weg weiter, bis dieser in ein kleines Waldstück abbog. Schon nach einigen Metern sah ich das Fahrrad an einen Baum gelehnt stehen, und im nächsten Moment erblickte ich den Mann, der mit heruntergezogener Hose hinter einem Baum auf mich wartete. Gerade, als er mich am Arm packte wollte, um mich zu sich heranzuziehen, kam ein einheimischer Jogger vorbei. Er erfasste die Situation sofort und schrie dem Mann auf Portugiesisch etwas zu. Mit einer raschen Handbewegung bedeutete er mir, ich sollte neben ihm hergehen. Ich sprang sofort an seine Seite und ließ mich bis zu meinem Hotel von ihm begleiten. Als ich mich von meinem Helfer verabschiedete, versicherte er mir auf Englisch, sofort die Polizei zu benachrichtigen.

Ähnliche Begebenheiten, die in mir ein unwohles Gefühl verursachten, erlebte ich immer wieder einmal, wie jeder Mensch. Aber immer dann, wenn ich auf meine innere Stimme hörte, wurde mir eine Lösung aus der unguten Situation geboten. Dieser Umstand führte dazu, dass ich in brenzligen Situationen immer genauer lauschte, was diese innerliche Stimme mir zu sagen hätte. Je mehr ich ihr mein Gehör schenkte, desto beständiger wurde mein Vertrauen in sie. In sicheren Alltagssituationen dagegen schenkte ich meinem inneren Ratgeber keine sonderliche Beachtung, sodass ich in meinen reflexhaften Gewohnheiten verharrte. Sie kamen der inneren Stimme stets zuvor.

Selbstmanipulation

»Sei du die Veränderung, die du dir für diese Welt wünschst.«

(Mahatma Gandhi)

Dieser Spruch von Gandhi ging mir seit Langem nicht aus dem Kopf. Doch trotz meiner krampfhaften Versuche, meine zweite Ehe zu retten, war auch

sie bald gescheitert! Die Tatsache, zum zweiten Mal geschieden zu werden, verursachte auch eine weitere tiefe Lebenskrise für mich. Meine Verzweiflungsspirale drehte sich kontinuierlich nach unten. Bisher hatte ich unter meinen Selbstzweifeln gelitten, jetzt quälte mich zusätzlich der Verdacht,

beziehungsunfähig zu sein. Konnte ich denn überhaupt nichts mehr richtig machen!? Warum lief mein Leben immer wieder aus dem Ruder? Ich war in einer Sackgasse angekommen und wusste nicht mehr ein noch aus. Ich musste doch Grundlegendes falsch gemacht haben – anders konnte ich mir meine Probleme nicht erklären –, aber was? Eines war sicher: Würde ich mich jemals auf eine neue Partnerschaft einlassen wollen, müsste ich dieser Frage nachgehen und eine Antwort finden. Es musste etwas geschehen!

Von der Erfüllung meines allergrößten Wunsches, nämlich eine liebevolle Paarbeziehung zu führen, war ich noch nie so weit entfernt gewesen wie zu diesem Zeitpunkt. Mir ging es miserabel! Im letzten halben Jahr war ich unverkennbar um Jahre gealtert. Ich war niedergeschlagen und glaubte, die Antwort nicht finden zu können. Wie sollte ich all die negativen Erfahrungen der letzten Jahre aus meinem Inneren entfernen? All die Ängste und Zwänge, die sich in meinem Leben etabliert hatten und mich nicht mehr losließen – was wollten sie mir sagen? Ich wusste mittlerweile, dass die Gedanken und Gefühle, die ich heute hatte, mein Morgen bestimmten. Doch wie sollte ich die oft hausgemachten Schwierigkeiten und Probleme hinter mir lassen? Mir war ebenfalls klar, dass viel Wahrheit in dem Satz steckte: »Die größte Entscheidung deines Lebens liegt darin, dass du dein Leben ändern kannst, indem du deine Geisteshaltung änderst.« Er stammt von Albert Schweizer; irgendwann einmal hatte ich ihn mir aufgeschrieben. Aber wie änderte man seine Geistes­haltung, wenn überwiegend negative Erfahrungen das Leben bestimmten?

Der Fokus meiner Gedanken lag stets auf dem Wunsch, eine von Liebe und Zärtlichkeit geprägte Partnerschaft zu führen. Meine Gedanken drehten sich also um das, was ich gerne gehabt hätte und somit im Nebeneffekt natürlich auch ständig um das Fehlen einer solch wünschenswerten Beziehung. Wie sollte sich also etwas ändern, wenn ich unablässig an das Nichtvorhandensein einer liebevollen Partnerschaft dachte!? Kreisten meine Gedanken um den Mangel, würde ich Mangel erleben! Dies war offensichtlich! Außerdem hatten mich meine negativen Erfahrungen immer misstrauischer gemacht und immer unsicherer werden lassen. Sie prägten mich, ob ich dies wollte oder nicht. Sie förderten eine Gesinnung des Mangels, die mich einfach nicht mehr losließ. Je mehr ich mich der »Denkweise des Fehlenden« hingab, desto stärker wurde ich von ihr erfasst und nicht mehr losgelassen. Sie hatte mich im Griff; und mein Erleben im Hinblick auf meine zwischenmenschlichen Beziehungen wurde immer niederschmetternder. Mein Fokus lag auf »Mangel«, und so vermehrte sich Mangel in meinem Leben. Ich zog buchstäblich wie ein Magnet das an, worauf ich mich gedanklich ausrichtete: Mangel! Mir schoss immer wieder der Satz von Marc Aurel ins Gedächtnis: »Auf die Dauer der Zeit nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an.« Dementsprechend musste meine Seele mittlerweile die Farbe Schwarz angenommen haben!

Wohlwollende Gedanken zu entwickeln – das war nun mein vorrangiges und wichtigstes Ziel! Ich wollte umgehend damit beginnen, um mir so ein Morgen des Glücks und der Zufriedenheit zu (er-)schaffen. Ich begann, rigoros auf meine unheilbringenden Gedanken durch bewusstes Entgegenhalten mit positiven Aussagen zu reagieren. Jedem negativen Gedanken hielt ich einen positiven entgegen. Auf diese Art und Weise wollte ich meine Vergangenheit ausmerzen und alles Negative bereits im Keim ersticken. Doch je mehr ich mich dieser Vorgehensweise verschrieb, desto zahlreicher wurden meine negativen Gedanken! Mein Versuch, durch »Gedankenhygiene« aus der Misere herauszukommen, kurbelte den Teufelskreis eher noch an. Zudem war es unbeschreiblich anstrengend und ermüdend, jeden einzelnen Gedanken den Rubriken »Gut« und »Schlecht« jeweils zuzuordnen und ihn dann gegebenenfalls umzuformulieren. Nach ungefähr einem Jahr dieser harten Praxis gab ich mich geschlagen! Ich war vollkommen am Ende! Mein Selbstwertgefühl hatte den Nullpunkt erreicht. Der Weg der Selbstbeeinflussung war gewaltig »in die Hose« gegangen. Mit meiner sturen Beharrlichkeit hatte ich mich immer weiter von dem entfernt, was ich eigentlich ursprünglich gewollt hatte. Was jedoch am allerschlimmsten war: Ich war mir selbst fremd geworden.

Eine noch größere Unsicherheit bestimmte fortan meinen Alltag. Keine Entscheidung traf ich mehr, ohne den Rat von Freunden einzuholen. Ich durchlebte die schlimmste Phase meiner Krise und war todunglücklich. Mit »gutem Einreden« hatte ich mich immer stärker selbst manipuliert; mein Leben war zu einem ständigen Kraftakt geworden. Kein Wunder, dass mich oftmals die Furcht ergriff, ich könnte wahnsinnig – buchstäblich verrückt – werden. Ich war getrieben von der Suche nach einem guten, sinnvollen Leben. Was meine Frage nach Sinn ständig neu anfachte, war das unendliche Leid, in dem ich feststeckte. Es brannte wie ein Feuer in mir, und ich konnte des inneren Schmerzes einfach nicht mehr Herr werden. Im Gegenteil, ich litt so sehr unter meiner Sehnsucht nach Erfüllung im Leben, dass ich pausenlos weinte. Wenn ich nicht gerade schlief oder meine Kinder zu Hause waren, weinte ich völlig haltlos. Beide absolvierten damals eine Berufsausbildung, und so waren sie mindestens zehn Stunden am Tag außer Haus. Sobald sie die Wohnungstür hinter sich schlossen, fing ich zu weinen an. Oft konnte ich abends, wenn wir zusammen fernsahen, meine Tränen nicht unterdrücken und ging unter dem Vorwand, müde zu sein, ins Bett.

 

Was ich damals ganz massiv wahrnahm, war eine übergroße Traurigkeit. Sie war sicherlich deshalb so übermächtig, weil mein Leben nicht so verlief und verlaufen war, wie ich es mir erträumt hatte. Nicht nur die Trauer über das Misslingen belastete mich extrem, sondern auch die Tatsache, dass es das Schicksal anscheinend nicht gut mit mir meinte und ich praktisch unfähig war, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Von nun an betrachtete ich mich als Marionette meines Schicksals, welches völlig willkürlich mit mir machen konnte, was es wollte!

Im Rückblick glaube ich, dass aufgrund des ständigen Weinens eine große Menge des erlebten Schmerzes, den ich bis dahin in mir verschlossen hatte, herausgeströmt war. Es kam, so erscheint es mir zumindest heute, alles an die Oberfläche, was mir in meinem Leben bis zu diesem Zeitpunkt Kummer und Leid bereitet hatte, was ich aber bis zu diesem Moment nicht hatte wahrhaben wollen beziehungsweise können. Das unablässige Weinen hielt fast ein Jahr an!

»Herr, erbarme dich meiner!«

»Du zeigst mir den Weg, der zum Leben führt. Vor dir ist Freude und Fülle und Wonne in deinem Reich ewiglich.«9 (Ps 16,11)

Als ich diesen Vers zum ersten Mal las, befand ich mich wieder einmal im Süden. Ich hatte beschlossen, eine Reise zu machen, weil mir die Not zu Hause über den Kopf gewachsen war. Außerdem brauchte ich Abstand von meinem Alltag, um klarer erkennen zu können, was der nächste Schritt für mich sein könnte – auch in beruflicher Hinsicht. Auf der kleinen griechischen Insel, auf der ich mich befand, gab es einen Ort, der mich magisch anzog, sodass ich ihn täglich aufsuchte: eine Kapelle! Sie war von meinem Hotel aus in zirka zwei Stunden zu Fuß zu erreichen. Ich hielt mich dort praktisch den ganzen Tag auf – manchmal saß ich davor und hielt meinen Blick auf das Meer gerichtet, dann wieder stand ich minutenlang reglos in der Kapelle und betete beständig dasselbe kurze Gebet: »Herr, erbarme dich meiner!« Auch auf den Fußmärschen, hin und zurück, betete ich diese Worte ununterbrochen. Dieser rituelle Gang zur Kapelle blieb – außer Essen und Schlafen – tatsächlich meine einzige Beschäftigung, zwei Wochen lang. Ich verbrachte also den ganzen Tag mit der Bitte, Gott möchte mich doch aus dem tiefen Tal meines Leidens herausführen.

In Wahrheit, dies muss ich heute ehrlich gestehen, waren meine Gebete oft voller Absicht gewesen: Ich wollte Gott barmherzig stimmen, ja, ihn letztlich bedrängen und dazu bringen, meinen persönlichen Wunsch zu erhören. Im Grunde »benutzte« ich das Beten, um meinen Willen durchzusetzen. Außerdem fühlte ich mich von Gott verlassen und versuchte zwanghaft, ihm auf diesem Wege näherzukommen. Hatte ich doch bereits in meiner Kindheit erlebt, wie wohltuend die Beziehung zu ihm sein konnte und wie es den Schmerz zu lindern vermochte, von ihm in meiner Einsamkeit getröstet zu werden. Mit meinem dauernden Beten versuchte ich, an die Erfahrung meiner Kindheit und frühen Jugend anzuknüpfen, in der Gegenwart Gottes stets zur Ruhe zu kommen. Ich sehnte mich nach dem seligen Empfinden von Geborgenheit – so, wie ich es in Erinnerung hatte aus dieser frühen Lebensphase. Doch was ich nicht bedachte, war, dass meine kindlichen Gebete von keinen selbstsüchtigen Motiven getragen gewesen waren.

Sicherlich gab es einige Gründe dafür, dass ich mich von Gott verlassen fühlte. Ich empfand meinem Ex-Mann und meinen Kindern gegenüber große Schuldgefühle. Hatte ich ihn doch – scheinbar ohne ersichtliches Motiv für alle Beteiligten – verlassen. Für mich hatte festgestanden: Die Ehe war zerrüttet! Allerdings hatten wohl weder mein Mann noch meine Kinder es damals so gesehen. Keiner konnte diesen Schritt nachvollziehen! Vielleicht entfernte ich mich auch immer weiter von Gott, weil ich für all das Gute, was mir in den Jahren zuvor widerfahren war, nur wenige Worte des Dankes ihm gegenüber verlauten ließ. Ich nahm es als selbstverständlich hin! Möglicherweise musste ich mich auch erst einmal von Gott entfernen, damit mir bewusst würde, wie beklagenswert mein Dasein ohne seine spürbare Anwesenheit ist. Erst aufgrund dieser Erfahrung war ich jetzt bereit, willentlich wieder den Rückweg anzutreten und in seine Nähe zurückzukehren. Buße zu tun, wie man dies letztlich auch nennt, denn Buße heißt nichts anderes, als zu Gott umzukehren.

Zudem war ich unfähig geworden, mir selbst nahe zu sein. Hatte ich als Kind die vielen Stunden, in denen ich alleine gewesen war, genießen können, war mir dies jetzt praktisch unmöglich geworden. Sehr wahrscheinlich war dies sogar ein wesentliches Motiv, Gott nun erneut zu suchen. In einem Buch von Pater Anselm Grün hatte ich gelesen, je unfähiger ein Mensch wäre, sich selbst nahe zu sein, desto größer wäre in ihm die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit. Da war sie also wieder, die Sehnsucht! War die Sehnsucht nach Gott mit der Sehnsucht nach einem erfüllten Leben etwa gleichzusetzen? War ein glückliches Leben nur in Gottes Nähe möglich? Zu all diesen Fragen und dem seelischen Leid kamen ja auch noch meine gesundheitlichen Beschwerden. Ich hatte genau genommen jeden Tag an irgendwelchen Stellen meines Körpers Schmerzen. Gründeten diese etwa auch im Fehlen einer lebendigen Beziehung zu Gott? »Krankheiten«, so las ich in einem Buch von Jörg Müller, »haben mit unserem Lebensstil, Lebensüberzeugungen und unserem Lebenswandel zu tun. Die eigentliche Wunde bleibt stets die fehlende Beziehung zum Schöpfer.«10

»Du bist geliebt!«

Lange Zeit hatte ich die Inhalte meiner negativen Gefühle einfach nicht beachtet und mich stattdessen ausschließlich darauf konzentriert, sie mit »positivem Einreden« auszumerzen, um auf diese Weise mein Leben neu zu gestalten. Da jedoch mein Denken, Reden und Fühlen nicht miteinander im Einklang waren, wurde ich auf Dauer krank. Mein Leben war von Angst, Sorge und Misstrauen – also krank machenden Gefühlen – beherrscht. Dies war es, was ich zu diesem Zeitpunkt erkannte: Keine mentale Technik könnte mir helfen, solange noch irgendetwas in mir rumorte, sodass meine Gedanken um das dazugehörige Gefühl kreisten. Je mehr ich bemüht war, schlechte Gefühle durch Einreden einfach zu übergehen, desto häufiger tauchten sie auf und umso mehr musste ich mit positivem Zureden dagegenhalten. Nur durch gute Gefühle könnte sich auf Dauer auch meine Geisteshaltung zum Positiven wenden. Mir wurde klar, dass ich all die Jahre nicht ehrlich und aufrichtig zu mir selbst gewesen war. Ich hatte meine Zweifel und mein Misstrauen unter den Teppich gekehrt!

Leider kam mir diese Erkenntnis erst sehr spät, und deshalb hatte ich so viel Leid erleben müssen, bis der seelische Druck nicht mehr auszuhalten war. Nun wollte ich endlich anfangen, mich mit meiner Vergangenheit intensiv auseinanderzusetzen, um der Ursache, den unguten Gefühlen, auf den Grund zu gehen. Dies bedeutete jedoch, mich mir selbst zuzuwenden und zu beginnen, alle Gedanken und Gefühle zu hinterfragen. Nur so könnte ich Ordnung in mein Gedanken- und Gefühlschaos bringen. Ich war fest entschlossen, von nun an meine schmerzhaften Emotionen nicht mehr auszublenden. Ich bemühte mich um die Gelassenheit, große Emotionen geduldig vorüberziehen zu lassen – was natürlich nicht immer gelang. Manchmal fühlte ich mich regelrecht wie durch den Fleischwolf gezogen. Es kam nicht nur zum Vorschein, womit ich in den letzten Jahren emotional und gedanklich zu kämpfen gehabt hatte, sondern auch vieles, von dem ich gar nicht ahnte, dass es in mir versteckt gewesen war. Gefühle, die ich nie zugelassen hatte, weil sie zu dem Bild, das ich von mir hatte, einfach nicht passten – sah ich mich doch gern als nette, liebenswerte Person. Gefühle, wie beispielsweise Eifersucht, waren mir ganz neu, und doch trug ich diese »unliebsamen Eigenschaften« in mir. Ich musste sehr mit mir selbst ringen, um diese unschönen Gefühle als zu mir gehörig anzuerkennen.