Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

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Das im obigen Zitat erwähnte nachhaltige Lernen wird unter anderem von den folgenden Faktoren bedingt: Bedeutsamkeit des Themas, Praxisrelevanz, Anschlussfähigkeit, Flow-Gefühl13, Vielfalt der Lernwege, angenehme Lernatmosphäre und metakognitive Reflexion (Siebert 2005, 37). Auch dies ist keine neue Erkenntnis, sondern knüpft an bewährte Modelle an, wie etwa die Projektmethode (John Dewey/William H. Kilpatrick)14 oder das Konzept der Selbsttätigkeit und Handlungsorientierung aus der deutschen Reformpädagogik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit Vertreterinnen und Vertretern wie Georg Kerschensteiner (Arbeitsschule), Hans Aebli, Hugo Gaudig, Lotte Müller, Otto Scheibner, Peter Petersen oder Johannes Langermann. Handlungsorientierung und Selbsttätigkeit gelten auch als zentrale Aspekte in der Pädagogik von Célestin Freinet oder Maria Montessori sowie in der sowjetischen Kulturhistorischen Schule mit den Vertretern Lev Vygotskij, Alexej Leontjew und Pjotr J. Galperin. Nicht vergessen werden sollte in dieser Auflistung Johann Amos Comenius, der schon im 17. Jahrhundert die Berücksichtigung aller Sinne beim Lernen gefordert hatte.

Auch Jérôme S. Bruner (1966) forderte in seinem Konzept des entdeckenden Lernens die Integration von realen Situationen in das Unterrichtsgeschehen, anhand derer neues Wissen selbstständig und explorativ erworben werden kann.15 Des Weiteren setzte sich Martin Wagenschein (1982) für den Ansatz des entdeckenden Lernens ein (Epochenunterricht), dem er ein genetisches Prinzip zugrunde legte: „Danach muß jedes Lehren von Problemstellungen ausgehen, die den Lernenden zum Nachdenken bringen und Fragen auslösen, die ihn wiederum dazu motivieren, eigene ‘Entdeckungen’ zu machen“ (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1999, 32). Ein weiteres Kriterium seines Konzepts liegt im Grundsatz, dass die Wirklichkeit immer „anwesend“ ist: „Fragestellungen, Begriffe, Symbole, Strukturen drängen sich dem Schüler aus der Sache auf“ (Gudjons 2001, 23). Erwähnt werden sollte auch noch D.P. Ausubels Konzept des sinnvollen Lernens, in dem die Rolle des Vorwissens der Lernenden betont wird.

Offene Lernformen, das heißt – um nur einige Stichwörter zu nennen – schülerorientierter, handlungsorientierter, erfahrungsbezogener, ganzheitlicher, prozess- und produktorientierter, projektorientierter, inhaltsorientierter und selbstbestimmter Unterricht, sind heute zwar wieder zum Modebegriff geworden, sie sind jedoch keine Neuerfindung der zeitgenössischen Pädagogik bzw. Didaktik, sondern haben in manchen Schularten bereits eine lange Tradition. Allerdings – und das ist das Erstaunliche dabei – führen sie in der alltäglichen Unterrichtspraxis des Regelschulwesens noch immer nur ein Schattendasein, wie durch prominente Schulstudien in regelmäßigen Abständen belegt und moniert wird (vgl. Kapitel 1.5).

Auch im Bereich des Fremdsprachenunterrichts sind die oben genannten methodischen Prinzipien wie Handlungsorientierung (kooperatives Lernen, kreative Arbeitsformen, Projektunterricht, Lernen durch Lehren), Lernerzentrierung (Individualisierung des Lernens, Lernerautonomie), prozessbezogene Bewusstmachung (Lernbewusstheit, Sprachbewusstheit, interkulturelle Bewusstheit) und ganzheitliche Spracherfahrung (Inhaltsorientierung, authentische und komplexe Lernumgebung) usw. natürlich nichts Neues: „Es handelt sich (...) um gängige didaktisch-methodische Grundsätze der neunziger Jahre, obwohl ihre praktische Realisierbarkeit teilweise noch nicht ganz geklärt ist“ (Reinfried 1999, 164f.). Neu ist allerdings, dass die genannten Prinzipien erst durch den konstruktivistischen Theorierahmen ein stützendes Fundament erhalten, so dass einzelne Methoden und Verfahren nicht mehr isoliert „im Raum“ stehen oder gar als Modeerscheinung abgetan werden, sondern in einem kohärenten Lehr-Lern-Konzept vereinigt werden.16 Dies scheint mir ein wesentlicher Aspekt zu sein, wenn es um die Frage nach der praktischen Realisierung von Ansätzen geht:

Sicherlich haben Wendt und Wolff recht, wenn sie meinen, daß der heutige Fremdsprachenunterricht an den deutschen Schulen insgesamt zu instruktivistisch ist. Das hängt damit zusammen, daß viele Lehrerinnen und Lehrer es noch kaum gewöhnt sind, Gruppen- oder Partnerarbeit, Projekte oder ‘Lernen durch Lehren’ im Fremdsprachenunterricht einzusetzen, daß sie die entsprechenden Unterrichtstechniken nicht verinnerlicht haben (Ebd., 177).

Diese Aussage spricht meines Erachtens Bände, und man fragt sich, warum offensichtlich viele Lehrerinnen und Lehrer die angeblich gängigen Methoden und Grundsätze nicht verinnerlicht haben. Ich wage zu behaupten, dass sie diese vermutlich nicht nach konstruktivistischen Vorstellungen „gelernt“ haben, so dass sie zu transferunfähigem „trägem“ Wissen mutiert sind. Nachhaltiges Lernen gilt natürlich nicht nur als Ziel für das schulische Lernen, sondern auch für die Ausbildung und Fortbildung von Lehrkräften. Dieser Aspekt ist auch insofern bedeutsam, als es heute – ganz im konstruktivistischen Sinne – weder „die“ Methode noch „die“ Fremdsprachendidaktik gibt, auf die man sich „getrost“ verlassen könnte, sondern gerade im Bereich der Englischdidaktik tendenziell „eine Diversifizierung der Ansätze“ (Viebrock 2008, 117) erkennbar ist, so dass Lehramtsstudierende (und nicht nur diese) umso mehr gefordert sind, immer wieder eigene „viable“ Lösungen und Wissenskonstruktionen zu vollziehen und diese professionell zu begründen.

Vor dem Hintergrund der bekannten Problematik um transferunfähiges „träges“ Wissen wurden in den vergangenen Jahren in der Instruktionspsychologie zahlreiche neue (gemäßigte) konstruktivistische Konzepte für verschiedene Lernbereiche in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung entwickelt, die dem „Neuen“ Konstruktivismus17 nahestehen, und einige davon lassen sich auch gut auf das Fremdsprachenlernen übertragen. Dabei handelt es sich insbesondere um diejenigen Ansätze, die dem Paradigma der Situated Cognition zugeordnet werden. Zu den bekanntesten Konzepten des von Clancey (1993) und Greeno (1989; 1992; 1998) seit Ende der 1980er Jahre entwickelten Modells der Situated Cognition gehören die Folgenden: Guided Participation18, Cognitive Apprenticeship19, Communities of Practice20, Cognitive Flexibility21, Random Access Instruction22, Anchored Instruction23, Instructional Design bzw. Cognitive Tools for Learning24, Whole Language25 und einige mehr, die jedoch an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden können.26 Die Kernidee dieser Ansätze ist, dass Wissen unter Anwendungsgesichtspunkten erworben und deshalb an komplexen und authentischen Problemstellungen gelernt wird. Um die Lernenden jedoch nicht zu überfordern, erhalten sie Unterstützung. Angestrebt wird mit diesen Konzepten also eine „Balance zwischen Konstruktion und Instruktion“ (Gruber u.a. 2000, 144).

Abb. 6:

Historische Vorbilder konstruktivistischer Instruktionsansätze bzw. situierter Lernumgebungen (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1999, 33)

In der Psychologie des Wissensmanagements (Reinmann/Mandl, Hrsg. 2004) werden derzeit auch Modelle wie Experten-Laien-Kommunikation (Bromme u.a. 2004), Methodik des Repertory Grid (Clases 2004) oder Story Telling (Neubauer u.a. 2004; Thier 2010) propagiert, dabei dient die Methode des Story Telling offensichtlich dazu, Erfahrungswissen und implizites Wissen innerhalb von Organisationen in narrativer Form festzuhalten und weiterzugeben. Eine ähnliche Version ist die Methode Story Template (Reinmann/Eppler 2008), anhand derer Wissen und Erfahrungen ebenfalls in Geschichten verpackt werden, oder die Szenario-Technik (Hinke 2007). Was die erwähnten Ansätze verbindet, ist die Tatsache, dass sie auf (gemäßigten) konstruktivistischen Grundsätzen aufbauen und mit den oben genannten Ansätzen der Situated Cognition – und in gewisser Weise auch mit dem Storyline Approach – verwandt sind.

Darüber hinaus versuchen Johanna Meixner und Klaus Müller bereits seit einigen Jahren, auf der Basis des so genannten Pragmatischen Konstruktivismus, konkrete Unterrichtsmodelle für Deutsch als Fremdsprache (DaF) zu entwerfen, „die zeigen, dass im normalen Schulalltag Instruktion und Konstruktion keine ausschließenden Alternativen sind, sondern sich fallweise und sinnvoll ergänzen können“ (Meixner 2005, 191).27 Dazu gehören auch das Verfahren der Produktiven Semantisierung im Bereich der Wortschatzvermittlung oder das dramapädagogische Konzept der Relationellen Dramaturgie.28 Im Übrigen plädiert auch Engelbert Thaler (2008; 2010) für ein Balanced Teaching im Fremdsprachenunterricht, „das offene ebenso wie eher geschlossene Techniken, Verfahren und Methoden verwendet“ (Thaler 2008, 307) – eine Einstellung, wie sie auch in gemäßigt konstruktivistischen Positionen der Erwerbspsychologie vertreten wird;29 Reinmann und Mandl (2006, 638ff.) sprechen in diesem Zusammenhang von einem wissensbasierten Konstruktivismus bzw. von integrierten Lernumgebungen.

Unabhängig davon wurden seit etwa Mitte der 1980er Jahre einige neue Lernmodelle speziell für das Fremdsprachenlernen entwickelt bzw. adaptiert, die jedoch nicht explizit auf der Grundlage von konstruktivistischen Ansätzen konzipiert wurden, diesen jedoch in vielerlei Hinsicht entsprechen. Dazu zählen – neben dem Storyline Approach – Aufgabenbasiertes bzw. Aufgabengestütztes Lernen30, Simulation globale31, Szenariendidaktik32, Dramapädagogik33, Lernerautonomie34 oder Lernen durch Lehren35, auch wenn diese nach meiner Einschätzung im Bereich des Fremdsprachenlernens nach wie vor wenig zum Einsatz kommen. Dafür gibt es sicher vielerlei Gründe, einer davon mag sein, dass es für Lehrkräfte (und nicht nur für diese) schwierig ist, ein komplexes theoretisches Modell in die Praxis umzusetzen. Dass dies so nicht funktionieren kann, ist, gerade aus der konstruktivistischen Position heraus betrachtet, vollkommen nachvollziehbar. Learning by doing heißt das Zauberwort ...

 

3.5 Der Storyline Approach und konstruktiv(istisch)es Lernen

Creating worlds, constructing meaning (Creswell 1997)

Das Storyline-Konzept leitet sich zwar ursprünglich nicht direkt vom Konstruktivismus ab, lässt sich aber im Nachhinein zutreffend damit begründen und somit theoretisch absichern. Nachdem im vorangegangenen Kapitel allgemeine Empfehlungen und Anregungen für eine konstruktiv(istisch)e Lernumgebung formuliert wurden, die insbesondere auch für das Fremdsprachenlernen förderlich sind, sollen nun darauf aufbauend einige Bezüge zwischen dem Storyline Approach und konstruktivistischem Denken erläutert werden. Es geht also um die Fragen: Was hat Storyline mit Konstruktivismus zu tun? Und was bedeutet das konkret für das Fremdsprachenlernen mit Storyline? Um Redundanzen mit Kapitel 2 und Kapitel 3.4 zu vermeiden, erfolgt hier lediglich eine Synopse.

Aus meiner Sicht erfüllt der Storyline Approach aus folgenden Gründen die Anforderungen an eine konstruktiv(istisch)e Lernumgebung im Rahmen des Fremdsprachenlernens:

 Lerninhalte: Das obige Zitat bzw. der Buchtitel von Jeff Creswell (1997) beschreibt die Kernessenz des Storyline Approach und trifft in gleichem Maße auf die diversen konstruktivistischen Denkströmungen zu. In fremdsprachlichen Storyline-Projekten „konstruieren“ die Lernenden deutlich erkennbar in doppeltem Maße: nämlich Inhalte/Bedeutungen und Sprache. Sie erfinden gemeinsam Teile „ihrer“ Geschichte (collaborative storymaking), entwickeln also auf der Basis ihrer individuellen Erfahrungen, Interessen und Ideen sinnerfüllte, „passende“ Inhalte, handeln Bedeutungen aus und schaffen auf diese Weise einen persönlich relevanten, situativen und zusammenhängenden Kontext (z.B. Zoo, Bauernhof): “Learning is the construction of meaning. (...) The narrative plays an important part in meaning-creating processes“ (Letschert 2006, 21).Die Inhalte der story werden in großem Maße von den Lernenden selbst bestimmt, auch wenn die Lehrkraft im Vorfeld ein grobes Konzept entwirft und über key questions und incidents stets die Möglichkeit hat, anregend und lenkend einzugreifen bzw. zu perturbieren, indem sie die Lernenden vor neue Probleme stellt, die im sozialen Gefüge sowohl inhaltlich als auch sprachlich konsensuell gelöst werden: Die Lernenden bilden Hypothesen und testen diese im Rahmen der story aus. Sie konstruieren, rekonstruieren und dekonstruieren Bedeutungen (vgl. Kapitel 3.3.2.2), wenn sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen; Imagination ist ein besonders wichtiges learning tool bei Storyline. Über „richtig“ oder „falsch“ im Hinblick auf den Inhalt bestimmt nicht – wie üblich – die Lehrkraft, sondern die Lerngruppe, nachdem sie selbstständig recherchiert und intensiv beraten hat. Spätestens bei der Präsentation werden eventuelle „Denkfehler“ oder „Sprachfehler“ aufgedeckt, nämlich wenn die Klasse den „Konstruktionsversuchen“ nicht folgen kann und somit keine Verständigung stattfindet. Durch das Hineinversetzen in fiktive Charaktere (z.B. Tourist, Journalistin) lernen die Schülerinnen und Schüler, sich im geschützten Raum auf verschiedene Situationen einzulassen und sich mit verschiedenen Rollen zu identifizieren, was den kognitiven, sozialen und emotionalen Horizont erweitert. Dies ist gerade bei der Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen von Bedeutung.Auf der anderen Seite gehen die Lernenden mit der für den jeweiligen Kontext benötigten Sprache spielerisch und kreativ um, indem sie für ihre Beiträge individuelles Vorwissen (interlanguage) nutzen bzw. darauf aufbauend neue Formen oder Strukturen konstruieren (z.B. Wortbildung, Satzmuster) oder etwa Wortfelder erweitern (vgl. Kapitel 2.3.3.3). Sprache wird – anders als in Schulbüchern – nicht in vorgegebenen bits and pieces und vereinfachten pattern drills benutzt, sondern auf Grund des authentischen Kontexts in sehr individueller Ausprägung: Die Lernenden bestimmen selbst, wie sie sich ausdrücken möchten, und konstruieren je nach Können und Absicht entsprechende sprachliche Mittel. Durch das individuelle und/oder gemeinsame Experimentieren wird nicht nur die Sprachkompetenz, sondern auch das Sprachbewusstsein gefördert.Alles sprachliche Lernen findet in lebensnahen, bedeutungsvollen, komplexen und kohärenten Kontexten statt: “Meaningful education asks for coherence in the curriculum. A story is by definition a meaningful context. (...) Stories are constructions in which facts, remembrances, knowledge and imagination come together“ (Letschert 2006, 19). Wissen, das selbst konstruiert wird, bleibt besser im Gedächtnis haften und ist somit nachhaltiger. Geschichten und persönliche Relevanz erhöhen die emotionale Beteiligung der Lernenden (vgl. Kapitel 2.3.2.1). Emotionen wiederum unterstützen die Verankerung des Gelernten im Gedächtnis und somit die Bildung von komplexen Wissensnetzen (vgl. Kapitel 4.4.2).

 Lernziele: Durch die gemeinsame Auswahl eines Themas einigen sich Klasse und Lehrkraft im Vorfeld auf mögliche inhaltliche Aspekte und Ziele (z.B. Schottland, Robinson Crusoe), jedoch können sich diese im Verlauf des Storyline-Projekts – je nach Ausgestaltung – verändern und erweitern. Weitere – insbesondere sprachliche – Ziele (z.B. Zeiten, Wortfelder) oder methodische Aspekte (z.B. Internetrecherche, Präsentieren) berücksichtigt die Lehrkraft, wenn sie die grobe Struktur der Storyline konzipiert. Allerdings lernen die Schülerinnen und Schüler durch die Offenheit der Aufgabenstellungen weit mehr, als die Lehrkraft in Form von Lehr-Zielen im Vorfeld definieren kann. Durch das selbstbestimmte Lernen entwickeln sie viele individuelle Lernziele (z.B. besser im Team arbeiten, öfter Wörter nachschlagen), die in regelmäßigen Reflexionsphasen besprochen werden.Storyline erlaubt Lernenden und fordert sie sogar dazu auf, Fragen zu stellen, die wiederum plausible Lösungen verlangen: durch Recherche, Interaktion oder Reflexion. Viele dieser Fragen sind im Vorfeld nicht absehbar, sondern werden oft spontan geäußert; sie können dazu beitragen, dass Lernende ganz individuelle Lernziele „konstruieren“, die für den Verlauf der Storyline wichtig sind, aber auch einen Bildungswert haben (z.B. Eruieren, ob Aprikosen auch in Irland gedeihen oder was für ein Habitat Pinguine im Zoo benötigen).Durch die Tatsache, dass die Lernenden im Rahmen der Gruppenarbeit Teilaufgaben auswählen oder eigene Miniaufgaben entwickeln, setzen sie sich immer wieder eigene Ziele und konstruieren wiederum eigene (viable) Lösungen – entweder allein oder im Team. Dies kann sich auf Inhalte, Arbeitsweisen oder Sprache beziehen. Somit wird der Storyline Approach insbesondere heterogenen Lerngruppen gerecht, weil sich alle Mitglieder auf die eine oder andere Weise einbringen können und zum Gelingen des Projekts beitragen. Die Lernenden organisieren ihre Arbeit weitgehend selbstständig (z.B. am Fries, auf dem Flur) und lernen dabei wichtige Strategien für eigenverantwortliches (lebenslanges) Lernen.

 Lernumgebung: Storyline-Klassenzimmer verkörpern „starke“ Lernumgebungen mit vielseitigen Lernangeboten, anspruchsvollen Aufgabenstellungen, ansprechenden und authentischen Materialien, realitätsnahen Kommunikationssituationen sowie handlungsorientierten Arbeitsweisen (learning by doing), die ermöglichen, dass Wissen und Können im Austausch mit der Lerngruppe immer wieder neu konstruiert, strukturiert, erprobt und integriert wird. Durch das Arbeiten an komplexen, ganzheitlichen und lebenswirklichen Problemstellungen finden die Lernenden vielseitige Anknüpfungspunkte an ihre bisherigen Erfahrungen und Wissenskonstruktionen (z.B. Haustiere, Familienleben, Reisen).Sowohl incidents als auch die key questions stellen echte Herausforderungen dar, die inhaltlich und sprachlich gelöst werden müssen. Dabei werden vielfältige kognitive Prozesse ausgelöst. Da es keine „fertigen“ Antworten – wie in Schulbüchern – gibt, sind alle Lernenden gefordert, sich aktiv und konstruktiv zu beteiligen: kognitiv, emotional und sozial. Durch das intensive Verhandeln bei der „Problemlösung“ sowie durch die handlungsorientierte Arbeitsweise (z.B. Bastelarbeiten, Rollenspiel) wird die Transferfähigkeit des Gelernten, insbesondere auch auf sprachlicher Ebene, erhöht. Komplexe authentische Sprachhandlungen werden in zielgerichteten Interaktionen mit der Gruppe konstruiert, in der Simulation bzw. inszenierten Wirklichkeit erprobt und in bestehende Wissenskonstruktionen integriert, was durch die narrative Verankerung erleichtert wird (vgl. Kapitel 2.3.2.1).Die offenen Aufgabenstellungen ermöglichen zudem, dass verschiedene Talente und Intelligenzen berücksichtigt werden, die den inhaltlichen und sprachlichen Konstruktionsprozess unterstützen und zum ganzheitlichen Experimentieren einladen (z.B. Gedicht, Tanz, Collage). Durch die offenen Aufgaben entsteht ein information gap; folglich hören die Lernenden bei den Präsentationen motiviert zu und versuchen, das Gehörte bzw. die Konstruktionsprozesse der Klassenmitglieder zu erschließen und zuzuordnen. Storyline ist wie alle Projektformen auch ein demokratiepädagischer Ansatz (vgl. Magnus/Sliwka 2015) und fordert bzw. fördert Mitsprache. Dies verlangt “a group climate with a spirit of safety, respect and confidence. In this climate, children (dare to) take initiatives“ (Letschert 2006, 20). Bei Storyline übernehmen Lernende erkennbar gerne Verantwortung für ihr Handeln (ownership).

 Sozialformen: Kooperatives Lernen hat bei Storyline einen hohen Stellenwert (vgl. Kapitel 2.3.3.5) und ermöglicht den Lernenden, im Schutz der Gruppe eigene Ideen, Wirklichkeitsentwürfe, aber auch Sprache zu konstruieren, auszutauschen, zu reflektieren und eventuell neu zu strukturieren. Da die Gruppen „homogen“ sind (z.B. eine Familie, eine Reisegruppe), können, dürfen und sollen alle etwas beitragen: Jedes Gruppenmitglied wird zum Experten bzw. zur Expertin für den jeweils gewählten Bereich und hat somit eine tragende Rolle in der Geschichte (z.B. als Opa, Polizistin, Punk). Die soziale Interaktion und intensive Kommunikation fördert Wissenskonstruktionen und Lernprozesse auf inhaltlicher, emotionaler, sozialer und sprachlicher Ebene. Storyline-Lerngruppen sind komplexe dynamische Systeme mit einem beachtlichen Lernpotenzial (vgl. Kapitel 4.3.5.3).Lernen findet bei Storyline nicht wie üblich nur am zugeteilten Tisch statt, sondern kann sich über das gesamte Klassenzimmer (z.B. Fries, PC, Boden), Schulhaus (z.B. Bibliothek, Schulgarten) oder auch außerschulische Orte (z.B. Interview mit der Feuerwehr, Besichtigung einer Klinik) erstrecken. Über Skype und E-mail können sogar learning communities und Expertenteams rund um die Welt gebildet werden. Die Lehrkraft berät als Lernpartnerin bzw. -partner und regt über key questions und incidents zu neuen Konstruktionsprozessen an: “The construction of authentic knowledge from our experiences and sharing knowledge with others is the power of the Storyline Approach“ (Letschert 2006, 19).

 Arbeitsmaterialien: Ein Storyline-Klassenzimmer ist mit vielfältigen Arbeits- und Lernmaterialien ausgerüstet, um die individuellen Konstruktionsprozesse zu erleichtern und zu veranschaulichen: Bastelmaterialien, Nachschlagewerke, authentische Materialien (z.B. Broschüren, Souvenirs) und – je nach Ausstattung der Schule – Computer, Kameras, CD-Player usw. (vgl. Kapitel 2.3.3.4). Anders als bei der Arbeit mit dem Schulbuch wählen die Lernenden eigenständig das jeweils benötigte Material aus, um ihre kreativen Ideen zu visualisieren bzw. zu illustrieren. Selbstverständlich können sie auch geeignete Materialien von zu Hause mitbringen (z.B. Gegenstände, Kleidung, Musik). Die Lernenden benutzen, wählen aus, wägen Nutzen und Qualität ab und/oder gestalten eigene Medienprodukte (z.B. Videoclip, Zeitungsartikel). Auf diese Weise erwerben sie wichtige Medienkompetenzen, die zudem auch das sprachliche Lernen erleichtern (vgl. Kapitel 1.6.2.1).Der Fries übernimmt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: er dokumentiert bzw. fördert individuelle Lernprozesse, veranschaulicht die Vielfalt an Lernwegen, strukturiert das Lernen, fördert die Metakognition und unterstützt zugleich auch die Konstruktionsprozesse im Rahmen der Präsentationen (vgl. Kapitel 2.3.3.2).

 

 Lern- und Arbeitstechniken: In Storyline-Projekten verwenden und lernen die Schülerinnen und Schüler vielseitige Techniken und Strategien, um ihre Arbeit selbst zu organisieren sowie selbstständig Bedeutungen zu erschließen bzw. zu konstruieren, und zwar auf inhaltlicher als auch sprachlicher Ebene (z.B. Einsatz von Sachbüchern, Wörterbüchern). Sie trainieren Lesetechniken (z.B. skimming, scanning), lernen, wie man Wörter aus dem Kontext erschließt (z.B. bei Präsentationen), aber auch, wie man einen Text aufbaut (z.B. Brief, Lebenslauf) oder einen Hörtext visualisiert (z.B. Collagen, Objekte). Darüber hinaus entwickeln sie während der Aufgabenbearbeitung eigene Lernwege und individuelle Arbeitsstrategien (z.B. note-taking, Nutzung eines Online-Lexikons). Die ganzheitlichen, multimodalen und multisensorischen Arbeitsweisen fördern vielfältige Konstruktionsprozesse und werden besonders heterogenen Lerngruppen gerecht. In der Gruppe sowie in den regelmäßigen Reflexionen werden Lern- und Arbeitstechniken besprochen, evaluiert und eventuell modifiziert. Dadurch werden individuelle Wissenskonstruktionsprozesse bewusst gemacht. Auf Grund der bei Storyline erhöhten Fehlertoleranz entwickeln die Lernenden auch language awareness und werden zudem angeregt, mit der Sprache spielerisch und kreativ umzugehen (z.B. Wortbildung, sense poem). Dabei erwerben sie ein vielseitiges strategisches Wissen, das sie – auch außerhalb der Schule – flexibel einsetzen können (nachhaltige Handlungskompetenz). Lernen lernen hat bei Storyline einen hohen Stellenwert.

 Rollenverständnis: In Storyline-Projekten werden Lernende viel mehr gefordert als im regulären Unterricht, wo in der Regel die Lehrkräfte aktiv sind, während die Lernenden meist zuhören (müssen). Lernende und Lehrende entwickeln bei Storyline eine Vielzahl an neuen Rollen (vgl. Kapitel 2.3.3.5), welche die individuellen Konstruktionsprozesse der Lernenden unterstützen: Diese arbeiten weitgehend selbstständig und eigenverantwortlich in Teams, recherchieren kritisch und zielgerichtet in authentischen Materialien, wählen Teilaufgaben aus, konstruieren – inhaltlich, sprachlich und methodisch – eigene Beiträge, die sie der Klassenöffentlichkeit auf ihre Weise präsentieren, und reflektieren ihre Lernprozesse. Lehrkräfte werden zu “educational designers“ (Letschert 2006, 22): sie konzipieren eine für die Zielgruppe geeignete Storyline, organisieren und koordinieren Arbeitsphasen, moderieren bei Präsentationen, motivieren und beraten bei der Aufgabenbearbeitung, fördern durch key questions und incidents Hypothesenbildung und Wissenskonstruktionen, regen zu divergentem und kritischem Denken an, vermitteln bei sozialen Lernprozessen, fördern durch eine erhöhte Fehlertoleranz die Risikobereitschaft der Lernenden (z.B. bei kreativen sprachlichen Beiträgen), beobachten und evaluieren Lernprozesse und vieles mehr. Storyline-Lehrkräfte sind bei der Vorbereitung aktiv, im Klassenzimmer treten sie in den Hintergrund und überlassen die Arena den Lernenden. Die relative Autonomie der Lernenden ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum lebenslangen Lernen (vgl. Kapitel 1.6).

 Reflexion und Evaluation: In Storyline-Projekten finden regelmäßig längere und kürzere Reflexionen statt, um den Lernenden ihre Lernprozesse, Wissenskonstruktionen, Lernfortschritte, aber auch -hindernisse bewusst zu machen. Dies geschieht in den jeweiligen Arbeitsgruppen (peer evaluation), im Plenum oder auch durch eine schriftliche Selbstevaluation. Diese Phasen dienen nicht etwa der Bewertung im Sinne der Benotung, sondern sollen vielmehr das autonome Lernen und Arbeiten erleichtern. Es geht dabei also auch um zukünftige Lernprozesse und die Frage, wie diese bestmöglich gefördert werden können (z.B. durch ein größeres Zeitbudget, mehr/anderes Material, Wechsel der teamleaders). Die Reflexionen können sich auf inhaltliche, organisatorische, soziale, sprachliche oder auch andere Aspekte beziehen, die von den Lernenden geäußert werden. Die Lehrkraft berät durch ein Angebot von Vorschlägen, die gemeinsam diskutiert und bewertet werden. Nach einer Reflexionsphase können beispielsweise wordbanks erweitert, Gruppenregeln ergänzt, neue Rollen innerhalb der Gruppen verteilt (z.B. language manager, time manager) oder einzelne Lernende ermuntert werden, öfter zu präsentieren oder beim kreativen Schreiben auch das Grammatikheft zu konsultieren.

Fazit: Meine Ausführungen haben gezeigt: “Storyline seems to be a reasonably good example of a constructivist way of teaching and learning“ (Ebd., 22). Für nachhaltiges und lebenslanges Lernen muss man nicht nur motiviert sein, sondern auch selbstbestimmt und eigenverantwortlich arbeiten können sowie über selbstreflexive Fähigkeiten verfügen. Ob und inwiefern meine Hypothese stimmt, dass der Storyline Approach gerade für das fremdsprachliche Lernen einen optimalen Ansatz darstellt, um heterogenen Klassen gerecht zu werden und darüber hinaus vielfältige Kompetenzen und Fertigkeiten für das lebenslange (Fremdsprachen-)Lernen zu fördern, sollen meine Fallstudien in Teil B zeigen.