Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

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Auf Initiative von Steve Bell und Sallie Harkness hat sich Storyline mittlerweile auch in zahlreichen außereuropäischen Ländern verbreitet, wo das Modell ebenfalls ganz unterschiedlich realisiert wird. Dies soll durch einige (wenige) Beispiele illustriert werden:

 USA: In den 1980er und 1990er Jahren wurden durch das Central Bureau for Visits and Exchanges Studienreisen für Lehrerinnen und Lehrer nach Glasgow und Edinburgh organisiert. Mitglieder des Staff Tutor Team erklärten sich bereit, Kurse für die ausländischen Lehrkräfte durchzuführen. Bleibende Kontakte entstanden damals über Kathy Fifield, die 1986 ein Sabbatjahr in Glasgow verbrachte. Zurück in Portland, Oregon rief sie das Beratungsbüro Storyline Design ins Leben, das seit 1994 von Jeff Creswell, Lehrer in Portland, Oregon und Eileen Vopelak, Beraterin in Santa Barbara, Kalifornien fortgeführt wird. Creswell (1997) hat zudem das erste Buch über Storyline in den USA publiziert.Seit einigen Jahren vertreibt Storyline Design ein Magazin, das Lehrkräften Anregungen und Kommunikationsmöglichkeiten bietet. Des Weiteren werden Storyline-Kurse für verschiedene Niveaustufen angeboten, die teilweise von Steve Bell oder Sallie Harkness durchgeführt und von der Portland State University per Zertifikat anerkannt werden. Zudem wurde in Bend, Oregon eine Storyline Magnet School errichtet, deren Curriculum sich schwerpunktmäßig am Storyline-Konzept orientiert.21Storyline wird hauptsächlich an der amerikanischen Westküste rezipiert, jedoch nicht nur im schulischen Kontext, sondern punktuell auch in Seminaren in der freien Wirtschaft (z.B. mit Banken) eingesetzt. Wendy und Ken Emo (University of Minnesota, Morris) untersuchen derzeit, wie und wo Storyline in den USA implementiert wird (vgl. Emo 2010).

 Thailand: Als Folge eines Alumnikurses in Jordanhill erhielt Steve Bell 1998 eine Einladung an die Chulalongkorn Universität in Bangkok, wo zwei Storyline-Kurse zum Thema Environmental Studies stattfanden. Ein weiterer Kurs wurde mit über 150 Lehrkräften in Phranakhon durchgeführt. In den darauffolgenden Jahren wurde in Thailand ein Projekt (The Dawn Project) zur Umwelterziehung in Schulen und zur Entwicklung von Nachhaltigkeit in Kommunen entworfen und über 50.000 Lehrkräften, Studierenden, NGOs und weiteren Interessierten in Fortbildungskursen vermittelt. Darüber hinaus finden auf Initiative ehemaliger Jordanhill Alumni im Rahmen von Storyline Thailand Action Network for Integrating Learning (STANIL) Storyline-Kurse an der Universität Chulalongkorn statt, wo zwischenzeitlich auch einige Publikationen entstanden sind.22

 Singapur: Im Jahr 2001 beabsichtigte das Bildungsministerium, das Schulcurriculum zu einem verstärkt integrativen Konzept zu überarbeiten, und ein entsprechendes Projektteam sollte geeignete Maßnahmen entwickeln. Auf Initiative des besagten Projektteams führte Steve Bell mehrere Storyline-Kurse für Primar- und Sekundarlehrkräfte durch. Im gleichen Zeitraum gab er im Auftrag der Firma LEGO einen Kurs für Kindergartenerzieherinnen und -erzieher. 2005 fand in Singapur die 1st International Chinese Early Education Conference statt, bei der Bell einen Vortrag hielt. Darüber hinaus führte er Storyline-Kurse mit Erzieherinnen, Erziehern und Eltern durch. Im Jahr 2007 hat eine Delegation des National Institute of Education, Singapore zu Forschungszwecken Glasgow besucht.23

Des Weiteren fanden im Rahmen von Studien zur Umwelterziehung in Jordanhill, Glasgow jahrelang Kurse für ausländische Gäste statt (Bell 2007). Auf diesem Weg fand Storyline Eingang in das Programm und wurde in Nepal im Bereich Gesundheitserziehung sowie in Pakistan, Brasilien, Sri Lanka, Goa und Thailand im Bereich Umweltschutz angewandt und verbreitet. Zudem wurde bzw. wird der Storyline-Ansatz auch in der Lehrerfortbildung in Botswana, Nigeria, Tansania und Kamerun sowie in der Fortbildung von Schulleitern bzw. -innen in Uganda eingesetzt. Neuerdings bestehen auch Kontakte mit Japan (Matsuyama) und Sibirien (Tomsk), wo derzeit erprobt wird, wie mit Hilfe von Storyline das fremdsprachliche Lernen an Hochschulen verbessert werden kann. Außerdem ist eine ehemalige Studentin aus einem meiner Storyline-Kurse im Jahr 2014 nach Südafrika umgesiedelt, wo sie im Schulunterricht bereits mehrere Storylines erfolgreich implementiert hat.24

 Deutschland: Die Entwicklung und Verbreitung des Storyline Approach in Deutschland ist bisher noch nicht systematisch erfasst worden, daher können nur einige Schwerpunkte genannt werden:25 In Hamburg und Schleswig-Holstein fand Storyline, initiiert durch Kontakte mit Glasgow und dem British Council, schon Ende der 1970er bzw. zu Beginn der 1980er Jahre Eingang in den muttersprachlichen, fächerübergreifenden Sachunterricht an Grundschulen (vgl. Kohls/Kohls 1994), durch Beate Grabbe-Letschert26 später auch punktuell in die Lehreraus- und -fortbildung und durch Ulf Schwänke in die Erwachsenenbildung an der Hamburger VHS sowie in die Fortbildung von Pflegekräften in Alters- und Pflegeheimen. Schwänke hat auch Praxismaterialien für die Grundschule entwickelt (vgl. Schwänke 2005). Auch heute noch werden in Schleswig-Holstein Prinzipien des Storyline-Konzepts insbesondere in den muttersprachlichen Grundschulunterricht integriert. Gisela Ehlers, lange im Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) in Kiel-Kronshagen tätig, hat sich auf den Fremdsprachenunterricht an der Grundschule spezialisiert und in diesem Zusammenhang auch Aspekte des Storyline-Modells berücksichtigt (vgl. Ehlers, Hrsg. 2006).Ebenfalls in den 1980er Jahren ist der Kontakt zwischen dem ehemaligen Jordanhill College, Glasgow und der Pädagogischen Hochschule Freiburg entstanden. Von Steve Bell und Klaus-Dieter Fehse, damals Professor in der Abteilung Englisch, wurde der Storyline Approach zu Beginn der 1990er Jahre in einem mehrtägigen Kurs innerhalb der Abteilung Englisch vorgestellt. Als Teilnehmerin des Kurses war ich überzeugt von dem Potenzial des Ansatzes für das Fremdsprachenlernen und begann das Storyline-Modell im Rahmen meiner Tätigkeit an der Pädagogischen Hochschule Freiburg näher zu erproben und auf den fremdsprachlichen Kontext zu übertragen. Mehrere Forschungsprojekte gingen der Frage nach, wie das ursprünglich für den muttersprachlichen Unterricht konzipierte Storyline-Modell für den Fremdsprachenunterricht in der Sekundarstufe adaptiert werden kann, um den Lernenden größere Freiräume für eine aktive und kreative Mitgestaltung ihrer Lernumgebung sowie mehr Autonomie für die Wahl ihrer individuellen Lernwege, Lernprozesse und Lernmethoden zu verschaffen.Im Herbst 2010 fand das 17th Golden Circle Seminar in Freiburg und somit zum ersten Mal in Süddeutschland statt. Anvisiert wird derzeit auch ein Silver Circle Germany, um sich über Storyline-Erfahrungen in Deutschland auszutauschen und sich intensiver zu vernetzen.Was die Verbreitung des Storyline-Modells an deutschen Schulen und speziell im Fremdsprachenunterricht betrifft, liegen bisher keine konkreten Daten vor (vgl. auch Kapitel 9.3.3). Fest steht allerdings, dass immer wieder Anfragen bzw. Rückmeldungen aus dem In- und Ausland bei mir eintreffen und beispielsweise auch ehemalige Studierende ihr Wissen und Können an ihr Kollegium in Grund-, Haupt- und Realschulen weitergeben. Zum anderen wird das Storyline-Modell auch in Abschlussarbeiten und Prüfungen (1. und 2. Phase) als konkretes Beispiel für themen- und projektorientiertes Lernen herangezogen und erprobt. Von einer Realschule in Baden-Württemberg ist bekannt, dass sie den Storyline Approach als Profil in ihr Schulcurriculum aufgenommen hat und somit alle Lehrkräfte Storyline-Projekte im Englischunterricht durchführen. Hierbei handelt es sich natürlich um einen – wenn auch sehr erfreulichen – Einzelfall.

2.3 Grundlegende Prinzipien und Merkmale des Storyline Approach
2.3.1 Einleitung

Good structures bring freedom (Bell 2007, 30)

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei vorweg erwähnt, dass es sich bei Storyline keinesfalls um eine Methode des storytelling handelt, sondern vielmehr um ein flexibles und vielseitiges Modell für kooperatives und kollaboratives storymaking. Nachfolgend werden zunächst einige der wichtigsten Prinzipien und charakteristischen Merkmale des Storyline-Ansatzes erläutert und mit konkreten Beispielen versehen, so dass der Unterschied zu anderen Lernkonzepten, die hier jedoch nicht explizit vorgestellt werden können, offensichtlich wird.1

2.3.2 Prinzipien: Das Storyline-Konzept

Storyline ist ein narrativer Ansatz und entspricht dem Projekttyp Simulationen. Es ist – im Unterschied zum traditionellen, nach Fächern aufgeteilten Unterricht – ein integratives Modell, das themenzentriertes und fächerübergreifendes, kooperatives und eigenverantwortliches, differenzierendes und ganzheitliches, aufgabenbasiertes und problemorientiertes Lernen zum Ziel hat, um vorweg nur einige Schlagwörter zu nennen. Während im regulären fächerübergreifenden Unterricht ein Thema immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und bearbeitet wird, jedoch im Hinblick auf den thematischen und inhaltlichen Ablauf keine zwingende Reihenfolge festgelegt ist, bedeutet das Unterrichten nach dem Storyline Approach, dass die Lehrkraft in Anlehnung an den Bildungsplan – möglichst gemeinsam mit der Klasse – ein Thema auswählt und dieses so strukturiert, dass sich daraus eine zusammenhängende Geschichte (also eine story line) mit einzelnen Episoden entwickeln lässt, anhand der sich in vielfältigen Lernarrangements verschiedene Kenntnisse erwerben und eine Vielzahl an Fertigkeiten, Kulturtechniken und Kompetenzen entwickeln oder üben lassen.

 

Abb. 1:

Ablauf des regulären fächerübergreifenden Unterrichts (links) und des Storyline-Unterrichts (rechts) (Barr 1986, 14)

Initiiert durch Impulse und Fragen, so genannte key questions, wird dieses grobe Gerüst später von den Schülerinnen und Schülern individuell und kollaborativ mit Inhalten gefüllt: “The teacher is in control but the pupils feel that this is their story. It is truly a partnership. The teacher is interested in motivating the pupils to use language in a wide variety of forms. The pupils want to participate because they are listening, talking, reading and writing about their own creations“ (Bell 1995a, 8). Ein Storyline-Projekt ist somit sowohl klar konzipiert und strukturiert, was seine Abfolge und Zielsetzungen anbelangt, als auch relativ offen, was seine jeweilige inhaltliche Ausgestaltung betrifft:

In Storyline the story is developed as a shared experience because, although the teacher knows the sequence, it is the pupils who create the detail of the story. The teacher knows that the children will design families but it is the children who produce the visuals, who write biographies and physical descriptions, (...) who discuss their interests and hobbies and their personality traits etc. So, it is not just the children who get surprises. Each day is new for the teacher, too (Bell 1995b, 10).

Eine produktive Lernumgebung – darüber herrscht heute Konsens – sollte nicht nur lernerzentriert, sondern auch lernorientiert1 sein. Dieser Anspruch bringt für alle Beteiligten zwangsläufig neue Aufgaben und Verpflichtungen mit sich: “The teachers have to learn when and how ‘to let go’ (...) and how best to support their learners in their learning. The learners on their part have to learn where and how ‘to take hold’ and to be aware of why and how they learn. For both parts we are talking about a never-ending process“ (Dam 2000, 49). In diesem Sinne lässt sich der Storyline-Ansatz auf der Skala zwischen lehrerzentriertem und autonomem Unterricht als Zwischenstation einordnen:2 Storyline vermittelt den mit offenen Arbeitsweisen noch unerfahrenen Lehrerinnen und Lehrern Halt, Orientierung und Sicherheit, bei zunehmender Storyline-Erfahrung aller am Unterricht Beteiligten kann dieser zunehmend offener, schülergesteuerter und somit autonomer werden. Je erfahrener also eine Lehrkraft im Umgang mit Storyline ist, desto freizügiger wird sie den Unterricht gestalten (lassen). Je weniger Hilfen eine Lerngruppe benötigt, desto eigenverantwortlicher wird sie arbeiten können.

Das Storyline-Konzept gibt einer Unterrichtseinheit schließlich eine logische Struktur und inhaltliche Kohärenz, so dass diese nicht wie üblich als Abfolge von unverbundenen Einzelstunden, sondern als gemeinsam gestaltete „Geschichte“ mit einem nachvollziehbaren roten Faden erlebt wird. Die äußere Gliederung eines beliebigen Themas und die logische Struktur eines Storyline-Projekts wird durch Abbildung 2 veranschaulicht.

Abb. 2:

Aufbau eines beliebigen Storyline-Projekts (Bell/Harkness 2006, 9)

Zur Ausrüstung für ein gewinnbringendes Storyline-Projekt, das nach der ursprünglichen Konzeption für den muttersprachlichen Unterricht an schottischen Grundschulen – je nach Thema und Alter der Lerngruppe – circa drei bis zwölf Wochen dauern kann, in denen meist täglich in irgendeiner Form an dem Thema gearbeitet wird, gehört demnach in erster Linie eine spannende und inspirierende Geschichte, also eine sinnstiftende und bedeutungsvolle Rahmenhandlung sowie herausfordernde Schlüsselfragen (key questions), die die Entwicklung der Geschichte und somit auch die Denk- und Lernprozesse vorantreiben. Da Geschichten und Schlüsselfragen die Basis bzw. die stützenden Pfeiler des Storyline Approach darstellen, sollen diese beiden charakteristischen Elemente nachfolgend ausführlicher erörtert und gleichzeitig dazu verwendet werden, weitere Prinzipien des Konzepts herauszuarbeiten.

2.3.2.1 Geschichten und deren Funktionen

Babys, die Geschichten hören, entwickeln sich angeblich besser als andere. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Vorlesen den Aufbau der kindlichen Gehirnmasse und die Vernetzung der Synapsen stimuliert. Andere Beobachtungen deuten darauf hin, dass die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes gefördert wird und so auch die späteren schulischen Leistungen dieser Kinder positiv beeinflusst werden. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, so zeigen Studien, könnten besser stillsitzen und sich besser konzentrieren (Hesse 2015). Solche und ähnliche Meldungen werden gerne hinzugezogen, um die Bedeutung des Erzählens und Vorlesens für die kindliche Entwicklung hervorzuheben. Dabei interessieren sich die meisten Kinder schon von Natur aus für Geschichten: “Children enjoy listening to stories (...) and are familiar with narrative conventions. For example, as soon as they hear the formula Once upon a time ... they can make predictions about what to expect next“ (Ellis/Brewster 2002, 1). Bredella (2012, 18) behauptet: „Erzählstrukturen und Schemata von Geschichten [müssen wir] nicht erst ausdrücklich erlernen (...). Sie scheinen uns angeboren zu sein“.

Kinder brauchen Märchen heißt eine viel zitierte Veröffentlichung des Psychologen Bruno Bettelheim (1997), aber auch Erwachsene brauchen offensichtlich Geschichten als Orientierungshilfe im Alltag und „in der Welt“ (Bredella 2012, 11), denn sie stellen „Ordnung“ her (Ebd., 17). Geschichten sind ein traditionelles Mittel, um Wissen, Erfahrungen und Ansichten, also Kultur im weitesten Sinne, von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation weiterzugeben bzw. zu empfangen: „Sie interpretieren die Geschichte von Völkern und Kulturen“ (Hesse 2015, 6). Dies geschieht zum Beispiel in Form von Sagen, Mythen, Legenden, Fabeln, Märchen, Gleichnissen und Metaphern (vgl. Kapitel 3.3.2.3).

In früheren Zeiten gab es auch in unserem Kulturraum keinerlei Wissen, das außerhalb des Gedächtnisses gespeichert war. Erst später begannen unsere Vorfahren damit, ihr Wissen und ihre Erfahrungen in Form von Symbolen und Bildern festzuhalten und weiterzugeben. Noch heute kann man diese beeindruckenden prähistorischen Dokumentationen beispielsweise in Form von Höhlenmalereien bestaunen. Heute dagegen erfolgt die Wissensvermittlung – zumindest in den Industrieländern – vorrangig über Print- und Bildschirmmedien und die mündliche Überlieferung verliert an Bedeutung. Dennoch wird auch in den hoch technisierten Ländern erzählt, wobei meist weniger der Inhalt (im Sinne der kulturellen Überlieferung) im Vordergrund steht, sondern das Ritual für soziale Zusammengehörigkeit. In diesem Sinne ist das Austauschen von Erfahrungen bzw. das Erzählen von Geschichten universal und zeitlos (Wajnryb 2003), denn auch heute gilt: „Was den Menschen umtreibt, sind nicht Fakten und Daten, sondern Gefühle, Geschichten und vor allem andere Menschen“ (Spitzer 2002, 160).

Bredella (2012) bezeichnet Geschichten „als eine grundsätzliche Erkenntnisform [, weil sie] Handlungen erhellen und nachvollziehbar machen“ (Ebd., 32). Bruner (1996) spricht von narrativer Intelligenz und führt neun “universals of narrative realities“ auf (Ebd., 133-147).1 Geschichten haben also noch immer „Hochkonjunktur“ (Haß 2013, 5), und somit ist es nicht weiter verwunderlich, „dass unser Alltag von narrativen Formen medial gleichsam durchdrungen ist“ (Ebd.). Auch Unternehmer- und Marketingkreise haben das Potenzial von Geschichten längst erkannt (vgl. Fuchs 2013).

Welche konkreten Gründe sprechen für die Einbindung von Geschichten in den (fremdsprachlichen) Unterricht? In erster Linie geben Geschichten den Lerninhalten eine nachvollziehbare Struktur, denn sie bestehen in der Regel aus drei Grundelementen: diversen Charakteren bzw. Akteuren (Menschen, Tiere, Pflanzen oder Phantasiegestalten), einem Zeitrahmen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und einem oder mehreren Orten (setting). Ferner enthalten sie einen roten Faden mit einer logischen Abfolge von Ereignissen: Es gibt einen Anfang, eine zu bewältigende Problemsituation bzw. ein Überraschungsmoment (incident) und ein Ende. Geschichten stellen somit einen Mikrokosmos, also einen überschaubaren Kontext zur Verfügung und sorgen für die Situiertheit der Lerninhalte und aller auszuführenden Aktivitäten.

Die narrative Struktur erleichtert jedoch nicht nur das Verstehen, sondern fördert durch die narrative Verankerung von Einzelaspekten auch das Behalten und Abrufen von Wissen. Außerdem bewirkt der emotionale Gehalt einer Geschichte eine starke Beteiligung der Lernenden, was sich zusätzlich positiv auf die Behaltens- und Verarbeitungsleistungen auswirken kann: “Think of how a good movie or novel makes aspects of the world engaging“, betont Kieran Egan (2003, 3), Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor der Imaginative Education Research Group (IERG) an der Simon Fraser University in Vancouver, Kanada, und spricht sich für ein “humanizing the content“ aus (Ebd.). Statt des isolierten Einübens von skills und sub-skills soll vielmehr die Imagination der Lernenden im Mittelpunkt des Unterrichts stehen und dabei vielerlei Anknüpfungspunkte für individuelle Lernprozesse anbieten.

Davon abgesehen sind Fiktionen und vorgetäuschte Wirklichkeiten auch insofern von Bedeutung, als sie kreatives Handeln außerhalb der Regeln der Logik und der Dynamik der eigenen sozialen Systeme erlauben. Folglich leisten Geschichten auch in der heutigen Zeit einen wichtigen erzieherischen Beitrag: Sie fördern Vorstellungsvermögen und Phantasie, bieten Identifikationsangebote mit beliebigen Figuren, zeigen Verbindungen zur eigenen Lebenswelt auf und helfen diese zu erschließen, und sie geben Anleitungen und Möglichkeiten zum sozialen, ethischen und emotionalen Lernen, indem verschiedene Rollen und Aufgaben probeweise übernommen und sanktionsfrei „erlebt“ werden können. Hesse (2015) spricht sogar von der heilenden Kraft von Geschichten.

Darüber hinaus können Geschichten als überaus bedeutsames und effektives Medium betrachtet werden, um sowohl Sprachen als auch das Lernen selbst zu lernen, denn die Schülerinnen und Schüler entfalten und verbessern im Prozess des Problemlösens, Vergleichens, Vorhersagens und Planens vielseitige individuelle Denkstrategien (Ellis/Brewster 2002; Frame 2007). Ferner erarbeiten und verwenden sie diverse Methoden, um die (Fremd-)Sprache zu erlernen, indem sie beispielsweise die Bedeutung von unbekannten Wörtern aus dem Kontext erschließen, und sie entwickeln bzw. verfeinern multiple Arbeitstechniken wie das Benutzen von Nachschlagewerken, das Organisieren von Arbeitsschritten oder das Anfertigen von Notizen, um nur einige zu nennen. Geschichten liefern zudem einen natürlichen Rahmen, um neue Vokabeln und auch Strukturen im sinnvollen Zusammenhang zu lernen und in konkreten Sprachhandlungen zur Anwendung zu bringen, also beispielsweise relevante Vokabeln erfolgreich aus dem individuellen mentalen Lexikon abzurufen (Wolff 2002a). Sprich: “Experiencing the language rather than merely studying it“ (Wright/Hill 2008, 9). Zu Recht monieren Pishghadam und Motakef (2012) den Mangel an Forschungsarbeiten, die das Verhältnis zwischen narrativer Intelligenz und Sprachenlernen untersuchen.

Gerade beim Fremdsprachenlernen ist die Authentizität von Inhalt und Sprache ein wichtiger Motivationsfaktor, denn bei authentischen Geschichten – egal ob Bilderbuch, Märchen oder Jugendliteratur – haben Lernende im Sinne des interkulturellen Lernens den Eindruck, etwas „richtig Englisches“ und somit etwas „Brauchbares“ kennenzulernen, nämlich etwas, mit dem sich auch Kinder und Jugendliche in englischsprachigen Ländern beschäftigen.

Andrew Wright (1997) sieht im gemeinsamen Erfinden von Geschichten vor allem den Wert des Einbringens eigener Erfahrungen, Gefühle und Kenntnisse: “When children create and tell a story in the foreign language the story and the language become theirs“ (Ebd., 3). Dieser Aspekt wird im Kontext des Storyline-Modells als ownership principle bezeichnet und gilt hier als eines der wichtigsten Prinzipien überhaupt.2

 

Das Vorlesen und gemeinsame Erzählen von Geschichten bewirkt eine sinnlich-anschauliche Lebendigkeit der Situation und fördert somit das individuelle Lernen bzw. den subjektabhängigen Wissenserwerb, wie dies auch in den konstruktivistischen Lernprinzipien dargelegt wird (vgl. Kapitel 3), denn Geschichten ermöglichen die Entstehung von ganz individuellen Bildern vor unserem inneren Auge: „Diese Bilder bewegen sich, werden ihrerseits sprechend, können uns erregen, Gerüche ausstrahlen. Sie können uns anfassen, entspannen, anspannen (...). Wer erzählen kann, schafft im Zuhörer eine eigene Welt der Vorstellungen, die dieser selbst neu erschaffen muß“ (Beck/Wellershoff 1989, 64). Zuhören fördert außerdem das Hörverstehen sowie die Konzentrationsfähigkeit der Lernenden, denn sie möchten die Bedeutung einer Geschichte erschließen. Deshalb hören sie aufmerksam zu (Wright 2008), auch wenn sie nicht jedes Wort auf Anhieb verstehen: “Children will be concentrating on the meaning of the story, not on why and how the simple (...) past is used. Their previous knowledge of narrative conventions in their mother tongue will have, to some extent, prepared them for its use in the target language“ (Ellis/Brewster 2002, 8-10).

Anzumerken und gleichzeitig zu bedauern ist in diesem Zusammenhang, dass im gängigen Unterricht die von den Lernenden selbst verfassten Texte und Geschichten üblicherweise meist nicht ausreichend gewürdigt werden, denn Schreibaufträge werden – wenn überhaupt – in der Regel nur von der Lehrkraft gelesen, begutachtet und benotet, wobei meist eher auf die sprachliche Korrektheit als auf Inhalt, Kreativität und Phantasie geachtet wird. Dies hält wiederum viele Lehrende davon ab, überhaupt kreative Aufgaben zu stellen, da sie befürchten, dass zu viele Fehler gemacht werden, welche die Mitlernenden möglicherweise zur Imitation anregen. Im gleichen Zug fühlen sich Lernende oft in ihrer Kreativität und Motivation eingeschränkt, wenn sie wissen, dass ihre Texte sprachliche Fehler enthalten, die möglicherweise noch mit Rotstift hervorgehoben werden, während der Inhalt gänzlich in den Hintergrund tritt.

Arbeitsprodukte werden jedoch für alle Seiten zufriedenstellender – das zeigt sich auch immer wieder bei Storyline-Projekten – wenn nicht nur die Lehrkraft als Adressatin und Anlass für die Erfindung einer Geschichte betrachtet wird, sondern wenn diese aus dem Wunsch heraus entsteht, sie einem größeren Publikum zu präsentieren. Außerdem fördert „das Erlebnis des gemeinschaftlichen Zuhörens“ das Sozialklima der Klasse (Hesse 2015, 6). Auch Wright (1997) hebt die Bedeutung der Veröffentlichung von Geschichten hervor, sei es über Plakate, selbst gemachte Bücher oder szenische Darstellungen. Weitere Verbreitungsformen bieten heute auch das Internet oder schuleigene Radiosender (auch als Webradio).

Während im regulären Unterricht Schülerinnen und Schüler bei Schreibaufträgen meist sofort nach dem geforderten Umfang fragen, wird bei Storyline-Projekten häufig die Beobachtung gemacht, dass die Lernenden mit großer Begeisterung und Konzentration schreiben, weil sie interessengeleitet ihrer Phantasie freien Lauf lassen können. Eiriksdóttir stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Produkte auch sprachlich zufriedenstellender seien:

We all know that it can be difficult when e.g. the textbook says that you should write about an interesting event in your summer holiday, and now it is the middle of winter! (...) When we are working on Storyline topics the pupils are involved in the Storyline and the writing within the topic has a purpose and everyone knows what to write about (...) It is not only that they write longer pieces they also use richer and more complicated vocabulary. A research was done in Iceland in 1985 on the vocabulary of children’s writing connected with Storyline work and the results were that they used more complicated vocabulary than usually (Eiriksdóttir 2001, 150).

Abschließend sei darauf verwiesen, dass jeder Mensch, der etwas entdeckt, erfindet oder erstellt, erfahrungsgemäß ein natürliches Mitteilungsbedürfnis verspürt. Dies sollte im Unterricht stärker genutzt und gefördert werden: Durch eine geeignete story kann spielerisch leicht eine authentische und zweckorientierte Kommunikation im Klassenzimmer entstehen, und zwar häufig fast ohne Mittun und Eingriff der Lehrkraft, denn auf Grund der Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Storyline-Projekten immer wieder eigene Aufgabenbereiche, Darstellungsformen und Materialien auswählen können (choice) und somit zu unterschiedlichen Ergebnissen und Lösungen kommen (information gap/opinion gap), entsteht ein ganz natürliches Interesse und Bedürfnis, sich regelmäßig und intensiv auszutauschen. “The magic of stories“ (Hesse 2015) kann sich also in vielerlei Hinsicht positiv auf das (fremdsprachliche) Lernen auswirken. Ob diese These tatsächlich für alle Altersgruppen gilt, ist zu klären und (auch) Ziel meiner Untersuchungen (vgl. Teil B).